Arno Holz / Johannes Schlaf
Die Familie Selicke
Drama in drei Aufzügen

[340]

Personen

Personen.

    • Eduard Selicke, Buchhalter.

    • Seine Frau.

    • Toni, 22 Jahre alt,
    • Albert, 18 Jahre alt,
    • Walter, 12 Jahre alt,
    • Linchen, 8 Jahre alt, , ihre Kinder.

    • Gustav Wendt, cand. theol. Chambregarnist bei ihnen.

    • Der alte Kopelke.

1. Akt

Erster Aufzug

Das Wohnzimmer der Familie Selicke.
Es ist mäßig groß und sehr bescheiden eingerichtet. Im Vordergrunde rechts führt eine Tür in den Korridor, im Vordergrunde links eine in das Zimmer Wendts. Etwas weiter hinter dieser eine Küchentür mit Glasfenstern und Zwirngardinen. Die Rückwand nimmt ein altes, schwerfälliges, großgeblumtes Sofa ein, über welchem zwischen zwei kleinen, vergilbten Gipsstatuetten »Schiller und Goethe« der bekannte Kaulbachsche Stahlstich »Lotte, Brot schneidend'« hängt. Darunter im Halbkranze, symmetrisch angeordnet, eine Anzahl photographischer Familienporträts. Vor dem Sofa ein ovaler Tisch, auf welchem zwischen allerhand Kaffeegeschirr [340] eine brennende weiße Glaslampe mit grünem Schirm steht. Rechts von ihm ein Fenster, links von ihm eine kleine Tapetentür, die in eine Kammer führt. Außerdem noch, zwischen den beiden Türen an der linken Seitenwand, ein Tischchen mit einem Kanarienvogel, über welchem ein Regulator tickt, und, hinten an der rechten Seitenwand, ein Bett, dessen Kopfende, dem Zuschauerraum zunächst, durch einen Wandschirm verdeckt wird. Am Fußende des Bettes, neben dem Fenster, schließlich noch ein kleines Nachttischchen mit
Medizinflaschen. Zwischen Kammer- und Küchentür ein Ofen; Stühle.

FRAU SELICKE
etwas ältlich, vergrämt, sitzt vor dem Bett und strickt.

Abgetragene Kleidung, lila Seelenwärmer, Hornbrille auf der Nase, ab und zu ein wenig fröstelnd. Pause. Seufzend. Ach Gott ja!

WALTER
noch hinter der Szene, in der Kammer.

Mamchen?! Frau Selicke hat in Gedanken ihren Strickstrumpf fallen lassen, zieht ihr Taschentuch halb aus der Tasche, bückt sich drüber und schneuzt sich.

WALTER
steckt den Kopf durch die Kammertür.

Pausbacken, Pudelmütze, rote, gestrickte Fausthandschuhe. Mamchen? darf ich mir noch schnell 'ne Stulle schneiden?

FRAU SELICKE
ist zusammengefahren.

Ach, geh, du ungezogner Junge! Erschrick einen doch nich immer so! Ist aufgestanden und an den Tisch getreten, auf den sie ihre Brille legt. Kannst du denn auch gar nich 'n bißchen Rücksicht nehmen?! Siehst du denn nich, daß das Kind krank ist?

WALTER
ist unterdessen aufs Sofa geklettert und trinkt nun nacheinander die verschiedenen Kaffeereste aus.
Den Zucker holt er sich mit dem Löffel extra raus. Aber ich hab doch noch solchen Hunger, Mamchen?
ALBERT
ebenfalls noch hinter der Szene, in der Kammer, deren Tür jetzt welt aufsteht.

Man sieht ihn vor einer kleinen Spiegelkommode, auf der ein Licht brennt. Knüpft [341] sich grade seine Krawatte um. Hemdärmel. Ach was, Mutter! Jieb ihm lieber 'n Katzenkopp un denn is jut!

FRAU SELICKE
die jetzt Walter die Stulle schneidet.

Na, du, Großer, sei doch man schon ganz still! Du verdienst ja noch alle Tage welche! Ich denk, ihr seid überhaupt schon lange weg?

ALBERT
ärgerlich.
Ja doch! Gleich! Aber ich wer' mir doch wohl noch erst den Rock abbürschten können?
FRAU SELICKE.

Na ja, gewiß doch! Steh du man immer recht vorm Spiegel und vertrödle recht viel Zeit! Da werd't ihr ja euern lieben Vater sicher noch finden! Der wird heute grade noch auf 'm Kontor sitzen!

ALBERT.

Ach Jott! Nu tu doch man nicht wieder so! Vor sechs kann er ja doch heute sowieso nich aus 'm Geschäft!

FRAU SELICKE.

So! Na! Und wie spät denkste denn, daß es jetz' is? Hat während des Streichens der Stulle einen Augenblick innegehalten, den Schirm von der Lampe gerückt und nach dem Regulator gesehen. Jetz' is gleich drei Viertel!

ALBERT.
Ach, Unsinn? Die jeht ja vor!
FRAU SELICKE
für sich, fast weinend.

Hach nee! Ich sag schon! Sicher is er nu wieder weg, und vor morgen früh wer'n wir 'n ja dann natürlich nich wieder zu sehn kriegen! Nein, so ein Mann! So ein Mann! ...

ALBERT
noch immer in der Kammer und vorm Spiegel.
Hurrjott, Mutter! Räsonier doch nicht immer so! Du weißt ja noch gar nich!
FRAU SELICKE.

Ach was! Laß mich zufrieden! Beruf mich nich immer! Ich weiß schon, was ich weiß! Unwirsch zu Walter. Da – haste! Klapp se dir zusammen und dann macht, daß ihr endlich fortkommt! Aus euch wird auch nischt! Es klingelt. Einen Augenblick lang horchen beide. Frau Selicke ist zusammengefahren, Walter starrt, die Stulle in der Hand, mit offenem Munde über die Lampe weg nach der Tür, die ins Entree führt.

[342]
FRAU SELICKE
endlich.
Na? Machste nu auf, oder nich?

Walter hat die Stulle liegenlassen und läuft auf die Tür zu. Er klinkt diese auf und verschwindet im Entree.
ALBERT
der eben aus der Kammer getreten ist, in der er das Licht ausgelöscht hat, zieht sich noch gerade seinen Überzieher an.

Aus der Brusttasche stecken Glacés, zwiscben den Zähnen hält er eine brennende Zigarette, an einem breiten, schwarzen Bande baumelt ihm ein Kneifer herab. Modern gescheitelt. Hut und Stöckchen hat er einstweilen auf den Stuhl neben dem Sofa plaziert. Zu Frau Selicke, indem er mit dem Fuße die Tür hinter sich zudrückt. Nanu? Das kann doch unmöglich schon der Vater sein?

FRAU SELICKE
die sich wieder mit dem Kaffeegeschirr zu tun macht, unruhig.
Ach wo!

Unterdessen ist draußen die Flurtür aufgegangen, und man hört die Stimme des alten Kopelke: »Brrr ... is det heit 'n Schweinewetter?!« – Die Tür klappt wieder zu, und jetzt schreit Walter laut auf, ausgelassen: »Ach! Olle Kopelke! Olle Kopelke!« – »Nich doch, Kind, nich doch; du tust mir ja weh! Du drickst mir ja! Du mußt doch abber ooch heern! Da – nimm mir mal lieber hier 'n bißken det Menneken ab! ... Brrr ... nee ... äh!«
ALBERT
zu Frau Selicke, sich die Handschuhe zuknöpfend.
Ach, der alte Quacksalber?!
FRAU SELICKE.
Na, du Großmaul, wirst doch nich immer gleich das Geld geb'n für 'n Dokter!
ALBERT
aufgebracht.
Ach, Blech! Nich wahr? Nu fang wieder davon an! ...
WALTER
noch halb im Entree.

Au, Mamchen, sieh mal! 'n Hampelmann! Mamchen, 'n Hampelmann! Er kommt mit ihm ins Zimmer getanzt. Zum alten Kopelke zurück. Wah? Den schenken Se mir?

KOPELKE
behutsam hinter ihm drein.

Klein, kugelrund, [343] freundlich. Vollmondsgesicht, glattrasiert. Sammetjoppe, Pelzkappe, Wollschal. Sachteken! Sachteken!

ALBERT
hat sich den Stock schnell unter den Arm geklemmt und sich den Kneifer aufgesetzt, affektiert.
Ah, gut'n Abend, Herr Kopelke!
KOPELKE.

'n Abend! 'n Abend, junger Herr! Reicht Frau Selicke die Hand. 'n Abend! Nach dem Bett hin. Na? Und meene kleene Patientin? Ick muß doch mal sehn kommen?

FRAU SELICKE
weinerlich.
Ach Gott ja! Na, ich kann wohl schon sagen!
KOPELKE
sie beruhigend.
Ach wat, wissen Se! Det ... det ... e ...
WALTER
hat sich unterdessen mit seinem Hampelmann abgegeben, ihm die Zunge gezeigt, »Bah!« zu ihm gemacht und tänzelt nun mit ihm um den alten Kopelke rum, diesen unterbrechend.
Olle Kopelke! Olle Kopelke!
KOPELKE
sanft abwehrend.

Ach, nich doch, Kind! Det 's jo unjezogen! Du mußt nich immer Olle Kopelke sagen! Det jeheert sick nich!

WALTER
Rübchen schabend.
Oh ...! Olle Kopelke! ...
ALBERT.
Hörst du denn nich, du Schafskopp? Du sollst still sein!
WALTER
den Ellbogen gegen ihn vor.
Nanu? Du hast mir doch jar nischt zu sagen?

Albert holt mit der Hand aus.
FRAU SELICKE
mit dem Strickstrumpf, den sie unterdessen wieder aufgenommen hat, dazwischen.

Nein! Nein! Nun sehn Sie doch bloß! Die reinen Banditen! Das Kind! Das Kind! Nehmt doch wenigstens auf das Kind Rücksicht!

ALBERT
der sich achselzuckend wieder abgewandt hat.

Natürlich! So is recht! Bestärk ihn man noch immer! Dem läßt du ja alles durchgehn! Der kann ja machen, was er will! Aus dem Bürschchen erziehst du ja schon was Rechtes! Vater hat janz recht!

[344]
FRAU SELICKE.
Nein! Nein! Nu hören Se doch bloß! Und da soll man sich nich gleich schlag rührend ärgern?
KOPELKE
zu Albert.

Sachteken, werter junger Herr, sachteken ... Zu Frau Selicke. Immer in Jiete, Mutter! Det ville Jehaue un det ville Jeschumpfe nutzt zu janischt, zu reen janischt! ... Ibrijens ... Er hat sich mitten in die Stube gestellt und schnuppert nun nach allen Seiten in der Luft rum. ... wat ick doch jleich noch sagen wollte ... det ... det ... riecht jo hier so anjenehm nach Kaffee? ... Hm! Pf! Brrr! ... Nee, dieset Schweinewetter?! Ick bin – wahrhaftijen Jott – janz aus de Puste! Er hat sich seinen großen, dicken Wollschal abgezerrt und schlenkert ihn nun nach allen Seiten um sich rum. Kopp weg! Zu Walter, den er dabei getroffen hat. He? Wah det deine Neese?

WALTER
der sich den Schnee von den Backen wischt, vergnügt lachend.
Hohohoo!
ALBERT
bereits äußerst ungeduldig, den Hut in der Hand.
Na, jedenfalls ich jeh jetzt! Wir kommen ja sonst wahrhaftig noch zu spät!
FRAU SELICKE.
Ja, ja! Macht man, daß ihr fortkommt!
KOPELKE
zu Albert.
Aha! Wol zu Papa'n uf 't Kontor?
ALBERT
ausweichend.
Ach! Ja! Das heißt ... eh ... wir wollten so ... bloß 'n bißchen vorbeijehn!
KOPELKE
ihm mit einer Handbewegung gutmütig zublinzelnd, verschmitzt.

Weeß schon! Zu Frau Selicke, halb ins Ohr. Edewachten kenn ick doch? ... Wieder zu Albert. Na, denn ... eh ... denn beeilen sick man! So wat looft weg!

ALBERT
schon unter der Tür stehend zu Walter, der sich eben seinen Hampelmann an die Jacke knöpft.
Na, willst nu so jut sein oder nich?
WALTER
gibt dem alten Kopelke die Hand.
Atchee!
KOPELKE.
Atchee, mein Sohn, Atchee! Un jrieß ooch Vatern!
FRAU SELICKE.

Na, und die Stulle? Reicht sie ihm noch schnell nach, Walter beißt sofort in sie hinein. Und dann, sagt, er soll gleich hierherkommen! Sagt, Toni is auch schon da! Wir warten schon!


[345] Albert hat die Tür bereits aufgeklinkt und macht nun zum alten Kopelke hin eine stumme, zeremonielle Verbeugung.
KOPELKE.
War mich sehr anjenehm, werter junger Herr! War mich sehr anjenehm!

Die beiden verschwinden. Draußen im Entree schlägt Walter hin. Schreit. Albert: »Na, du Ochse!«
FRAU SELICKE.

Ei Herrgott! Was is denn nu schon wieder ... Will auf die Korridortür zu, draußen schlägt die Flurtür zu. Hach! Gott sei Dank, daß man die Gesellschaft endlich los ist!

KOPELKE
sich die Hände reibend, schmunzelnd.

Jo! Wah is't! 'n bißken wiewe sind se! Abber – Jotteken doch! Det is doch nu mal nich anders! Det ...


Vom Bett her Geräusch und Husten.
FRAU SELICKE
wirft ihr Strickzeug in das Kaffeegeschirr und eilt auf das Bett zu.

Ach, nein! Ich sag schon! Nu haben sie ja das arme Kind glücklich wieder wachkrakeelt! ... Na, mein liebes Herzchen? ... Wie ist dir, mein liebes Linchen, he? Kleine Pause. Frau Selicke hatte sich übers Bett gebeugt, leises Stöhnen. Hast du Schmerzen, mein liebes Puttchen?

LINCHEN
feines, rührendes Stimmchen.
Ma – ma – chen?
FRAU SELICKE.
Ja, mein Herzchen? Hm?
LINCHEN.
Ma – ma – chen?
FRAU SELICKE.
Hast du Appetit, mein Schäfchen? ... Nein? Ach, du mein Mäuschen!
LINCHEN.
Ich – bin – so – müde ...
FRAU SELICKE.
Ach, mein Herzchen! Aber, nicht wahr? Du willst jetzt noch einnehmen?! Onkel Kopelke ist ja da!
LINCHEN.
On – kel – Ko – pel – ke?

Kopelke hat sein rotbaumwollenes Schnupftuch gezogen und schneuzt sich.
[346]
FRAU SELICKE
halb zu ihm zurückgewandt.

Wollen Sie se mal sehn? Ich misch solange die Tropfen! Läßt ihn ans Kopfende treten und mischt während des Folgenden am Fußende des Bettes, auf dem Nachttischchen, die Medizin.

KOPELKE
hat sich jetzt ebenfalls über das Bett gebeugt.

Täppisch-zärtlich. Na, Lin'ken? Kennste mir noch? Ach Jotteken doch, die Ärmken! Nich wah? Det – watt doch mal, Kind, 'n Oogenblickchen! – Det ... tut doch nich weh? ... Na, sehste!! Ick sag ja! Det ... det is allens man auswendig! Det 's janich so schlimm! Uf de Woche kannst all dreist widder ufstehn! Denn jehste for Mama'n bei'n Koofmann! Denn jehste mit ihr uf 'n Marcht! Inholen! He? Weeßte noch? Uf 'n Pappelplatz? Der mit 't Schielooge? »Jungens«, sag ick, »Bande! Wer't ihr wol det Meechen sind lassen?« Abber da?? Heidi! Wat haste, wat kannste! ... Nich wah? Nu nehmste abber ooch sauber in? Zu Frau Selicke, während er diese ans Bett treten läßt. Wat de Kind bloß for 'n Schwitz hat?!

FRAU SELICKE
besorgt.
Nich wahr? Ach Gott ja!
KOPELKE
beruhigend.

Abber det ... eh ... wissen Se! ... Det ... det is immer so! Det is nu mal nich anders! Det ... Schneuzt sich abermals.

FRAU SELICKE
kommt mit dem Löffel.
Na, Linchen? Ist dir wieder besser?
LINCHEN.
Ach – ich – will – nicht – einnehmen!
FRAU SELICKE.
O ja, meine Kleine! Du willst doch wieder gesund werden!
LINCHEN.
Es – schmeckt – so – bitter!
FRAU SELICKE.

Nicht weinen, mein Schäfchen! ... Komm! ... Sonst zankt der Herr Doktor wieder! Nicht wahr, Onkel Kopelke?

KOPELKE
eifrig nickend.
Ja, ja, Kindken! Det muß nu mal so sind! Det jeheert sick!
FRAU SELICKE.
Nicht wahr? Hörst du? Komm mein Liebling! Ja?
[347]
LINCHEN.
Es – schmeckt – so – bitter!
FRAU SELICKE.

Aber nachher kannst du ja wieder spazierengehn, mein Mäuschen?! Und Emmchen zeigt dir auch ihre Bilderbücher! Ja? ... Komm! ... Na, nu mach doch, Linchen! ... Du mußt doch aber auch folgen! ... Gucke doch! ... Ich verschütte ja das ganze Einnehmen? ... Sie hat ihr leise die Hand unters Köpfchen geschoben.

LINCHEN.
Au! Au! ... Du – ziepst – mich!
FRAU SELICKE.

Oh! ... Na so! ... Nicht wahr? ... Fest! Drück die Augen zu! ... Schlucke! Tüchtig! ... Siehst du? ... Nicht weinen, nicht weinen! ... So! Nicht wahr? Nu is alles wieder gut! Nu is alles vorbei!

LINCHEN
dreht sich jetzt unruhig in ihren Kissen rum und hustet gequält.
FRAU SELICKE.

Mein armes, armes Herzchen! Der alte, böse Husten! ... So! ... Nu rücken wir bloß noch 'n bißchen das Kissen höher, nicht wahr? Und dann schläfst du schön wieder ein! Bückt sich über sie und küßt sie. Ach, du mein süßes Puttchen! Nachdem sie den Wandschirm jetzt noch näher ans Bett gerückt, zum alten Kopelke. Ach, Gott nein! Nu sagen Se doch bloß? Muß man da nich rein verzweifeln? Das geht nu schon tagelang so! Sie wacht geradezu nur noch auf Minuten auf!

KOPELKE
die Hände in den Taschen seiner Joppe, nachdenklich vor sich hin.
Hm! ...
FRAU SELICKE.

Und aus dem Doktor wird man auch nicht mehr klug! Der sagt einem ja nichts! Der kommt kaum noch! Und ... und ... na ja, wenn wir Sie nicht noch hätten ...

KOPELKE
leichthin.

Jo! ... na! ... Wissen Se: Det kommt jo bei mir nich so druf an! Begütigend. Det verseimt mir jo weiter nich! Det's jo man immer so in Vorbeijehn! Det – ach wat! Det hat jo janischt zu sagen! Det's jo Mumpitz!! ... Abber det, wissen Se, det mit die Dokters, verstehn Se, da hab'n Se eejentlich wol nich so janz unrecht! [348] Ick ... nu ja! Se wissen ja! Ick bin man sozusagen 'n janz eenfacher Mann ... Abber det kann 'k Ihn' versichern: jeholfen hab 'k schon manchen! ... Jott! Ick kennt jo wat bei verdienen! Wat mee'n Se woll! Abber sehn Se ... will 'k denn? Ick ... nu ja! Ick bin nu mal so! Eifrig. Wissen Se? De Hauptsach is jetz': man immer scheen warm halten! Det ibrije, verstehn Se, det ibrije jibt sick denn janz von alleene! Janz von alleene! Ick sag: man bloß nich immer so ville mang der Natur fuschen, sag ick! ... Det mit die olle Medizin da zum Beispiel ...


