Erster Theil
Ich wurde in dem Hause des Pfarrers zu Hohenfels, als seines Bruders Tochter erzogen. Sobald ich es verstehen konnte, sagte mir der Pfarrer, meine Eltern wären während meiner ersten Kindheit gestorben, aber ich sollte ihn als meinen Vater ansehen. Ich erfüllte dieses Verlangen in seinem vollen Sinn, denn ich fühlte nie, daß meine Eltern mir fehlten. Er war ein seltener Mann, und ich werde in der Geschichte meiner Erziehung ausführlicher seyn, als ich vielleicht sollte, weil sich sein Charakter [3] in derselben am besten darstellt. Sein Gemüth war eine reine Harmonie, der sich jeder mit Vergnügen näherte, und ohne es zu suchen, wirkte er auf einen großen Cirkel. Er ließ sich gern und leicht in ein Gespräch ein, und wußte das gemeinste an die wichtigsten Gegenstände so natürlich und leicht anzuknüpfen, daß er das innere Wesen der Menschen aufschloß.
Als mein Verstand reif genug war, um die Menschen gegen einander zu vergleichen, sagte ich oft meinem Vater, wie hoch über alle andere erhaben Er mir erschiene. Mit einem milden Ernst in seinem Blick erwiederte er dann: Wenige zwang das Schicksal mit so freundlicher Gewalt [4] auf der Bahn des Rechten zu bleiben, als mich. Manche Kraft wird zerstöhrt, ehe sie ihre wahre Richtung empfängt. Ich hatte hohen Genuß und tiefes Leiden, aber die Flamme der reinen Liebe erhielt mein besseres Leben. Eine Welt von Erinnerungen schien sich bey solchen Äußerungen in seinem Innern zu entwickeln; sein Auge war gesenkt, er war in sich selbst versunken, aber schnell, als von einem neuen Feuer belebt, kehrten sich dann seine Blicke nach mir; er sagte mir ein freundliches Wort, gab mir einen kleinen Auftrag, welchen ich vorzüglich gern befolgte; ich fühlte, daß irgend ein Gefühl seinen Busen drängte, welchem er Gewalt anthat, und es war [5] mir als schwebte auf seinen Lippen: »Du bist doch mein Liebstes in der Welt!« Über meine Erziehung wachte er mit der Sorgfalt, mit der er jede einmahl übernommene Pflicht beobachtete. Er beschäftigte sich mit mir in seinen ernsten Stunden, aber ich war auch sein liebstes Spiel in den wenig geschäftlosen Augenblicken, die er sich vergönnte. Ich entsinne mich, daß er mich früh gewöhnte, die Begriffe der Arbeit und Ordnung mit meinen Spielen zu verbinden; das geringste, einmahl angefangene Geschäft mußte ich vollenden. Ich war weich und liebend gebildet, und konnte auch keine leise Äußerung der Unzufriedenheit von meinem Vater ertragen. Am tiefsten schmerzte mich, [6] wenn er nach einer begangenen Unart mich wenige Stunden von sich entfernte. Das Einkommen, von welchem das Hauswesen bestritten wurde, war sehr mäßig, aber eine weise Einrichtung verbannte, mit aller unnützen Verschwendung auf der einen Seite, auch allen Geiz auf der andern. Nichts ging verloren, also war genug da, um ein reines ordentliches Leben zu führen, und meine Jugend war reich an allen kleinen Freuden, die der Wohlstand erzeugt.
Diese einfachen Verhältnisse, durch die Kunst meines Vaters geleitet, dienten mir zur Schule des Betragens für das künftige Leben. »Du sollst herrschen und dienen lernen, [7] mein liebes Kind,« sagte er mir zuweilen: »wenn man beides mit Einsicht und mit Achtung für sich selbst zu thun versteht, so ist eins so leicht als das andere; aber sicher ist es Quelle mannichfaltiger Schiefheit und Verworrenheit in vielen Verhältnissen, wenn unsere Fähigkeit ausschliessend für das eine oder für das andere entwickelt wurde. Die Ungeschicklichkeit, sich in irgend einer Lage zu betragen, zieht ein Heer kleiner Übel um uns her, die endlich den Blick in die äußere Welt und in unser Inneres umdämmern. Darum übe dich in allen Formen des Umgangs, und lerne jeden Menschen nach seinem individuellsten Daseyn behandeln, und dich selbst in jedem[8] Verhältniß auf die freieste und für andere am wenigsten drückende Art stellen.« Sein Beispiel, sein stillwirkendes Leben erklärte mir den tiefen Sinn dieser Rede.
Wenn mich nicht häusliche Geschäfte abriefen, war ich größtentheils in einem Kabinet, welches an meines Vaters Zimmer stieß. Ich fühlte mich in voller Freiheit, und, war doch in immerwährender Aufsicht. Da mein Vater selbst nie in eine gewisse Leere und Unbedeutenheit des Daseyns versank, so lernte ich sie auch nicht kennen; ich lebte in einem Cirkel stiller Geschäftigkeit, und mein jugendlicher Frohsinn entwickelte sich mit einigen Gespielen meines Alters. Die Kinder unserer [9] Gutsherrschaft und ein paar Bauerkinder aus der Nachbarschaft lockten mich zu allen kindischen Spielen, und mein Vater sah es gern, wenn ich in körperlicher Behendigkeit die andern übertraf; selbst Rosine durfte kein schiefes Gesicht machen, wenn ich mit zerrissener Schürze und Halstuch zurückkam, aber ich selbst mußte auch alles wieder in guten Stand bringen, und wenn sie dazu helfen wollte, so war es nur Gefälligkeit. Ich hatte einige Lehrstunden, um mich an regelmäßige Arbeit zu gewöhnen; aber mir damahls unbemerkbar war mein Vater, während dem ganzen Lauf des Tages, mit meiner Bildung beschäftigt.
