Personen.
- Eduard Selicke, Buchhalter.
- Seine Frau.
- Toni, 22 Jahre alt,
- Albert, 18 Jahre alt,
- Walter, 12 Jahre alt,
- Linchen, 8 Jahre alt, , ihre Kinder.
- Gustav Wendt, cand. theol. Chambregarnist bei ihnen.
- Der alte Kopelke.
Personen.
Abgetragene Kleidung, lila Seelenwärmer, Hornbrille auf der Nase, ab und zu ein wenig fröstelnd. Pause. Seufzend. Ach Gott ja!
Mamchen?! Frau Selicke hat in Gedanken ihren Strickstrumpf fallen lassen, zieht ihr Taschentuch halb aus der Tasche, bückt sich drüber und schneuzt sich.
Pausbacken, Pudelmütze, rote, gestrickte Fausthandschuhe. Mamchen? darf ich mir noch schnell 'ne Stulle schneiden?
Ach, geh, du ungezogner Junge! Erschrick einen doch nich immer so! Ist aufgestanden und an den Tisch getreten, auf den sie ihre Brille legt. Kannst du denn auch gar nich 'n bißchen Rücksicht nehmen?! Siehst du denn nich, daß das Kind krank ist?
Man sieht ihn vor einer kleinen Spiegelkommode, auf der ein Licht brennt. Knüpft [341] sich grade seine Krawatte um. Hemdärmel. Ach was, Mutter! Jieb ihm lieber 'n Katzenkopp un denn is jut!
Na, du, Großer, sei doch man schon ganz still! Du verdienst ja noch alle Tage welche! Ich denk, ihr seid überhaupt schon lange weg?
Na ja, gewiß doch! Steh du man immer recht vorm Spiegel und vertrödle recht viel Zeit! Da werd't ihr ja euern lieben Vater sicher noch finden! Der wird heute grade noch auf 'm Kontor sitzen!
Ach Jott! Nu tu doch man nicht wieder so! Vor sechs kann er ja doch heute sowieso nich aus 'm Geschäft!
So! Na! Und wie spät denkste denn, daß es jetz' is? Hat während des Streichens der Stulle einen Augenblick innegehalten, den Schirm von der Lampe gerückt und nach dem Regulator gesehen. Jetz' is gleich drei Viertel!
Hach nee! Ich sag schon! Sicher is er nu wieder weg, und vor morgen früh wer'n wir 'n ja dann natürlich nich wieder zu sehn kriegen! Nein, so ein Mann! So ein Mann! ...
Ach was! Laß mich zufrieden! Beruf mich nich immer! Ich weiß schon, was ich weiß! Unwirsch zu Walter. Da – haste! Klapp se dir zusammen und dann macht, daß ihr endlich fortkommt! Aus euch wird auch nischt! Es klingelt. Einen Augenblick lang horchen beide. Frau Selicke ist zusammengefahren, Walter starrt, die Stulle in der Hand, mit offenem Munde über die Lampe weg nach der Tür, die ins Entree führt.
[342]Aus der Brusttasche stecken Glacés, zwiscben den Zähnen hält er eine brennende Zigarette, an einem breiten, schwarzen Bande baumelt ihm ein Kneifer herab. Modern gescheitelt. Hut und Stöckchen hat er einstweilen auf den Stuhl neben dem Sofa plaziert. Zu Frau Selicke, indem er mit dem Fuße die Tür hinter sich zudrückt. Nanu? Das kann doch unmöglich schon der Vater sein?
Au, Mamchen, sieh mal! 'n Hampelmann! Mamchen, 'n Hampelmann! Er kommt mit ihm ins Zimmer getanzt. Zum alten Kopelke zurück. Wah? Den schenken Se mir?
Klein, kugelrund, [343] freundlich. Vollmondsgesicht, glattrasiert. Sammetjoppe, Pelzkappe, Wollschal. Sachteken! Sachteken!
'n Abend! 'n Abend, junger Herr! Reicht Frau Selicke die Hand. 'n Abend! Nach dem Bett hin. Na? Und meene kleene Patientin? Ick muß doch mal sehn kommen?
Ach, nich doch, Kind! Det 's jo unjezogen! Du mußt nich immer Olle Kopelke sagen! Det jeheert sick nich!
Nein! Nein! Nun sehn Sie doch bloß! Die reinen Banditen! Das Kind! Das Kind! Nehmt doch wenigstens auf das Kind Rücksicht!
Natürlich! So is recht! Bestärk ihn man noch immer! Dem läßt du ja alles durchgehn! Der kann ja machen, was er will! Aus dem Bürschchen erziehst du ja schon was Rechtes! Vater hat janz recht!
[344]Sachteken, werter junger Herr, sachteken ... Zu Frau Selicke. Immer in Jiete, Mutter! Det ville Jehaue un det ville Jeschumpfe nutzt zu janischt, zu reen janischt! ... Ibrijens ... Er hat sich mitten in die Stube gestellt und schnuppert nun nach allen Seiten in der Luft rum. ... wat ick doch jleich noch sagen wollte ... det ... det ... riecht jo hier so anjenehm nach Kaffee? ... Hm! Pf! Brrr! ... Nee, dieset Schweinewetter?! Ick bin – wahrhaftijen Jott – janz aus de Puste! Er hat sich seinen großen, dicken Wollschal abgezerrt und schlenkert ihn nun nach allen Seiten um sich rum. Kopp weg! Zu Walter, den er dabei getroffen hat. He? Wah det deine Neese?
Weeß schon! Zu Frau Selicke, halb ins Ohr. Edewachten kenn ick doch? ... Wieder zu Albert. Na, denn ... eh ... denn beeilen sick man! So wat looft weg!
Na, und die Stulle? Reicht sie ihm noch schnell nach, Walter beißt sofort in sie hinein. Und dann, sagt, er soll gleich hierherkommen! Sagt, Toni is auch schon da! Wir warten schon!
Ei Herrgott! Was is denn nu schon wieder ... Will auf die Korridortür zu, draußen schlägt die Flurtür zu. Hach! Gott sei Dank, daß man die Gesellschaft endlich los ist!
Jo! Wah is't! 'n bißken wiewe sind se! Abber – Jotteken doch! Det is doch nu mal nich anders! Det ...
Ach, nein! Ich sag schon! Nu haben sie ja das arme Kind glücklich wieder wachkrakeelt! ... Na, mein liebes Herzchen? ... Wie ist dir, mein liebes Linchen, he? Kleine Pause. Frau Selicke hatte sich übers Bett gebeugt, leises Stöhnen. Hast du Schmerzen, mein liebes Puttchen?
Wollen Sie se mal sehn? Ich misch solange die Tropfen! Läßt ihn ans Kopfende treten und mischt während des Folgenden am Fußende des Bettes, auf dem Nachttischchen, die Medizin.
Täppisch-zärtlich. Na, Lin'ken? Kennste mir noch? Ach Jotteken doch, die Ärmken! Nich wah? Det – watt doch mal, Kind, 'n Oogenblickchen! – Det ... tut doch nich weh? ... Na, sehste!! Ick sag ja! Det ... det is allens man auswendig! Det 's janich so schlimm! Uf de Woche kannst all dreist widder ufstehn! Denn jehste for Mama'n bei'n Koofmann! Denn jehste mit ihr uf 'n Marcht! Inholen! He? Weeßte noch? Uf 'n Pappelplatz? Der mit 't Schielooge? »Jungens«, sag ick, »Bande! Wer't ihr wol det Meechen sind lassen?« Abber da?? Heidi! Wat haste, wat kannste! ... Nich wah? Nu nehmste abber ooch sauber in? Zu Frau Selicke, während er diese ans Bett treten läßt. Wat de Kind bloß for 'n Schwitz hat?!
Abber det ... eh ... wissen Se! ... Det ... det is immer so! Det is nu mal nich anders! Det ... Schneuzt sich abermals.
Nicht weinen, mein Schäfchen! ... Komm! ... Sonst zankt der Herr Doktor wieder! Nicht wahr, Onkel Kopelke?
Aber nachher kannst du ja wieder spazierengehn, mein Mäuschen?! Und Emmchen zeigt dir auch ihre Bilderbücher! Ja? ... Komm! ... Na, nu mach doch, Linchen! ... Du mußt doch aber auch folgen! ... Gucke doch! ... Ich verschütte ja das ganze Einnehmen? ... Sie hat ihr leise die Hand unters Köpfchen geschoben.
Oh! ... Na so! ... Nicht wahr? ... Fest! Drück die Augen zu! ... Schlucke! Tüchtig! ... Siehst du? ... Nicht weinen, nicht weinen! ... So! Nicht wahr? Nu is alles wieder gut! Nu is alles vorbei!
Mein armes, armes Herzchen! Der alte, böse Husten! ... So! ... Nu rücken wir bloß noch 'n bißchen das Kissen höher, nicht wahr? Und dann schläfst du schön wieder ein! Bückt sich über sie und küßt sie. Ach, du mein süßes Puttchen! Nachdem sie den Wandschirm jetzt noch näher ans Bett gerückt, zum alten Kopelke. Ach, Gott nein! Nu sagen Se doch bloß? Muß man da nich rein verzweifeln? Das geht nu schon tagelang so! Sie wacht geradezu nur noch auf Minuten auf!
Und aus dem Doktor wird man auch nicht mehr klug! Der sagt einem ja nichts! Der kommt kaum noch! Und ... und ... na ja, wenn wir Sie nicht noch hätten ...
Jo! ... na! ... Wissen Se: Det kommt jo bei mir nich so druf an! Begütigend. Det verseimt mir jo weiter nich! Det's jo man immer so in Vorbeijehn! Det – ach wat! Det hat jo janischt zu sagen! Det's jo Mumpitz!! ... Abber det, wissen Se, det mit die Dokters, verstehn Se, da hab'n Se eejentlich wol nich so janz unrecht! [348] Ick ... nu ja! Se wissen ja! Ick bin man sozusagen 'n janz eenfacher Mann ... Abber det kann 'k Ihn' versichern: jeholfen hab 'k schon manchen! ... Jott! Ick kennt jo wat bei verdienen! Wat mee'n Se woll! Abber sehn Se ... will 'k denn? Ick ... nu ja! Ick bin nu mal so! Eifrig. Wissen Se? De Hauptsach is jetz': man immer scheen warm halten! Det ibrije, verstehn Se, det ibrije jibt sick denn janz von alleene! Janz von alleene! Ick sag: man bloß nich immer so ville mang der Natur fuschen, sag ick! ... Det mit die olle Medizin da zum Beispiel ...