Es klopft an Wendts Tür.
FRAU SELICKE.
Bitte, Herr Wendt, bitte! Treten Sie nur ein!
WENDT
ist mehr als mittelgroß und sehr schlank.

Feine, bleiche Gesichtszüge, das halblange, schwarze Haar einfach hintenübergekämmt. Dunkle, peinlich saubere Kleidung, kein Pastoralschnitt. Die Tür hinter sich schließend zu Frau Selicke. Verzeihen Sie! Ich dachte ... Zum alten Kopelke, ihm die Hand reichend. Ah! 'n Abend, Herr Kopelke! Wie geht's?

KOPELKE
geschmeichelt.

'n Abend, werter junger Herr! Och, ick danke! Immer noch uf een langet un een kurzet Been! ... Is mich sehr anjenehm ... is mich sehr anjenehm ... Hört nicht auf, Wendts Hand zu schütteln.

WENDT
zu Frau Selicke rüber.
Fräulein Toni wollte doch heute etwas früher kommen?
FRAU SELICKE
die Achseln zuckend.
Ja! Na – Sie wissen ja! Wie das so is!
KOPELKE
Wendt zublinzelnd und ihm scherzhaft mit dem Finger drohend.

Freilein Toni? Na, wachten Se man, Sie kleener Scheeker! ... Frau Selicken? Ick sage: passen Se mir ja uf die beeden jungen Leite uf! Wieder zu Wendt. Det is mich doch schon lange so? ... he? Sie?

FRAU SELICKE
lächelnd.
Ach, lieber Gott, ja!
WENDT
der ebenfalls gelächelt hat, zum alten Kopelke.

Na, aber Scherz beiseite! Ich wollte ihr mal – da sehn Sie [349] mal! – das da zeigen! Er hat ein großes, zusammengeknifftes Papier aus der inneren Brusttasche gezogen und es dem alten Kopelke überreicht.

KOPELKE.
Oh! ... He! ... Na – ick ... eh ... Se meen'n, ick soll det hier – lesen, meen'n Se?
WENDT
aufmunternd.
Gewiß, gewiß, Herr Kopelke! Ich bitte Sie sogar darum!
KOPELKE.

Oh! ... He! ... Na, ick – bin so frei! Ist mit dem Papier zur Lampe getreten. Zu Frau Selicke. Man ... eh ... Hab'n Se da nich wo Ihre Brille, Frau Selicken?

FRAU SELICKE
umhersuchend.
Meine Brille? Ach Gott ja! Ich ...
KOPELKE.

Lassen Se man, ick hab ihr schon! Setzt sie sich auf. So! Na! Nu kann't losjehn! Hat das Papier sorgfältig entfaltet und liest es nun, die Arme weit von sich weg. Nach einer kleinen Pause, über die Brille zu Wendt hinüberschielend. Nanu?

WENDT
der ihn lächelnd beobachtet.
Na?
FRAU SELICKE
neugierig.
Was denn?
WENDT
lächelnd.
Ja, ja, Frau Selicke!
FRAU SELICKE
wie ungläubig.
Ach?
KOPELKE
hat das Papier unterdessen wieder sorgfältig zusammengefaltet und gibt es nun wieder an Wendt zurück.

In komischem Pathos. Nee, wissen Se! Det kennen Se von mir nich verlangen! Dazu jratulieren Se sick man alleene!

WENDT
lachend, das Papier wieder einsteckend.
Na, na!
FRAU SELICKE
zum alten Kopelke.
Was denn? Was denn, Herr Kopelke?
KOPELKE
zu Frau Selicke, komisch.

Paster! Land paster! Mit 'ne Bienenzucht un 'ne lange Pfeife!Wieder zu Wendt. Nee, wissen Se! Da kennen Se sagen, wat Se wollen, verstehn Se, abber for die Brieder sind Se ville zu schade!

FRAU SELICKE
die Hände zusammenschlagend.
Aber Herr Kopelke?!
[350]
KOPELKE.
Ach wat! Hat sich wieder sein Schnupftuch hervorgezogen und schneuzt sich.
WENDT
ihm vergnügt auf die Schulter klopfend.
Na, lassen Sie man! 'n hübsches Weihnachtsgeschenk bleibt's doch! Was, Frau Selicke?
FRAU SELICKE
immer noch ganz erstaunt.
Ach, nein! ... wahrhaftig? Also Sie sollen jetzt wirklich Pastor werden?
WENDT.
Nun ja! Und ... wie Sie sehn! Ich freue mich sogar von Herzen drüber!
FRAU SELICKE.

Ach ja! Und Sie waren ja auch immer so fleißig! Ich habe Sie wahrhaftig manchmal recht bedauert! Wenn ich so denke, so die ganzen letzten Wochen, Tag und Nacht, immer hinter den Büchern ...

WENDT.

Ach, ich bitte Sie! Was hing aber auch nicht alles davon ab? Alles! Alles! Geradezu alles! – Und dann, was ich Ihnen noch gleich sagen muß, ich reise jetzt natürlich nicht erst Drittfeiertag, sondern schon morgen!

FRAU SELICKE.
Schon morgen?
WENDT.

Ja! Na, die Sachen sind ja schon alle so gut wie gepackt, und ... e ... aber ich vergesse ganz!Zum alten Kopelke. Sie sprachen vorhin von Linchen?

KOPELKE.
Ick? Nu ja! Ick.. det heest.. ick ... e ...Sieht zu Frau Selicke hinüber.
FRAU SELICKE.

Aber setzen Sie sich doch, Herr Kopelke! Woll'n Se sich nicht setzen? Ich mach Ihnen noch schnell 'ne Tasse Kaffee!

KOPELKE
zu Wendt.

Hm ... ja ... sehn Se, ick ...Plötzlich zu Frau Selicke. 'ne Tasse Kaffee? In sich hineinschmunzelnd, sich vergnügt die Hände reibend. Hm! ... 'ne Tasse Kaffee is jo wat sehr wat Scheenet! Wat sehr wat Scheenet! ... Abber ... Nee, Frau Selicken! Nee! Heite nich! Det verlohnt sick nich! Wahhaftijen Jott! Abber ick muß heite noch unjelogen hinten in de Druckerei! ... Se wissen ja! Det mit die ollen, deemlichen Krankenkassen! ...

FRAU SELICKE
nach der Küche hin.

Na, denn werd ich wenigstens noch 'n paar Kohlen unterlegen! Mit einem Blick auf [351] die Uhr. Toni muß ja jeden Augenblick kommen! Verschwindet durch die Küchentür, hinter der bald darauf Licht aufblitzt. 'n Augenblickchen!

KOPELKE
mit krummgezogenem Puckel, sich schmunzelnd die Hände reibend.
Scheeniken! Scheeniken!
WENDT
langt seine Zigarrentasche vor.
Aber ich darf Ihnen doch wenigstens 'ne Zigarre anbieten?
KOPELKE.

Oh! ... He! ... Na! Ick bin so frei, von Ihr jietijet Anersuchen – mbf! – Jebrauch zu machen, werter, junger Herr! Abber.. e ... – Winkt Wendt zu sich heran; dieser beugt sich ein wenig zu ihm hin, Kopelke hält ihm die hohle Hand ans Ohr. – ... ick meen man! Ick beraube Ihnen!

WENDT.
Oh, ich bitte Sie!
KOPELKE.
Na, wissen Se! So 'n junger Student hat det ooch nich immer so dicke! ... Na, ick meen man!
WENDT.
Junger Student?! Oho!
KOPELKE.

Ach so! Blinzelt ihm zu. Na! Ibrijens bin ick darin durchaus keen Unmensch! Kneift sich mit den Fingernägeln die Spitze von der Zigarre und bückt sich über die Lampe. Abber ... nee, wissen Se! Mit einem Blick zum Bett hin. Ick weer' ihr man doch lieber draußen roochen! Se nehmen mir det doch nich iebel?

WENDT.

Bewahre, Herr Kopelke! Im Gegenteil! Hier hätten Sie sie ja doch sowieso nicht rauchen können! Selbstverständlich!

KOPELKE.
Ja, um denn – na ja! Wat ick also noch sagen wollte! ... Se meen'n mit det Kind, meen'n Se?
WENDT.

Ja! Ich ... e ... Sie können sich ja denken, wie mich das unmöglich gleichgültig lassen kann! ... Der Arzt scheint sich ja, wenigstens soviel ich darüber weiß, überhaupt nicht äußern zu wollen ...

KOPELKE
klopft sich mit der Zigarre auf dem Daumen herum.

Ja, wissen Se! Offen jestanden! Abber det kann ick den Mann eejentlich janich verdenken! Denn, Se könn'n sagen, wat Se wollen – ick bin man sozusagen 'n janz [352] eenfacher Mann, verstehn Se! Abber det kann 'k Ihn'n sagen: mit det Kind is 't retour jejangen! Schon wenn se een'n immer so anseht, verstehn Se! – wahhaft'jen Jott, abber so wat kann eenen durch un durch jehn!

WENDT
finster.
Hm ... Also Sie meinen, daß wirklich Gefahr vorliegt?
KOPELKE
ausweichend.

Jott! Det nu jrade! Det will ick nu jrade nich jesagt haben! Abber, wie det so is, verstehn Se! Et mangelt hier den Leiten an't Neethichste, wissen Se! Macht die Bewegung des Geldzählens. Die kennen ooch man nich immer so wie se wollen!

WENDT
geht erregt ein paarmal auf und ab.
Ach Gott, ja! ... Na! Es wird ja mal ... anders werden!
KOPELKE.

Ja! Wenn eener immer ville Jeld hat, wissen Se, denn mag't ja wol noch jehn! Ja! Det liebe Jeld! ... Nehm'n Se mir mal zun Beispiel! Ick wah ooch nich uf'n Kopp jefallen als Junge! Ick wah immer der Erste in de Schule! Wat meen'n Se woll?!.. Abber de Umstände, wissen Se! De Umstände! Et half nischt! Vater ließ mir Schuster weer'n! ... Freilich, mit die Schusterei is det nu ooch nischt mehr heitzudage! Die ollen Fabriken, wissen Se! Die ollen Fabriken rujenieren den kleenen Mann! ... Sehn Se! So bin ick eejentlich, wat man so 'ne verfehlte Existenz nennt! Nu bin ick sozusagen allens un janischt! ... Ja! ... Da bring 'k mal een'n durch 'n Prozeß, da wird mal 'n bißken jeschustert, dann mal mit de Homöopathie und denn mit det Silewettenschneidern, wie det jrade so kommt, verstehn Se! Ja! ... Freilich! Se haben alle nischt, die armen Deibels, den'n ick ...


Die Uhr schlägt sechs.
KOPELKE.

Wat!? Sechsen schon?! Hurrjott! ... Wickelt sich schnell den Schal um. ... den'n ick jeholfen hab, meen ick! ... Umhersehend. Hanschuh'n hat ick ja wol zufällig keene jehabt? ... Na, abber man krepelt sick so durch! Wendts Hand schüttelnd. Wah mich sehr anjenehm, werter junger Herr, wah mich sehr anjenehm! ... Dunnerwettstock, [353] det wird ja die allerheechste Eisenbahn!Macht ein paar eilige Schritte auf die Korridortür zu, besinnt sich dann aber wieder und kehrt um. Na, ick kann ja denn ooch man jleich hintenrum!Schon in der Küchentür. Un denn, det ick det nich verjesse: Verjniegte Feierdage! Morjen frieh seh ick Ihn' doch noch?

WENDT.
Oh, danke, danke! Natürlich!
KOPELKE.
Scheeniken! Atchee! Klinkt die Küchentür auf. 'n Abend, Frau Selicken!
FRAU SELICKE
hinter der Szene in der Küche.
Was? Sie wollen schon gehn?
KOPELKE
während er die Küchentür wieder hinter sich zudrückt.
Na, wat meen'n Se woll? ...
WENDT
einen Augenblick allein.

Sieht sich zuerst aufatmend im Zimmer um und tritt dann vorsichtig an das Bett Linchens. Eine kleine Weile beobachtet er sie, dann klingelt es plötzlich im Korridor, und er geht hastig aufmachen. Ah, endlich!


Toni tritt ein. Sie trägt ein großes, in ein schwarzes Tuch eingeschlagenes Bündel vor sich her. – Sie ist mittelgroß, schlank, aber nicht schwächlich. Blond. Schlichter, ein wenig ernster Gesichtsausdruck. Einfaches, dunkles Kleid, langer, braungelber Herbstmantel. Schwarze, gestrickte Wollhandschuhe.
WENDT
mit ihr zugleich eintretend und nach dem Bündel fassend.
Geben Sie!
TONI
abwehrend.
Ach, lassen Sie ... ich kann ja ...
WENDT
nimmt ihr das Paket ab.

Geben Sie doch!Indem er es aufs Sofa trägt. Und das haben Sie vom Alexanderplatz bis hierher getragen?

TONI
sich die Handschuhe ausziehend, nickt lächelnd.
Etwas scherzhaft-wichtig. Getragen! Ja!
WENDT.
Bei der ...?
TONI.

Nun – ja! Es war etwas unbequem bei der Kälte! Hat die Handschuhe auf den Tisch zwischen das Kaffeezeug [354] gelegt und tritt nun, indem sie sich ihren Mantel aufknöpfelt, an das Bett Linchens. Sie schläft? Ach, das arme Puttelchen! Ist wieder etwas zurückgetreten. Aber ... nein! Ich will doch erst lieber.. ich habe die Kälte noch so in den Kleidern! Zu Wendt, der ihr jetzt behilflich ist, den Mantel abzulegen. Danke, danke schön, Herr Wendt! Wollen Sie so gut sein, da an den Nagel?Reicht ihm auch noch ihren Hut hin und stellt sich nun an den Ofen. Ach, ist der schön.

WENDT
der unterdessen Hut und Mantel an die kleine Kleiderknagge zwischen der Korridortür und dem Wandschirm gehängt hat.
Wissen Sie auch, Fräulein Toni, daß ich heute schon auf Sie gewartet habe?
TONI.
Ach nein! Wirklich? Auf mich?
WENDT
hat sich, die Arme gekreuzt, mit dem Rücken gegen den Tisch, ihr gegenübergestellt, aber so, daß das Licht der Lampe noch auf sie fällt.
Ja! Und ... na? Raten Sie mal, weshalb.
TONI
lächelnd.
Ach, das rat ich ja doch nicht! Sagen Sie's mir lieber!
WENDT.
Ja? Soll ich's sagen?
TONI.
Ja!
WENDT
zieht sich wieder das Papier aus der Tasche und reicht es ihr.
Na ... da! Lesen Sie mal!
TONI.

Was denn? Sie hat sich, noch immer am Ofen, mit dem Papier etwas gegen die Lampe gebückt und liest nun. Ah! Grade heute zum Heil'gen Abend! Hat das Papier sinken lassen und sieht einen kleinen Augenblick in die Lampe. Langsam, leise. Ja! Das ist ja recht schön! Da können Sie sich recht freuen!

WENDT.
Nicht wahr?
FRAU SELICKE
aus der Küche, deren Tür sie eben aufgemacht hat.

Toni? Wo bleibst du denn solange? Mit einem Blick auf das Bündel auf dem Sofa. Ach, du hast wieder ... Armes Mädchen! ... Wart! Ich bring dir gleich noch 'n bißchen heißen Kaffee!Sie will wieder in die Küche zurück.

[355]
TONI
die unterdessen das Papier auf den Tisch gelegt hat, auf sie zutretend.
Mutterchen?! – Wart mal! ... Hier! Man hört Geld klappern. Eins – zwei – drei ...
FRAU SELICKE.
Ach, Gott ja! ... Das liebe bißchen! ... das wird wieder weg sein, man weiß nicht, wie!
TONI.
Ist denn der Arzt dagewesen?
FRAU SELICKE.
Ach, nein! Du weißt ja! Der alte Kopelke!
TONI.
So? Was sagt er denn?
FRAU SELICKE.

Bist du ihm nicht unten begegnet? Er sagt ... – Zuckt die Achseln. – ... nichts Bestimmtes! Man wird ja aus keinem Menschen mehr klug! Ach Gott! Ich hab so eine Ahnung! Du sollst sehn, wir behalten sie nicht! Schluchzt.

TONI
tröstend.
Ach Gott! Mutterchen! Nach einer Weile. Ist denn der Vater noch nicht da?
FRAU SELICKE.
Ach, der!
TONI
abermals nach einer kleinen Pause.
Und die Jungens?
FRAU SELICKE.

I! Die wollten 'n vom Kontor abholen! Aber die treiben sich ja doch wieder auf dem Markt rum, die Schlingels! Das is ja doch die Hauptsache! Die können's auch nich satt kriegen! ... Na, ich will nun ... Du bist ja ganz durchfroren! Geht wieder in die Küche zurück.

TONI
die wieder zum Ofen getreten ist.
Dann ... dann reisen Sie nun wohl bald?
WENDT
der unterdessen ans Fenster getreten war und die ganze Zeit über auf den Hof hinabgesehn hatte.

Er hat sich wieder umgedreht und sieht nun, sich mit den Händen hinten aufs Fensterbrett stützend, wieder zu Toni hinüber. Ja! Morgen!

TONI
leicht erschreckt.
Morgen schon?
WENDT.
Ja!
TONI
nach einer kleinen Pause.

Ach, die Handschuhe! Holt sie sich und tritt mit ihnen an das kleine Tischchen links, in dessen Schublade sie sie hineintut. Lächelnd. Sehn Sie mal! Da hat er wieder den Spiegel neben 's Bauer gestellt ... Der Vogel soll denken, es is noch 'n andrer [356] da, mit dem er sich unterhalten kann ... Der Vater spricht mit dem Vogel, als wenn er ein Mensch wär!

WENDT
ist vom Fenster weggetreten und steckt sich nun das Papier vom Tisch wieder in seine Rocktasche.
Ja! Ja! ...
TONI.

Hm? ... Mätzchen! Mätzchen! ... Ordentlich zärtlich ist er mit ihm! Der Vater ist ein großer Tierfreund!

WENDT
der unterdes auf sein Zimmer links im Vordergrund zugegangen ist, sieht ihr, die Hand auf der Klinke, einen Augenblick lang unentschlossen zu.
Zögernd. Ja! Ich ...
TONI
ihn unterbrechend.

Ach, sagen Sie doch! Wie spät ist's denn? Mit einem Blick auf den Regulator. Der kann doch unmöglich richtig gehn?

WENDT
der jetzt die Tür aufgeklinkt hat.
Etwas nach sechs!
TONI.
Nach sechs? Da müßte er doch nun ...

Seufzt.
Wendt geht langsam in sein Zimmer. – Toni, die ihm nachgesehn hat, bleibt einen Augenblick in Gedanken stehen, seufzt und geht wieder auf den Sofatisch zu. Sie nimmt das Bündel auf den Teppich runter und knotet es auf. Frau Selicke kommt mit dem Kaffee.
FRAU SELICKE.
Hier! Nu trink erst! Setzt die Kanne auf den Tisch.
TONI
die sich vor dem geöffneten Bündel auf dem Teppich niedergekauert hat.
Ja! Gleich!
FRAU SELICKE
hat sich leicht auf den Sofatisch gestützt und sieht ihr zu.