Wir lebten in einer lieblichen Gegend, [10] und die mannichfaltigen und großen Naturgestalten um mich her nährten meinen Schönheitssinn. Das geheimnißvolle Leben der Natur ergriff mich früh, und die sanften Schauer der Bewunderung dehnten meinen Busen in erhabenen Gefühlen aus. Freundlich gesinnte Geister, schien mirs, wandelten im wechselnden Spiel des Lichtes um die Häupter der Berge, und in den buschigten Ufern des Flusses; ich empfand jenen namenlosen Zauber, in den der Genuß der Schönheit uns wiegt, in vollem Maße. Mein Vater ergriff diese reinsten aller Lebensmomente, um mein tiefstes Daseyn mit dem Gefühl Gottes und der Unsterblichkeit zu beleben. Die christliche [11] Religion lehrte mich mein Vater in ihrem wahren Sinn, kindlich und einfach, als das Resultat der reinsten menschlichen Natur, der wir streben müssen uns zu nähern, und sie in unserm innern und äußern Leben herzustellen.
Mein glückliches Gedächtniß und mein leiser Sinn für die Schönheit brachte meinen Vater auf den Gedanken, mich die alten Sprachen zu lehren, die er enthusiastisch liebte. Die langen Winterabende hinter den Spinnrocken oder am Strickzeug vergingen uns so, daß er mir Stellen aus den Alten vorsagte, die ich auswendig lernen und übersetzen mußte. Die Kunstgestalten der alten Welt sollten meine Einbildungskraft zum [12] Schönen und Edeln stimmen, und mich lehren, meine Sinne für den Eindruck des Gemeinen und Unwürdigen zu verwahren. Durch den Reiz der Neuheit dringt oft ein gemeiner Gegenstand an unser Gemüth, und aus Mangel an schönern Bildern, die ihn verdrängen könnten, umfangen wir ihn mit leidenschaftlichem Begehren.
Ich war immer beschäftigt, und durch einen wichtigen Gegenstand interessirt. Dieses erhielt meinem Vater die Zügel meiner Einbildungskraft in Händen. Freie Luft und Bewegung stärkten meinen Körper. Ich lernte den Feldbau in allen Details kennen, legte im Obst- und Küchengarten wohl selbst Hand an. [13] Mein Sprachstudium, Übungen des Stils im Deutschen und Französischen, Geographie, Naturlehre füllten die Morgenstunden, die von häuslichen Geschäften übrig blieben. Des Nachmittags lehrte er mich Klavierspielen, und ließ mich nach einer Sammlung guter Kupferstiche und Gypsabgüsse, die er besaß, zeichnen, um meiner Hand einige Fertigkeit zu geben, und mein Auge in der Richtigkeit der Verhältnisse zu üben.
Sorglos und unbefangen flossen meine Tage dahin, die Liebe meines Vaters erfüllte sie mit fröhlichem Wechsel. Jede ländliche Beschäftigung war uns ein kleines Fest, welches die gewohnte Lebensweise unterbrach, [14] und der Fleiß wurde mir wieder zum Genuß, wenn ich meines Vaters Freude an meinen Fortschritten wahrnahm.
Mein Vater lebte größtentheils einsam, und hatte von mancherlei Verbindungen in der Nachbarschaft nur einen alten Arzt auch als Freund des Hauses beibehalten. Es war ein Mann von ernsten strengen Sitten, und höchst bestimmten Begriffen. Ich fürchtete ihn als Kind, aber jemehr ich heranwuchs, lernte ich ihn achten und beinah seinen Umgang lieben, da er mir immer etwas Neues aus der Natur und Menschenwelt zu lehren wußte, und eine Freude an meiner schnellen Fassungskraft bezeigte. Herzlich bedauerte ich seinen [15] Tod. Mit diesem Freund verlor mein Vater den einzigen Umgang, der ihm zu einem Gedankenwechsel Anlaß gab, und ich die Freude manches unterrichtenden Gesprächs.
Die Gesellschaft der Salmschen Familie, unserer Gutsherrschaft, wurde mir uninteressanter, jemehr sich mein Geschmack bildete. Aber mein Vater hieß mich oft sie besuchen, damit ich meine Eigenheiten der Gesellschaft anschmiegen lernte, und von der Äußerung einer gewissen Sonderbarkeit befreyt bliebe, die man leicht in der Einsamkeit gewinnt. Durch natürliche Gutmüthigkeit, die gern jeden glücklich und frey in seiner eigenen Sphäre sich bewegen sieht, lernte ich leicht den Ton der Unterhaltung [16] treffen, der für die Familie passend war, und diejenigen Seiten meines Wesens verbergen, die sie nicht fassen mochte. Die Fräulein liebten meinen Umgang, weil ich weder in Kleiderpracht noch in sogenannten feinen Manieren mit ihnen rivalisirte, und wenn mein natürlicher Anstand und mein reinliches einfaches Hauskleid ein Lob von ihren Eltern, oder einem Fremden, welcher zum Besuch bey ihnen war, erhielt, so waren die Eigenschaften einer Pfarrerstochter doch so ganz unter der Sphäre ihrer Ansprüche, daß keine Aufwallung des Neides ihr Wohlwollen gegen mich unterbrach. Ich fühlte mich, ohnerachtet ihres guten Betragens gegen mich, [17] dennoch fremd in ihrem Hause, und wenn ich dann mit dem Ausdruck herzlicher Sehnsucht wieder zu meinem Vater kam, sagte er mir mit einem tiefsinnigen Blicke: Mädchen, Mädchen! Du gewöhnst dich so ganz nur in Odem der Liebe zu leben; ich fürchte, du wirst sonst nirgends zu Hause seyn. So erreichte ich mein achtzehntes Jahr.
Es war einer der ersten schaurigten Herbstabende. Ein dichter Nebel lag in den Thälern, der Wind trieb stürmisch graue Wolken über den östlichen Himmel, und der West flammte in tiefem Purpurroth. Gelbe Blätter flogen aus den schon halbnackten Wipfeln der Bäume, und flatterten an den Fenstern vorbei. [18] Das Knistern des Feuers im Kamin versammlete den ganzen kleinen Haushalt. Alle Bilder des herannahenden Winters spielten in der ersten erwärmenden Flamme empor, und jedes Mitglied der Familie durchflog in Gedanken den Kreis seiner Geschäfte, die Freuden und Leiden, denen es in diesem Zeitraum entgegen sah.