Feine, bleiche Gesichtszüge, das halblange, schwarze Haar einfach hintenübergekämmt. Dunkle, peinlich saubere Kleidung, kein Pastoralschnitt. Die Tür hinter sich schließend zu Frau Selicke. Verzeihen Sie! Ich dachte ... Zum alten Kopelke, ihm die Hand reichend. Ah! 'n Abend, Herr Kopelke! Wie geht's?
'n Abend, werter junger Herr! Och, ick danke! Immer noch uf een langet un een kurzet Been! ... Is mich sehr anjenehm ... is mich sehr anjenehm ... Hört nicht auf, Wendts Hand zu schütteln.
Freilein Toni? Na, wachten Se man, Sie kleener Scheeker! ... Frau Selicken? Ick sage: passen Se mir ja uf die beeden jungen Leite uf! Wieder zu Wendt. Det is mich doch schon lange so? ... he? Sie?
Na, aber Scherz beiseite! Ich wollte ihr mal – da sehn Sie [349] mal! – das da zeigen! Er hat ein großes, zusammengeknifftes Papier aus der inneren Brusttasche gezogen und es dem alten Kopelke überreicht.
Oh! ... He! ... Na, ick – bin so frei! Ist mit dem Papier zur Lampe getreten. Zu Frau Selicke. Man ... eh ... Hab'n Se da nich wo Ihre Brille, Frau Selicken?
Lassen Se man, ick hab ihr schon! Setzt sie sich auf. So! Na! Nu kann't losjehn! Hat das Papier sorgfältig entfaltet und liest es nun, die Arme weit von sich weg. Nach einer kleinen Pause, über die Brille zu Wendt hinüberschielend. Nanu?
In komischem Pathos. Nee, wissen Se! Det kennen Se von mir nich verlangen! Dazu jratulieren Se sick man alleene!
Paster! Land paster! Mit 'ne Bienenzucht un 'ne lange Pfeife!Wieder zu Wendt. Nee, wissen Se! Da kennen Se sagen, wat Se wollen, verstehn Se, abber for die Brieder sind Se ville zu schade!
Ach ja! Und Sie waren ja auch immer so fleißig! Ich habe Sie wahrhaftig manchmal recht bedauert! Wenn ich so denke, so die ganzen letzten Wochen, Tag und Nacht, immer hinter den Büchern ...
Ach, ich bitte Sie! Was hing aber auch nicht alles davon ab? Alles! Alles! Geradezu alles! – Und dann, was ich Ihnen noch gleich sagen muß, ich reise jetzt natürlich nicht erst Drittfeiertag, sondern schon morgen!
Ja! Na, die Sachen sind ja schon alle so gut wie gepackt, und ... e ... aber ich vergesse ganz!Zum alten Kopelke. Sie sprachen vorhin von Linchen?
Aber setzen Sie sich doch, Herr Kopelke! Woll'n Se sich nicht setzen? Ich mach Ihnen noch schnell 'ne Tasse Kaffee!
Hm ... ja ... sehn Se, ick ...Plötzlich zu Frau Selicke. 'ne Tasse Kaffee? In sich hineinschmunzelnd, sich vergnügt die Hände reibend. Hm! ... 'ne Tasse Kaffee is jo wat sehr wat Scheenet! Wat sehr wat Scheenet! ... Abber ... Nee, Frau Selicken! Nee! Heite nich! Det verlohnt sick nich! Wahhaftijen Jott! Abber ick muß heite noch unjelogen hinten in de Druckerei! ... Se wissen ja! Det mit die ollen, deemlichen Krankenkassen! ...
Na, denn werd ich wenigstens noch 'n paar Kohlen unterlegen! Mit einem Blick auf [351] die Uhr. Toni muß ja jeden Augenblick kommen! Verschwindet durch die Küchentür, hinter der bald darauf Licht aufblitzt. 'n Augenblickchen!
Oh! ... He! ... Na! Ick bin so frei, von Ihr jietijet Anersuchen – mbf! – Jebrauch zu machen, werter, junger Herr! Abber.. e ... – Winkt Wendt zu sich heran; dieser beugt sich ein wenig zu ihm hin, Kopelke hält ihm die hohle Hand ans Ohr. – ... ick meen man! Ick beraube Ihnen!
Ach so! Blinzelt ihm zu. Na! Ibrijens bin ick darin durchaus keen Unmensch! Kneift sich mit den Fingernägeln die Spitze von der Zigarre und bückt sich über die Lampe. Abber ... nee, wissen Se! Mit einem Blick zum Bett hin. Ick weer' ihr man doch lieber draußen roochen! Se nehmen mir det doch nich iebel?
Bewahre, Herr Kopelke! Im Gegenteil! Hier hätten Sie sie ja doch sowieso nicht rauchen können! Selbstverständlich!
Ja! Ich ... e ... Sie können sich ja denken, wie mich das unmöglich gleichgültig lassen kann! ... Der Arzt scheint sich ja, wenigstens soviel ich darüber weiß, überhaupt nicht äußern zu wollen ...
Ja, wissen Se! Offen jestanden! Abber det kann ick den Mann eejentlich janich verdenken! Denn, Se könn'n sagen, wat Se wollen – ick bin man sozusagen 'n janz [352] eenfacher Mann, verstehn Se! Abber det kann 'k Ihn'n sagen: mit det Kind is 't retour jejangen! Schon wenn se een'n immer so anseht, verstehn Se! – wahhaft'jen Jott, abber so wat kann eenen durch un durch jehn!
Jott! Det nu jrade! Det will ick nu jrade nich jesagt haben! Abber, wie det so is, verstehn Se! Et mangelt hier den Leiten an't Neethichste, wissen Se! Macht die Bewegung des Geldzählens. Die kennen ooch man nich immer so wie se wollen!
Ja! Wenn eener immer ville Jeld hat, wissen Se, denn mag't ja wol noch jehn! Ja! Det liebe Jeld! ... Nehm'n Se mir mal zun Beispiel! Ick wah ooch nich uf'n Kopp jefallen als Junge! Ick wah immer der Erste in de Schule! Wat meen'n Se woll?!.. Abber de Umstände, wissen Se! De Umstände! Et half nischt! Vater ließ mir Schuster weer'n! ... Freilich, mit die Schusterei is det nu ooch nischt mehr heitzudage! Die ollen Fabriken, wissen Se! Die ollen Fabriken rujenieren den kleenen Mann! ... Sehn Se! So bin ick eejentlich, wat man so 'ne verfehlte Existenz nennt! Nu bin ick sozusagen allens un janischt! ... Ja! ... Da bring 'k mal een'n durch 'n Prozeß, da wird mal 'n bißken jeschustert, dann mal mit de Homöopathie und denn mit det Silewettenschneidern, wie det jrade so kommt, verstehn Se! Ja! ... Freilich! Se haben alle nischt, die armen Deibels, den'n ick ...
Wat!? Sechsen schon?! Hurrjott! ... Wickelt sich schnell den Schal um. ... den'n ick jeholfen hab, meen ick! ... Umhersehend. Hanschuh'n hat ick ja wol zufällig keene jehabt? ... Na, abber man krepelt sick so durch! Wendts Hand schüttelnd. Wah mich sehr anjenehm, werter junger Herr, wah mich sehr anjenehm! ... Dunnerwettstock, [353] det wird ja die allerheechste Eisenbahn!Macht ein paar eilige Schritte auf die Korridortür zu, besinnt sich dann aber wieder und kehrt um. Na, ick kann ja denn ooch man jleich hintenrum!Schon in der Küchentür. Un denn, det ick det nich verjesse: Verjniegte Feierdage! Morjen frieh seh ick Ihn' doch noch?
Sieht sich zuerst aufatmend im Zimmer um und tritt dann vorsichtig an das Bett Linchens. Eine kleine Weile beobachtet er sie, dann klingelt es plötzlich im Korridor, und er geht hastig aufmachen. Ah, endlich!
Geben Sie doch!Indem er es aufs Sofa trägt. Und das haben Sie vom Alexanderplatz bis hierher getragen?
Nun – ja! Es war etwas unbequem bei der Kälte! Hat die Handschuhe auf den Tisch zwischen das Kaffeezeug [354] gelegt und tritt nun, indem sie sich ihren Mantel aufknöpfelt, an das Bett Linchens. Sie schläft? Ach, das arme Puttelchen! Ist wieder etwas zurückgetreten. Aber ... nein! Ich will doch erst lieber.. ich habe die Kälte noch so in den Kleidern! Zu Wendt, der ihr jetzt behilflich ist, den Mantel abzulegen. Danke, danke schön, Herr Wendt! Wollen Sie so gut sein, da an den Nagel?Reicht ihm auch noch ihren Hut hin und stellt sich nun an den Ofen. Ach, ist der schön.
Was denn? Sie hat sich, noch immer am Ofen, mit dem Papier etwas gegen die Lampe gebückt und liest nun. Ah! Grade heute zum Heil'gen Abend! Hat das Papier sinken lassen und sieht einen kleinen Augenblick in die Lampe. Langsam, leise. Ja! Das ist ja recht schön! Da können Sie sich recht freuen!
Toni? Wo bleibst du denn solange? Mit einem Blick auf das Bündel auf dem Sofa. Ach, du hast wieder ... Armes Mädchen! ... Wart! Ich bring dir gleich noch 'n bißchen heißen Kaffee!Sie will wieder in die Küche zurück.
[355]Bist du ihm nicht unten begegnet? Er sagt ... – Zuckt die Achseln. – ... nichts Bestimmtes! Man wird ja aus keinem Menschen mehr klug! Ach Gott! Ich hab so eine Ahnung! Du sollst sehn, wir behalten sie nicht! Schluchzt.
I! Die wollten 'n vom Kontor abholen! Aber die treiben sich ja doch wieder auf dem Markt rum, die Schlingels! Das is ja doch die Hauptsache! Die können's auch nich satt kriegen! ... Na, ich will nun ... Du bist ja ganz durchfroren! Geht wieder in die Küche zurück.
Er hat sich wieder umgedreht und sieht nun, sich mit den Händen hinten aufs Fensterbrett stützend, wieder zu Toni hinüber. Ja! Morgen!
Ach, die Handschuhe! Holt sie sich und tritt mit ihnen an das kleine Tischchen links, in dessen Schublade sie sie hineintut. Lächelnd. Sehn Sie mal! Da hat er wieder den Spiegel neben 's Bauer gestellt ... Der Vogel soll denken, es is noch 'n andrer [356] da, mit dem er sich unterhalten kann ... Der Vater spricht mit dem Vogel, als wenn er ein Mensch wär!
Hm? ... Mätzchen! Mätzchen! ... Ordentlich zärtlich ist er mit ihm! Der Vater ist ein großer Tierfreund!
Ach, sagen Sie doch! Wie spät ist's denn? Mit einem Blick auf den Regulator. Der kann doch unmöglich richtig gehn?