Mäntel? ... Da kannst du wieder die ganzen paar Feiertage sitzen! Ach ja! Du hast doch auch gar nichts von deinem Leben!

TONI
immer noch mit dem Ordnen der Zeugstücke beschäftigt.
Na! 's ist doch wenigstens ein kleiner Nebenverdienst!
FRAU SELICKE
aufseufzend.
Ach ja, ja!
TONI.
Aber ein Leben auf den Straßen? Kaum zum Durchkommen!
FRAU SELICKE
nickend.

Das glaub ich! ... Du wirst dich schön haben schleppen müssen mit dem alten Bündel! Bist du [357] denn nicht wenigstens ein Stück mit der Pferdebahn gefahren?

TONI.
Ach, alles voll! Alles voll! Da war gar nicht anzukommen!
FRAU SELICKE
ihr die Tasse zuschiebend.
Aber du trinkst ja gar nicht! Trink doch erst!
TONI.

Ja! Erhebt sich und schenkt sich den Kaffee ein. Ihn schlürfend, von der Tasse zu Frau Selicke aufsehend. Schön warm!

FRAU SELICKE.
Bist du der Mohr'n vorhin begegnet?
TONI.
Ja, auf der Treppe! Sie hielt mich an!
FRAU SELICKE.
Sie wollte wieder mal horchen? Nicht wahr?
TONI.

Ja! ... Sie fing natürlich von Linchen an! Und, was wir diesmal für 'n schlechtes Weihnachten durchzumachen hätten und so, na du weißt ja! Sie bückt sich wieder zu ihren Mänteln.

FRAU SELICKE.
Nein, solche Menschen! Um was die sich nich alles kümmern!
TONI.
Na, von mir bekommt sie nichts raus!
FRAU SELICKE.

Die mögen schön über uns schwatzen! ... Solche Menschen! Die sollten sich doch lieber an ihre eigene Nase fassen! Die! Die trinkt Bier wie 'n Kerl! Den richtigen Bierhusten hat sie schon! Hast du noch nicht gemerkt?

TONI.

Na, ja! Laß doch man, Mutterchen! Laß sie alle machen, was sie wollen! Sie geben uns ja doch nichts dazu! Ist aufgestanden und steht nun, die Hände unter der Tischplatte, da. Rück doch mal 'n bißchen den Tisch! Ich möchte mir da die Mäntel zurechtlegen! Frau Selicke hilft ihr. Der Vater kann doch jetzt unmöglich mehr auf dem Kontor sein?

FRAU SELICKE
hat vom Tisch wieder ihren Strickstrumpf aufgenommen und sich die Brille aufgesetzt.
Vom Stuhl vor dem Bette Linchens her. I, ich dachte gar! ... Wer weiß, wo der jetzt wieder steckt!
TONI
hinter dem Tisch, auf dem Sofa die Zeugstücke ordnend.
[358] Na, er wird auf dem Weihnachtsmarkt sein und ein bißchen etwas einkaufen, für Linchen!
FRAU SELICKE.

I, jawohl doch! Und ... du lieber Gott, was soll nicht alles von den paar Groschen bezahlt werden! Wer weiß übrigens, ob er diesmal soviel zu Weihnachten kriegt wie sonst! ... Er tut wenigstens so! ... Das heißt, auf den kann man sich ja nie verlassen! Der sagt einem ja nie die Wahrheit! ... Andre Männer teilen ihren Frauen alles mit und beraten sich, wie's am besten geht, aber unsereiner wird ja für gar nichts ästimiert! Der weiß ja alles besser! ... Nein, so ein trauriges Familienleben, wie bei uns ... Paß mal auf: Der hat heute wieder ein paar Pfennige Geld in der Tasche und kömmt nu vor morgen früh nich nach Hause!

TONI.
Na, ich dachte gar! ... Das wäre doch! ... Heute!
FRAU SELICKE.

Na, du wirst ja sehn! Vergangne Nacht hat mir wieder mal von Pflaumen geträumt, und dann kann ich jedesmal Gift darauf nehmen, daß es Skandal gibt!

TONI.
Ach Gott! Darauf kann man doch aber nichts geben!
FRAU SELICKE.
Na, paß auf! Meine Ahnungen trügen mich nie!
TONI.
Aber wie kann man bloß so abergläubisch sein, Mutterchen!
FRAU SELICKE.

Abergläubisch? Nein, gar nicht! Ich bin gar nicht abergläubisch! Aber es ist doch komisch, daß es bis jetzt jedesmal eingetroffen ist!

TONI.
Ach, Mutterchen!
FRAU SELICKE.

Nein, nein! Du sollst sehn! Ich kann mich heilig drauf verlassen! Weinerlich. Paß mal auf! Paß mal auf!

TONI.

Ach siehst du, Mutterchen! Wenn du dich vorher schon immer so ängstlich machst, dann ist es ja gar kein Wunder! ... Mach's wie ich! Laß ihn kommen! Widersprich ihm mit keinem Worte! ... Laß ihn räsonieren soviel wie er will! Einmal muß er dann doch aufhören, und durch sein Räsonieren wird's ja doch nicht besser.

[359]
FRAU SELICKE.

Ach Gott ja! Eigentlich ist's auch wahr! Man müßte gar nicht drauf hören! Wenn ich nur nich so nervös wäre! Wenn ich ihn dann aber so sehe, in seinem Zustande, und er kommt dann auch noch mit seinen Ungerechtigkeiten, dann kann ich mich nich halten! ... Es ist mir rein unmöglich! ... Dann läuft mir jedesmal die Galle über!

TONI.

Siehst du! Aber grade dadurch wird es immer erst schlimm! Laß ihn schimpfen, die Augen rollen, Fäuste machen: Du mußt es gar nicht beachten! Schließlich tut er ja doch nichts! ... Siehst du. Du mußt mich nicht falsch verstehn! Aber ich glaube, du hast ihn von Anfang an nicht recht zu behandeln gewußt, Mutterchen!

FRAU SELICKE.
Ja! 's is auch wahr! ... Er hätte nur so eine recht Resolute haben sollen!
TONI.
Ach, nein! So meinte ich's nicht! ... Ach!
FRAU SELICKE.

Nein! 's is ja wirklich wahr! ... Da soll man sich nu nich empören! ... Hier liegt das arme Kind krank, man weiß nich vor Sorgen wohin? Andre Leute freuen sich heute, und wir ... Na! Und dann soll man ihm auch noch freundlich entgegenkommen? ... Das kann ich einfach nicht! Das kann ich nicht!! ...

TONI
seufzend.

Aber dann würde er sicher anders sein, wenn du dich ein bißchen zwängst, Mutterchen! ... Er ist ja im Grunde eigentlich gar nicht so schlimm, wie er tut!

FRAU SELICKE.

Er hat mich die ganzen Jahre her zu schlecht behandelt! Ich kann mich nicht überwinden, freundlich mit ihm zu sein!

TONI.
Ach ja, ja!

Kleine Pause. Holt aus dem Tischchen links ihr Nähzeug vor, setzt sich einen Stuhl an den Sofatisch und beginnt zu nähen.
FRAU SELICKE.
Willst du heute noch nähen?
TONI.
Ja, ein bißchen!
FRAU SELICKE.

Ach! Das ist nun Heiligabend! Das sind Festtage! ... [360] So ein trauriges Weihnachten haben wir wirklich noch nie gehabt!

TONI.
Na! Eine kleine Freude macht er Linchen und den Jungens doch! Und wir andern? Liebe Zeit! ...
FRAU SELICKE
gähnt.

Ach, bin ich – müde! ... Nächtelang hat man kein Auge zugetan, und mein Fuß tut auch wieder so weh ...

TONI.

Ja! Leg dich ein bißchen hin, Mutterchen! Du strengst dich überhaupt viel zu sehr an! Das solltest du gar nicht!

FRAU SELICKE.

Ja, ja! Du hast eigentlich auch recht! Ich will mich 'n bißchen schlafen legen! Zum Bett hin. Ach, mein Mäuschen! Ist aufgestanden, hat ihr Strickzeug zusammengewickelt und es mit der Brille auf den Tisch gelegt. Heute nacht hat man ja doch wieder keine Ruhe. Das weiß ich schon! Ach ja! ... Gähnt. Schon in der Kammertür. Ja, und nun geht Herr Wendt auch schon zu den Feiertagen, und eh man dann wieder 'n Mieter kriegt! ... Ach Gott ja! ... Na! ...


Verschwindet in der Kammer.
Toni über ihre Arbeit gebückt, allein. Pause. Ab und zu seufzt sie. Fernes Glockengeläute, das eine Zeitlang während des Folgenden fortdauert. – Es klopft an Wendts Tür.
TONI
zuckt leicht zusammen.
Dann. Herein?
WENDT
tritt ein.
Störe ich?
TONI.
O nein! ... Wünschen Sie etwas?
WENDT
zum Tisch tretend.
Ich? ... Nein! Sieht ihr einen Augenblick zu. Sie arbeiten heute noch?
TONI.
Ja! 's hilft nichts! Ich muß in den Feiertagen damit fertig werden!
WENDT.
In den Feiertagen? ... Mit ... mit all den Mänteln da?
TONI
lächelnd.
Ja! Ein tüchtiges Stück Arbeit ist es! ... Hören Sie? Die schönen Weihnachtsglocken!
WENDT
während er sich ebenfalls einen Stuhl holt und [361] diesen neben den Tonis stellt.
Ja! Die Weihnachtsglocken! Die Weihnachtsglocken!
TONI.
Hören Sie das Glockengeläute nicht gern?
WENDT.
Die Berliner Glocken sind schrecklich! So eilig! So ... so ... eh! Macht eine Handbewegung.
TONI.
Wie?
WENDT.
Ach! So – nervös, mein' ich!
TONI.
Nervös? Ach!
WENDT.
Nein! Ich höre die Glocken hier nicht gern.
TONI.
Sie wollen doch aber nun Pastor werden?
WENDT.
Ja!
TONI.

Zu Weihnachten klingen sie immer schön, find ich! ... Als ich noch ganz klein war, ging der Vater mit uns am ersten Feiertagmorgen in die Christmette. Ganz früh. Wir wurden dann tüchtig eingemummelt, und jedes hatte ein kleines Wachsstöckchen. Das wurde in der Kirche angezündet, und wenn wir dann wieder nach Hause kamen, kriegten wir beschert. Ich muß immer daran denken, wenn ich hier zu Weihnachten die Glocken höre! ... Freilich, so schön klingen sie nicht, wie bei uns zu Hause!


Kleine Pause. Man hört nur ein wenig stärker und näher das Geläute.
WENDT
ein wenig erregt.

Ach ja! Das ... damals ... damals waren sie ... Weihnachten war schöner damals! ... Hm! – Beugt sich zu ihr hin, ohne sie anzusehen. Toni! Sagen Sie mal!

TONI.
Wie?
WENDT.

Ich meine ... hm! Ja! Ich mußte – nur eben wieder daran denken – daß ich nun morgen, morgen schon von hier fortgehe!

TONI
ohne aufzusehn.
Ja! Sie bekommen ja nun – eine Stellung!
WENDT.

Eine Stellung! Sich zurücklehnend. Komme nun, sozusagen, in geordnete, bürgerliche Verhältnisse. Ja! Eine Landpfarre!

[362]
TONI.
Aufs Land kommen Sie?
WENDT.
Ja, aufs Land! Aufs Land!
TONI.

Ach, das muß Ihnen gewiß recht angenehm sein! Es hat Ihnen ja sowieso nicht mehr recht hier in der Großstadt gefallen!

WENDT.

Ja, man lernt hier soviel kennen! ... Aber nun! Landpastor also! ... Eine lange Pfeife, wie der Herr Kopelke sagt, eine Bienenzüchterei und ... und ... hahaha!

TONI
sieht auf.
Sie sagen das so sonderbar! Sind Sie mit Ihrer Stellung nicht zufrieden?
WENDT.
Ach das ... das ist ja gleichgültig!
TONI.
Gleichgültig?
WENDT.

Ach das ... Es könnte freilich – unter Um ständen – recht schön sein! Sieht Toni plötzlich voll an, diese bückt sich noch tiefer über ihre Arbeit. Aber ich wollte ja ... Ich meinte ... Er beugt sich wieder zu ihr hin. Alle die Mäntel müssen Sie nun also in den – Feiertagen nähen?

TONI
leise, ernst.

Ja! Es macht freilich so mehr Mühe mit der Hand! Aber mit der Nähmaschine geht's jetzt nicht, wo Linchen krank ist. Pause. Ja, das wird nun ...

WENDT.
Wie meinen Sie?
TONI.
Zwei Jahre haben ... Sie nun ... hier gewohnt!
WENDT.
Aber die Handarbeit ... das fortwährende Nähen muß doch Ihre Gesundheit sehr angreifen!
TONI
mit einem Lächeln.
Ach, ich bin nicht schwächlich! Man muß nur Ausdauer und ein bißchen Geduld haben.
WENDT.

Geduld ... Ja! Toni! Ich wollte Sie nun etwas fragen! ... Ich habe schon einmal ... Sie nahmen's damals für Scherz ... und ich sah damals auch ein, daß ich noch kein Recht hatte ... Aber jetzt kann ich Sie ja mit mehr Recht fragen ... Jetzt wo ich in – geordnete Verhältnisse komme! Ich meine ... wollen ... wollen Sie mir auf meine – Landpfarre folgen?


Das Geläute hört auf.
TONI.
Sie ... ob ich – Ihnen ...
[363]
WENDT.
Ja! Ob Sie mir jetzt folgen wollen?
TONI.
Ach ... Sie bricht in Tränen aus.
WENDT.
Sie weinen?!
TONI.
Warum ... Das ist – nicht recht von Ihnen, daß Sie wieder davon – sprechen!
WENDT.
Nicht recht?! ... Warum?! ... Toni! Jetzt?
TONI.
Das – geht ja doch nicht! Das geht ja doch nicht!
WENDT.
Das – geht nicht?!
TONI.
Nein! ... Ach Gott!
WENDT.
Aber warum denn nicht?
TONI.
Ach Gott!
WENDT.
Es geht, Toni! Jetzt geht es! ... Wissen Sie: In diesen Tagen fand ich hier ein Buch!
TONI.
Ein ... ein Buch?
WENDT.

Ein einfaches Büchelchen! ... Zwei Bogen gelbes Konzeptpapier in ein Stück blaue Pappe geheftet. Mit solchem weißen Zwirn da! Jemand hatte es hier liegenlassen, aus Versehen!

TONI
sehr verwirrt.
Ein ... das ...
WENDT.

Ich habe darin gelesen! ... Es waren allerlei Notizen darin! Tagebuchnotizen! Selbstbekenntnisse, die eine für sich gemacht hatte, die immer so still und bescheiden ist, alles mit sich selbst im stillen abmacht und auskämpft! ...

TONI
weint heftiger.
Ach! ... Warum haben Sie darin gelesen?
WENDT
rückt näher zu ihr und sucht ihr ins Gesicht zu sehen.
Ich war sehr, sehr glücklich, als ich das alles las!
TONI.
Ach! Ich ... aber ich darf doch hier nicht fort!
WENDT.

Du darfst nicht?! Toni! Bist du ... ich meine: Kannst du's hier – aushalten?! Bist du hier glücklich?!

TONI
immer noch weinend.
O Gott! O Gott!
WENDT
sehr erregt.

Nein! Nein! Das ist unmöglich. Toni! ... Ich habe vorhin, drin in meinem Zimmer, gehört, was du mit deiner Mutter sprachst! Ich habe mehr als zwei Jahre hier gewohnt und alle die Szenen mit angehört, die furchtbaren [364] Szenen! ... Ich habe euer ganzes, unglückliches Familienleben kennengelernt! Zwei Jahre lang hab ich das alles gehört und gesehen! Zwei Jahre lang! Und es hat mich ... Stöhnt auf. Und du! Wenn man denken muß: Zweiundzwanzig Jahre hast du in alle dem Elend gelebt und hast es ertragen müssen! Zweiundzwanzig Jahre! ... Herr mein Gott! Zweiundzwanzig Jahre! ...

TONI
verlegen – trotzig.
Oh, der Vater ist gut ... ein bißchen aufbrausend, aber ... Ach Gott! Schluchzt.
WENDT
verbittert.

Gut! Gut! Lacht auf, zornig. Nein! Nein! Du darfst nicht länger bleiben! Du darfst nicht länger in diesem traurigen Elend leben! Hörst du! Du verdienst das nicht! Du paßt nicht hierher!

TONI.
Aber ich ...
WENDT.
Hast du denn gar kein Bedürfnis nach Glück?!
TONI
schüchtern, forschend.
Glück?! Ich – weiß nicht! ... Ich – verstehe Sie nicht!
WENDT.

Ach, ich spreche da! Ich ... ich meine: hast du denn nicht manchmal den Wunsch gehabt, hier wegzukommen, in ruhige, schöne Verhältnisse? Wo du nicht Tag für Tag – Herrgott! – Tag für Tag! all das Elend hier vor Augen hast? Wie?

TONI.
Aber ...
WENDT
leise, etwas höhnisch.

Ich habe auch davon etwas in dem kleinen, blauen Büchelchen gelesen! Siehst du? Ich kenne dich ganz genau! Du bist auch nur ein Mensch!

TONI.
Ach! Warum haben Sie nur ... Weint von neuem.
WENDT
fortgerissen.

Nein! Es ist ja hier ... Das kann ja kein Mensch ertragen! Dein Vater: brutal, rücksichtslos –, deine Mutter: krank, launisch; beide eigensinnig; keiner kann sich überwinden, dem andern nachzugeben, ihn zu verstehen, um ... um der Kinder willen! Selbst jetzt, wo sie nun alt geworden sind, wo sie mit den Jahren vernünftiger geworden sein müßten! Die Kinder müssen ja dabei zugrunde gehn! Und das ist ihre Schuld, die sie gar nicht wieder gutmachen können! [365] Einer schiebt sie auf den andern! Keiner bedenkt, was draus werden soll! ... Und das nun schon lange, schrecklich lange Jahre durch! Dabei Krankheit und Sorge ... Furchtbar! Furchtbar!! Wenn man sich in den Gedanken versenkt ... tt! ... Nein, das ist alles zu, zu schrecklich! Das sind keine vernünftigen Menschen mehr, das sind ... Äh! Sie sind einfach jämmerlich in ihrem nichtswürdigen, kindischen Haß! ... Ist aufgesprungen und geht nun mit großen Schritten im Zimmer umher.

TONI
schluchzend.

Oh, wie können Sie nur so von Vater und Mutter sprechen! Sie sind beide so gut! Wie können Sie das nur sagen! ...

WENDT
sich mäßigend.

Setzt sich wieder zu ihr, den Stuhl noch näher zu ihr rückend. Oh, ich ... t! ... Höre doch nicht, was ich schwatze! Ich ... Nein! Ich meine ... Du kannst doch unmöglich hier bleiben! Weine doch nicht, liebe Toni! Mißversteh mich doch nicht! Ich meinte ja nur! ... Sieh mal! Du mußt dich ja bei all dem Elend auf reiben! Es ist unerträglich, geradezu uner träglich, daß du – du! – hier verkümmern sollst! ... Und mach dich doch nicht stärker, als du bist, Toni! Ich weiß es ja, Toni! Siehst du? Ich weiß es ja, daß du dich hier heraussehnst! ...

TONI.
Oh, wenn man mal ... 'n bißchen ... ungeduldig ist! ... Das habe ich nur so – hingeschrieben!
WENDT.