Mein Vater saß mit jener weisen Ruhe, die des Wechsels gewohnt ist, und Jahre wie Tage gleichmüthig vor sich hinziehen sieht, in seinem Lehnstuhl. Er legte den Plutarch aufgeschlagen aus der Hand, weil es finster wurde, und nahm die großgedruckte Bibel vor sich, um einen Text für die nächste Sonntagspredigt [19] zu wählen. Rosine ging im Zimmer auf und ab, das blank gescheuerte Geräthe aus der Küche herbeizuholen, welches ich mit zierlicher Ordnung in den Wandschrank im Hintergrunde des Zimmers aufstellte. Man zog die Thürschelle, und mein Vater rief: Agnes, mein Kind! Schon war ich an der Hausthüre. Es war halbfinster, doch konnt' ich noch bemerken, daß eine fremde Gestalt hereintrat. Was wünschen Sie, mein Herr? fragte ich; und er erwiederte: »Ich bin ein Reisender und sehr ermüdet, man kann mich im Gasthof nicht aufnehmen; darf ich hoffen, daß der Herr Pfarrer es verzeihen wird, wenn ich ihn um ein Nachtlager bitte?«
[20] Die Stimme war einnehmend, und erregte einen sonderbaren Antheil in meinem Herzen, so daß ich die gewohnte Gastfreiheit meines Vaters, mit lebhafterm Ausdruck als gewöhnlich verkündigte. Das wird Ihnen mein Vater mit Vergnügen geben, sagte ich, treten Sie herein. Er trug seine Bitte meinem Vater nochmahls vor; dieser hieß ihn freundlich willkommen, und setzte sich wieder an seinen Tisch bei dem Fenster, um einige Gedanken aufzuzeichnen, die ihm für seine Predigt eingefallen waren. Der Fremde war ein großer schöner Mann, seine Kleidung war sehr einfach, und deutete weder Armuth noch Reichthum an. Ich trug ihm einen Stuhl zum Kamin, [21] und setzte mich mit meinem Strickzeug ihm gegenüber. Die Flamme im Kamin warf einen hellen Schimmer auf sein Gesicht; und ich nahm feste und anmuthige Züge wahr, aus denen nicht mehr die erste Fülle der Jugend leuchtete. Rosine hatte unterdessen Licht herbeigeholt, mein Vater schrieb fort, und alles war still. Ich suchte vergebens nach ein paar Worten, um eine Unterhaltung anzuknüpfen, aber nichts war mir gut genug von allem, was mir einfiel, und nie scheuete ich mich mehr, etwas Unbedeutendes zu sagen, als in diesem Augenblick. Die Furcht, er möchte mein Schweigen für Unaufmerksamkeit oder für Mangel an feiner Sitte halten, [22] machte mir es gleichwohl peinlich. Er schien keinen Anspruch auf Unterhaltung zu machen, und sah still nach dem Feuer. Zuweilen streifte sein Blick im Zimmer umher, und nur einmahl ruhte er auf mir. Es war etwas unaussprechlich anziehendes in seinem dunkelbraunen Auge; mild und still faßte es die Gegenstände, aber zugleich so tiefeindringend, als möchte es das verborgenste im Herzen erspähen. Mein Strickgarn fiel zu Boden, er hob es auf, und gab es mir mit gerader gutmüthiger Höflichkeit. Der Faden hatte sich um seine Hand geschlungen, sie ruhete einige Sekunden in der meinen, und ein Ring fiel von seinem Finger. Während ich den [23] Ring aus dem Faden loswickelte, hatte ich Zeit, auf der blauen Emaille den Nahmen Amalie zu lesen.
Der Fremde nahm ihn mit einem flüchtigen Erröthen zurück. Ob seine gebückte Stellung, oder die Nähe des Feuers es verursacht hatten? oder ob der Ring lebhaftere Gefühle in ihm erregte? oder ob er den Nahmen seiner Schwester, seiner Freundin, oder seiner Frau am Finger trug? Diese Fragen kreuzten sich in meinem Kopf, und neben dem bemerkte ich die feingeformte Hand, die so eben in der meinen gelegen hatte. Nun legte mein Vater ein Zeichen in seine Bibel, und nahte sich dem Kamin. Freundlich zog er mit der linken Hand sein ledernes [24] Käppchen vom Haupt, reichte die rechte dem Fremden, und hieß ihn nochmahls willkommen. Sie rauchen vielleicht eine Pfeife Tabak in der kalten Herbstluft? fragte mein Vater. Der Fremde winkte Beifall. Ich trug nun auch den Theetisch zum Feuer, so kam alles in Ordnung, und der kleine Zirkel näherte sich einander vertraulicher, als der blaue Dampf in leichten Gewölken umherzog, und der gute Thee balsamisch duftete. Nach ächt griechischer Sitte schritt man erst zum Gespräch, nachdem der Gast gespeist worden war.
Wahrscheinlich kommen Sie heute von A.? sagte mein Vater. Sie hatten dann eine schlimme Tagreise, es ist eine von unsern schlechtesten [25] Straßen im Lande. – »So unwegsam und holpericht die Straße ist,« erwiederte der Fremde, »so mild und freundlich scheinen mir die Menschen, die daran wohnen, und mit dem Tausche wäre man wohl gern zufrieden, wenn man es überall so haben könnte.«
Mein Vater. Ja brave gute Leute gibt es hier, und gibts überall, hoffe ich. Seit fünf und zwanzig Jahren liegt meine Welt in dem engen Zirkel von wenigen Stunden beschränkt, und wenn es mir in diesem dunkel und verwirrt scheint, so habe ich doch immer ein sicheres Mittel, wieder ins Klare zu kommen.
Der Fremde. Und welches?