Mäntel? ... Da kannst du wieder die ganzen paar Feiertage sitzen! Ach ja! Du hast doch auch gar nichts von deinem Leben!
Das glaub ich! ... Du wirst dich schön haben schleppen müssen mit dem alten Bündel! Bist du [357] denn nicht wenigstens ein Stück mit der Pferdebahn gefahren?
Ja! Erhebt sich und schenkt sich den Kaffee ein. Ihn schlürfend, von der Tasse zu Frau Selicke aufsehend. Schön warm!
Ja! ... Sie fing natürlich von Linchen an! Und, was wir diesmal für 'n schlechtes Weihnachten durchzumachen hätten und so, na du weißt ja! Sie bückt sich wieder zu ihren Mänteln.
Die mögen schön über uns schwatzen! ... Solche Menschen! Die sollten sich doch lieber an ihre eigene Nase fassen! Die! Die trinkt Bier wie 'n Kerl! Den richtigen Bierhusten hat sie schon! Hast du noch nicht gemerkt?
Na, ja! Laß doch man, Mutterchen! Laß sie alle machen, was sie wollen! Sie geben uns ja doch nichts dazu! Ist aufgestanden und steht nun, die Hände unter der Tischplatte, da. Rück doch mal 'n bißchen den Tisch! Ich möchte mir da die Mäntel zurechtlegen! Frau Selicke hilft ihr. Der Vater kann doch jetzt unmöglich mehr auf dem Kontor sein?
I, jawohl doch! Und ... du lieber Gott, was soll nicht alles von den paar Groschen bezahlt werden! Wer weiß übrigens, ob er diesmal soviel zu Weihnachten kriegt wie sonst! ... Er tut wenigstens so! ... Das heißt, auf den kann man sich ja nie verlassen! Der sagt einem ja nie die Wahrheit! ... Andre Männer teilen ihren Frauen alles mit und beraten sich, wie's am besten geht, aber unsereiner wird ja für gar nichts ästimiert! Der weiß ja alles besser! ... Nein, so ein trauriges Familienleben, wie bei uns ... Paß mal auf: Der hat heute wieder ein paar Pfennige Geld in der Tasche und kömmt nu vor morgen früh nich nach Hause!
Na, du wirst ja sehn! Vergangne Nacht hat mir wieder mal von Pflaumen geträumt, und dann kann ich jedesmal Gift darauf nehmen, daß es Skandal gibt!
Abergläubisch? Nein, gar nicht! Ich bin gar nicht abergläubisch! Aber es ist doch komisch, daß es bis jetzt jedesmal eingetroffen ist!
Nein, nein! Du sollst sehn! Ich kann mich heilig drauf verlassen! Weinerlich. Paß mal auf! Paß mal auf!
Ach siehst du, Mutterchen! Wenn du dich vorher schon immer so ängstlich machst, dann ist es ja gar kein Wunder! ... Mach's wie ich! Laß ihn kommen! Widersprich ihm mit keinem Worte! ... Laß ihn räsonieren soviel wie er will! Einmal muß er dann doch aufhören, und durch sein Räsonieren wird's ja doch nicht besser.
[359]Ach Gott ja! Eigentlich ist's auch wahr! Man müßte gar nicht drauf hören! Wenn ich nur nich so nervös wäre! Wenn ich ihn dann aber so sehe, in seinem Zustande, und er kommt dann auch noch mit seinen Ungerechtigkeiten, dann kann ich mich nich halten! ... Es ist mir rein unmöglich! ... Dann läuft mir jedesmal die Galle über!
Siehst du! Aber grade dadurch wird es immer erst schlimm! Laß ihn schimpfen, die Augen rollen, Fäuste machen: Du mußt es gar nicht beachten! Schließlich tut er ja doch nichts! ... Siehst du. Du mußt mich nicht falsch verstehn! Aber ich glaube, du hast ihn von Anfang an nicht recht zu behandeln gewußt, Mutterchen!
Nein! 's is ja wirklich wahr! ... Da soll man sich nu nich empören! ... Hier liegt das arme Kind krank, man weiß nich vor Sorgen wohin? Andre Leute freuen sich heute, und wir ... Na! Und dann soll man ihm auch noch freundlich entgegenkommen? ... Das kann ich einfach nicht! Das kann ich nicht!! ...
Aber dann würde er sicher anders sein, wenn du dich ein bißchen zwängst, Mutterchen! ... Er ist ja im Grunde eigentlich gar nicht so schlimm, wie er tut!
Er hat mich die ganzen Jahre her zu schlecht behandelt! Ich kann mich nicht überwinden, freundlich mit ihm zu sein!
Ach! Das ist nun Heiligabend! Das sind Festtage! ... [360] So ein trauriges Weihnachten haben wir wirklich noch nie gehabt!
Ach, bin ich – müde! ... Nächtelang hat man kein Auge zugetan, und mein Fuß tut auch wieder so weh ...
Ja! Leg dich ein bißchen hin, Mutterchen! Du strengst dich überhaupt viel zu sehr an! Das solltest du gar nicht!
Ja, ja! Du hast eigentlich auch recht! Ich will mich 'n bißchen schlafen legen! Zum Bett hin. Ach, mein Mäuschen! Ist aufgestanden, hat ihr Strickzeug zusammengewickelt und es mit der Brille auf den Tisch gelegt. Heute nacht hat man ja doch wieder keine Ruhe. Das weiß ich schon! Ach ja! ... Gähnt. Schon in der Kammertür. Ja, und nun geht Herr Wendt auch schon zu den Feiertagen, und eh man dann wieder 'n Mieter kriegt! ... Ach Gott ja! ... Na! ...
Zu Weihnachten klingen sie immer schön, find ich! ... Als ich noch ganz klein war, ging der Vater mit uns am ersten Feiertagmorgen in die Christmette. Ganz früh. Wir wurden dann tüchtig eingemummelt, und jedes hatte ein kleines Wachsstöckchen. Das wurde in der Kirche angezündet, und wenn wir dann wieder nach Hause kamen, kriegten wir beschert. Ich muß immer daran denken, wenn ich hier zu Weihnachten die Glocken höre! ... Freilich, so schön klingen sie nicht, wie bei uns zu Hause!
Ach ja! Das ... damals ... damals waren sie ... Weihnachten war schöner damals! ... Hm! – Beugt sich zu ihr hin, ohne sie anzusehen. Toni! Sagen Sie mal!
Ich meine ... hm! Ja! Ich mußte – nur eben wieder daran denken – daß ich nun morgen, morgen schon von hier fortgehe!
Eine Stellung! Sich zurücklehnend. Komme nun, sozusagen, in geordnete, bürgerliche Verhältnisse. Ja! Eine Landpfarre!
[362]Ach, das muß Ihnen gewiß recht angenehm sein! Es hat Ihnen ja sowieso nicht mehr recht hier in der Großstadt gefallen!
Ja, man lernt hier soviel kennen! ... Aber nun! Landpastor also! ... Eine lange Pfeife, wie der Herr Kopelke sagt, eine Bienenzüchterei und ... und ... hahaha!
Ach das ... Es könnte freilich – unter Um ständen – recht schön sein! Sieht Toni plötzlich voll an, diese bückt sich noch tiefer über ihre Arbeit. Aber ich wollte ja ... Ich meinte ... Er beugt sich wieder zu ihr hin. Alle die Mäntel müssen Sie nun also in den – Feiertagen nähen?
Ja! Es macht freilich so mehr Mühe mit der Hand! Aber mit der Nähmaschine geht's jetzt nicht, wo Linchen krank ist. Pause. Ja, das wird nun ...
Geduld ... Ja! Toni! Ich wollte Sie nun etwas fragen! ... Ich habe schon einmal ... Sie nahmen's damals für Scherz ... und ich sah damals auch ein, daß ich noch kein Recht hatte ... Aber jetzt kann ich Sie ja mit mehr Recht fragen ... Jetzt wo ich in – geordnete Verhältnisse komme! Ich meine ... wollen ... wollen Sie mir auf meine – Landpfarre folgen?
Ein einfaches Büchelchen! ... Zwei Bogen gelbes Konzeptpapier in ein Stück blaue Pappe geheftet. Mit solchem weißen Zwirn da! Jemand hatte es hier liegenlassen, aus Versehen!
Ich habe darin gelesen! ... Es waren allerlei Notizen darin! Tagebuchnotizen! Selbstbekenntnisse, die eine für sich gemacht hatte, die immer so still und bescheiden ist, alles mit sich selbst im stillen abmacht und auskämpft! ...
Du darfst nicht?! Toni! Bist du ... ich meine: Kannst du's hier – aushalten?! Bist du hier glücklich?!
Nein! Nein! Das ist unmöglich. Toni! ... Ich habe vorhin, drin in meinem Zimmer, gehört, was du mit deiner Mutter sprachst! Ich habe mehr als zwei Jahre hier gewohnt und alle die Szenen mit angehört, die furchtbaren [364] Szenen! ... Ich habe euer ganzes, unglückliches Familienleben kennengelernt! Zwei Jahre lang hab ich das alles gehört und gesehen! Zwei Jahre lang! Und es hat mich ... Stöhnt auf. Und du! Wenn man denken muß: Zweiundzwanzig Jahre hast du in alle dem Elend gelebt und hast es ertragen müssen! Zweiundzwanzig Jahre! ... Herr mein Gott! Zweiundzwanzig Jahre! ...
Gut! Gut! Lacht auf, zornig. Nein! Nein! Du darfst nicht länger bleiben! Du darfst nicht länger in diesem traurigen Elend leben! Hörst du! Du verdienst das nicht! Du paßt nicht hierher!
Ach, ich spreche da! Ich ... ich meine: hast du denn nicht manchmal den Wunsch gehabt, hier wegzukommen, in ruhige, schöne Verhältnisse? Wo du nicht Tag für Tag – Herrgott! – Tag für Tag! all das Elend hier vor Augen hast? Wie?
Ich habe auch davon etwas in dem kleinen, blauen Büchelchen gelesen! Siehst du? Ich kenne dich ganz genau! Du bist auch nur ein Mensch!
Nein! Es ist ja hier ... Das kann ja kein Mensch ertragen! Dein Vater: brutal, rücksichtslos –, deine Mutter: krank, launisch; beide eigensinnig; keiner kann sich überwinden, dem andern nachzugeben, ihn zu verstehen, um ... um der Kinder willen! Selbst jetzt, wo sie nun alt geworden sind, wo sie mit den Jahren vernünftiger geworden sein müßten! Die Kinder müssen ja dabei zugrunde gehn! Und das ist ihre Schuld, die sie gar nicht wieder gutmachen können! [365] Einer schiebt sie auf den andern! Keiner bedenkt, was draus werden soll! ... Und das nun schon lange, schrecklich lange Jahre durch! Dabei Krankheit und Sorge ... Furchtbar! Furchtbar!! Wenn man sich in den Gedanken versenkt ... tt! ... Nein, das ist alles zu, zu schrecklich! Das sind keine vernünftigen Menschen mehr, das sind ... Äh! Sie sind einfach jämmerlich in ihrem nichtswürdigen, kindischen Haß! ... Ist aufgesprungen und geht nun mit großen Schritten im Zimmer umher.