Nur so ...? Ach was! Das glaubst du ja selbst nicht, Toni! Das war ja ganz natürlich?! Ganz berechtigt?!

TONI.
Ach, sprechen Sie doch nicht mehr davon! ... Ich bitte Sie! ... Sprechen Sie nicht mehr davon!
WENDT.

Siehst du? Du hast Angst, das zu hören! Aber doch! Grade mußt du das hören! Die Aufopferung muß auch ihre Grenze haben! ... Zweiundzwanzig Jahre! Einen Tag nach dem andern, jahraus, jahrein, immer dasselbe Elend, dieselbe Not! Das ist ja geradezu der pure Selbstmord! Nein! Du mußt hier fort! Du hast ein Recht, an dich und deine Zukunft zu denken! ... Warum sollst du [366] hier verkümmern?! Warum?! Was kann dich dazu verpflichten?! ... Was hat dein Vater und deine Mutter getan, daß sie das verdienen?! Nun?! ... Haben sie an deine Zukunft gedacht?!

TONI.
Ich ... ich weiß nicht! ... Ach, reden Sie doch nicht so! Sagen Sie doch das nicht!
WENDT.

Heute, am Heiligen Abend, sitzt du da in Angst und Bangen, wo sich jeder freut, und flickst dich krank! Nein! Das ist – empörend!! Das ... Sieh mal, Toni! Warum sollte es nicht gehn? Sieh mal! Tust du ihnen denn nicht selber einen Gefallen? Es muß ihnen doch nur lieb sein, wenn du »versorgt« bist?! Wenn sie einen »Esser wen'ger« haben! Ist dein Vater nicht vielleicht gerade deshalb so, weil er sich über deine Zukunft Sorge macht? Hat er dir nicht mehr wie einmal vorgeworfen, daß du noch hier bist?

TONI.
Oh, das meint er ja nur so!
WENDT.
So, so!
TONI.

Und dann ... die Mutter! Ich kann doch die Mutter nicht hier so allein lassen? Sie ist so krank und schwächlich! Sie kann mich gar nicht mehr entbehren!

WENDT
eifrig, faßt ihre Hand.
Ach, was das anbetrifft! Sieh mal ...
TONI
horcht auf.

Warten Sie mal! Entwindet ihm ihre Hand, steht auf und schleicht sich auf Spitzzehen zum Bett hin. Einen Augenblick beobachtet sie die Kranke, dann kehrt sie wieder zurück. Nein! ... Ich dachte ... Linchen ... Pause. ... Und ...Weint noch heftiger.

WENDT
hat sie die ganze Zeit gespannt beobachtet und bricht nun seufzend zusammen.

Ach Gott ja!Sich auf seinen Stuhl wieder aufrichtend. Sieh mal! Was das anbetrifft ... und ... Linchen ... Du meinst Linchen? ... Oh, sie ist ja in den letzten Tagen ... man kann doch unmöglich sagen, daß es grade schlimmer mit ihr geworden ist!.. Schneller. Sieh mal! Wenn sie dich nun versorgt wissen, ist ihnen doch schon eine große Last genommen! Und[367] dann könnten wir sie ja auch unterstützen, nicht wahr? Und wenn erst ihre äußere Lage etwas besser ist, dann ist ja auch vieles, vieles gleich ganz anders! Und dann ... ja, dann sind sie ja auch mit den Jahren – dieses Zusammenleben so gewohnt geworden! Nicht wahr? Sie würden vielleicht etwas entbehren, wenn sie's anders hätten auf einmal, ich meine – versteh mich! – Wenn sie's ganz anders hätten! ... Der Mensch gewöhnt sich ja an das Allerunglaublichste!

TONI.
Ach, nein ... nein ...
WENDT
in höchster Aufregung, sich aber noch fassend.

Toni! ... Ich weiß nicht! Du hast so viele Bedenken, so viele ... Sag's! Sag's grade raus! Hast du das vielleicht – auch nur so geschrieben, daß ... daß du ... mich liebhast? Kannst du mir nicht folgen, weil ... du mich ... nicht liebhast?

TONI.
Ob ich dich ...? Aber ... o Gott! Was sag ich! ...
WENDT
freudig.
Oh, nicht wahr? Drückt ihr die Hand. Liebe!
TONI
schluchzt nur.
WENDT
wieder sehr erregt.

Und dann, liebe Toni, siehst du? Muß ich dir noch etwas sagen! Ich bin ... ich weiß nicht ... aber du mußt mich recht verstehn, ich ... ich bin so gut wie – tot! Toni sieht ihn erschrocken an und rückt in naivem Schreck unwillkürlich ein wenig von ihm ab. Hat aufgehört zu weinen. Wendt spricht das Folgende immer noch in größter Erregung wie zu sich selbst. Als ich zu studieren anfing, da war ich frisch und lebendig, voll Hoffnung! Da glaubte ich noch an meinen Beruf! Da hatte ich noch Ziele, für die ich mich begeisterte! ... Aber das hat sich alles geändert! ... Seitdem ich hierher gekommen bin in dieses ... in die Großstadt, mein' ich ... und all das furchtbare Elend kennengelernt habe, das ganze Leben: seitdem bin ich – innerlich – so gut wie tot! ... Ja! Das hat mir die Augen aufgemacht! ... Die Menschen [368] sind nicht mehr das, wofür ich sie hielt! Sie sind selbstsüchtig! Brutal selbstsüchtig! Sie sind nichts weiter als Tiere, raffinierte Bestien, wandelnde Triebe, die gegeneinander kämpfen, sich blindlings zur Geltung bringen bis zur gegenseitigen Vernichtung! Alle die schönen Ideen, die sie sich zurechtgeträumt haben, von Gott, Liebe und.. eh! Das ist ja alles Blödsinn! Blödsinn! Man.. man tappt nur so hin. Man ist die reine Maschine! Man ... eh! Es ist ja alles lächerlich! Mit einer hastigen Bewegung zu ihr. Siehst du, liebe Toni! Deshalb kannst du und darfst du einfach gar nicht nein sagen! Du bist meine einzige Rettung! ... Ich könnte ohne dich keinen Tag mehr leben, oder ich müßte verrückt werden, einfach verrückt! Du ... du bist das einzige, woran ich nicht zweifle! Alles andre versteh ich! Alles andre ist mir so unheimlich klar und durchsichtig! Aber du ... du?! ... Wenn ich dich so sehe, so still leidend, so geduldig, da ... möcht ich dich – haben!! ... für dich leben, verstehst du? Und ... alles andre ... hahaha! ... ich pfeife, pfeife drauf! ... Nur du ... du!! ... Sieht sie an, kommt plötzlich wieder zu sich und springt auf. Du! ... Was ... was hab ich – gesprochen? Du weinst?! Mädchen! ... Herrgott! Rückt ganz nahe zu ihr. Spricht das Folgende sehr sanft. Ach, siehst du! Das war ja alles Unsinn, Torheit! Ich weiß nicht ... tt! ... Ich meinte ... siehst du? ... man lernt so viel kennen in der Welt, was einen niederdrückt, mißmutig macht ... so manchmal, mein ich! ... Nicht wahr? ... Deshalb wirft man ja aber doch die Flinte nicht gleich ins Korn?! ... Das geht allen so! ... Ich meinte nur: wenn zwei, so wie wir, sich zusammentäten, dann würd es ihnen leichter, das Leben zu ertragen! ... So meint' ich! ... Ich habe da ... ich weiß nicht, wie ich das alles so hingeschwatzt habe! ... Das ist ja alles selbstverständlich! ... Es ist ja weiter gar nichts dabei! ... Es ist ganz einfach! Weine doch nicht mehr, mein liebes, liebes Mädchen! ... Nein, ich ... ich ... Narr! ... Beruhige [369] dich! ... Beruhige dich doch! ... Hörst du? ... Hab ich dich so erschreckt?

TONI
rückt näher zu ihm, schmiegt sich an ihn.
Nein ich ... ich bedaure dich so!
WENDT
sie an sich drückend.
Du – bedauerst mich?! Mädchen!
TONI.
Kannst du denn dann aber Pastor werden?
WENDT
glücklich.
Ach das ... das ist ja eine Form! Das ist Nebensache!
TONI.
Aber wenn du nicht glaubst, daß ... wenn du nicht an – Gott glaubst?
WENDT.

An Gott glaubst! ... Die Hauptsache ist –Innig. –, wir werden uns dort beide auf dem Lande so wohl fühlen, so wohl! Wir werden so glücklich sein! Nicht wahr?

TONI.
Aber ...
WENDT.

Wir leben dann still für uns in ruhigen, schönen Verhältnissen! Wir werden ganz andere Menschen sein! Und dann sollst du sehn, wie ich den Leuten predigen werde! Der Katechismusgott soll dann erst lebendig werden, lebendig! ... Wir verstehen das Leben! Wir wissen, wie miserabel es ist, aber wir haben dann auch, was mit ihm versöhnt! Und das ist besser, als alle Kanzelphrasen, wenn wir das den Leuten mitteilen.

TONI.
Aber ... ich weiß nicht ... wenn du doch nicht wirklich glaubst ...?
WENDT.

Kein offizieller Glaube, aber ein besserer, lebendigerer! ... Laß nur! Du sollst sehen! ... Denke dir: Eine herrliche Gegend! Laubwald! Berge! Getreidefelder! Stilles, gesundes Landleben! ... Unser Haus hinter der kleinen Dorfkirche, ganz von Weinlaub umrankt, mitten in einem großen Obstgarten mit einem Hühnerhof. Ringsherum eine große, hohe Mauer, und da drin hausen wir, wir beide, ganz abgeschlossen von der Welt, aber ohne Haß, und das ist die Hauptsache! Und wenn du mir dann [370] sonntags in den Talar hilfst, und ich durch den kleinen Friedhof in die Sakristei spaziere, dann sollst du einmal sehen, was ich den Leuten predigen werde! Sie sollen schon mit dem neuen Pastor zufrieden sein! Nicht?!

TONI
die ihm aufmerksam, vor sich hin lächelnd, zugehört hat.
Oh, das wäre schön!
WENDT.
Ja! Nicht wahr?! Nicht wahr?!
TONI.
Aber hier, was sollen sie denn hier anfangen?
WENDT.

Ach, das wird dann auch alles ganz anders! Du sollst sehen! ... Albert hat dann ausgelernt und verdient mit zu, Walter wird ja auch bald konfirmiert, und du, du bist dann »versorgt«: Dann werden sie nicht mehr soviel Grund haben ...

TONI.
Ach ja! Vielleicht! ... Ach, das wäre so schön, so schön!
WENDT.
Nicht wahr?!
TONI.
Ja, ja! Das ginge! Vielleicht! ... Dann würde es wohl hier besser werden!
WENDT.
Sicher! Und dann ... Vergiß doch nicht! Dann sind wir ja auch da!
TONI.
Aber Linchen! Wenn Linchen nur nicht immer so krank wäre?!
WENDT
hastig.
Ach, siehst du ... sie ... sie ist ja ...
TONI
zusammenschauernd.
O Gott, wenn sie stirbt!
WENDT.
Stirbt? Unruhig. Ach, wie kommst du nur darauf?
TONI.
Ach, weißt du! Ich – Weint. – ... habe so wenig Hoffnung!
WENDT.
Aber ich bitte dich! Du hörst ja!
TONI.

Ach ja, ja! ... Sie ist das einzige, was Vater und Mutter haben! Sie ist ihre einzige Freude! Wenn sie nicht noch wäre ... Siehst du, das ängstigt mich so! Das wäre zu schrecklich! Zu schrecklich!Vor sich hin starrend. Wenn sie stirbt, und wenn ich dann auch noch fort wäre ... Wirft sich ihm um den Hals. Ach nein! Nein! Das geht ja gar nicht! Das geht ja gar nicht! Dann wäre hier alles noch viel, viel schlimmer ...

[371]
WENDT
sie sanft von sich loslösend.

Aber wie kommst du denn nur darauf, liebe Toni? Es liegt ja gar kein – Grund vor! Nein! Wir nehmen sie dann später zu uns, daß sie sich in der gesunden, schönen Luft ganz erholen kann! Quäle dich doch nicht immer so! Es wird und muß jetzt alles besser werden! Ich hab's so im Gefühl: Wenn alles am trostlosesten aussieht, wenn es gar nicht mehr schlimmer werden kann, dann muß sich alles zum Guten wenden! Nein! Du wirst glücklich werden, wir alle! Du wirst dort auf dem Lande wieder aufleben! Es wird eine ganz andere Welt sein! ... Du siehst ja alles nur so schwarz an, weil du nie, nie in deinem ganzen Leben etwas anderes als die Not hier kennengelernt hast!

TONI
aufseufzend.
Ach ja! Das ist vielleicht auch wahr!
WENDT
beugt sich über sie.
Also, nicht wahr, Toni?
TONI.
Ja, ja! – Wenn ...
WENDT.
Still! Still! Küßt sie. Oh, nun wird die Welt so schön werden! So schön!
TONI.
Schön? ... Ach Gott ja!
WENDT.
Ja! Schön! ... Trotz alledem! Küßt sie.
TONI.
Lieber! Erwidert seinen Kuß.
WENDT
nach einer kleinen Pause.
Scherzend. Fru Pastern!
TONI
lächelnd.
Ach du!

2. Akt

Zweiter Aufzug

Dasselbe Zimmer. Es ist Nacht, durch das verschneite Fenster fällt voll das Mondlicht. Frau Selicke sitzt wieder neben dem Bett und strickt, Toni arbeitet am Sofatisch, auf welchem hinter dem grünen Schirm die Lampe brennt, Albert sitzt neben ihr, liest, blättert und gähnt ab und zu, Walter steht vorm Fenster, die Arme auf das Fensterbrett gestützt.

WALTER
vom Fenster weg zu Frau Selicke hin.
Mama! Er kömmt immer noch nich!
[372]
FRAU SELICKE
müde, etwas weinerlich.
Ach ja! ... Na, heute können wir uns wieder mal auf was gefaßt machen.
WALTER
sich an sie drängend, sie umfassend.
Mamachen! Biste wieder gut mit mir? ... Ja? ... Mamchen!
FRAU SELICKE.
Ja! ... Ja! ... Wenn du nur nich immer so ungezogen wärst!
WALTER.
Ach Mamchen!
FRAU SELICKE.
Ja! ... Ja! ... 's is schon gut! ... Laß mich nur!
WALTER
immer noch schmeichelnd.
Sag, Mamchen! Biste nu aber auch wirklich ganz gut mit mir?
FRAU SELICKE
lächelnd, abwehrend.
Na ja! Ja, du Schlingel!
WALTER.

Armes Mamchen! Küßt sie und stellt sich dann wieder vor das Fenster hin. Nach einer kleinen Pause, während welcher Albert sich zurückgelehnt, die Arme gereckt und laut gegähnt hat. Du, Albert! Au, kuck mal! Drüben bei Krügers brennt noch der Weihnachtsbaum!

ALBERT
hat sich faul erhoben und ist langsam, die Hände in den Taschen, zum Fenster getreten.

Ach wo, du Peter! Is ja man 'n Licht in der Küche! Wo soll denn jetzt noch 'n Weihnachtsbaum brennen?

WALTER
ihn unterbrechend.

Halt doch mal! Horch mal! Ging – da nich die – Haustür?! ... Nach einer kleinen Pause, weinerlich. Nee! Ach, nu kann man sich wieder nich hinlegen!


Albert gähnt faul.
FRAU SELICKE.
Leg dich doch schlafen! Das wehrt dir doch niemand!
WALTER.

Ach! ... Wieder nach einer kleinen Pause. Du, kuck mal, Albert! Lauter goldne Flinkerchen hier auf 'm Schnee! Wah? Das sieht hübsch aus!

ALBERT
mißgelaunt.
Ja, ja!
WALTER.
Ob e' was mitbringt, Mamchen? 'n Baum?
FRAU SELICKE
ohne von ihrem Strickzeug aufzusehen.
Werden ja sehn! ... Gähnt. Hach ja!
WALTER.

Ach ja! Ich glaube! ... 'n Baum hab'n wir doch [373] jedes Jahr gehabt? Morgen früh könn'n wir 'n ja immer noch anputzen! Wah, Mamchen? Un wenn wir 'n dann abends anbrennen ... wah?

FRAU SELICKE
müde, abgespannt.
Ja, ja!
WALTER.
Na, un' Linchen bringt er doch auch was mit? Linchen?
FRAU SELICKE.
Na! Er wird wohl! Zählt ihre Maschen, seufzt.
ALBERT
ist vom Fenster weg wieder auf den Tisch zugetreten.
Nee, so 'ne Unvernunft von dem! Mit einem Blick nach der Uhr. 's is nu halb zwei!
TONI
sieht in die Höhe.
Sprich mal nich so vom Vater!
ALBERT
sich zu ihr aufs Sofa setzend und sie schmeichelnd um die Taille fassend.

Ach was, Tönchen! Sei man still! ... 's is doch wahr! Näh mir lieber nächstens mal 'n paar Stege an die Hosen! He? ...

TONI
ihn sanft von sich abwehrend.
Ach, nich doch. Albert! Red Walter zu und geht beide zu Bett!
FRAU SELICKE
unwillig vom Bett herüber.
Ja doch! Stör uns nich immer, und leg dich lieber hin für dein unnützes Schmökern da!
ALBERT.
Na, was soll man denn machen!
FRAU SELICKE.

Statt den ganzen Tag, wenn du frei hast, hier umherzuliegen, könntest du noch 'n bißchen Sprachen lernen! Das braucht 'n Kaufmann heutzutage! Aber du hast nich 'n bißchen Lerntrieb!

ALBERT.
Ach was, Mamchen!
FRAU SELICKE.

Na, mach doch, was du willst! Mir kann's egal sein! ... Mir wird sowieso bald alles egal sein! ... Überhaupt! Nenn mich nich immer Mamchen! Was denkste dir denn eigentlich. Du Gelbschnabel?!

ALBERT.

Na, liebe Zeit! Was wollt ihr denn nur! Ich tu doch meine Schuldigkeit im Geschäft! Da solltest du erst mai andre junge Kaufleute sehn!

FRAU SELICKE.
Na ja, ja! Is schon gut! Wissen ja! Laß uns nur zufrieden!
WALTER.
Ach, nu kömmt er immer noch nich!
[374]
FRAU SELICKE.
Leg dich zu Bett, Walter! Leg dich zu Bett!
WALTER.
Ach nee! Ich kann ja doch nich schlafen, Mutterchen, wenn Vater nich da is!
FRAU SELICKE.

Oh, und nun auch noch die Schmerzen in meinem Fuße! ... Ich könnte laut auf schrein! ... Weiter nichts wie Elend und Sorge und Aufregung hat man! Das ist das ganze bißchen Leben! Wenn einen der liebe Gott doch endlich mal erlösen wollte!

ALBERT
geht mit gesenktem Kopfe verdrießlich auf und ab.

Die Hände in den Taschen seines Jacketts. Nein, das is auch eine Wirtschaft hier! Wenn man doch erst mal ... he! ... Sitzt man bis spät in die Nacht 'nein und wagt kein Auge zuzutun, und am andern Tag is man dann janz kaputt!

FRAU SELICKE.
Ach, geh schlafen, und predige uns nich auch noch was vor! ... Walter, leg dich nun hin!
WALTER.
Ach nein, Mamachen! Ich warte noch!Sieht immer noch aufmerksam zum Fenster hinaus.
FRAU SELICKE.
Na, warte man ...
ALBERT.
Ä was! Ich leg mich hin!
FRAU SELICKE.
Das machste gescheit!
ALBERT
mürrisch.
Jute Nacht!
TONI.
Gute Nacht!