[26] Mein Vater. Ich suche mir die individuellsten Verhältnisse des Menschen, der mir grundschief und verdorben scheint, ganz bekannt zu machen. Sein Alter, Stand, Erziehung, Temperament, Vermögen, Freundschaften u.s.w. Dann greife ich in meinen eigenen Busen, und fürwahr violes, vieles in seiner Handlungsweise wird mir da leichter erklärlich, was mir außer jenen Beziehungen ungeheuer dünkte.
Der Fremde. Glauben Sie an den Saamen des Bösen in der Menschennatur?
Mein Vater (lächelnd). Nicht in dem Sinn, wie Sie vielleicht meynen, mein Herr; aber ich glaube, und fühle den Saamen der Schwachheit [27] in jeder menschlichen Brust; – glaube, daß nicht jeder sich halten kann, in der schönen Freiheit des Herzens, daß er oft das begehrt, was er nicht sollte, und dadurch zum Sklaven wird, weil er aus dem Gleichgewicht seines innren Wesens heraustritt, wo er König und Herr seyn könnte.
Der Fremde. So sind wir eins! O wie freut, es mich, wenn ich ein Gemüth finde, das seine Einheit bewahrte, das seine Wahrheit und Liebe lebendig erhielt! Wer in diesem schönen Kreise der Menschheit zu bleiben strebt, kann nicht irren, denn Wahrheit und Liebe sind das Wesen der Religion und Philosophie, und erhalten die Gesundheit [28] und Grazie der Empfindung. Ihr seyd nun einmahl die privilegirten Seelenärzte – fuhr er freundlich lächelnd fort – und mich dünkt, ich sey bey einem der bescheidensten, mithin der erfahrensten. Wie bewahrt sich die Seele am freiesten im Kampf mit den widerstrebenden Eindrücken von außen, und der Verdorbenheit um sich her?
Mein Vater. Freund, vor allem möcht' ich Ihnen sagen: Alle gute Gabe kommt von oben herab, vom Vater des Lichts!
Der Fremde. Und wenn es Seelen giebt, die nur die Richtung gegen das Licht kennen? Es windet sich die eingeschlossene Blume nach der Seite, wo ihr der Lichtstrahl [29] entgegendringt, aber die dunklen Schranken weichen nicht, und ihre Farben bleiben matt und bleich. Was sollen diese thun?
Mein Vater. Sich des geahneten Lichtes freuen, bis das Schicksal, oder eine bis jetzt ungeahnete neue Kraft in ihrem Gemüth die Schranken zerbricht. Jedes wahre innige Verlangen deutet auf die anziehende Kraft eines fernen Gegenstandes.
Der Fremde stand lebhaft von seinem Sitze auf, stellte sich dicht vor meinen Vater, sah ihm fest, aber freundlich, ins Auge. Über meine Wangen flog eine glühende Röthe. Du wahrer Jünger Deines Herrn, sagte er mit sanftgehobener [30] Stimme, indem er meines Vaters beide Hände faßte; Du besitzest seine Milde und seinen großen Sinn; wie lange suchte ich vergebens eine Seele, wie die Deine? Mein Vater sah innig zufrieden aus, und es war seit diesem Augenblick ein herzlicheres Verständniß zwischen uns dreyen. Welcher feinfühlende Mensch hatte nicht solche Momente, in welchen die Seele gleichsam als in ein feineres Element versetzt, zärtere, innigere Beziehungen wahrnimmt, und sich leichter und fester an eine andere anzuschließen vermag, deren Schönheit sie im reinern, erhöhteren Licht erblickt!
Rosine hatte den Tisch gedeckt, und das Abendbrod aufgetragen, welches [31] aus unsern gewöhnlichen zwei Schüsseln bestand, und wegen des, Gastes nur mit einem kleinen Nachtisch vermehrt wurde.
Mein Vater hatte die Gewohnheit in seinem Hause, daß immer ein kleiner Vorrath vorhanden seyn mußte, um einen guten Freund bewirthen zu können. Traktirt wurde nie, und kein Fremder konnte an einem ungewöhnlichen Treiben und Lärmen in Küche und Keller wahrnehmen, daß er Ungelegenheit verursachte. Ich bat mit der geringen Bewirthung vorlieb zu nehmen, und der Fremde erwiederte freundlich, es sey nichts gering, was mit solcher Güte und Anmuth gereicht werde, er habe nie einen bessern Reisbrey [32] gegessen, und wirklich ließ er sich ihn treflich schmecken. Das Einfache, Edle in seinem Betragen rührte mich sonderbar, und ich hatte es an keinem andern Manne meiner Bekanntschaft noch bemerkt. Sein Schweigen gegen mich gefiel mir vorzüglich; mir schien es, als läge eine Art von Achtung darinnen, und als hielte er mich für eine gewöhnliche unbedeutende Unterhaltung zu gut. Oft fand ich seine Augen auf mich gerichtet, und der stille Antheil, den ich an seiner Unterhaltung mit meinem Vater nahm, schien ihm nicht zu entgehen.
Das Gespräch begann sich wieder anzuknüpfen, als der junge Herr von Salm, der Sohn unsers Gutsherrn,[33] hereintrat. Er war eben von der Universität gekommen, um seine Eltern während der Ferien zu besuchen. So vorlaut der junge Herr auch sonst seyn mochte, so still war er in der Gesellschaft meines Vaters, der keine Plattheit, welche sich mit Anmaßung äußerte, ungerügt hingehen ließ. Er sah den Fremden aufmerksam an, der ihm ohngeachtet seines einfachen Anzugs zu imponiren schien. Lange trug er sich mit einer Frage, die er endlich bey einem Stillstand des Gesprächs herauspolterte; denn wenn er nicht ungestraft vorlaut seyn durfte, so war er schüchtern. Auch wollte er nicht gern Fremden eine geringe Meinung von sich geben, und hub darum immer [34] mit etwas Gelehrtem an. Darf ich fragen, mein Herr, ob Sie gute Lateiner in Ihrer Stadt an der Schule haben? Für diesesmahl war ich mit seiner Frage sehr wohl zufrieden, denn ich hoffte etwas von unsers Gastes Wohnort durch sie zu erfahren. Die Antwort befriedigte mich nur halb. Ich war seit drey Jahren außer Deutschland auf Reisen, Herr von Salm, und kenne also den gegenwärtigen Zustand der Schulen nicht. Er sprach nach diesem mit meinem Vater über den Nutzen, die alten Sprachen gründlich in der Jugend erlernt zu haben, und endlich kamen sie auf ihre Lieblingsschriftsteller. Es freute mich wahrzunehmen, wie sehr mein Vater[35] das Urtheil des Fremden ehrte, und die mannichfaltige Schönheit und Anmuth zu bemerken, die sich bey regerem Interesse des Geistes in seinen Zügen entfaltete.