Oh, wie können Sie nur so von Vater und Mutter sprechen! Sie sind beide so gut! Wie können Sie das nur sagen! ...
Setzt sich wieder zu ihr, den Stuhl noch näher zu ihr rückend. Oh, ich ... t! ... Höre doch nicht, was ich schwatze! Ich ... Nein! Ich meine ... Du kannst doch unmöglich hier bleiben! Weine doch nicht, liebe Toni! Mißversteh mich doch nicht! Ich meinte ja nur! ... Sieh mal! Du mußt dich ja bei all dem Elend auf reiben! Es ist unerträglich, geradezu uner träglich, daß du – du! – hier verkümmern sollst! ... Und mach dich doch nicht stärker, als du bist, Toni! Ich weiß es ja, Toni! Siehst du? Ich weiß es ja, daß du dich hier heraussehnst! ...
Nur so ...? Ach was! Das glaubst du ja selbst nicht, Toni! Das war ja ganz natürlich?! Ganz berechtigt?!
Siehst du? Du hast Angst, das zu hören! Aber doch! Grade mußt du das hören! Die Aufopferung muß auch ihre Grenze haben! ... Zweiundzwanzig Jahre! Einen Tag nach dem andern, jahraus, jahrein, immer dasselbe Elend, dieselbe Not! Das ist ja geradezu der pure Selbstmord! Nein! Du mußt hier fort! Du hast ein Recht, an dich und deine Zukunft zu denken! ... Warum sollst du [366] hier verkümmern?! Warum?! Was kann dich dazu verpflichten?! ... Was hat dein Vater und deine Mutter getan, daß sie das verdienen?! Nun?! ... Haben sie an deine Zukunft gedacht?!
Heute, am Heiligen Abend, sitzt du da in Angst und Bangen, wo sich jeder freut, und flickst dich krank! Nein! Das ist – empörend!! Das ... Sieh mal, Toni! Warum sollte es nicht gehn? Sieh mal! Tust du ihnen denn nicht selber einen Gefallen? Es muß ihnen doch nur lieb sein, wenn du »versorgt« bist?! Wenn sie einen »Esser wen'ger« haben! Ist dein Vater nicht vielleicht gerade deshalb so, weil er sich über deine Zukunft Sorge macht? Hat er dir nicht mehr wie einmal vorgeworfen, daß du noch hier bist?
Und dann ... die Mutter! Ich kann doch die Mutter nicht hier so allein lassen? Sie ist so krank und schwächlich! Sie kann mich gar nicht mehr entbehren!
Warten Sie mal! Entwindet ihm ihre Hand, steht auf und schleicht sich auf Spitzzehen zum Bett hin. Einen Augenblick beobachtet sie die Kranke, dann kehrt sie wieder zurück. Nein! ... Ich dachte ... Linchen ... Pause. ... Und ...Weint noch heftiger.
Ach Gott ja!Sich auf seinen Stuhl wieder aufrichtend. Sieh mal! Was das anbetrifft ... und ... Linchen ... Du meinst Linchen? ... Oh, sie ist ja in den letzten Tagen ... man kann doch unmöglich sagen, daß es grade schlimmer mit ihr geworden ist!.. Schneller. Sieh mal! Wenn sie dich nun versorgt wissen, ist ihnen doch schon eine große Last genommen! Und[367] dann könnten wir sie ja auch unterstützen, nicht wahr? Und wenn erst ihre äußere Lage etwas besser ist, dann ist ja auch vieles, vieles gleich ganz anders! Und dann ... ja, dann sind sie ja auch mit den Jahren – dieses Zusammenleben so gewohnt geworden! Nicht wahr? Sie würden vielleicht etwas entbehren, wenn sie's anders hätten auf einmal, ich meine – versteh mich! – Wenn sie's ganz anders hätten! ... Der Mensch gewöhnt sich ja an das Allerunglaublichste!
Toni! ... Ich weiß nicht! Du hast so viele Bedenken, so viele ... Sag's! Sag's grade raus! Hast du das vielleicht – auch nur so geschrieben, daß ... daß du ... mich liebhast? Kannst du mir nicht folgen, weil ... du mich ... nicht liebhast?
Und dann, liebe Toni, siehst du? Muß ich dir noch etwas sagen! Ich bin ... ich weiß nicht ... aber du mußt mich recht verstehn, ich ... ich bin so gut wie – tot! Toni sieht ihn erschrocken an und rückt in naivem Schreck unwillkürlich ein wenig von ihm ab. Hat aufgehört zu weinen. Wendt spricht das Folgende immer noch in größter Erregung wie zu sich selbst. Als ich zu studieren anfing, da war ich frisch und lebendig, voll Hoffnung! Da glaubte ich noch an meinen Beruf! Da hatte ich noch Ziele, für die ich mich begeisterte! ... Aber das hat sich alles geändert! ... Seitdem ich hierher gekommen bin in dieses ... in die Großstadt, mein' ich ... und all das furchtbare Elend kennengelernt habe, das ganze Leben: seitdem bin ich – innerlich – so gut wie tot! ... Ja! Das hat mir die Augen aufgemacht! ... Die Menschen [368] sind nicht mehr das, wofür ich sie hielt! Sie sind selbstsüchtig! Brutal selbstsüchtig! Sie sind nichts weiter als Tiere, raffinierte Bestien, wandelnde Triebe, die gegeneinander kämpfen, sich blindlings zur Geltung bringen bis zur gegenseitigen Vernichtung! Alle die schönen Ideen, die sie sich zurechtgeträumt haben, von Gott, Liebe und.. eh! Das ist ja alles Blödsinn! Blödsinn! Man.. man tappt nur so hin. Man ist die reine Maschine! Man ... eh! Es ist ja alles lächerlich! Mit einer hastigen Bewegung zu ihr. Siehst du, liebe Toni! Deshalb kannst du und darfst du einfach gar nicht nein sagen! Du bist meine einzige Rettung! ... Ich könnte ohne dich keinen Tag mehr leben, oder ich müßte verrückt werden, einfach verrückt! Du ... du bist das einzige, woran ich nicht zweifle! Alles andre versteh ich! Alles andre ist mir so unheimlich klar und durchsichtig! Aber du ... du?! ... Wenn ich dich so sehe, so still leidend, so geduldig, da ... möcht ich dich – haben!! ... für dich leben, verstehst du? Und ... alles andre ... hahaha! ... ich pfeife, pfeife drauf! ... Nur du ... du!! ... Sieht sie an, kommt plötzlich wieder zu sich und springt auf. Du! ... Was ... was hab ich – gesprochen? Du weinst?! Mädchen! ... Herrgott! Rückt ganz nahe zu ihr. Spricht das Folgende sehr sanft. Ach, siehst du! Das war ja alles Unsinn, Torheit! Ich weiß nicht ... tt! ... Ich meinte ... siehst du? ... man lernt so viel kennen in der Welt, was einen niederdrückt, mißmutig macht ... so manchmal, mein ich! ... Nicht wahr? ... Deshalb wirft man ja aber doch die Flinte nicht gleich ins Korn?! ... Das geht allen so! ... Ich meinte nur: wenn zwei, so wie wir, sich zusammentäten, dann würd es ihnen leichter, das Leben zu ertragen! ... So meint' ich! ... Ich habe da ... ich weiß nicht, wie ich das alles so hingeschwatzt habe! ... Das ist ja alles selbstverständlich! ... Es ist ja weiter gar nichts dabei! ... Es ist ganz einfach! Weine doch nicht mehr, mein liebes, liebes Mädchen! ... Nein, ich ... ich ... Narr! ... Beruhige [369] dich! ... Beruhige dich doch! ... Hörst du? ... Hab ich dich so erschreckt?
An Gott glaubst! ... Die Hauptsache ist –Innig. –, wir werden uns dort beide auf dem Lande so wohl fühlen, so wohl! Wir werden so glücklich sein! Nicht wahr?
Wir leben dann still für uns in ruhigen, schönen Verhältnissen! Wir werden ganz andere Menschen sein! Und dann sollst du sehn, wie ich den Leuten predigen werde! Der Katechismusgott soll dann erst lebendig werden, lebendig! ... Wir verstehen das Leben! Wir wissen, wie miserabel es ist, aber wir haben dann auch, was mit ihm versöhnt! Und das ist besser, als alle Kanzelphrasen, wenn wir das den Leuten mitteilen.
Kein offizieller Glaube, aber ein besserer, lebendigerer! ... Laß nur! Du sollst sehen! ... Denke dir: Eine herrliche Gegend! Laubwald! Berge! Getreidefelder! Stilles, gesundes Landleben! ... Unser Haus hinter der kleinen Dorfkirche, ganz von Weinlaub umrankt, mitten in einem großen Obstgarten mit einem Hühnerhof. Ringsherum eine große, hohe Mauer, und da drin hausen wir, wir beide, ganz abgeschlossen von der Welt, aber ohne Haß, und das ist die Hauptsache! Und wenn du mir dann [370] sonntags in den Talar hilfst, und ich durch den kleinen Friedhof in die Sakristei spaziere, dann sollst du einmal sehen, was ich den Leuten predigen werde! Sie sollen schon mit dem neuen Pastor zufrieden sein! Nicht?!
Ach, das wird dann auch alles ganz anders! Du sollst sehen! ... Albert hat dann ausgelernt und verdient mit zu, Walter wird ja auch bald konfirmiert, und du, du bist dann »versorgt«: Dann werden sie nicht mehr soviel Grund haben ...
Ach ja, ja! ... Sie ist das einzige, was Vater und Mutter haben! Sie ist ihre einzige Freude! Wenn sie nicht noch wäre ... Siehst du, das ängstigt mich so! Das wäre zu schrecklich! Zu schrecklich!Vor sich hin starrend. Wenn sie stirbt, und wenn ich dann auch noch fort wäre ... Wirft sich ihm um den Hals. Ach nein! Nein! Das geht ja gar nicht! Das geht ja gar nicht! Dann wäre hier alles noch viel, viel schlimmer ...