Albert nimmt, während er am Sofatisch vorbeigeht, von diesem eine Streichholzschachtel, klappert damit und verschwindet in der Kammer, nachdem er bereits auf der Schwelle ein Zündhölzchen angestrichen und in das Dunkel hineingeleuchtet hat.
FRAU SELICKE.
Walter!
WALTER.
Ach, Mamachen!
FRAU SELICKE.
Ach was! Dummer Junge! ... Dir tut er ja nichts!
WALTER.
O ja!
FRAU SELICKE.
Ach, Dummheit! ... Leg dich hin! Geh! ...
WALTER.
Au, unten kommt einer!
[375]
FRAU SELICKE
zusammenfahrend.
Kommt e'?!
WALTER
weinerlich.
Is 'n andrer!
FRAU SELICKE.

Nein, so ein Mann! So ein Mann! ... Das kann er doch wirklich nich verantworten! ... Walter! Geh nun!

TONI
hat ihr Nähzeug auf den Tisch gepackt, ist aufgestanden, ans Fenster getreten und nimmt nun Walter an die Hand.
Komm, Walterchen!
WALTER
hat sie von unten auf umfaßt und sieht zu ihr empor.
Ach, laß mich doch! Ich hab ja solche Angst! ... Ich wart hier lieber am Fenster!
TONI.
Dann geh ich auch nicht schlafen! Na?
WALTER
weinerlich.
Ach! – Macht sich von ihr nach dem Fenster zu los.
TONI.
Komm!
WALTER.
Gleich! Sieht durch das Fenster. Jetzt!

Läßt sich von ihr nach der Kammer führen. Schluchzt.
Während die Tür aufgeht, sieht man noch das Licht brennen, das Albert sich angesteckt hat. Toni bückt sich, küßt Walter und drückt dann die Tür wieder zu. »Gute Nacht.«
WALTER.
Ach, laß doch die Tür 'n bißchen auf!
TONI.

Na ja! ... So! ... Eine Weile noch sieht man durch den Spalt das Licht, dann verlischt es. Toni macht sich still wieder an ihre Arbeit.

FRAU SELICKE.

Nein! So ein komischer Junge! Sich so abzuängstigen! ... Über was man sich nich alles ärgern muß? ... Nein! ... Ach! Na – ich sage auch schon! ...


Kleine Pause. Im Bett Husten und Stöhnen.
LINCHEN.
Ma-ma-chen! ...
FRAU SELICKE
beugt sich über die Kissen.
Ach, da biste ja wieder, meine Kleine?
LINCHEN.
Warum – kommt 'n Papa noch nicht?
FRAU SELICKE.

Sei nur ruhig! ... Weine nicht! ... Rege dich nicht auf, mein Herzchen! Er kommt nun bald! ... Ach Gott, ja!

[376]
LINCHEN.
Er ist wieder – betrunken! Nich wahr?

Toni läßt ihr Nähzeug sinken und sieht vor sich hin.
FRAU SELICKE.

Ach nein! ... Nein doch, mein Herzchen! ... Er ist nur einen Weg gegangen! ... Er bringt dir was mit!

LINCHEN.
Ach nein! ... Er will dich nachher wieder schlagen!
FRAU SELICKE.

Ach, aber meine Kleine! ... Weine doch nur nicht, mein Linchen! ... Gott, nein! ... Siehste, du darfst dich ja nich aufregen?! Du wirst ja sonst nich gesund? ... Nein, mein Mäuschen! Er hat nur ein'n Weg gehabt!

LINCHEN.
Bringt er mir wieder Törtchen mit?
FRAU SELICKE.
Ja.
LINCHEN.
Ach Mamachen! Und 'ne neue Puppe möcht ich auch so gerne haben!
FRAU SELICKE.
Ja, die kriegst du! Und auch wieder Wein!
LINCHEN.
Solchen süßen?
FRAU SELICKE.
Ja.
LINCHEN.
Aber weißt du. Ma-machen ... es muß eine Puppe sein, die ... richtig sprechen kann ...
FRAU SELICKE.
Ja! So eine!

Toni hört die ganze Zeit über in Gedanken versunken zu.
LINCHEN.
Auch ein'n ... Wagen ...?
FRAU SELICKE.
Ja?
LINCHEN.
Au! Denn ... fahrn wir die Puppe immer spaziern ...! Nich wahr, Tönchen?
TONI.
Ja, liebes Kind!
FRAU SELICKE.
Ja, meine Kleine! Dann gehst du wieder mit Tönchen spaziern!
LINCHEN.
Au ja! ... Bald – Ma-machen?
FRAU SELICKE.
Ja! Bald! Ganz bald!
LINCHEN.
Morgen!
FRAU SELICKE.

Morgen? Aber, liebes Kind! Du mußt dich doch erst noch 'n bißchen erholen?.. Nich wahr?.. Aber diese Woche vielleicht!

LINCHEN.
Bestimmt?
[377]
FRAU SELICKE.
Ja! ... Bestimmt!
LINCHEN.
Ma-machen ... Ja? Ich – werde doch ... wieder gesund?
FRAU SELICKE.
Ja, gewiß mein Mäuschen! ... Freilich!

Kleine Pause.
LINCHEN.
Ma-machen? ...
FRAU SELICKE.
Hm?
LINCHEN
lächelnd.
Kranksein is hübsch!
FRAU SELICKE.
Ach Gott! ... Meine arme, dumme Kleine! ... Warum denn? Beugt sich zärtlich zu Linchen hin.
LINCHEN.
Weil ... weil du dann ... immer ... so ... gut bist ...
FRAU SELICKE.
Oh, aber mein Linchen! ... Bin ich denn sonst nicht gut?
LINCHEN.
Liebes Mamachen?
FRAU SELICKE.
Was denn, meine Kleine?
LINCHEN.
Mamachen?
FRAU SELICKE
rückt ihr etwas näher.
Na?
LINCHEN.

Nich wahr ... Ma-machen? ... Du – zankst nich mehr ... mit mir.. wenn ich ... erst wieder ... gesund ... bin ...

FRAU SELICKE.
Ach meine ... Küßt sie.
LINCHEN.
Hast du ... mich ... lieb, Ma-machen?
FRAU SELICKE.
Ach, meine Kleine!
LINCHEN.
Bringt Papa ... ein' Baum mit ... und Lichter?
FRAU SELICKE.
Ja, Liebchen! Und morgen kommt der Weihnachtsmann!
LINCHEN.
Ei! ... Rück mich doch 'n bißchen in die Höh, Ma-machen ...
FRAU SELICKE.
Willst du denn nicht wieder einschlafen, meine Kleine?
LINCHEN
aufgeregt, hastig.
Ach, ich ... bin ... gar nich ... müde ... Hustet. Ich.. bin.. ganz ... wohl ... Ma-machen!
FRAU SELICKE.
Ach, der alte, böse Husten! ... Na so? Hat sie ein wenig hochgerückt.
[378]
LINCHEN.
Erzähl mir ... doch ... 'n bißchen was!
FRAU SELICKE.
Ach, liebes Kind! ... Ich weiß nichts! Seufzt.
LINCHEN.
Ma-machen! ... Krieg ich auch 'n neues Kleid ... wenn ich ... wieder ... gesund bin?
FRAU SELICKE.

Ja! – Aber sprich doch nich soviel, mein Liebchen! Es strengt dich so an? ... Komm!Legt den Kopf neben sie auf das Kissen. Komm! Schlafe! Schlafe, mein liebes Täubchen!

LINCHEN.

Lieschen Ehlers sagt immer in der Schule zu mir: Ach pfui ... du – hast so 'n ... schlechtes ... Kleid!

FRAU SELICKE.
Ja! Tönchen soll dir ein ganz neues machen! – Komm! – Schlafe, meine Kleine!
LINCHEN.
Au! Wart doch – mal, Ma-machen! Meine – Hand ...
FRAU SELICKE.
Oh, hab ich dir weh getan, mein Püppchen?
LINCHEN.
Lieschen Ehlers is dumm! Nich wahr ... Ma-mach'n?
FRAU SELICKE.
Ja! Richtig dumm! ...

Kleine Pause. Frau Selicke hat fortwährend noch ihren Kopf auf dem Kissen.
LINCHEN
schnell, aufgeregt.

Und darf ich – auch wieder – mit Tönchen zur – Tante, aufs Land? ... wenn ich ... wieder gesund ... bin? ... Ja? ... Weißte, dann ... suchen wir immer.. die Eier.. in der Scheune.. Tante und ich.. Ma-mach'n! ... Ma- mach'n! Onkel sagt immer ... zu mir: »Giv mi – mol 'n – Kuß, min lütt Deern!« ... Lächelnd. Mama! 'n Kuß! ... Aber – er hat – so 'n Stachelbart!.. Das kratzt immer.. Weißte, ich hab 'n immer – seine – lange Pfeife gestopft ... und dann – mußt ich – immer essen, aber auch – immer essen! ... Sie – nudeln ein' ordentlich! ... Au! Ich – konnte manchmal – gar nich – mehr! ... Die alte – Großmutter – sagt immer ... »Fat tau. Kind! – Fat – drist – tau!« – Na, die – haben's ja! – Nich wahr – Ma-mach'n? – Sie schlachten – jedes Jahr – vier Schweine! ... Vier Schweine! ... Mamach'n?[379] Horch mal! Lächelnd. Einmal – hat mir – Cousin Otto ... den Schweinsschwanz – hinten an 'n ... Zopf gebunden ... un – ich hab's erst – gar nich gemerkt! ... Cousin Otto – macht immer – solche Dummheiten! – Nich? – Aber – er is – gut! – Er hat mir immer – Weintrauben – aus dem Garten – gebracht ... Ja! ...

FRAU SELICKE.
Kucke, meine Kleine! Du wirst ja ganz munter? Aber sprich lieber nich soviel, mein Häschen!
TONI
hat während der Erzählung Linchens freudig überrascht aufgehorcht und ist nun auch an das Bett herangetreten.
Wie unser Linchen erzählt! Siehst du, Mama? Nun wird sie bald, bald gesund sein!
LINCHEN
etwas ungeduldig.
Na ja! ... Das – werd ich auch!
TONI.

Schön! Schön, mein gutes Herzchen! Steht am Bett mit übereinander gelegten Armen und sieht zärtlich auf Linchen herab.

FRAU SELICKE
die Toni zugenickt hat.
Aber, hörst du? Erzähl lieber nicht soviel, mein Linchen!
LINCHEN
schnell, aufgeregt.

Nein ... wart doch mal ... Mamachen! ... Hör doch mal! ... Un Cousine Anna ... Die hat Kleider! ... Kleider hat die! ... Na, aber auch ... so viele! ... Sonntags ... weißt du ... wenn wir in die Kirche ... Hustet.

FRAU SELICKE
angstvoll.
Kind! Kind!
LINCHEN.

Ach ... das ... schadet nichts ... Ma- mach'n! ... So 'n – bißchen – Husten noch! ... Das – hört morgen wieder auf – Nich? ... Sonntags in der Kirche.. ein blaues, ein – ganz – himmelblaues.. mit.. weißen Spitzen! ... Fein! Mamachen! ... Na ... aber auch alle, alle – haben – auf uns – gekuckt! ...Etwas ruhiger; nachdenklich. Ach, wie hübsch – is es da – Mamachen! ... Immer – so still! ... Aber – viel Fliegen! ... Nich wahr, Mamachen? ... Wenn es – recht heiß is ... Onkel zankt nich 'n – einziges Mal – mit Tante! ... Kein Schimpfwort! ... Und Anna und Otto – sind auch immer – so artig!

[380]
FRAU SELICKE.
Liebes Herzchen! Du wirst ja ganz heiser!
LINCHEN.

Weißte ... sie wollten – mich dabehalten! ... Sie wollten mich – gar nich – wieder fortlassen! ... Tante sagte: Ich sollte nu – ihre Tochter werden! ... Papa – soll sich's.. überlegen!.. Nachdenklich. Gut hätt ich's da! ... Nich, Mamachen? ... Sehr lebhaft, sich steigernd. Aber du – und Papa – sollen mich – dann immer – besuchen! ... Aber – ich ziehe nich hin, Mamachen! ... Nich? ... Ich ziehe nich hin! ... Ich bleibe – hier!

FRAU SELICKE.

Uh! Dein Händchen brennt ja wie Feuer, mein liebes Puttchen! ... So! ... So! ... Nich wahr, mein Herzchen?

LINCHEN
nach einer kleinen Pause.
Ach, Mamachen! Der schöne, schöne Mondschein!
FRAU SELICKE.
Ja?
LINCHEN
versucht zu singen.
Wer hat die schönsten Schäfchen,
Die hat der goldne Mond ...

Sie bekommt einen Hustenanfall. Toni läßt ängstlich ihr Nähzeug sinken.
LINCHEN.
Ach! ... aah! ... aah! ...
FRAU SELICKE.
Mein armes Herzchen! Mein armes Herzchen!

Linchen liegt einen Augenblick still, von dem Anfall erschöpft.
LINCHEN.
Ma-mach'n!
FRAU SELICKE.
Hm?
LINCHEN.
Ach! – Ich ... möchte.. aufstehn!
FRAU SELICKE.
Aber Kind!
LINCHEN.
Es – is – so – langweilig im Bette! Wirft sich unruhig herum.
FRAU SELICKE.
Habe nur Geduld, meine Kleine! Morgen oder übermorgen wollen wir mal sehn! Dann kannst du wohl raus!
LINCHEN.
Aber auch ganz gewiß!
[381]
FRAU SELICKE.
Ja!
LINCHEN
seufzt.

Ich will auch – nie wieder unartig sein – Mamachen ... wenn ich wieder – gesund bin! ... Ich gehe dann – alle Wege! ...

FRAU SELICKE.
Ja, ja, mein Liebchen! Aber nich wahr? Nun schläfst du auch wieder.
LINCHEN
schläfrig, immer leiser.
Ach ja.. ja..
FRAU SELICKE
nach einer Pause.
Sie schläft wieder! ... Ach, mein Fuß! Mein Fuß! ... Stöhnt auf.
ALBERT
aus der Kammer.
Mama! Das geht einem ja durch Mark und Bein!
FRAU SELICKE.
Na wart nur! ... Du solltst mal erst die Schmerzen haben! ... O Gott! Was hat man nur vom Leben! ...
ALBERT
aus der Kammer.
Ach, nu faßt du das wieder so auf! ... So meint' ich's ja gar nich!

Toni ist zum Fenster getreten.
FRAU SELICKE.
Hörst du denn immer noch nichts, Toni?
TONI.
Nein!
FRAU SELICKE.

Ach Gott, nein! So ein Mann! Nicht ein bißchen Rücksicht! ... Das ist ihm hier alles egal, alles egal! ... So ein alter Mann! ... Er sollte sich doch nu schämen! ... Nein, wahrhaftig! Ich hab auch nich 'n bißchen Liebe mehr zu ihm! Aber auch nich 'n bißchen! ... Für mich is er so gut wie tot! ... Ach ja! Ich kann wohl sagen: mir ist alles so gleichgültig! Wenn das arme Würmchen nich noch wär! ... Jahraus, jahrein dasselbe Elend! ... Ach, ich kann wohl sagen: ich habe mein Leben recht satt! ... Is gar kein Wunder, wenn man gegen alles abstumpft! ... Wie gut hätten wir's haben können! ... Wie leben andre Leute in unsrem Stande! Wenn man so nimmt! Mohrs! ... Der Mann is 'n einfacher Handwerker gewesen und hat jetzt sein schönes Haus! Und die Wirtschaft! Was haben die Leute für 'ne Wirtschaft! ... Na, un bei uns? ... Und der will [382] nun 'n gebildeter Mann sein! ... Nein, wie das bei uns noch werden soll? ... Und an allem bin ich schuld! ... Ich verzieh' die Kinder! Ich vernachlässige die Wirtschaft! Alles geht auf mich! ... Und da sollen die Kinder noch Respekt vor einem haben! ... Ach Gott, nu sitzt man wieder hier und zittert und bebt! ... Und wenn man nur nicht dabei so hinfällig wär! ...

WALTER
steckt den Kopf durch die Kammertür.
Mutterchen!
FRAU SELICKE
fährt herum.
Was! ...
WALTER.
Mutterchen! Kommt er denn immer noch nich?!
FRAU SELICKE.

Ach, du?! – Ich denke, du bist schon lange eingeschlafen? ... Biste denn nur nich gescheit, Junge?! ... Mach mal gleich, daß du wieder ins Bett kommst! Du willst dich wohl erkälten?! Was?!

WALTER.
Ach, ich habe ja solche große Angst!
FRAU SELICKE.
Nein, so was! ... Leg dich mal gleich hin!
WALTER
schleicht sich wieder zurück.
FRAU SELICKE.

Ei, du lieber Gott! Nein! ... In Schulden sitzt man bis über beide Ohren! ... Nichts kann man anschaffen! ... Kaum, daß man das liebe bißchen Brot hat! ... Nein, das kann euer Vater wirklich vor Gott nich verantworten! ... Un dabei macht er sich selber ganz kaputt! ... Seine Hände fangen schon ordentlich an zu zittern! Haste noch nich gemerkt?

TONI
die währenddem wieder eifrig genäht hat, antwortet nicht.
FRAU SELICKE.

Du armes Tier! Du wirst gewiß auch schön müde sein! ... Ach nein, so ein Leben! So ein Leben! ... Hm! Womöglich is 'm was passiert?! ... Er hat vielleicht Streit gehabt! Er is ja so unvernünftig, wie 'n kleines Kind! ... Äh! Ich sage auch! Das ganze Leben is ... Gähnt nervös, streichelt über Linchens Händchen. Mein armes Würmchen! Das arme, magre Händchen! ... Ach Gott, ja! Du sollst sehn, wir behalten sie nicht!

[383]
TONI.
Ach, Mutterchen!

Toni tritt wieder ans Fenster.
FRAU SELICKE.
Horch mal! ... Poltert's nich auf der Treppe?!
TONI.
Ach, wohl nur die Katze!
FRAU SELICKE.

Ach Gott, nein! Erhebt sich und geht schwerfällig auf das Fenster zu. Wunderhübsch draußen! ... Aber der Himmel bezieht sich wieder, wir bekommen andres Wetter! ... Ich spür's an meinem Fuß! ... Nein, noch nichts zu sehn! Ach ja! Geht wieder zurück und setzt sich. Ich bin todmüde! Wie zerschlagen!

TONI.
Da kommt wer!
FRAU SELICKE.
Ach Gott! Fährt in die Höhe.
TONI.
Er ist es! ... Endlich!
FRAU SELICKE.
Ach! – Ach! – Mein Herz! – Mein Herz! Die Angst drückt's mir ab!
WALTER
aus der Kammer.
Mutterchen! Kommt er?!
FRAU SELICKE.
Still! Schlaf!
TONI.
Er ist auf der Treppe! – Hinten! Sie ist auf Frau Selicke zugetreten.
FRAU SELICKE.
Ich renne fort! ... Ach! Wohin?
TONI.
Sei ruhig, Mutterchen!
FRAU SELICKE.
Ach, meine Angst! Meine Angst! ... Paß auf! ... Es gibt 'n Unglück! Das arme Kind! ...
TONI
stützt sie.
Beruhige dich doch, Mutterchen! Er ist ja gar nicht so schlimm, wie er immer tut.
FRAU SELICKE.
Ach, trotzdem! ... Meine Nerven sind ja so schwach! Alles nimmt mich so mit!
TONI.
Der Vater ... Nein! 's is wahr.. hach!
FRAU SELICKE.