Herr von Salm, halb verlegen und halb unmuthig, keinen Antheil an der Unterredung zu haben, sagte mir halbleise, er ginge, um seine Schwester zu mir abzuholen. Wie gern hätte ich für diesen Abend ihre Gesellschaft entbehrt! Der Fremde wandte sich gegen mich, als uns Herr von Salm verlassen hatte, und fragte mich, ob diese Familie meine einzige Gesellschaft sey, und ob ich vergnügt in dieser Einsamkeit lebte? Ich erwiederte, daß es mir nur sehr selten einfiele, mannichfaltigern Umgang [36] zu wünschen, und daß ich mich nie entschließen könnte, ihn zu suchen, wenn ich die Gesellschaft meines Vaters dadurch verlieren müßte. Es kamen mir leicht Thränen ins Auge, wenn ich an die Trennung von meinem Vater dachte, weil er selbst oft mit Rührung von der unfehlbaren Trennung sprach, die uns früh oder spät, doch so sicher, drohte. Ich war diesen Abend, seit der Erscheinung unsers Gastes so sonderbar gespannt, daß ich mich vergebens bemühte, meine hervorquellenden Thränen zurückzuhalten. »Gutes Kind,« sagte der Fremde lebhaft, und sah mir freundlich theilnehmend ins Auge: »halten Sie diese schönen Thränen nicht zurück. – Nichts bürgt so [37] sicher für die Weisheit der Eltern, und die Güte der Kinder, als wenn diese das väterliche Haus lieben.« Mein Herz schlug heftig, und ich fühlte einen noch nie empfundenen süßen Schauer durch meine Nerven zittern; wir schwiegen alle einige Minuten, der Fremde sah starr, doch lieblich vor sich hin; endlich wandte er sich zu meinem Vater und sagte mit gemilderter Stimme: Wie glücklich sind Sie durch Ihre Tochter! »Ja ich bin es so sehr durch sie, als wäre sie es durch die Natur.« – Der Fremde sah den Pfarrer hier fragend an, und ich selbst fühlte zum erstenmahl etwas Geheimnißvolles mit meiner Existenz verbunden. Als mein Vater die Augen niederschlug, [38] und schwieg, schlossen sich die schon zu einer Frage geöfneten Lippen des Fremden. Erndten Sie auch sichtbar Segen an Ihrer Gemeinde? sagte er nach einigen Momenten des Nachdenkens. – Ja, Gott sey Dank, antwortete mein Vater, mein Bemühen bleibt nicht fruchtlos. Es war ein wildes Völkchen, als ich herkam. Eigennützig und diebisch aus Faulheit und Ungeschicklichkeit, und voller Streitsucht aus Unwissenheit und Mißtrauen. Aber jetzt fängt es an, sich in die Ordnung zu fügen.
Der Fremde. Welcher Mittel bedienten Sie sich?
Mein Vater. Mein Herr, ich fing es von der umgekehrten Seite [39] an, als man es gewöhnlich treibt. Mir scheint es ein Irrthum, wenn man wähnt, man müsse alle Kultur sogleich beim Geistigen anfangen; – ich meyne, man kommt immer zu früh daran, ehe das Leibliche in Ordnung ist, und sogenannte aufgeklärte Gesinnungen seyen nur taube Blüthen, wenn sie nicht aus dem gesunden Stamme eines ordentlichen reinlichen Lebens Nahrungssaft einsaugen. Wenn das Volk durch Arbeitsamkeit sichern Unterhalt findet, so kommt Ordnung und Sitte von selbst. Wirkliche Noth hebt alle moralische Bande auf; der Mensch, den sie drückt, ist im Zustande des Kriegs gegen die Gesellschaft. Wenn die physischen Bedürfnisse mäßig befriedigt [40] sind, sproßt die Seele aus eigener Kraft in Gedanken auf, und die Gefühle des Rechten und Guten, des Glaubens und der Hofnung entkeimen ihrem mütterlichen Boden, als starke, gesunde Gewächse. Die Erfahrungen, die ich in meinem kleinen Kreise machte, scheinen mir beweisend. Ich war so glücklich, durch die Hülfe meiner vorigen Gutsherrschaft vieles für den Wohlstand dieses Dörfchens thun zu können. Unser voriger Herr war nicht allein ein vortreflicher Landwirth, er kannte auch alle Produkte und Bedürfnisse der umliegenden Gegend auf das genaueste, verstand in hohem Grad die Kunst, die Menschen zu behandeln, und sie zu seinen guten Zwecken [41] zu lenken. Er richtete den Feldbau und alle Arbeiten seiner Unterthanen nach den Bedürfnissen der benachbarten Orte ein, so sehr es die Eigenthümlichkeiten des Bodens gestatteten. Da er das Zutrauen aller besaß, so verband sein Geist das Ganze, und jeder Einzelne fand irgend einen Vortheil in seiner Haushaltung dadurch. Überall wußte unser Herr Zugang zur vortheilhaftesten Absetzung der überflüßigen Produkte, und so entstand nach und nach durch die Sicherheit des Erwerbs der Geist der Arbeitsamkeit und stillen Ordnung. Wenig Müssiggänger blieben in der Gemeinde, und die Gemüther bildeten sich gesund und sittlich. Im Anfang wurde [42] der Geldbeutel ihres Herrn mehr in Anspruch genommen, als meine Seelenarzneien. Jetzt, bey einem ruhigen und arbeitsamen Leben, und nach den Eindrücken, die die Jugend, mit welcher ich mich gleich anfänglich beschäftigte, empfing – jetzt nahet sich mir der größte Theil meiner Gemeinde im ächten Gefühl edlerer Bedürfnisse. Die Jugend wünscht Aufklärung über manche Gegenstände des Denkens, und oft Regeln für das Leben von mir, und das Alter spricht gern von seinen Hofnungen nach dem Tode. O warum mußte uns unser treflicher Herr so bald entrissen werden!