[371]Aber wie kommst du denn nur darauf, liebe Toni? Es liegt ja gar kein – Grund vor! Nein! Wir nehmen sie dann später zu uns, daß sie sich in der gesunden, schönen Luft ganz erholen kann! Quäle dich doch nicht immer so! Es wird und muß jetzt alles besser werden! Ich hab's so im Gefühl: Wenn alles am trostlosesten aussieht, wenn es gar nicht mehr schlimmer werden kann, dann muß sich alles zum Guten wenden! Nein! Du wirst glücklich werden, wir alle! Du wirst dort auf dem Lande wieder aufleben! Es wird eine ganz andere Welt sein! ... Du siehst ja alles nur so schwarz an, weil du nie, nie in deinem ganzen Leben etwas anderes als die Not hier kennengelernt hast!
Armes Mamchen! Küßt sie und stellt sich dann wieder vor das Fenster hin. Nach einer kleinen Pause, während welcher Albert sich zurückgelehnt, die Arme gereckt und laut gegähnt hat. Du, Albert! Au, kuck mal! Drüben bei Krügers brennt noch der Weihnachtsbaum!
Ach wo, du Peter! Is ja man 'n Licht in der Küche! Wo soll denn jetzt noch 'n Weihnachtsbaum brennen?
Halt doch mal! Horch mal! Ging – da nich die – Haustür?! ... Nach einer kleinen Pause, weinerlich. Nee! Ach, nu kann man sich wieder nich hinlegen!
Ach! ... Wieder nach einer kleinen Pause. Du, kuck mal, Albert! Lauter goldne Flinkerchen hier auf 'm Schnee! Wah? Das sieht hübsch aus!
Ach ja! Ich glaube! ... 'n Baum hab'n wir doch [373] jedes Jahr gehabt? Morgen früh könn'n wir 'n ja immer noch anputzen! Wah, Mamchen? Un wenn wir 'n dann abends anbrennen ... wah?
Ach was, Tönchen! Sei man still! ... 's is doch wahr! Näh mir lieber nächstens mal 'n paar Stege an die Hosen! He? ...
Statt den ganzen Tag, wenn du frei hast, hier umherzuliegen, könntest du noch 'n bißchen Sprachen lernen! Das braucht 'n Kaufmann heutzutage! Aber du hast nich 'n bißchen Lerntrieb!
Na, mach doch, was du willst! Mir kann's egal sein! ... Mir wird sowieso bald alles egal sein! ... Überhaupt! Nenn mich nich immer Mamchen! Was denkste dir denn eigentlich. Du Gelbschnabel?!
Na, liebe Zeit! Was wollt ihr denn nur! Ich tu doch meine Schuldigkeit im Geschäft! Da solltest du erst mai andre junge Kaufleute sehn!
Oh, und nun auch noch die Schmerzen in meinem Fuße! ... Ich könnte laut auf schrein! ... Weiter nichts wie Elend und Sorge und Aufregung hat man! Das ist das ganze bißchen Leben! Wenn einen der liebe Gott doch endlich mal erlösen wollte!
Die Hände in den Taschen seines Jacketts. Nein, das is auch eine Wirtschaft hier! Wenn man doch erst mal ... he! ... Sitzt man bis spät in die Nacht 'nein und wagt kein Auge zuzutun, und am andern Tag is man dann janz kaputt!
Nein, so ein Mann! So ein Mann! ... Das kann er doch wirklich nich verantworten! ... Walter! Geh nun!
Na ja! ... So! ... Eine Weile noch sieht man durch den Spalt das Licht, dann verlischt es. Toni macht sich still wieder an ihre Arbeit.
Nein! So ein komischer Junge! Sich so abzuängstigen! ... Über was man sich nich alles ärgern muß? ... Nein! ... Ach! Na – ich sage auch schon! ...
Sei nur ruhig! ... Weine nicht! ... Rege dich nicht auf, mein Herzchen! Er kommt nun bald! ... Ach Gott, ja!
[376]Ach nein! ... Nein doch, mein Herzchen! ... Er ist nur einen Weg gegangen! ... Er bringt dir was mit!
Ach, aber meine Kleine! ... Weine doch nur nicht, mein Linchen! ... Gott, nein! ... Siehste, du darfst dich ja nich aufregen?! Du wirst ja sonst nich gesund? ... Nein, mein Mäuschen! Er hat nur ein'n Weg gehabt!
Morgen? Aber, liebes Kind! Du mußt dich doch erst noch 'n bißchen erholen?.. Nich wahr?.. Aber diese Woche vielleicht!
Nich wahr ... Ma-machen? ... Du – zankst nich mehr ... mit mir.. wenn ich ... erst wieder ... gesund ... bin ...
Ja! – Aber sprich doch nich soviel, mein Liebchen! Es strengt dich so an? ... Komm!Legt den Kopf neben sie auf das Kissen. Komm! Schlafe! Schlafe, mein liebes Täubchen!
Lieschen Ehlers sagt immer in der Schule zu mir: Ach pfui ... du – hast so 'n ... schlechtes ... Kleid!
Und darf ich – auch wieder – mit Tönchen zur – Tante, aufs Land? ... wenn ich ... wieder gesund ... bin? ... Ja? ... Weißte, dann ... suchen wir immer.. die Eier.. in der Scheune.. Tante und ich.. Ma-mach'n! ... Ma- mach'n! Onkel sagt immer ... zu mir: »Giv mi – mol 'n – Kuß, min lütt Deern!« ... Lächelnd. Mama! 'n Kuß! ... Aber – er hat – so 'n Stachelbart!.. Das kratzt immer.. Weißte, ich hab 'n immer – seine – lange Pfeife gestopft ... und dann – mußt ich – immer essen, aber auch – immer essen! ... Sie – nudeln ein' ordentlich! ... Au! Ich – konnte manchmal – gar nich – mehr! ... Die alte – Großmutter – sagt immer ... »Fat tau. Kind! – Fat – drist – tau!« – Na, die – haben's ja! – Nich wahr – Ma-mach'n? – Sie schlachten – jedes Jahr – vier Schweine! ... Vier Schweine! ... Mamach'n?[379] Horch mal! Lächelnd. Einmal – hat mir – Cousin Otto ... den Schweinsschwanz – hinten an 'n ... Zopf gebunden ... un – ich hab's erst – gar nich gemerkt! ... Cousin Otto – macht immer – solche Dummheiten! – Nich? – Aber – er is – gut! – Er hat mir immer – Weintrauben – aus dem Garten – gebracht ... Ja! ...
Schön! Schön, mein gutes Herzchen! Steht am Bett mit übereinander gelegten Armen und sieht zärtlich auf Linchen herab.
Nein ... wart doch mal ... Mamachen! ... Hör doch mal! ... Un Cousine Anna ... Die hat Kleider! ... Kleider hat die! ... Na, aber auch ... so viele! ... Sonntags ... weißt du ... wenn wir in die Kirche ... Hustet.
Ach ... das ... schadet nichts ... Ma- mach'n! ... So 'n – bißchen – Husten noch! ... Das – hört morgen wieder auf – Nich? ... Sonntags in der Kirche.. ein blaues, ein – ganz – himmelblaues.. mit.. weißen Spitzen! ... Fein! Mamachen! ... Na ... aber auch alle, alle – haben – auf uns – gekuckt! ...Etwas ruhiger; nachdenklich. Ach, wie hübsch – is es da – Mamachen! ... Immer – so still! ... Aber – viel Fliegen! ... Nich wahr, Mamachen? ... Wenn es – recht heiß is ... Onkel zankt nich 'n – einziges Mal – mit Tante! ... Kein Schimpfwort! ... Und Anna und Otto – sind auch immer – so artig!
[380]Weißte ... sie wollten – mich dabehalten! ... Sie wollten mich – gar nich – wieder fortlassen! ... Tante sagte: Ich sollte nu – ihre Tochter werden! ... Papa – soll sich's.. überlegen!.. Nachdenklich. Gut hätt ich's da! ... Nich, Mamachen? ... Sehr lebhaft, sich steigernd. Aber du – und Papa – sollen mich – dann immer – besuchen! ... Aber – ich ziehe nich hin, Mamachen! ... Nich? ... Ich ziehe nich hin! ... Ich bleibe – hier!
Uh! Dein Händchen brennt ja wie Feuer, mein liebes Puttchen! ... So! ... So! ... Nich wahr, mein Herzchen?
Ich will auch – nie wieder unartig sein – Mamachen ... wenn ich wieder – gesund bin! ... Ich gehe dann – alle Wege! ...
Ach Gott, nein! So ein Mann! Nicht ein bißchen Rücksicht! ... Das ist ihm hier alles egal, alles egal! ... So ein alter Mann! ... Er sollte sich doch nu schämen! ... Nein, wahrhaftig! Ich hab auch nich 'n bißchen Liebe mehr zu ihm! Aber auch nich 'n bißchen! ... Für mich is er so gut wie tot! ... Ach ja! Ich kann wohl sagen: mir ist alles so gleichgültig! Wenn das arme Würmchen nich noch wär! ... Jahraus, jahrein dasselbe Elend! ... Ach, ich kann wohl sagen: ich habe mein Leben recht satt! ... Is gar kein Wunder, wenn man gegen alles abstumpft! ... Wie gut hätten wir's haben können! ... Wie leben andre Leute in unsrem Stande! Wenn man so nimmt! Mohrs! ... Der Mann is 'n einfacher Handwerker gewesen und hat jetzt sein schönes Haus! Und die Wirtschaft! Was haben die Leute für 'ne Wirtschaft! ... Na, un bei uns? ... Und der will [382] nun 'n gebildeter Mann sein! ... Nein, wie das bei uns noch werden soll? ... Und an allem bin ich schuld! ... Ich verzieh' die Kinder! Ich vernachlässige die Wirtschaft! Alles geht auf mich! ... Und da sollen die Kinder noch Respekt vor einem haben! ... Ach Gott, nu sitzt man wieder hier und zittert und bebt! ... Und wenn man nur nicht dabei so hinfällig wär! ...
Ach, du?! – Ich denke, du bist schon lange eingeschlafen? ... Biste denn nur nich gescheit, Junge?! ... Mach mal gleich, daß du wieder ins Bett kommst! Du willst dich wohl erkälten?! Was?!
Ei, du lieber Gott! Nein! ... In Schulden sitzt man bis über beide Ohren! ... Nichts kann man anschaffen! ... Kaum, daß man das liebe bißchen Brot hat! ... Nein, das kann euer Vater wirklich vor Gott nich verantworten! ... Un dabei macht er sich selber ganz kaputt! ... Seine Hände fangen schon ordentlich an zu zittern! Haste noch nich gemerkt?