Mich schwindelt! ... Mir.. is ... zum Umkomm'n! Stützt sich gegen Toni. Horch! ... Er kommt heut wieder hintenrum! Ach, mein Herz!.. Mein Herz!.. Fühl mal!

WALTER
aus der Kammer.
Mutterchen! Mutterchen! Es pumpert gegen die Küchentür!
FRAU SELICKE.

Ach Gott, ach Gott! Is der schwer! ... Ruhig, [384] Walter! Sei still, mein Junge! ... Tu, als ob du schläfst!.. Toni, mach auf!

TONI.
Ja! Geh so lang vorn raus, Mutterchen! Auf alle Fälle!

Toni ab in die Küche mit der Lampe. Frau Selicke steht einen Augenblick nach der Küche hin lauschend. Zittert. Preßt beide Hände aufs Herz. Geht dann auf die Flurtür zu. – Es poltert in der Küche. Schwere Schritte. Eine tiefe Baßstimme. Lustiges Lachen. – Frau Selicke verschwindet schnell im Flur. Die Küchentür wird aufgestoßen. Noch hinter der Szene die Stimme Selickes: »Na?..Tönchen.. Tööönchen..«
SELICKE
tritt in die Stube, welche in diesem Augenblicke nur vom Mondlicht und von dem Licht der Lampe, das aus der Küche in die Stube fällt, hell ist.

Selicke: ein großer, breitschultriger Mann mit schwarzgrauem Vollbart. Schwarzer Sonntagsanzug unter dem offenstehenden Überrock. Er schleift einen kleinen Christbaum hinter sich her; aus den Taschen sieht Papier von Paketen und Tüten vor. Unter den Arm hat er eine große, weiße Tüte gequetscht. Er ist angetrunken. Taumelt aber nur sehr wenig und spricht alles deutlich, nur etwas langsam und schwerfällig. Sagt in sehr guter Laune. Na?! ... Habt ihr wieder kein Licht. Ihr Tausendsakramenter, ihr? ... He? ...Lacht fortwährend leise vor sich hin, nickt mit dem Kopf und macht ein pfiffiges Gesicht, als wenn er eine Überraschung vor hätte. Toni kommt ihm mit der Lampe nach. Setzt sie auf den Sofatisch. Huaach! ... Ne! Wird man – müde.. wenn man so auf dem Weihnachtsmarkt rumläuft? ... Lacht und blinzelt Toni zu, die am Sofatisch in seiner Nähe steht. ... 'n hübscher Baum – hbf! – hä? ... Holt man morgen früh gleich die – hb! – Hütsche vom Boden! – Da! Nimm ihn hin! –Gibt Toni den Baum; tut scherzhaft, als wenn er sie erschrecken wollte. Sie lächelt gezwungen und stellt den Baum beiseite. Er lacht, [385] wendet sich dann zum Tische und fängt an, seine Taschen auszupacken; singt dabei. »Nicht Roß, nicht Reisige ...« Sich unterbrechend. Wo sind denn ... die Jungens?

TONI.
Sie schlafen schon!
SELICKE.
Wie – hb! – Wie spät is denn – eigentlich?
TONI.
Zwei.
SELICKE
tut sehr erstaunt.

Was – Kuckuck! Zwei?! – Hebt, indem er weiter auspackt, abermals an. »Nicht Roß, nicht Reisige.« Er nimmt aus einer Tüte zwei Pfannkuchen, geht damit auf die Kammer zu und ruft mit gedämpfter Stimme. He! Walter! – Walter! – Willste noch 'n Pfannkuchen? Bekommt zuerst keine Antwort. Na?!

WALTER
in der Kammer, halb ängstlich.
Ja!
SELICKE.

Da! Fang! Wirft den Pfannkuchen nach Walters Bett hin und lacht. Na, Großer! Du auch?Albert antwortet nicht. Eh! Frißt 'n je doch! Da!Wirft auch ihm einen Pfannkuchen zu und geht dann vergnügt, leise vor sich bin pfeifend, zum Tisch zurück. Ja, ja! Die Jungens! Toni, die solange am Tisch gestanden, hat abwechselnd ihn beobachtet und zur Flurtür hingesehn. Er kramt wieder mit den Sachen. Holt das Portemonnaie vor, klappert mit dem Gelde. Legt ein Goldstück auf den Tisch. Hier! ... Da können wir beide ... morgen früh noch ... einiges einkaufen ... gehn! Die Jungens könn'n dann 'n ... Baum putzen ... und am Abend ... beschern wir! ... Na. Was machst denn für 'n Gesicht?!

TONI.
Ich? ... Oh, gar nicht, Vaterchen!
SELICKE
mißtrauisch.

Äh! Red nich! ... Das heißt: Kommste wieder ... so spät, he? ... Ja, – ja! Mein Töchterchen!.. Dein Vater darf sich wohl nich mal 'n Töppchen gönn'n! ... Was?! ... Äh, geh weg! Du altes, dummes Fraunzimmer! ... Ja! Ich möcht mal sehn ... wenn euer Vater ... nicht wär! ... Weißte, mein Tochter? ... Mir geht viel im Kopfe rum! ... Ich sorge mich! – Euretwegen! ... [386] Ja, ja! Wenn ich dich so sehe! ... Wie sind andre Mädchen in deinem Alter! –


Die Flurtür öffnet sich ein wenig. Frau Selicke lauscht durch den Türspalt.
SELICKE.

Du liegst dein'm Vater immer noch – auf 'm Halse! ... Ja, ja! ... Äh! Du! ... Geh weg! ... Ich mag dich nich mehr – sehn! ... Für sich, indem er seitwärts tritt und an seinem Rocke herumzerrt, um ihn auszuziehen. Äh! Is das – 'ne Hitze? ...

TONI
versucht ihm beim Ausziehen des Rockes behilflich zu sein.
SELICKE
brummt mißgelaunt vor sich hin.

Mach, daß du wegkömmst! ... Ich – brauch dich nicht! Toni hilft ihm dennoch. Er streift etwas die Wand. Endlich hat sie mit zitternden Händen ihm den Überrock und dann auch den Rock abgestreift und beides an die Knagge neben der Korridortür gehängt. Selicke steht nun in Hemdärmeln da. Streicht sich über die Arme und schlägt sich dann, vor sich hin kichernd, mit der Faust auf seine breite, gewölbte Brust. Äh! ... Ja? Siehste? ... Dein Vater is noch 'n Kerl! ... Lacht. Was meinste, mein Tochter! ... Z-zerdrück'n könnt ich dich mit meinen Händen!.. Z-zerdrücken!.. Das wär am Ende auch – das beste! ... Mit dumpfer Stimme, sieht vor sich hin. Ich häng euch – alle auf! Alle!.. Und dann – schieß ich mich – tot! ... Toni wankt ein wenig zurück nach der Flurtür zu. – Selicke geht auf die Kammertür zu. Man hört Walter in der Kammer weinen. Na, was – haste denn, dummer Junge!


Mit schwerfälligen Schritten, ein wenig wankend, in die Kammer.
Toni öffnet die Flurtür halb. Frau Selicke steckt den Kopf ins Zimmer.
FRAU SELICKE.
So 'n Kerl! So 'n Kerl!
TONI.
Stille, Mutterchen! Stille!.. Um Gottes willen!
[387]
FRAU SELICKE.
Das Kind, das arme Kind!
SELICKE
in der Kammer.

Komm, mein Sohn!.. Dein Vater hat dich lieb!.. Sehr, sehr lieb! ... Ja, ja, mein Junge! ... Er hat auch gesorgt, daß du was zu Weihnachten kriegst! ... Ja, wer sollte für dich sorgen, wenn dein Vater – nich wär! ... Na, weine doch nicht! ... Was – weinste denn? ... Was?! Äh! Sei nich so dumm! ... Dummer Junge!

FRAU SELICKE
in derselben Stellung, etwas mehr im Zimmer, mit Toni nach der Kammer hinhorchend.
Ach Gott, nun weckt er wieder die armen Kinder, der Kerl!
TONI
ängstlich.
Geh wieder zurück, Mutterchen! Um Gottes willen!
SELICKE
in der Kammer.
Ja, ich habe euch – hbf! – doch – lieb! ... Alle!.. Ja, ja? ... Na? Wo ist denn deine Mutter? – Hä?
FRAU SELICKE
tritt etwas zurück.
Ach Gott, ach Gott!
TONI.
Geh wieder zurück, Mutterchen!
SELICKE
in der Kammer, lustig.

He! Alte! ... Wieder – fortgehumpelt! ... Na, humple, humple nur hin! ... Sucht ihre Stimme nachzumachen. ... »Ach, die – arme Frau!« ... »Was die – für 'n Mann hat!« ... »Äh! Die hat's mal schlecht!«

TONI
drängt Frau Selicke zurück.
Geh zur Türe, Mutterchen! Daß du solange raus kannst, bis er schläft!
FRAU SELICKE.
Aber, das Kind! Das Kind! ... Ich kann doch nich ...
TONI.
Laß nur! Ich will schon sehn! ... Drängt Frau Selicke sanft noch mehr zurück. Armes Mutterchen!
SELICKE
in der Kammer.

Die Alte ist schuld, daß dein Vater so spät nach Hause kommt, mein Sohn! ... Oh, das ist ein Unglück! Ein rechtes Unglück! ... Und der alte, große Schlingel da?.. Hui! hbf! ... Das – schnarche nur! Aus dir wird nichts, mein Sohn! Gar nichts! ... Huste nich! ... Dummer Junge!! ... Was?!! ... Du willst ... Frau Selicke schreit unterdrückt auf.

[388]
SELICKE
kommt aus der Kammer.

Frau Selicke zurück, schließt die Tür. Äh! Da biste ja, mein süßes Weibchen! Geht auf die Flurtür zu. Unterwegs macht er aber halt. Hm? Mein P-Putt ... hbf! ... P – Puttchen? ... Das arme Kind! ... Das arme Kind!Er holt sich die Tüte vom Tisch und geht mit ihr auf das Bett zu. Walter lugt verstohlen um den Türpfosten. Man hört, daß jetzt auch Albert wach geworden ist. – Selicke bückt sich ein wenig über das Bett. – Leise. M-Mäuschen! ... Sch-läfste, mein armes Herzchen? ... Sst! ... Sie schläft, die – kleine Tochter!

TONI
kommt ängstlich auf das Bett zu.
Vater!
SELICKE.
Ich habe dir – was mitgebracht? ... K-Kuchen, Kind? – K-Kuchen?
TONI.
Vater! Sie wird ja wach!
SELICKE
richtet sich auf.
W.. Was willst du? Hä?
TONI.
Sie ist ja so krank!
SELICKE
ihr nachäffend.

»Sie ist so krank!« ... Äh! Hab dich doch, alte Suse! – »Sie ist so krank!« ... »Piep, piep, piep!« ... »Ach, herrjemine!« ... Das arme Mädchen! Wie die sich vor ihrem Vater ängstigen muß! – Mach, daß du wegkommst! ... Mag dich nich sehn! Die letzten Worte zornig, bedrohend. Die Flurtür ist ein wenig aufgegangen. Frau Selicke schreit auf. Aah! ... Sieh mal!.. Da steckste, mein süßes Lamm? Lacht, taumelt an Toni vorbei auf die Flurtür zu. Draußen wird hastig die äußere Flurtür aufgerissen. Es poltert die Treppe hinunter. – Selicke öffnet die Tür. Na, so 'ne Komödie! ... Kuckt, wie die Alte rennen kann –Zeigt in das Entree. – ... mit ihrem schlimmen Fuße! ... Ne! ... Hähähä! ... Wie se humpeln kann!.. Hopp, hopp, hopp! ... Wie der Wind! ... Haste nich gesehn! ... Wie 'n Schnellöfer! ... Lacht, schüttelt dann aber plötzlich die Faust nach dem Flur, ruft unterdrückt. Du, altes T ... Du willst 'ne Mutter sein?! ... Ach, du! – Du! – Du! – Unglücklich hast du mich gemacht! Unglücklich! ... Kommt zurück; während [389] er an Toni vorbeikommt. Na, du? ... »Sie ist so krank!« Äh! Weg! ... Laß mich vorbei! Tappt wieder zum Bett und will sich drüber bücken.

TONI
ihm nach.
Vater! Laß jetzt das Kind! – Sie stößt ihn mit der Hand gegen die Schulter.
SELICKE
richtet sich in die Höhe.

Waaas?!! ... Waaas?!! Du – willst – dich – an deinem Vater – vergreifen?! Waaas?!! ... I, nu seht doch mal!


Kommt auf sie zu.
Toni ist zurückgetreten und lehnt an der Wand. Regungslos. Hände zusammengekrampft. Sie sieht ihm starr ins Gesicht. Ihre Lippen zucken. Die Tränen laufen ihr über die Backen.
TONI.
Pfui! Schäm dich! ... Du bist betrunken!
SELICKE.

I! Seht doch!.. Das liebe Töchterchen! ... Oh, du bist ja ein – reizendes Wesen! Kommt noch näher auf sie zu.

WALTER
in der Kammer, ängstlich.
Vaterchen! Liebes Vaterchen!
SELICKE
sieht sich um.

Bleibt wie verwirrt stehen. Na! Da – heult einer und da ... B-bin ich denn – der reine – Tyrann?! Geht von Toni weg. Hm! ... Brr! ... So 'n Sausoff! ... Geht zum Sofatisch, setzt sich davor nieder und legt den Kopf auf die Arme. Eine Weile ist es still. Toni beobachtet ihn und will Frau Selicke holen. Selicke scheint einzuschlafen ... Nach einer Weile richtet er aber den Kopf in die Höhe. So 'n Weib! ... So 'n Weib! Toni bleibt stehen. So geht man nun unter! ... Sie legt die Hände vors Gesicht. Bebt vor Schluchzen. »Ach, mein Fuß!« – »Ach, mein Fuß!« – Weiter weißte nichts! ... Immer ich – ich – ich! – Ich brauchte dich nicht zu heiraten! – 's war mein guter Wille! – Zu dumm war ich! Zu dumm! – Du alte ... Äh! Du! – »Wir sind so arm!« – »Wir haben kaum 's liebe Brot!« – »Nichts in die Wirtschaft!« – Wer ist denn schuld?! – Wie kannst du mir das sagen! – Verdien dir was, dann haste was! ... Ja! Fortrennen! Das kannste! – Den Leuten was vormachen! [390] Ja! Du armseliges Weib! ... Äh! – Du bist ja – zu dumm! – Zu dumm! So ein – Unglück! – Oh! ... Ist eine Weile still. Toni will schon zur Flurtür. Fängt wieder an. »Wir müssen uns vor jedem schäm'n!« – Hä! Du! – Ich hatte mir das anders vorgestellt! – Ja, ja! – Eine Ehe ist mehr! – Äh, du! – Was weißt du, was eine Ehe ist! – Du! – Wie sind – andre Frauen! – Sieh sie dir mal an! – Aus – nichts muß 'ne Hausfrau was machen können! Aber alles: ich! – Alles der Mann! – Äh! Sieh zu, wie du uns durchschleppst! – Und die – Kinder! – Die armen, armen Kinder! – O Gott, was soll aus den'n werden! – Verzogen sind sie, die lieben Söhnchen! – Und du, Toni! – Du! – Du wirst akkurat wie deine Mutter! Ja, ja? ... Ich habe dich liebgehabt, aber du hast mich nicht liebgehabt! – Du bist niedrig! Niedrig! – Wir paßten nicht zusammen! – Was will man nun machen?! – Äh! – Schleppt man das so mit sich! – Äh! Immer hin! – Immer hin! – Hui! – Die armen Kinder! – Die armen Kinder! – Und du, mein liebes Mäuschen! – Seine Worte gehen in Weinen über. Mein armes, liebes Mäuschen!

TONI
in höchstem Schmerz.
O Gott, o Gott! Preßt die Hände vors Gesicht.
SELICKE
zur Kammer hin.

Ja, ja? – Du! Großer! – Nimm dir 'n Beispiel an deinem Vater! – So was ist ein Unglück! – Ein großes, großes Unglück! – Dein Vater war dumm, gut und dumm, mein Sohn! Aber nicht schlecht! – Er hat euch – alle lieb! – Alle! – Auch eure Mutter! – Sie kann's nur nicht verstehn! – Und das – ist unser Unglück! ...


Seine Worte gehen in ein dumpfes, undeutliches Murmeln über. Er schläft ein.
Vom Bett her das Rauschen von Kissen. Toni, die eben zur Flurtür wollte, schrickt zusammen.
LINCHEN
ängstlich.
Ma-mach'n.. Ma-mach'n! ... Aah! ... Aaaah! ...
[391]
TONI
schnell zum Bett.
Mein liebes Herzchen! – Mama kommt gleich wieder!
LINCHEN.
War – Papa – hier?
TONI.
Ja! Er schläft schon!
LINCHEN.
Hat er mir – was mitgebracht?
TONI.

Ja, Liebchen. Beugt sich zärtlich zu ihr. Huh! Du fieberst ja, mein Herzchen! Das ganze Kissen ist heiß!

LINCHEN
unruhig.

Ach – nein! – Ich bin – wieder – ganz munter, Tönchen! – Ich kann – morgen – aufstehn! – 's is immer – so schönes Wetter! – Und ich – muß immer – im Bett liegen ...

TONI
kann nicht antworten.
Sie horcht. Selicke schnarcht.
LINCHEN.

Ach, 's is man gut – daß – Papa da is! – Ich hatte schon – solche Angst! – Lächelnd. Horch mal – wie er schnarcht! – Wie ne Säge, was? Du – weinst ja, Tönchen?? ...

TONI.
Ich?! Ach nein?
LINCHEN.
Du! – Du! – Er is wohl wieder – betrunken??
TONI.
O nein! Ich dachte gar, mein Liebchen!
LINCHEN.
Will er auch – Mama – nicht schlagen?
TONI.
Nein! I bewahre, mein Herzchen!
LINCHEN.
Ach nein! – Das – tut er auch nicht! – Er macht immer – bloß so! – Nicht wahr?
TONI.
Freilich! Aber, schlafe wieder ein, mein Linchen!
LINCHEN
unruhig.

Ach nein! – Ich kann gar nicht schlafen! – Ich bin ganz – munter, du! – Du! – Ist bald Morgen? – Kann ich bald – aufstehn, Tönchen?

TONI.
Nein, Herzchen! Noch nicht!
LINCHEN.
Ach! – Du! – Du!
TONI
besorgt.

Was – was ist dir denn, mein Herzchen?! Bückt sich zu ihr und fährt dann unwillkürlich wieder in die Höhe.

LINCHEN.
Ach! – Nichts! ... Du! ...
TONI
sie gespannt, ängstlich beobachtend.
Ja?
[392]
LINCHEN.
Wo – is denn – Mamachen?
TONI
mit bebender Stimme.
Warte! Ich rufe sie!
LINCHEN
hastig.
Ja! – Ja! ... Toni will gehen. Du! – Tönchen! – Die L-Lampe – brennt ja – so trübe ...
TONI
wendet sich erschrocken um.
Aber – n ... nein – liebes Mäuschen?! ... Sie – ist ja – ganz hell ...? ... Steht da, wie erstarrt.
LINCHEN
wie vorhin.
Schraub – doch – hoch! ... Es wird ja – ganz – dunkel ...
TONI
mit unterdrücktem Entsetzen.
Kind! ...