Seit wann ist er gestorben? fragte der Fremde mit sichtbarer Bewegung. [43] Ich habe nicht einmahl den Trost, erwiederte mein Vater, zu wissen, daß seine Seele in ein besseres Leben hinübergegangen ist; – er lebt vielleicht noch im Elend, in trauriger Gemüthsverwirrung, in Gefangenschaft; nur Gewalt kann ihn von uns trennen, wenn er noch am Leben ist, und dieses bange Schweigen des Todes gegen Herzen, die ihn so innig liebten, verursachen. Er lebte so mit seinem ganzen Herzen in diesem Dörfchen, dem Kreise seiner Wohlthätigkeit; – willig hat er es nicht verlassen, es liegt eine uns undurchdringliche Nacht auf seinem Schicksal!
Die Gemüthsbewegung des Fremden stieg immer höher, und er fragte [44] mit zitternder Stimme: Auf welche Art verschwand er?
Es sind achtzehn Jahr, als unser Herr eines Morgens befahl, sein schnellstes Pferd zu satteln; er zog seine Jagdkleidung an, ritt an meinem Hause vorbey, und rief mir zu, an die Gartenthür, die etwas entfernter von der Straße ist, zu kommen. Er reichte mir einen Beutel, und sagte: Hier haben Sie einen kleinen Fond zu unsern Einrichtungen für meine Unterthanen. Es möchten vielleicht Hindernisse für unsere Plane in den nächsten Zeiten entstehen; diese Summe, denke ich, soll hinreichen, sie fürs erste sicher zu stellen. – Leben Sie wohl, mein bester Freund. – Er wandte das[45] Gesicht von mir ab, aber ich hatte eine ungewöhnliche Spannung in seinem Wesen wahrgenommen, seine Hand schien zu zittern, als er mir den Beutel reichte. Die Ahndung eines Unglücks flog durch meine Seele, und als ich meine Arme nach ihm erhob, um seine Hand zu drücken, und noch ein Wort von ihm zu vernehmen, gab er dem Pferde die Sporen, und war mir pfeilschnell aus den Augen. Noch einmahl sah er sich nach mir um, und seitdem sah ich ihn nie wieder.
Es sind achtzehn Jahr verstrichen, aber noch liegt jener Augenblick als gegenwärtig in meiner Seele, und nie seh' ich den kleinen Fußsteig, der in den Wald führt, ohne daß [46] alle Schrecken seines Abschieds mich überfallen. Dort ritt er hin, und warf den letzten, gewiß schmerzlichen Blick auf sein Eigenthum. Alle Herzen waren sein, und er in dem blühenden Mannsalter von dreyßig Jahren, mit einer Fülle der Thaten im Busen, mußte das alles verlassen! Die Unruhe jener ersten bangen Tage seines Verschwindens ist unaussprechlich. Ich fand die Summe von zweitausend Thalern in dem Beutel, und dieses vermehrte meine Besorgnisse, als seyen sie ein Vermächtniß, wenigstens deuteten sie eine lange Abwesenheit an. Ich kannte seine Vermögensumstände, seine Güter waren nicht schuldenfrey, und nur durch eine sehr strenge Ökonomie [47] in allen Ausgaben für seine Person gewann er den Überschuß, den er zum Besten seiner Unterthanen verwendete. Seit fünf Inhren, die er hier verlebte, sah ich ihn immer nach dem festen Plan handeln, seine Güter von Schulden zu befreyen, und sich durch kluge Wirthschaft eines unabhängigen Einkommens zu versichern. Die Summe von zweitausend Thalern konnte er nicht erübrigt haben, und es mußte eine fremde gewaltsame Lage ihn nöthigen, von seinem Plan abzugehen. Oft hatte er mir gesagt, wie glücklich er durch das Gefühl sey, frey und unabhängig auf seinen Gütern zu leben, und wie kein anderes Verhaltniß ihn anziehen könnte, weil [48] ihm keines so natürlich und ehrwürdig schiene.
Die Unterthanen, welche gewohnt waren, ihren Herrn alle Sonntage bey ihren Vergnügungen zu sehen, bestürmten mich mit Fragen nach ihm, und ich mußte suchen, meine quälende Unruhe zu verbergen. Seinem Jäger und Verwalter hatte er, gleichsam im Scherz, weil er eben überflüßig Geld habe, ihren Lohn auf drey Jahre vorausbezahlt. Ich schickte sie und einige meiner zuverläßigsten Bauern in der Gegend umher, aber keiner konnte eine Spur von dieses geliebten Herrn Aufenthalt entdecken. So vergingen mehrere Wochen, die Bauern wurden immer unruhiger und drangen mit [49] Fragen in mich. Als ich endlich sagen mußte, ich wisse eben so wenig als sie, und theile ihre Besorgnisse, entstand ein allgemeiner Jammer. Sie liefen stürmend im ganzen Schlosse umher, und am selbigen Abend durchsuchten sie das ganze Jagdrevier und alle Wälder der Gegend mit Fackeln, und behaupteten, man habe ihren geliebten Herrn ermordet, und sie müßten die Mörder ausfündig machen. Keiner wollte an seine Arbeit, bis sie ihn gefunden hätten; es war in der Erndtezeit, aber sie liefen lieber Gefahr ihren Unterhalt für das ganze Jahr zu verlieren, ehe sie sich vorwerfen wollten, nicht alles für ihren Herrn gethan zu haben. Nach vielen fehlgeschlagenen [50] Versuchen hörten sie endlich auf meine Ermahnungen, ihr Schmerz wurde stiller, und sie gingen wieder an ihre gewohnte Arbeit. Die Hofnung, welche ich ihnen machte, daß die Entfernung ihres Herrn von kurzer Dauer und freiwillig sey, weil er für sie bey seiner Abreise gesorgt habe, stellte am besten Ruhe und Ordnung wieder her. Ich selbst nährte diese süße Täuschung, bis ich eine Reise nach S. unternahm, wo ein vertrauter Freund meines Herrn sich aufhielt. Dieser bat mich, alle Nachforschungen einzustellen; er schien mit dem traurigen Geheimniß seiner Flucht bekannt zu seyn. »Sehen Sie unsern Freund als einen Todten an, er kann uns nur durch ein Wunder [51] wiedergegeben werden, meine Pflicht erlaubt mir nicht Ihnen mehr zu sagen.« Diese Worte schlugen alle meine Hofnungen danieder.