Du armes Tier! Du wirst gewiß auch schön müde sein! ... Ach nein, so ein Leben! So ein Leben! ... Hm! Womöglich is 'm was passiert?! ... Er hat vielleicht Streit gehabt! Er is ja so unvernünftig, wie 'n kleines Kind! ... Äh! Ich sage auch! Das ganze Leben is ... Gähnt nervös, streichelt über Linchens Händchen. Mein armes Würmchen! Das arme, magre Händchen! ... Ach Gott, ja! Du sollst sehn, wir behalten sie nicht!
[383]Ach Gott, nein! Erhebt sich und geht schwerfällig auf das Fenster zu. Wunderhübsch draußen! ... Aber der Himmel bezieht sich wieder, wir bekommen andres Wetter! ... Ich spür's an meinem Fuß! ... Nein, noch nichts zu sehn! Ach ja! Geht wieder zurück und setzt sich. Ich bin todmüde! Wie zerschlagen!
Mich schwindelt! ... Mir.. is ... zum Umkomm'n! Stützt sich gegen Toni. Horch! ... Er kommt heut wieder hintenrum! Ach, mein Herz!.. Mein Herz!.. Fühl mal!
Ach Gott, ach Gott! Is der schwer! ... Ruhig, [384] Walter! Sei still, mein Junge! ... Tu, als ob du schläfst!.. Toni, mach auf!
Selicke: ein großer, breitschultriger Mann mit schwarzgrauem Vollbart. Schwarzer Sonntagsanzug unter dem offenstehenden Überrock. Er schleift einen kleinen Christbaum hinter sich her; aus den Taschen sieht Papier von Paketen und Tüten vor. Unter den Arm hat er eine große, weiße Tüte gequetscht. Er ist angetrunken. Taumelt aber nur sehr wenig und spricht alles deutlich, nur etwas langsam und schwerfällig. Sagt in sehr guter Laune. Na?! ... Habt ihr wieder kein Licht. Ihr Tausendsakramenter, ihr? ... He? ...Lacht fortwährend leise vor sich hin, nickt mit dem Kopf und macht ein pfiffiges Gesicht, als wenn er eine Überraschung vor hätte. Toni kommt ihm mit der Lampe nach. Setzt sie auf den Sofatisch. Huaach! ... Ne! Wird man – müde.. wenn man so auf dem Weihnachtsmarkt rumläuft? ... Lacht und blinzelt Toni zu, die am Sofatisch in seiner Nähe steht. ... 'n hübscher Baum – hbf! – hä? ... Holt man morgen früh gleich die – hb! – Hütsche vom Boden! – Da! Nimm ihn hin! –Gibt Toni den Baum; tut scherzhaft, als wenn er sie erschrecken wollte. Sie lächelt gezwungen und stellt den Baum beiseite. Er lacht, [385] wendet sich dann zum Tische und fängt an, seine Taschen auszupacken; singt dabei. »Nicht Roß, nicht Reisige ...« Sich unterbrechend. Wo sind denn ... die Jungens?
Was – Kuckuck! Zwei?! – Hebt, indem er weiter auspackt, abermals an. »Nicht Roß, nicht Reisige.« Er nimmt aus einer Tüte zwei Pfannkuchen, geht damit auf die Kammer zu und ruft mit gedämpfter Stimme. He! Walter! – Walter! – Willste noch 'n Pfannkuchen? Bekommt zuerst keine Antwort. Na?!
Da! Fang! Wirft den Pfannkuchen nach Walters Bett hin und lacht. Na, Großer! Du auch?Albert antwortet nicht. Eh! Frißt 'n je doch! Da!Wirft auch ihm einen Pfannkuchen zu und geht dann vergnügt, leise vor sich bin pfeifend, zum Tisch zurück. Ja, ja! Die Jungens! Toni, die solange am Tisch gestanden, hat abwechselnd ihn beobachtet und zur Flurtür hingesehn. Er kramt wieder mit den Sachen. Holt das Portemonnaie vor, klappert mit dem Gelde. Legt ein Goldstück auf den Tisch. Hier! ... Da können wir beide ... morgen früh noch ... einiges einkaufen ... gehn! Die Jungens könn'n dann 'n ... Baum putzen ... und am Abend ... beschern wir! ... Na. Was machst denn für 'n Gesicht?!
Äh! Red nich! ... Das heißt: Kommste wieder ... so spät, he? ... Ja, – ja! Mein Töchterchen!.. Dein Vater darf sich wohl nich mal 'n Töppchen gönn'n! ... Was?! ... Äh, geh weg! Du altes, dummes Fraunzimmer! ... Ja! Ich möcht mal sehn ... wenn euer Vater ... nicht wär! ... Weißte, mein Tochter? ... Mir geht viel im Kopfe rum! ... Ich sorge mich! – Euretwegen! ... [386] Ja, ja! Wenn ich dich so sehe! ... Wie sind andre Mädchen in deinem Alter! –
Du liegst dein'm Vater immer noch – auf 'm Halse! ... Ja, ja! ... Äh! Du! ... Geh weg! ... Ich mag dich nich mehr – sehn! ... Für sich, indem er seitwärts tritt und an seinem Rocke herumzerrt, um ihn auszuziehen. Äh! Is das – 'ne Hitze? ...
Mach, daß du wegkömmst! ... Ich – brauch dich nicht! Toni hilft ihm dennoch. Er streift etwas die Wand. Endlich hat sie mit zitternden Händen ihm den Überrock und dann auch den Rock abgestreift und beides an die Knagge neben der Korridortür gehängt. Selicke steht nun in Hemdärmeln da. Streicht sich über die Arme und schlägt sich dann, vor sich hin kichernd, mit der Faust auf seine breite, gewölbte Brust. Äh! ... Ja? Siehste? ... Dein Vater is noch 'n Kerl! ... Lacht. Was meinste, mein Tochter! ... Z-zerdrück'n könnt ich dich mit meinen Händen!.. Z-zerdrücken!.. Das wär am Ende auch – das beste! ... Mit dumpfer Stimme, sieht vor sich hin. Ich häng euch – alle auf! Alle!.. Und dann – schieß ich mich – tot! ... Toni wankt ein wenig zurück nach der Flurtür zu. – Selicke geht auf die Kammertür zu. Man hört Walter in der Kammer weinen. Na, was – haste denn, dummer Junge!
Komm, mein Sohn!.. Dein Vater hat dich lieb!.. Sehr, sehr lieb! ... Ja, ja, mein Junge! ... Er hat auch gesorgt, daß du was zu Weihnachten kriegst! ... Ja, wer sollte für dich sorgen, wenn dein Vater – nich wär! ... Na, weine doch nicht! ... Was – weinste denn? ... Was?! Äh! Sei nich so dumm! ... Dummer Junge!
He! Alte! ... Wieder – fortgehumpelt! ... Na, humple, humple nur hin! ... Sucht ihre Stimme nachzumachen. ... »Ach, die – arme Frau!« ... »Was die – für 'n Mann hat!« ... »Äh! Die hat's mal schlecht!«
Die Alte ist schuld, daß dein Vater so spät nach Hause kommt, mein Sohn! ... Oh, das ist ein Unglück! Ein rechtes Unglück! ... Und der alte, große Schlingel da?.. Hui! hbf! ... Das – schnarche nur! Aus dir wird nichts, mein Sohn! Gar nichts! ... Huste nich! ... Dummer Junge!! ... Was?!! ... Du willst ... Frau Selicke schreit unterdrückt auf.
[388]Frau Selicke zurück, schließt die Tür. Äh! Da biste ja, mein süßes Weibchen! Geht auf die Flurtür zu. Unterwegs macht er aber halt. Hm? Mein P-Putt ... hbf! ... P – Puttchen? ... Das arme Kind! ... Das arme Kind!Er holt sich die Tüte vom Tisch und geht mit ihr auf das Bett zu. Walter lugt verstohlen um den Türpfosten. Man hört, daß jetzt auch Albert wach geworden ist. – Selicke bückt sich ein wenig über das Bett. – Leise. M-Mäuschen! ... Sch-läfste, mein armes Herzchen? ... Sst! ... Sie schläft, die – kleine Tochter!
»Sie ist so krank!« ... Äh! Hab dich doch, alte Suse! – »Sie ist so krank!« ... »Piep, piep, piep!« ... »Ach, herrjemine!« ... Das arme Mädchen! Wie die sich vor ihrem Vater ängstigen muß! – Mach, daß du wegkommst! ... Mag dich nich sehn! Die letzten Worte zornig, bedrohend. Die Flurtür ist ein wenig aufgegangen. Frau Selicke schreit auf. Aah! ... Sieh mal!.. Da steckste, mein süßes Lamm? Lacht, taumelt an Toni vorbei auf die Flurtür zu. Draußen wird hastig die äußere Flurtür aufgerissen. Es poltert die Treppe hinunter. – Selicke öffnet die Tür. Na, so 'ne Komödie! ... Kuckt, wie die Alte rennen kann –Zeigt in das Entree. – ... mit ihrem schlimmen Fuße! ... Ne! ... Hähähä! ... Wie se humpeln kann!.. Hopp, hopp, hopp! ... Wie der Wind! ... Haste nich gesehn! ... Wie 'n Schnellöfer! ... Lacht, schüttelt dann aber plötzlich die Faust nach dem Flur, ruft unterdrückt. Du, altes T ... Du willst 'ne Mutter sein?! ... Ach, du! – Du! – Du! – Unglücklich hast du mich gemacht! Unglücklich! ... Kommt zurück; während [389] er an Toni vorbeikommt. Na, du? ... »Sie ist so krank!« Äh! Weg! ... Laß mich vorbei! Tappt wieder zum Bett und will sich drüber bücken.
Waaas?!! ... Waaas?!! Du – willst – dich – an deinem Vater – vergreifen?! Waaas?!! ... I, nu seht doch mal!
I! Seht doch!.. Das liebe Töchterchen! ... Oh, du bist ja ein – reizendes Wesen! Kommt noch näher auf sie zu.