Wird leichenblaß. Schraubt mit zitternden Fingern an der Lampe. Wendet sich dann mit wankenden Knien zur Flurtür und öffnet sie.
Vorsichtige Schritte.
FRAU SELICKE
zur Tür herein.
Ist er denn ...
LINCHEN
ängstlich, bang, angestrengt.
Ma-ma- chen ...
FRAU SELICKE
aufhorchend.
Ja? – Mein – Kind?!
TONI
bebend.
Mutter! – Komm! – Schnell! – Er schläft! – Komm! – Linchen ... ich weiß nicht ...
FRAU SELICKE
unterdrückt.
Wa ... Was?! ...Schnell zum Bette hin.
LINCHEN.
Ma-ma-chen ... Ma-ma-chen ...
FRAU SELICKE.
Kind??? Beugt sich forschend über das Bett. Starrt Linchen an.
LINCHEN.

Das – Licht – geht – aus ... Das – Licht – geht – ja ... Ma-ma-chen ... Ach! liebes – Ma-ma- chen ...

FRAU SELICKE
hastig, erregt vor sich hin flüsternd, während ihre Blicke wie gebannt auf Linchen haften.
Toni! Toni! ...
TONI
neben ihr.
Unterdrückt. O Gott ...
FRAU SELICKE.
Mein Liebchen! Mein süßes, süßes Liebchen!

Pause. Totenstille. Nur das leise Schnauben Selickes.
LINCHEN.
Ach – liebes – Ma ... ...
[393]
FRAU SELICKE.

Sie ... Sie ... stirbt! Ach Gott ... Mein Herzchen! – Mein Herzchen! Schreit auf. Stürzt sich über das Bett.

TONI
schnell zum Tisch.
Mit jagender Stimme. Vater! – Vater!
ALBERT
aus der Kammer.
Was ist denn??!
WALTER
weinend aus der Kammer.
Vaterchen! ... Vaterchen! ...
FRAU SELICKE
leise wimmernd.
Sie ist tot! ... Sie ist tot! ...

Albert mit Walter schnell zum Bett.
WALTER UND ALBERT
gleichzeitig.
Mutterchen! – Mutterchen! ... Um Gottes willen!
TONI
weinend.
Vater!! – Vater!! Rüttelt Selicke.
SELICKE
aufwachend.
Äh! – Na! – Laß ... Na ...Hebt verdrießlich den Kopf. Will wieder zurücksinken.
TONI.
Vater!! Ihn, außer sich, an den Schultern packend.
SELICKE.
Na – ja doch! –. Was – gibt's denn ...Starrt um sich und reibt sich die Stirn.
TONI
weint heraus.
Linchen – ist tot ...
SELICKE
starrt sie an.
Erhebt sich. Was – Was ist mit – Linchen?!
TONI.
Ach, sie ist – tot ... Schluchzt. Selicke wischt sich über die Stirn.
SELICKE.
L-Linchen?!!

Zuckt zusammen und geht auf das Bett zu.
Toni wankt ihm schluchzend nach. – Selicke steht eine Weile stumm vor dem Bett, dann bricht er schwer, mit einem dumpfen Stöhnen, auf dem Stuhl zusammen. Die andern beobachten ihn stumm.
TONI
sich auf ihn zustürzend und ihm die Arme um den Hals schlingend.
Lieber Vater! – Mein lieber Vater ...
[394]

3. Akt

Dritter Aufzug

Dasselbe Zimmer. Durch die zugezogenen Fenstervorhänge bricht bereits der Morgen. Auf dem Tische, auf welchem Selickes Einkäufe liegen, brennt noch trübe die Lampe. Der Weihnachtsbaum lehnt noch beim Sofa gegen die Wand. – Draußen auf dem Treppenflur hört man Kinder lärmen und spielen. Eine helle, unbeholfene Stimme singt ein Weihnachtslied. Der Gesang wird oft durch Schreien, Jauchzen, Lachen und den Ton einer Blechtrompete und dann wieder vom Sänger selbst unterbrochen. Zuweilen ist er so deutlich, daß man die Textworte hören kann: »Des freuet sich der Engel Schar ...« Selicke sitzt vor dem Bett in stummer, dumpfer Trauer. – Toni steht etwas seitwärts von ihm neben Frau Selicke und hat den Arm um sie geschlagen. Beide beobachten ihn mitleidig. – Walter hockt auf dem Sofa, weint still vor sich hin, sieht dann wieder zum Bett und zu Selicke bin, gähnt ab und zu aus Übermüdung und zittert vor Frost. – Albert steht neben dem Weihnachtsbaum, zupft in Gedanken an den Nadeln herum und schielt dabei ab und zu zum Bett hinüber.

FRAU SELICKE
mit müder Stimme, halb weinend.

Die Lampe fängt an zu riechen, Toni! ... Lösch aus! ... 's is hell draußen! ... Der Lärm auf dem Flur! ... Die kennen keine Sorgen ...


Toni löscht die Lampe aus und zieht dann den Fenstervorhang zurück. Das Morgenlicht fällt grau durch die verschneiten Scheiben ins Zimmer. – Toni will auf die Flurtür zugehen und den Kindern verbieten, die draußen immer noch lärmen; aber in diesem Augenblicke poltern sie lachend, schreiend und blasend die Treppe hinunter. Der Lärm entfernt sich unten im Hause und hört dann allmählich ganz auf.
FRAU SELICKE.

Die sind fidel! ... Sie tritt zu Selicke hin und [395] legt ihm sanft die Hand auf die Schulter; mit mitleidiger, bebender Stimme. Vater! ...Selicke, der, das Gesicht in den Händen, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, vor sich hin brütet, achtet nicht auf sie. Vater! ... Komm! ... Vater! ... Ihre Worte gehen in Weinen über.

SELICKE
rührt sich; dumpf, mit zärtlichem Ausdruck.
Du! ... Mein Linchen! ... Schluchzt unterdrückt.
FRAU SELICKE
lehnt ihren Kopf gegen seine Schulter und weint.
Vater, komm! ... Komm hier fort! ...
SELICKE.
Du! ... Mein Linchen! ... Warum du? Starrt vor sich hin.
FRAU SELICKE
immer noch in derselben Stellung.

Komm, Vater! ... Wir wollen uns von jetzt ab – rechte Mühe geben ... Wir wollen vernünftig sein ... Es soll nun anders werden bei uns ... Nich wahr, Vater?

SELICKE
richtet das Gesicht in die Höhe und sieht sie mit einem toten, ausdruckslosen Blick an.

Frau Selicke starrt ihn eine kleine Weile angstvoll an und richtet sich dann, den Schürzenzipfel vor den Augen, wieder auf. Selicke, der sich schwerfällig erhoben hat, bückt sich über das Bett und küßt die Leiche. Weich, zärtlich. Leb wohl! ... Leb wohl, mein gutes Linchen! ... Du hast's gut! ... Du hast's gut! ...


Betrachtet die Leiche noch einen Augenblick, richtet sich dann in die Höhe und wankt gebrochen in die Kammer, während Walter auf dem Sofa noch lauter zu weinen anfängt und Albert sich, mit dem Gesicht gegen das Fenster gewandt, laut schneuzt.
Kleine Pause.
FRAU SELICKE
wieder in Tränen ausbrechend.

Warum hat uns – der liebe Gott das – Kind genommen?! ... Und ich ... und ich – muß mich – weiterschleppen ... mit meinem Elend und meinem Leiden ... Ich muß mir selber zur Last sein ... und ... euch allen! ... Siehste? ... Als ich 'm das eben sagte: er hat mich – kaum angesehn! ... Schluchzt krampfhaft in ihr Taschentuch, in das [396] sie sich, während sie sprach, geschneuzt hat. Laut, sehnsüchtig. Ach, hol mich bald nach, mein Linchen! Hol mich bald nach! ...

TONI
sie sanft umfassend.
Mutterchen! ... Sprich doch nicht so! ... Was sollten wir denn dann machen, wenn ... Ach! ...
FRAU SELICKE.
Unser einz'ges ... unser einz'ges ...
TONI.
Ach! ... Beißt die Lippen zusammen. Ihr Oberkörper zuckt von unterdrücktem Schluchzen.
FRAU SELICKE.

Was hat sie nun gehabt von ihrem armen, bißchen Leben? ... Und doch ... war sie immer ... so fröhlich und munter ... unsre einz'ge, einz'ge Freude ... Schluchzt. Ach, was hatte man weiter von der Welt ...? ...

TONI
drückt Frau Selicke an sich.
Mutterchen!
FRAU SELICKE.
Was soll nun hier werden? ... Nun kann man sich nur gleich aufhängen oder ... ins Wasser gehn ...
TONI.
Mutterchen! ... Ach Gott! ...
ALBERT
tritt zu Frau Selicke hin und streichelt sie.
Laß man, Mutterchen! ... Es soll schon noch werden! ...
FRAU SELICKE.

Ja! Für euch! ... Für euch wohl ... Für mich is es 's beste, Linchen holt mich nach ... So bald als möglich!

ALBERT.
Nein, Mutterchen! ... Es soll dir noch recht gut gehn! Warte man!
FRAU SELICKE
weinend.
Ach, ja, ja ...
TONI
ist wieder zu Walter gegangen und nimmt ihn bei der Hand.
Walter, komm!
WALTER
müde.
Mich friert so!
TONI.

Ja! Komm, mein Junge! ... Geh in die Kammer und leg dich hin! ... Du hast die ganze Nacht nicht geschlafen!

WALTER
steht auf; tritt mit Albert zum Bett.
Beide betrachten neugierig-ernst die Leiche. Walter weint.
TONI.
Geh in die Kammer, mein lieber Junge, und schlaf!
WALTER
schmiegt sich an Frau Selicke.
Mutterchen! ... Mutterchen! ...
[397]
FRAU SELICKE.
Ja, ja? ... Na ja, mein armer Junge! ... Geh, leg dich schlafen! ... Du bist todmüde! ...

Walter und Albert gehen in die Kammer.
TONI
tritt wieder zu Frau Selicke hin.
Du solltest dich auch 'n bißchen ruhn, Mutterchen!
FRAU SELICKE
nervös; bitterlich weinend.

Siehste? ... Siehste, Toni? ... Kein Wort, kein Sterbenswörtchen hat er wieder für mich gehabt! ... Er sah mich grade an, wie: na, was willst 'n du? ... Wer bist 'n du? ... Als ob ich 'n gar nichts anginge! ... Ach Gott! Was ist das für ein elendes, elendes Leben gewesen die dreißig Jahre! ... Ach, wollt ich froh sein, wollt ich froh sein, wenn ich an deiner Stelle wäre, mein Linchen! ... Betrachtet die Leiche. ... Sieh mal, Toni! ... Wie hübsch sie aussieht! ... Wie schön! ... Sie lächelt ein'n ordentlich an! ... Wie schön weiß ... und wie ihre Haare glänzen! ... Ach, die lieben blonden Härchen! ... Diese Worte gehen wieder in Weinen über. Die lieben blonden Härchen! ...

TONI
die neben ihr steht und den Arm um sie gelegt hat.
Ach nein, Mutterchen! Der Vater wird ganz anders werden! – Er ist ganz verändert! ...
FRAU SELICKE.

Nein! Nein! Der wird nie anders! In dem Blick ... wie er mich so ansah ... da konnte ich so recht deutlich lesen: wenn du's doch wärst! ... Ach, und ich wollt 'm ja so gerne Platz machen! Weiß Gott im hohen Himmel! ... Ach – so – gerne!

TONI
traurig.
Nein! Das hat er sicher nicht gedacht!
FRAU SELICKE.

So gerne wollt ich ihm den Gefallen tun! ... So recht aus Herzensgrunde wünscht ich das! ... Aber 's is, als ob der liebe Gott grade mich ausersehen hätte ... Hat wieder zu weinen angefangen.

TONI.

Nein, Mutterchen! Du mußt nicht so was denken! ... Siehste, wir müssen uns jetzt alle recht zusammenschließen! ... Sei nur recht gut und geduldig mit ihm ... Du [398] sollst sehn, dann wird es besser ... dann – wird alles gut werden!

FRAU SELICKE.

Ach, ich bin ja schon immer zu allererst wieder gut! ... Ich bin ja immer, jedesmal zuerst wieder zu ihm gekommen und freundlich mit 'm gewesen! ... Ach Gott, schon um 'n lieben Frieden willen! ... Ich sehne mich ja nach weiter nichts mehr, als nach 'n bißchen Ruh und Frieden ... nur ein bißchen Ruh und Frieden ...


Es klopft an Wendts Tür.
FRAU SELICKE
halb für sich, sich erinnernd.
Ach Gott, Herr Wendt! Laut. Herein!
WENDT
tritt ein.
Er ist bleich und sieht überwacht aus. Seine Backen scheinen etwas eingefallen zu sein.
FRAU SELICKE
weinend.

Herr Wendt! ... Ach, an Sie hab ich auch noch nich denken können! ... Sie müssen ja gleich abreisen ... Mein armer Kopf is mir ganz verwirrt ...

WENDT.

Oh ... Macht eine abwehrende Handbewegung und tritt auf sie zu. Meine liebe, gute Frau Selicke ... Drückt ihre Hand.

FRAU SELICKE
mit der Schürze an den Augen, ist mit ihm ans Bett getreten.
Kann kaum sprechen vor Weinen. Sehn Sie ... da ...

Wendt steht mit ihr in stummer Trauer vorm Bett.
TONI.
Mutterchen! Komm!
FRAU SELICKE
sich die Augen trocknend, sich zusammennehmend.
Ja, ich will ... Um elf geht Ihr Zug, Herr Wendt?
WENDT.
Ach!

Handbewegung. Frau Selicke will auf die Küchentür zu.
TONI
man merkt ihr große Ermattung an.

Laß nur, Mutterchen! ... Ich will das schon alles besorgen! Du mußt unbedingt ein bißchen ruhn! Komm, Mutterchen! Komm! ...


Frau Selicke läßt sich willenlos von ihr langsam zur Kammer führen. Toni drückt leise die Tür hinter ihr zu. Sie [399] bleibt einen Augenblick mit allen Anzeichen großer Müdigkeit bei der Tür stehen, nimmt sich dann zusammen und macht ein paar Schritte auf die Küchentür zu. – Die Uhr schlägt neun.
WENDT
beim Bett, leise.
Und heute – wollt ich – mit deinen Eltern reden ...
TONI
äußerst abgespannt.

Was?.. Neun schon? ... Ach ja, ich muß ja noch ... Sie müssen ja – um elf – fort ... Sie geht mit müden Schritten, wie mechanisch, auf die Küchentür zu.

WENDT
wiederholend.
Fort ...
TONI
stehenbleibend, ihn mit ausdruckslosem Blick ansehend.
Was? ...
WENDT
mehr ängstlich als überrascht.
Und – Toni! Du sagst Sie?!
TONI.
Wie? Ach so ... hab ich ... Ach ja! Mit einem müden Lächeln. Das ist nun auch – vorbei ...
WENDT
wie vorhin.
Vor ... Vorbei?!
TONI
wie im Selbstgespräch.
Das ist jetzt nun – alles – anders gekommen ...
WENDT
seitwärts sehend.
Toni!
TONI.

Ach! ... Ich bin ganz ... mir ist ... Ah ... Sie sinkt in einem Anfall von physischer Schwäche gegen seine Schulter.

WENDT
besorgt.

Toni! ... Was ist dir?! Beobachtet sie ängstlich. Ihre Augen sind geschlossen, um ihren Mund liegt ein gequältes Lächeln.

WENDT
besorgt.
Herrgott! ... Liebe Toni!

Sie schlägt die Augen wieder auf.
WENDT.
Ist dir besser?
TONI.
Ja ... Es war mir nur ... so ... ein Augenblickchen ... Sie macht sich sanft von ihm frei.
WENDT
erfaßt ihre Hand.

Halt aus, meine gute, liebe Toni ... Halt aus! ... Nur noch eine Weile! ... Nur noch eine kleine Weile! ... Du armes Mädchen! ... Alles ist so – über uns hereingekommen!Seufzt. Nur noch eine [400] kleine Weile! ... Es wird alles gut! ... Es muß ja alles wieder gut werden! ...

TONI
hysterisches Weinen.
WENDT.
Toni!!
TONI.

Ach, mir ist ... Faßt sich. Ja! ... Wir dürfen jetzt nicht mehr – daran denken! ... Ich habe das nicht nur so – hingesagt! ... Das ist nun – vorbei! ...

WENDT.
Ach, du weißt ja nicht, was du ... Wir wissen ja nicht – jetzt ...
TONI
müde, gequält.
Ach, wenn ich doch tot wär! ...
WENDT
nach einer Pause.
Das – ist dein ...
TONI
bleibt stumm.
WENDT.
Du – sagst das mit – voller Überlegung?
TONI
leise.
Ja!

Pause. Wendt stumm an dem Tisch, auf welchen er sich schwer gestützt hat; Toni neben ihm, ihn ängstlich beobachtend.
TONI.
Du mußt doch selbst sehn, daß es – jetzt nicht mehr geht.
WENDT.

Mit voller Überlegung? ... Nein! – Ach was! – Das kannst du ja gar nicht!.. Siehst du! Das kannst du ja gar nicht! ... Es ist ja unmöglich, daß wir die Verhältnisse jetzt klar übersehen können! ...

TONI.

Ach nein! ... Ich weiß ganz genau, wie jetzt alles kommen wird! ... Wir können und werden uns nie heiraten! ...

WENDT.
Nie? ...
TONI
traurig mit dem Kopfe schüttelnd.
Nein! ... Nie! ...
WENDT.

Nie! ... Er hat sich auf den Stuhl vor dem Tisch sinken lassen, der noch von gestern abend dasteht. Stumm, finster, den Kopf in beiden Händen, vor sich hin starrend.

TONI
beunruhigt, mitleidig.

Siehst du! ... Du mußt doch sehn, daß ich jetzt – hier – nicht fort kann! ... Ach, du weißt ja! ... Du hast ja gehört! ... Diese schreckliche, [401] schreckliche Nacht! ... Ich kann, ich kann doch nicht anders! ... Nachdenklich. Wenn es jetzt auch so aussieht, als ob sie anders wären! Ach! Das scheint ja nur so! ... Traurig. Das dauert ja doch nicht lange! Bei der nächsten Gelegenheit – ist es wieder – wie vorher, und noch viel – noch viel – schlimmer ...

WENDT
dumpf vor sich hin.
Noch – schlim mer! ...
TONI
ernst und traurig.

Ja! ... Noch schlim mer! ... Pause. Ja, wenn Linchen noch ... Ihre Stimme zittert. Wenn sie dem Vater so auf den Knien saß beim Essen ... so neben ihm ... wenn sie sich an ihn schmiegte ... und ihm – was vorschwatzte ... oder: wenn sie sich zankten ... wenn sie dann – weinte ... und bat ... mit ihrem rührenden Stimmchen ... Ach! Sie hat sie immer wieder heiter gemacht und – getröstet ... Ja! Aber jetzt ...Ist in Weinen ausgebrochen. Ach, du weißt das ja alles gar nich! ...


Pause.
TONI.

Was soll werden? ... Sag doch selber! ... Zu uns nehmen – könnten wir sie ja doch nicht! ... Du weißt ja, wie er is! ... Und – die Mutter allein? ... Das läßt er nicht! ... Er hat sie ja viel, viel zu lieb! ... Er kann sich nicht von ihr trennen! ... Und unterstützen? ... Sie lächelt müde. Das siehst du ja selber: Das kann ja gar nichts nützen! ... Darauf kommt es ja gar nicht an! ... Ach Gott! Ich darf gar nicht daran denken! ... Die arme, arme Mutter! ... Und dann – die andern!.. Der arme Walter! ... Nein! Leise. Es ist ganz unmöglich, ganz unmöglich, daß ich fort kann! ... Und – das kann noch lange, lange Jahre so fortdauern! ...