Der Herr von Salm wußte es bey der Ritterschaft durchzusetzen, daß er, als Mitbelehnter, auch die Administration des Guts erhielt; er zog nach einem Jahre ein; man fand alles im besten Stand, und keine neue Schuld im Verzeichniß angezeigt. Den Schreibtisch in unsers Herrn Kabinet fand man ganz leer, und der Jäger sagte: er habe in den letzten Tagen viele Papiere verbrannt. Nirgends konnte ich seitdem eine Spur seines Aufenthalts entdecken. Vor zwey Jahren starb sein Freund in S., und mit ihm ist meine letzte Hofnung verschwunden.
[52] Der Fremde wurde immer bewegter, und drückte meinem Vater mit feuchten Augen die Hand, sah dann lange stumm vor sich hin, und als die Thränen von neuem seine Augen schwellten, verbarg er das Gesicht in seinen gefaltenen Händen.
So oft ich diese Geschichte auch schon gehört hatte, so hörte ich sie doch immer mit gleichem Interesse, und von Kindheit an war es meine liebste Unterhaltung gewesen, meinen Vater von seinem verschwundenen Freund erzählen zu hören. Wenn die Ältesten des Dorfes an schönen Sommerabenden unter den Linden versammelt waren, und ich mit meinem Vater vom Spatziergang zurückkommend bey ihnen ausruhte, kam [53] wohl einer, legte ihm traulich die Hand auf den Arm, und flüsterte ihm ins Ohr: Ja unser Herr sollte wiederkommen! Mehrere kamen herbey, und man sprach von seiner Regierung und sehnte sich nach ihr zurück, wie nach der goldenen Zeit.
Der lebhafte Eindruck, den diese Geschichte auf unsern Gast machte, freute mich innig. Mir war es, als machte ihn dieser Antheil an einen so oft wiederkehrenden Gegenstand unserer Gespräche noch heimischer in der Familie; auch ergriff mich eine dunkle Ahndung, er sey in das geheimnißvolle Schicksal jenes so geliebten Mannes enger verflochten, als er es äußere. Es war ein bedeutendes Schweigen in dem kleinen [54] Zirkel; unsere Herzen näherten sich einander ohne Worte; die junge Familie von Salm unterbrach es zu meinem Verdruß.
Die Fräulein hatten ihren Sonntagsstaat angelegt, da sie von einem Fremden gehört hatten, und kamen mit zierlichen Verbeugungen und einer franzosischen Exklamation zur Thüre herein. Nachdem sie den Fremden steif und vornehm gegrüßt hatten, musterten sie ihn von Kopf zu Fuß mit neugierigen Augen, und flüsterten dann zusammen: obgleich seine Kleidung nicht nach dem neuesten Schnitt sey, so habe er doch einen vornehmen Anstand. Er hatte für die Verbeugung höflich gedankt, und nach einigen flüchtigen Blicken [55] auf die Damen, zog er sich mit meinem Vater in ein Fenster zurück. Die Fräulein sprachen viel über ihre Reise nach S., von den vornehmen Familien, mit denen sie dort Bekanntschaft zu machen dächten, und von ihrer Verwandschaft mit ihnen. Sie sprachen von diesem allen mit ungewöhnlich lauter Stimme, aber da alle Versuche, die Aufmerksamkeit des Fremden auf sich zu ziehen, fehlschlugen, flüsterten sie wieder heimlich zusammen: es sey schwerlich ein Mann von Stande, da er keine der guten Familien dieser Gegend zu kennen schiene.