Bleibt wie verwirrt stehen. Na! Da – heult einer und da ... B-bin ich denn – der reine – Tyrann?! Geht von Toni weg. Hm! ... Brr! ... So 'n Sausoff! ... Geht zum Sofatisch, setzt sich davor nieder und legt den Kopf auf die Arme. Eine Weile ist es still. Toni beobachtet ihn und will Frau Selicke holen. Selicke scheint einzuschlafen ... Nach einer Weile richtet er aber den Kopf in die Höhe. So 'n Weib! ... So 'n Weib! Toni bleibt stehen. So geht man nun unter! ... Sie legt die Hände vors Gesicht. Bebt vor Schluchzen. »Ach, mein Fuß!« – »Ach, mein Fuß!« – Weiter weißte nichts! ... Immer ich – ich – ich! – Ich brauchte dich nicht zu heiraten! – 's war mein guter Wille! – Zu dumm war ich! Zu dumm! – Du alte ... Äh! Du! – »Wir sind so arm!« – »Wir haben kaum 's liebe Brot!« – »Nichts in die Wirtschaft!« – Wer ist denn schuld?! – Wie kannst du mir das sagen! – Verdien dir was, dann haste was! ... Ja! Fortrennen! Das kannste! – Den Leuten was vormachen! [390] Ja! Du armseliges Weib! ... Äh! – Du bist ja – zu dumm! – Zu dumm! So ein – Unglück! – Oh! ... Ist eine Weile still. Toni will schon zur Flurtür. Fängt wieder an. »Wir müssen uns vor jedem schäm'n!« – Hä! Du! – Ich hatte mir das anders vorgestellt! – Ja, ja! – Eine Ehe ist mehr! – Äh, du! – Was weißt du, was eine Ehe ist! – Du! – Wie sind – andre Frauen! – Sieh sie dir mal an! – Aus – nichts muß 'ne Hausfrau was machen können! Aber alles: ich! – Alles der Mann! – Äh! Sieh zu, wie du uns durchschleppst! – Und die – Kinder! – Die armen, armen Kinder! – O Gott, was soll aus den'n werden! – Verzogen sind sie, die lieben Söhnchen! – Und du, Toni! – Du! – Du wirst akkurat wie deine Mutter! Ja, ja? ... Ich habe dich liebgehabt, aber du hast mich nicht liebgehabt! – Du bist niedrig! Niedrig! – Wir paßten nicht zusammen! – Was will man nun machen?! – Äh! – Schleppt man das so mit sich! – Äh! Immer hin! – Immer hin! – Hui! – Die armen Kinder! – Die armen Kinder! – Und du, mein liebes Mäuschen! – Seine Worte gehen in Weinen über. Mein armes, liebes Mäuschen!
Ja, ja? – Du! Großer! – Nimm dir 'n Beispiel an deinem Vater! – So was ist ein Unglück! – Ein großes, großes Unglück! – Dein Vater war dumm, gut und dumm, mein Sohn! Aber nicht schlecht! – Er hat euch – alle lieb! – Alle! – Auch eure Mutter! – Sie kann's nur nicht verstehn! – Und das – ist unser Unglück! ...
Ja, Liebchen. Beugt sich zärtlich zu ihr. Huh! Du fieberst ja, mein Herzchen! Das ganze Kissen ist heiß!
Ach – nein! – Ich bin – wieder – ganz munter, Tönchen! – Ich kann – morgen – aufstehn! – 's is immer – so schönes Wetter! – Und ich – muß immer – im Bett liegen ...
Ach, 's is man gut – daß – Papa da is! – Ich hatte schon – solche Angst! – Lächelnd. Horch mal – wie er schnarcht! – Wie ne Säge, was? Du – weinst ja, Tönchen?? ...
Ach nein! – Ich kann gar nicht schlafen! – Ich bin ganz – munter, du! – Du! – Ist bald Morgen? – Kann ich bald – aufstehn, Tönchen?
Was – was ist dir denn, mein Herzchen?! Bückt sich zu ihr und fährt dann unwillkürlich wieder in die Höhe.
Das – Licht – geht – aus ... Das – Licht – geht – ja ... Ma-ma-chen ... Ach! liebes – Ma-ma- chen ...
Sie ... Sie ... stirbt! Ach Gott ... Mein Herzchen! – Mein Herzchen! Schreit auf. Stürzt sich über das Bett.
Die Lampe fängt an zu riechen, Toni! ... Lösch aus! ... 's is hell draußen! ... Der Lärm auf dem Flur! ... Die kennen keine Sorgen ...
Die sind fidel! ... Sie tritt zu Selicke hin und [395] legt ihm sanft die Hand auf die Schulter; mit mitleidiger, bebender Stimme. Vater! ...Selicke, der, das Gesicht in den Händen, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, vor sich hin brütet, achtet nicht auf sie. Vater! ... Komm! ... Vater! ... Ihre Worte gehen in Weinen über.
Komm, Vater! ... Wir wollen uns von jetzt ab – rechte Mühe geben ... Wir wollen vernünftig sein ... Es soll nun anders werden bei uns ... Nich wahr, Vater?
Frau Selicke starrt ihn eine kleine Weile angstvoll an und richtet sich dann, den Schürzenzipfel vor den Augen, wieder auf. Selicke, der sich schwerfällig erhoben hat, bückt sich über das Bett und küßt die Leiche. Weich, zärtlich. Leb wohl! ... Leb wohl, mein gutes Linchen! ... Du hast's gut! ... Du hast's gut! ...
Warum hat uns – der liebe Gott das – Kind genommen?! ... Und ich ... und ich – muß mich – weiterschleppen ... mit meinem Elend und meinem Leiden ... Ich muß mir selber zur Last sein ... und ... euch allen! ... Siehste? ... Als ich 'm das eben sagte: er hat mich – kaum angesehn! ... Schluchzt krampfhaft in ihr Taschentuch, in das [396] sie sich, während sie sprach, geschneuzt hat. Laut, sehnsüchtig. Ach, hol mich bald nach, mein Linchen! Hol mich bald nach! ...
Was hat sie nun gehabt von ihrem armen, bißchen Leben? ... Und doch ... war sie immer ... so fröhlich und munter ... unsre einz'ge, einz'ge Freude ... Schluchzt. Ach, was hatte man weiter von der Welt ...? ...
Ja! Für euch! ... Für euch wohl ... Für mich is es 's beste, Linchen holt mich nach ... So bald als möglich!
Ja! Komm, mein Junge! ... Geh in die Kammer und leg dich hin! ... Du hast die ganze Nacht nicht geschlafen!
Siehste? ... Siehste, Toni? ... Kein Wort, kein Sterbenswörtchen hat er wieder für mich gehabt! ... Er sah mich grade an, wie: na, was willst 'n du? ... Wer bist 'n du? ... Als ob ich 'n gar nichts anginge! ... Ach Gott! Was ist das für ein elendes, elendes Leben gewesen die dreißig Jahre! ... Ach, wollt ich froh sein, wollt ich froh sein, wenn ich an deiner Stelle wäre, mein Linchen! ... Betrachtet die Leiche. ... Sieh mal, Toni! ... Wie hübsch sie aussieht! ... Wie schön! ... Sie lächelt ein'n ordentlich an! ... Wie schön weiß ... und wie ihre Haare glänzen! ... Ach, die lieben blonden Härchen! ... Diese Worte gehen wieder in Weinen über. Die lieben blonden Härchen! ...
Nein! Nein! Der wird nie anders! In dem Blick ... wie er mich so ansah ... da konnte ich so recht deutlich lesen: wenn du's doch wärst! ... Ach, und ich wollt 'm ja so gerne Platz machen! Weiß Gott im hohen Himmel! ... Ach – so – gerne!
So gerne wollt ich ihm den Gefallen tun! ... So recht aus Herzensgrunde wünscht ich das! ... Aber 's is, als ob der liebe Gott grade mich ausersehen hätte ... Hat wieder zu weinen angefangen.
Nein, Mutterchen! Du mußt nicht so was denken! ... Siehste, wir müssen uns jetzt alle recht zusammenschließen! ... Sei nur recht gut und geduldig mit ihm ... Du [398] sollst sehn, dann wird es besser ... dann – wird alles gut werden!
Ach, ich bin ja schon immer zu allererst wieder gut! ... Ich bin ja immer, jedesmal zuerst wieder zu ihm gekommen und freundlich mit 'm gewesen! ... Ach Gott, schon um 'n lieben Frieden willen! ... Ich sehne mich ja nach weiter nichts mehr, als nach 'n bißchen Ruh und Frieden ... nur ein bißchen Ruh und Frieden ...
Herr Wendt! ... Ach, an Sie hab ich auch noch nich denken können! ... Sie müssen ja gleich abreisen ... Mein armer Kopf is mir ganz verwirrt ...
Oh ... Macht eine abwehrende Handbewegung und tritt auf sie zu. Meine liebe, gute Frau Selicke ... Drückt ihre Hand.
Laß nur, Mutterchen! ... Ich will das schon alles besorgen! Du mußt unbedingt ein bißchen ruhn! Komm, Mutterchen! Komm! ...
Was?.. Neun schon? ... Ach ja, ich muß ja noch ... Sie müssen ja – um elf – fort ... Sie geht mit müden Schritten, wie mechanisch, auf die Küchentür zu.
Ach! ... Ich bin ganz ... mir ist ... Ah ... Sie sinkt in einem Anfall von physischer Schwäche gegen seine Schulter.
Toni! ... Was ist dir?! Beobachtet sie ängstlich. Ihre Augen sind geschlossen, um ihren Mund liegt ein gequältes Lächeln.
Halt aus, meine gute, liebe Toni ... Halt aus! ... Nur noch eine Weile! ... Nur noch eine kleine Weile! ... Du armes Mädchen! ... Alles ist so – über uns hereingekommen!Seufzt. Nur noch eine [400] kleine Weile! ... Es wird alles gut! ... Es muß ja alles wieder gut werden! ...
Ach, mir ist ... Faßt sich. Ja! ... Wir dürfen jetzt nicht mehr – daran denken! ... Ich habe das nicht nur so – hingesagt! ... Das ist nun – vorbei! ...
Mit voller Überlegung? ... Nein! – Ach was! – Das kannst du ja gar nicht!.. Siehst du! Das kannst du ja gar nicht! ... Es ist ja unmöglich, daß wir die Verhältnisse jetzt klar übersehen können! ...
Ach nein! ... Ich weiß ganz genau, wie jetzt alles kommen wird! ... Wir können und werden uns nie heiraten! ...
Nie! ... Er hat sich auf den Stuhl vor dem Tisch sinken lassen, der noch von gestern abend dasteht. Stumm, finster, den Kopf in beiden Händen, vor sich hin starrend.
Siehst du! ... Du mußt doch sehn, daß ich jetzt – hier – nicht fort kann! ... Ach, du weißt ja! ... Du hast ja gehört! ... Diese schreckliche, [401] schreckliche Nacht! ... Ich kann, ich kann doch nicht anders! ... Nachdenklich. Wenn es jetzt auch so aussieht, als ob sie anders wären! Ach! Das scheint ja nur so! ... Traurig. Das dauert ja doch nicht lange! Bei der nächsten Gelegenheit – ist es wieder – wie vorher, und noch viel – noch viel – schlimmer ...
Ja! ... Noch schlim mer! ... Pause. Ja, wenn Linchen noch ... Ihre Stimme zittert. Wenn sie dem Vater so auf den Knien saß beim Essen ... so neben ihm ... wenn sie sich an ihn schmiegte ... und ihm – was vorschwatzte ... oder: wenn sie sich zankten ... wenn sie dann – weinte ... und bat ... mit ihrem rührenden Stimmchen ... Ach! Sie hat sie immer wieder heiter gemacht und – getröstet ... Ja! Aber jetzt ...Ist in Weinen ausgebrochen. Ach, du weißt das ja alles gar nich! ...