WENDT
nach einer Weile, halb zu sich selbst, seitwärts, zwischen den Zähnen.
Und – da mußt du dich also – opfern! ...
TONI
nachdenklich.
Die armen, armen Menschen!
WENDT.

Dein ganzes Leben in diesem Elend verbringen! [402] Dein ganzes Leben! ... Das soll man ertragen?! ... Ist aufgesprungen. Das ist ja unmöglich, Toni! Das ist ja unmöglich!

TONI
sanft.
Ach, doch!
WENDT.
Toni!
TONI.
Und wenn sie noch schlecht wären! ... Sie sind aber so gut! Alle beide! Ich habe sie ja so lieb! ...
WENDT
leise; einfach konstatierend, nicht vorwurfsvoll.
Ja! Mehr als mich! ...
TONI.
Ach, du bist ja viel glücklicher!
WENDT.
Glücklicher? Ich?!
TONI.

Ja, du! Du! ... Du bist ja noch jung und hast noch so viel vor dir! ... Aber sie haben ja gar nichts mehr auf der Welt! Gar nichts! ...

WENDT
stöhnt auf.
TONI
leise.

Wir könnten ja doch nie so recht glücklich sein! ... Ich hätte ja keine ruhige Stunde bei dir, wenn ich wüßte, wenn ich fortwährend denken sollte, daß hier ... Nein, nein! ... Das wäre ja nur eine fortwährende Qual für mich! ... Das siehst du ja auch ein!

WENDT.
Ich? ... ein?!
TONI.
Ja!
WENDT
zuerst vollständig fassungslos, dann.

Gut! Dann bleib ich hier! ... Verzweifelt. Ich habe den Mut nicht, ohne dich, Toni! ... Toni! – Auf sie zu.

TONI
erschrocken, schon in seinen Armen.
Flehend. Hier?! ... Nein! Ach, nein! ...
WENDT.
Und wenn alles in Stücke geht!
TONI.
O Gott! ... Ach, nein! ... Nein! ... Deine Eltern ...
WENDT.

Meine Eltern?! – Hä! – Wohl mein Vater?! Dieser orthodoxe, starrköpfige Pfaffe und ... Äh! Die ist mir ja auch nicht mehr das! ...

TONI.
Oh!
WENDT
bitter.
Ja, ja, meine liebe Toni!
TONI.
Und deine Stellung?
[403]
WENDT.

Meine Stellung?! Hä! – Was ist mir denn meine Stellung! Leiser. Ich habe nur dich, Toni! Nur dich! ...

TONI.
Ach! – Aber sieh doch ... Nein! Das würde dir ja auch nichts nützen!
WENDT.
Nichts nützen?!
TONI.

Nein, nein! ... Ach, nein! Das geht ja nicht! ... Ach, das würde ja alles ganz anders werden, als du dir's jetzt vorstellst! ... Du bist ja nicht so an alles das gewöhnt!.. Und dann: Eh du dir dann wieder eine neue Stellung verschafft hast! ... Alles das! ... Nein, nein! ... Es ist so gut von dir, so gut! Aber es nützte ja doch nichts! ... Ach, siehst du denn das gar nicht ein?

WENDT
stöhnt schmerzlich auf.
TONI
einen Einfall bekommend.

Ach na ... Und dann – siehst du! ... Eigentlich: Wir haben ja noch gar nichts verloren? ... Später könnten wir ja – vielleicht – immer noch zusammenkommen?

WENDT
sie fest ansehend.
Später?
TONI
etwas verlegen.
Nun ja? ... Ich ...
WENDT
wie vorher.
Später?
TONI
mit einem gequälten Lächeln.

Ich ... Nun ja – Warum denn nicht? Ich ... e ... Wir müßten vielleicht noch – ein paar Jahre warten! ... Aber unterdessen kannst du ja ... Sie hat während der letzten Worte nach dem Bett hingesehn. Hach?! Ist zusammengefahren, sich fest an ihn klammernd.

WENDT
mit zitternder Stimme.
Um Gottes willen! Was ist dir denn, Toni?!
TONI
wieder aufatmend und sich über die Stirn streichend.
Mir war – als wenn sich – im Bette dort etwas – bewegte ...
WENDT
gleichfalls unwillkürlich zum Bett hinsehend.
Sucht sie zu beruhigen. Du bist so erregt, Kind!

Pause.
[404]
TONI.

Wir vergessen ... Wir müssen – vernünftig sein! ... Lächelnd. Ach! – Sieh mal? – mir – ist – schwindlich! ... Ich bin – doch – ein bißchen – angegriffen ...

WENDT
sie stützend.
Du hast dich so erschrocken, Toni! ...
TONI
mit mattem Lächeln.

Laß nur! – Es ist – schon wieder gut! ... Sie ist mit gefalteten Händen vor das Bett Linchens getreten. Weint. Ja! – Du siehst ... Mein liebes, liebes Linchen! ... Mein Schwesterchen! ...

WENDT
hinter ihr.
TONI
weinend, wendet sich zu ihm.
Sieh doch!
WENDT
abgewandt.
Toni ...
TONI.
Ich bitte dich! – Ich bitte dich! –
WENDT
sie ansehend.

Aufs tiefste erschüttert. Hat ihre Hand ergriffen. Demütig. Toni! – Oh, was bin ich gegen dich! – Wie muß ich mich vor dir schämen! ...

TONI
abwehrend.
Ach ... Ernst. Aber: wir dürfen nicht! Nicht wahr?
WENDT
sich abwendend.

Du hast recht! Hat ihre Hand wieder fallen lassen. ... Ja! Du brauchst mich nicht! – Du bist groß und mutig und stark und ich so klein, so feig und – so selbstsüchtig! Beschämt. Ich – Tor ich! ... Ja! Du hast recht! –Seufzt tief auf. Wir dürfen nicht! ...

TONI
seine Hand ergreifend und ihm die ihre auf die Schulter legend; sieht ihm in die Augen.
Nicht wahr, Gustav? ... Wir dürfen doch nicht nur an uns denken?!
WENDT
im tiefsten Schmerz.
Ihre Hand drückend. Ach! – Mädchen! –
TONI.
Du bist so gut gewesen! ... Du hast's so gut mit uns gemeint! ...
WENDT
gequält.
Ist denn nur keine, keine Möglichkeit?! ... Herrgott!! ...
TONI
schmiegt sich an ihn.
Siehst du: Ich muß ja doch auch aushalten!
WENDT
schmerzlich.
Toni! – Toni! –
TONI
immer in derselben Stellung.

Wieder mit einem Lächeln. [405] Ach, wenn man so den Tag über arbeitet, weißt du! ... Wenn man sonst gesund ist und immer tüchtig arbeiten kann: Da denkt man an nichts! ... Da hat man keine Zeit, an was zu denken! ... Und du – du weißt so viel! Du kannst so viel nützen ...

WENDT
düster.
Ich? Nützen?
TONI.
Ach ja!
WENDT.
Nützen! ... Ja früher! Wenn ich noch wie früher wär! ... Aber jetzt?! Jetzt?! ...
TONI.

Ach, das ist ja nur so für den Augenblick! ... Du kannst glauben: Das ist nur so für den Augenblick! ... Wenn du erst dort bist ... Das ist so ein schöner, schöner Beruf, Pastor!

WENDT.

Ich glaube an alles das nicht, womit ich die Leute trösten soll, liebe Toni! Und ich kann nicht – lügen!

TONI
lehnt den Kopf an seine Schulter.
Zu ihm auf. Aber wenn nun ... Wenn du mich nun ... Hättest du dann gelogen?
WENDT.
Wie meinst du?
TONI.

Ich meine: Wenn du mich – geheiratet hättest und du wärst dann Pastor gewesen, dann hättest du doch ebensogut den Leuten was vorgelogen, wenn du überhaupt an das alles nicht glaubst? ... Du sagtest doch gestern – ich weiß nicht mehr, wie du's ausdrücktest! ... Aber – ... Ja! – Wir hätten dann, was mit dem Leben versöhnte! – So ungefähr! – Es war so schön! ...

WENDT.
Mädchen! – Mädchen! –
TONI.

Ach, laß doch! – Du hast dort zu tun und ich – hier! – Und wenn wir dann – manchmal aneinander denken, dann – wird es uns leichter werden! ... Nicht wahr? ... Mit mildem Scherz. Ich will mal sehn, wie oft mir das Ohr klingt! ... Ach ja! Wenn man nichts zu tun hat, dann denkt man so an alles, und dann sieht alles – viel schlimmer aus, als es ist! ... Aber wenn man arbeitet, dann schafft man sich alles vom Halse! ...

WENDT.

Ja! Ja! Du hast wieder recht, wieder recht! ... [406] Sieht sie innig an. Ach Mädchen! – Du wunderbares Mädchen! Wie könnt ich jetzt ohne dich leben! ...

TONI
ängstlich.

O nein, nein! ... Das sagst du ja nur so! – Das wäre doch schlimm, sieh mal, wenn du das nicht könntest, wenn du bloß von mir abhingst! – Lieber Gott! Ich bin ja so dumm! – Ich weiß ja nichts!

WENDT.
Ich meine nicht so! – Du hast recht! – H! ... Wir müssen uns darein finden!
TONI
freudig, sich an ihn drückend.
Ach, siehst du! – Das ist gut von dir! Das ist gut!
WENDT.

Aber, nicht wahr? Ich habe dich doch ge funden und du – du machst mich jetzt zu einem anderen Menschen! ... Du hast mich überhaupt erst zu einem gemacht, liebe Toni! ...

TONI.
Ach, ich! ...
WENDT
innig.

Ja! Du! ... Das Leben ist ernst! Bitter ernst! ... Bitter ernst! ... Aber jetzt seh ich, es ist doch schön! – Und weißt du auch warum, meine liebe Toni? Weil solche Menschen wie du möglich sind! – ... Ja! So ernst und so schön! ... Streichelt ihr über das Haar.

TONI
leise, selbstvergessen, glücklich.
Ach ja! ... Ach, aber das ist gut von dir! ... Ich wußte ja ...

Pause. Sie sehen sich in die Augen.
TONI
schmerzlich, sehnsüchtig, aufseufzend.
Ach, du! ...
WENDT
sie fest an sich pressend.
Hm? Du! ... Toni! ...
TONI
in Gedanken an ihm vorbeisehend.
Ach ja!
WENDT
schmerzlich.
Toni! – Toni! – Preßt sie eng an sich.
TONI
mit erstickter Stimme.
Still ... Sei still ...
WENDT
verloren.
Toni ... Beugt sich über sie und will sie küssen.
TONI
mit erstickter Stimme.

Laß! ... Ich – höre – die Mutter! ... Ich muß nun ... Wir müssen nun daran denken! ... Nicht wahr? ...

WENDT.
Toni! Ich bleibe noch! ... Einen Tag! ... Einen einzigen Tag!
[407]
TONI
wie vorher.
Nein! ... Bitte!.. Bitte!.. Mir zuliebe! ...
WENDT.
Ach! ... Leb wohl! ... Küßt sie.
TONI
seinen Kuß erwidernd, mit tränender Stimme.
Leb – wohl! ... Sie drückt sich gegen seine Brust. Leb wohl! ...

Es klingelt. Toni will aufmachen.
WENDT
hält sie zurück.

Laß! Ich werde aufmachen! – 's wird wohl nur der alte Kopelke sein ...Er geht aufmachen. Toni zieht sich in die Küche zurück.

KOPELKE
noch im Korridor.

Danke scheen! Danke scheen! ... Juten Morjen, werter, junger Herr! – Na? Schon uf 'n Damm? ... Wie steht 't denn mit unse Kleene? – Aha! Ick weeß schon! ... Se schläft noch! Scheeniken! ...

WENDT.
Nein, sie ... Bitte, treten Sie ein, Herr Kopelke!
KOPELKE
tritt geräuschlos ein.

Er hat ein kleines Paketchen unterm Arm. Bleibt einen Augenblick bei der Tür stehen und sieht sich um. Juten Morjen! ... Nanu?! Keener da?! ... Det is jo hier noch so 'ne Wirtschaft?! ... Zu Wendt hinter sich zurückflüsternd. Sagen Se mal, et is doch nich etwa ... He?! ...

FRAU SELICKE
lugt aus der Kammer.
Ach, Sie sind's, Herr Kopelke? Tritt ein.
KOPELKE.
Ja, ick! ... Juten Morjen, Frau Selicken! ... Ick wollt mal ... Sagen Se mal, et ...
FRAU SELICKE
weinend.
Ach, Herr Kopelke!..
KOPELKE
besorgt.
Nanu? Et ist doch nich ...
FRAU SELICKE
in Tränen ausbrechend.
Ach! Nun brauchen Sie – nicht mehr – Herr Kopelke..
KOPELKE
das Paketchen auf den Tisch legend.
Det hat sick doch nich – verschlimmert?!
FRAU SELICKE.
Hier! ... Da! ...

Sie ist mit ihm ans Bett getreten.
Kopelke steht eine Weile stumm da und gibt einige grunzende Laute von sich.
[408]
FRAU SELICKE.
Diese Nacht um zwei ...
KOPELKE
mit bebender Stimme.

Biste tot, mein liebet Linken? ... Tritt zu Frau Selicke und nimmt ihre Hand. Frau Selicken! ... Meine liebe Frau Selicken! ... Det ... Sehn Se!.. Det ... Hm! ... Hm! ...Er hält einige Augenblicke, seitwärts sehend, ihre Hand. Wo is denn Edewacht?

FRAU SELICKE.

Drin in der Kammer! ... Er sitzt da und – und – rührt sich nich.. Wie tot! ... Ach Gott, ach Gott, ach Gott! ...

KOPELKE.

Hm! ... Wendet sich wieder zum Bett und betrachtet die Leiche. Un ick dacht ... Hm! ... Un ick hatt ihr da – noch 'ne – Kleenigkeet – mitjebracht! ... Hm! ... Nu is det – nich mehr – needig! ... Nu hat se det – freilich – nich mehr – needig! ... Hm! ... Hm! ...

TONI
tritt in die Küchentür und sieht in die Stube nach Frau Selicke.
KOPELKE.
Liebet Freilein! ... Kopelke gibt ihr die Hand, Toni sieht still seitwärts. Liebet Freilein! ...

Toni geht zu Frau Selicke.
TONI.
Mutterchen! Da bist du ja schon wieder? ... Hast du denn nicht ein bißchen geschlafen?
FRAU SELICKE.

Nein! – Kein Auge hab ich zutun können! – Nur so ein bißchen gedämmert! ... Wie's klingelte, war ich gleich wieder wach! ... Haste denn Herrn Wendt ...

TONI.
Ja! Laß nur! Ich gehe schon! Leg dich aber wieder hin, Mutterchen! Hörst du?
FRAU SELICKE.
Ja, ja! ...
TONI
geht in die Küche zurück.
FRAU SELICKE.
Warten Sie, Herr Kopelke! – Ich werde meinem Manne sagen ... Ab in die Kammer.
KOPELKE
tritt vom Bett zu Wendt hin, der die ganze Zeit über ernst beiseite gestanden hat.

Die armen Leite! – Die armen Leite! – Jott! Ick sag immer: warum muß et bloß [409] so ville Elend in de Welt jeben? – Äh, Jottedoch! – ... Sie woll'n nu heite ooch reisen?

WENDT
zerstreut.
Ja! – Gleich nach den Feiertagen tret ich meine Stellung an.
KOPELKE.

Ja, ja! – Det wird Ihn'n nu ooch so nich passen! – Na, wissen Sie, werter, junger Herr! Det lassen Se man jut sind! Die Beffkens un der schwarze Rock un det so: det is jo alles Mumpitz! – Sowat macht 'n Paster jo nich! Damit kenn'n Se sick trösten! – Da sitzt der Paster! Verstehn Se? Da! Klopft sich auf die Brust. ... Un denn, wissen Se: in die zwee Jahre haben Se hier wat kennenjelernt, wat mennch eener sein janzet Leben nich kennenlernt, un wat Beßres, verstehn Se, hätt Ihn'n janich passiern können! ... Ick wünsch Ihn'n ooch 'ne recht jlickliche Reise! – Wah mich immer sehr anjenehm, werter, junger Herr! Wah mich immer sehr anjenehm! ... Un, Se kommen doch später hier mal widder her? Wat? ...

WENDT
nachdrücklich.
Ja, das werd ich! – Über kurz oder lang! ... Ich danke Ihnen, Herr Kopelke!
KOPELKE
ihm die Hand drückend.
Scheeniken! Scheeniken! Det is recht von Sie!

Frau Selicke kommt aus der Kammer.
FRAU SELICKE.

Es is nichts mit 'm anzufangen! – Gehn Sie nur selber zu 'm rein, Herr Kopelke! ... Ach Gott, ja! ...

KOPELKE
nimmt ihre Hand.
Kinder! – Kinderkens! ... Laßt man jut sind! Wir kommen ooch mal an de Reihe! ...

Verschwindet hinter der Kammertür.
Draußen fangen die Glocken zum Frühgottesdienst an zu läuten. Das Läuten dauert bis gegen Schluß.
FRAU SELICKE.

Da läuten sie schon zur Kirche! ... Ach, wer hätte das gedacht, daß Sie mal so von uns fortziehen würden, Herr Wendt! ... Unter solchen Umständen! ... Weint. Lassen Sie sich's recht gut gehen! Gibt ihm die Hand. Und grüßen Sie Ihre Eltern unbekannterweise recht [410] schön von uns! ... Erleben Sie bessere Feiertage – und – denken Sie manchmal an uns ...

WENDT.
Ja! – Das werd ich sicher, liebe Frau Selicke!
FRAU SELICKE.
Wo bleibt denn Toni? Sie haben ja gar nich mehr so viel Zeit ...
TONI
kommt mit Frühstück und Kaffeegeschirr; in der andern Hand trägt sie ein Köfferchen.
Im Vorbeigehn zu Wendt. Bitte!
WENDT
nimmt ihr es ab und stellt es neben sich unter den Sofatisch.
Ich danke Ihnen ...
FRAU SELICKE
mit der Schürze vor den Augen.
Schluchzend. Ach Gott ja! Ach Gott ja!
TONI
hat das Frühstück in Wendts Zimmer getragen und kehrt nun wieder zu ihrer Mutter zurück.
Sie umarmt sie und küßt sie. Zärtlich. Mutterchen! – Muttelchen!..
FRAU SELICKE
zu Wendt, immer noch schluchzend.
Ja, grüßen Sie sie nur! Grüßen Sie sie nur recht von uns!
WENDT
ihre Hand ergreifend.

Ich danke Ihnen, Frau Selicke! Ich danke Ihnen! Für – alles! Ihre Hand drückend. Leben Sie wohl! Zu Toni, die mit dem einen Arm noch immer ihre Mutter umschlungen hält, ebenfalls ihre Hand ergreifend. Leben Sie wohl! Ich ...


Toni hat sich an die Brust ihrer Mutter sinken lassen und vermag ihm nicht zu antworten. Ihr ganzer Körper bebt vor Schluchzen.
WENDT
sich plötzlich über ihre Hand, die er immer noch nicht losgelassen hat, bückend und sie küssend.
Ich komme wieder! ...

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TextGrid Repository (2012). Holz, Arno. Dramen. Die Familie Selicke. Die Familie Selicke. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7F4E-8