Was soll werden? ... Sag doch selber! ... Zu uns nehmen – könnten wir sie ja doch nicht! ... Du weißt ja, wie er is! ... Und – die Mutter allein? ... Das läßt er nicht! ... Er hat sie ja viel, viel zu lieb! ... Er kann sich nicht von ihr trennen! ... Und unterstützen? ... Sie lächelt müde. Das siehst du ja selber: Das kann ja gar nichts nützen! ... Darauf kommt es ja gar nicht an! ... Ach Gott! Ich darf gar nicht daran denken! ... Die arme, arme Mutter! ... Und dann – die andern!.. Der arme Walter! ... Nein! Leise. Es ist ganz unmöglich, ganz unmöglich, daß ich fort kann! ... Und – das kann noch lange, lange Jahre so fortdauern! ...
Dein ganzes Leben in diesem Elend verbringen! [402] Dein ganzes Leben! ... Das soll man ertragen?! ... Ist aufgesprungen. Das ist ja unmöglich, Toni! Das ist ja unmöglich!
Ja, du! Du! ... Du bist ja noch jung und hast noch so viel vor dir! ... Aber sie haben ja gar nichts mehr auf der Welt! Gar nichts! ...
Wir könnten ja doch nie so recht glücklich sein! ... Ich hätte ja keine ruhige Stunde bei dir, wenn ich wüßte, wenn ich fortwährend denken sollte, daß hier ... Nein, nein! ... Das wäre ja nur eine fortwährende Qual für mich! ... Das siehst du ja auch ein!
Gut! Dann bleib ich hier! ... Verzweifelt. Ich habe den Mut nicht, ohne dich, Toni! ... Toni! – Auf sie zu.
Meine Eltern?! – Hä! – Wohl mein Vater?! Dieser orthodoxe, starrköpfige Pfaffe und ... Äh! Die ist mir ja auch nicht mehr das! ...
Meine Stellung?! Hä! – Was ist mir denn meine Stellung! Leiser. Ich habe nur dich, Toni! Nur dich! ...
Nein, nein! ... Ach, nein! Das geht ja nicht! ... Ach, das würde ja alles ganz anders werden, als du dir's jetzt vorstellst! ... Du bist ja nicht so an alles das gewöhnt!.. Und dann: Eh du dir dann wieder eine neue Stellung verschafft hast! ... Alles das! ... Nein, nein! ... Es ist so gut von dir, so gut! Aber es nützte ja doch nichts! ... Ach, siehst du denn das gar nicht ein?
Ach na ... Und dann – siehst du! ... Eigentlich: Wir haben ja noch gar nichts verloren? ... Später könnten wir ja – vielleicht – immer noch zusammenkommen?
Ich ... Nun ja – Warum denn nicht? Ich ... e ... Wir müßten vielleicht noch – ein paar Jahre warten! ... Aber unterdessen kannst du ja ... Sie hat während der letzten Worte nach dem Bett hingesehn. Hach?! Ist zusammengefahren, sich fest an ihn klammernd.
Wir vergessen ... Wir müssen – vernünftig sein! ... Lächelnd. Ach! – Sieh mal? – mir – ist – schwindlich! ... Ich bin – doch – ein bißchen – angegriffen ...
Laß nur! – Es ist – schon wieder gut! ... Sie ist mit gefalteten Händen vor das Bett Linchens getreten. Weint. Ja! – Du siehst ... Mein liebes, liebes Linchen! ... Mein Schwesterchen! ...
Aufs tiefste erschüttert. Hat ihre Hand ergriffen. Demütig. Toni! – Oh, was bin ich gegen dich! – Wie muß ich mich vor dir schämen! ...
Du hast recht! Hat ihre Hand wieder fallen lassen. ... Ja! Du brauchst mich nicht! – Du bist groß und mutig und stark und ich so klein, so feig und – so selbstsüchtig! Beschämt. Ich – Tor ich! ... Ja! Du hast recht! –Seufzt tief auf. Wir dürfen nicht! ...
Wieder mit einem Lächeln. [405] Ach, wenn man so den Tag über arbeitet, weißt du! ... Wenn man sonst gesund ist und immer tüchtig arbeiten kann: Da denkt man an nichts! ... Da hat man keine Zeit, an was zu denken! ... Und du – du weißt so viel! Du kannst so viel nützen ...
Ach, das ist ja nur so für den Augenblick! ... Du kannst glauben: Das ist nur so für den Augenblick! ... Wenn du erst dort bist ... Das ist so ein schöner, schöner Beruf, Pastor!
Ich glaube an alles das nicht, womit ich die Leute trösten soll, liebe Toni! Und ich kann nicht – lügen!
Ich meine: Wenn du mich – geheiratet hättest und du wärst dann Pastor gewesen, dann hättest du doch ebensogut den Leuten was vorgelogen, wenn du überhaupt an das alles nicht glaubst? ... Du sagtest doch gestern – ich weiß nicht mehr, wie du's ausdrücktest! ... Aber – ... Ja! – Wir hätten dann, was mit dem Leben versöhnte! – So ungefähr! – Es war so schön! ...
Ach, laß doch! – Du hast dort zu tun und ich – hier! – Und wenn wir dann – manchmal aneinander denken, dann – wird es uns leichter werden! ... Nicht wahr? ... Mit mildem Scherz. Ich will mal sehn, wie oft mir das Ohr klingt! ... Ach ja! Wenn man nichts zu tun hat, dann denkt man so an alles, und dann sieht alles – viel schlimmer aus, als es ist! ... Aber wenn man arbeitet, dann schafft man sich alles vom Halse! ...
Ja! Ja! Du hast wieder recht, wieder recht! ... [406] Sieht sie innig an. Ach Mädchen! – Du wunderbares Mädchen! Wie könnt ich jetzt ohne dich leben! ...
O nein, nein! ... Das sagst du ja nur so! – Das wäre doch schlimm, sieh mal, wenn du das nicht könntest, wenn du bloß von mir abhingst! – Lieber Gott! Ich bin ja so dumm! – Ich weiß ja nichts!
Aber, nicht wahr? Ich habe dich doch ge funden und du – du machst mich jetzt zu einem anderen Menschen! ... Du hast mich überhaupt erst zu einem gemacht, liebe Toni! ...
Ja! Du! ... Das Leben ist ernst! Bitter ernst! ... Bitter ernst! ... Aber jetzt seh ich, es ist doch schön! – Und weißt du auch warum, meine liebe Toni? Weil solche Menschen wie du möglich sind! – ... Ja! So ernst und so schön! ... Streichelt ihr über das Haar.
Laß! ... Ich – höre – die Mutter! ... Ich muß nun ... Wir müssen nun daran denken! ... Nicht wahr? ...
Laß! Ich werde aufmachen! – 's wird wohl nur der alte Kopelke sein ...Er geht aufmachen. Toni zieht sich in die Küche zurück.
Danke scheen! Danke scheen! ... Juten Morjen, werter, junger Herr! – Na? Schon uf 'n Damm? ... Wie steht 't denn mit unse Kleene? – Aha! Ick weeß schon! ... Se schläft noch! Scheeniken! ...
Er hat ein kleines Paketchen unterm Arm. Bleibt einen Augenblick bei der Tür stehen und sieht sich um. Juten Morjen! ... Nanu?! Keener da?! ... Det is jo hier noch so 'ne Wirtschaft?! ... Zu Wendt hinter sich zurückflüsternd. Sagen Se mal, et is doch nich etwa ... He?! ...
Biste tot, mein liebet Linken? ... Tritt zu Frau Selicke und nimmt ihre Hand. Frau Selicken! ... Meine liebe Frau Selicken! ... Det ... Sehn Se!.. Det ... Hm! ... Hm! ...Er hält einige Augenblicke, seitwärts sehend, ihre Hand. Wo is denn Edewacht?
Drin in der Kammer! ... Er sitzt da und – und – rührt sich nich.. Wie tot! ... Ach Gott, ach Gott, ach Gott! ...
Hm! ... Wendet sich wieder zum Bett und betrachtet die Leiche. Un ick dacht ... Hm! ... Un ick hatt ihr da – noch 'ne – Kleenigkeet – mitjebracht! ... Hm! ... Nu is det – nich mehr – needig! ... Nu hat se det – freilich – nich mehr – needig! ... Hm! ... Hm! ...
Nein! – Kein Auge hab ich zutun können! – Nur so ein bißchen gedämmert! ... Wie's klingelte, war ich gleich wieder wach! ... Haste denn Herrn Wendt ...
Die armen Leite! – Die armen Leite! – Jott! Ick sag immer: warum muß et bloß [409] so ville Elend in de Welt jeben? – Äh, Jottedoch! – ... Sie woll'n nu heite ooch reisen?
Ja, ja! – Det wird Ihn'n nu ooch so nich passen! – Na, wissen Sie, werter, junger Herr! Det lassen Se man jut sind! Die Beffkens un der schwarze Rock un det so: det is jo alles Mumpitz! – Sowat macht 'n Paster jo nich! Damit kenn'n Se sick trösten! – Da sitzt der Paster! Verstehn Se? Da! Klopft sich auf die Brust. ... Un denn, wissen Se: in die zwee Jahre haben Se hier wat kennenjelernt, wat mennch eener sein janzet Leben nich kennenlernt, un wat Beßres, verstehn Se, hätt Ihn'n janich passiern können! ... Ick wünsch Ihn'n ooch 'ne recht jlickliche Reise! – Wah mich immer sehr anjenehm, werter, junger Herr! Wah mich immer sehr anjenehm! ... Un, Se kommen doch später hier mal widder her? Wat? ...
Es is nichts mit 'm anzufangen! – Gehn Sie nur selber zu 'm rein, Herr Kopelke! ... Ach Gott, ja! ...
Da läuten sie schon zur Kirche! ... Ach, wer hätte das gedacht, daß Sie mal so von uns fortziehen würden, Herr Wendt! ... Unter solchen Umständen! ... Weint. Lassen Sie sich's recht gut gehen! Gibt ihm die Hand. Und grüßen Sie Ihre Eltern unbekannterweise recht [410] schön von uns! ... Erleben Sie bessere Feiertage – und – denken Sie manchmal an uns ...
Ich danke Ihnen, Frau Selicke! Ich danke Ihnen! Für – alles! Ihre Hand drückend. Leben Sie wohl! Zu Toni, die mit dem einen Arm noch immer ihre Mutter umschlungen hält, ebenfalls ihre Hand ergreifend. Leben Sie wohl! Ich ...