Das Geflüster, welches sich die jungen Damen oft bis zu einer beleidigenden Art über einen dritten [56] erlaubten, den sie für unbedeutend hielten, war mir unerträglich; ich schlug ein Spiel vor. Die Fräulein, die nun einmahl die Hofnung aufgegeben hatten, durch ihre glänzende Unterhaltung die Aufmerksamkeit unsers Gastes zu fesseln, überließen sich nunmehr auch ganz ihrer ungebundensten Laune, und wählten die blinde Kuh. Das nächste Zimmer wurde geöfnet, und der junge Salm mußte sich die Augen verbinden. Er that es nur nach wiederhohlten Neckereyen seiner Schwestern, da er noch immer eine hohe Meynung von dem Fremden hegte, und noch hofte, seine Gelehrsamkeit in einer Lücke des Gesprächs einzuschieben. Endlich kam das Spiel in Gang, und ob ich[57] gleich immer mit der halben Seele bey meinem Vater und dem Fremden war, so konnte ich doch nur abgetrennte Worte vornehmen. Ich hörte meinen Nahmen wiederhohlt nennen, sie sprachen eifrig, die Augen des Fremden suchten mich oft, und leuchteten mir wie ein Blitz in die Seele; bey jedem Stillstand des Gesprächs nahte er sich unserm Spiel immer mehr, und schien es mit Antheil anzusehen. Die Fräulein blieben mit ihren hohen Absätzen und langen Schleppen überall hängen, und liefen so ungeschickt, daß sie oft hinfielen, während ich in meinem leichten Hausanzuge und platten Schuhen leicht forthüpfte. Es freute mich nicht wenig, zu fühlen, daß die [58] Augen unsers Gastes nur mir folgten, und zum erstenmahl bemerkte ich mit Vergnügen, wenn unsere Schatten auf der weißen Wand durch einander hüpften, daß ich eine schlankere Gestalt hatte, als meine Gespielinnen. Endlich kam die Reihe an mich, die Augen zu verbinden. Ich lief ein paar Minuten im Zimmer umher, dann nach der Thür, wo mein Vater und der Fremde standen, und faßte den Letzten beym Arm, um ihn in unser Spiel zu ziehen. Ich that dieses in einem Ausbruch fröhlicher Jugendlaune, die mich leicht bey solchen Spielen ergreift; selbst meinen Vater neckte ich oft so. Als ich schon des Fremden Arm gefaßt hatte, fiel mir erst [59] ein, mich zu fragen, ob ich dieses auch hatte thun sollen? Und mein unbefangenes Gemüth wunderte sich wieder über diese Frage, da es ihren geheimnißvollen Sinn noch nicht verstand. In dieser Verwirrung hielt ich immer den Arm fest, bis er sich von meiner Hand losmachte, und meinen Leib umfaßte.
Süßer Moment des Lebens, wo Sinn und Geist zuerst in der holden himmelanstrebenden Flamme emporfliegen, wie allgegenwärtig bleibst du einem zartfühlenden Gemüth! Ich war anständig erzogen, in der höchsten Reinheit und Keuschheit des Sinns und der Einbildung; dieß war der erste Mann, gegen den ich meine volle Weiblichkeit empfand. [60] Ich fühlte mich seit seiner Gegenwart von jenem magischen Gewebe umsponnen, das die Blicke der Liebe zu erzeugen scheinen, und in dem all unser Thun zärter, feiner und bedeutender wird. Bey seiner Berührung bebten meine Nerven, und eine hohe Heiligkeit schwebte um sein Wesen, die schauernd meinen Busen beklemmte. In diesem nahmenlosen süßen Gemisch der ersten Regungen des Herzens stand ich sprachlos, und versuchte nicht der süßen Gewalt, die mich umwand, zu entfliehen. Fallen Sie nicht, liebes Kind, sagte er sanft, als ich endlich seinen Arm leise wegrückte, und umfaßte mich von neuem. Ich suchte meine tiefe Bewegung durch einen Scherz zu [61] verbergen, und verlangte, er sollte an meiner Stelle ins Spiel. Er löste mir das Tuch um die Augen ab. Als ich ihn ansah, waren seine Blicke fest auf mich gerichtet, und eine unaussprechliche Lieblichkeit milderte ihren Ernst. Sie haben mich also gefangen, Liebe; wollen Sie mich auch fest halten? sagte er mit dem zärtesten, doch halb ernsten Ton, der in der Modulation seiner klangvollen Stimme meine tiefste Seele ergriff. Er mischte sich nun auf eine leichte, fröhliche Art für einige Momente in unser Spiel; seine schöne Gestalt und die große Leichtigkeit und Grazie seiner Bewegungen entfaltete sich in vollem Reiz. Als er sich zurückzog, gab er mir die Binde [62] zurück, und sagte: ich hätte ihn um zwanzig Jahre verjüngt; eigentlich dürfe man Amors Binde im vierzigsten nicht mehr tragen.
Er sah mich bey den letzten Worten scharf an; mir war, als suchte er eine Widerlegung in meinen Blicken. Bald hernach bat er meinen Vater um die Erlaubniß, sich zur Ruhe zu legen, indem er sehr ermüdet sey, und morgen eine starke Tagreise vor sich habe. Er ging sachte aus dem Zimmer, ohne weder mich noch die andere Gesellschaft zu grußen. Mein Vater folgte ihm.
Als er zur Thür hinaus war, ergossen sich die Fräulein mit ihrem Bruder in tausend Vermuthungen und Fragen über die Erscheinung [63] dieses Fremden. Nicht weniger drangen sie in mich, alle kleinen Umstände seiner Ankunft zu erzählen. Die Gegenwart meines Vaters machte sie etwas zurückhaltender. Er hatte einen edlen Ton in seinem Hause eingeführt, und alles unnöthige leere Geschwätz wurde soviel als möglich verbannt, weil es nur aus kleinen Gesinnungen entsteht, und sie auch wieder nährt. Der junge Salm, der doch den Werth des Geistes und der Kultur genug erkennen konnte, um große Achtung dafür zu äußern, ergoß sich in Lobeserhebungen über den Fremden. Ein vortreflicher Mann! rief er mit jenem affektirten Enthusiasmus, in den Seelen von geringen Fähigkeiten leicht verfallen: in [64] Wahrheit ein vortreflicher Mann! begann er von neuem, wie er schön und bieder spricht, welch ein Feuer in seinem Auge, und wie etwas Großes und Vornehmes in seinem ganzen Benehmen liegt, als stehe ihm alles an, was er zu thun gedenkt, und als sey er überall der Herr. Und durch Simplizität und Verstand Herr, sagte mein Vater, welches die beste Herrschaft ist. Die Fräulein fielen auch ein, und fanden, er habe gute Fassons; einen Tadel, der schon auf den Lippen schwebte, schienen sie nur aus Furcht vor meinem Vater zu unterdrücken Im Ganzen schien es ihnen doch aufgefallen zu seyn, daß die wenige Aufmerksamkeit, die er der ganzen [65] jungen Gesellschaft bezeigt hatte, nur einzig auf mich gerichtet war. Wie froh war ich, als die Gesellschaft endlich Abschied nahm, und mich meinem Herzen überließ! Mein Vater gab mir sogleich gute Nacht, und hieß mich das Frühstück gegen sieben Uhr bereiten.
Selbst meinen Vater verließ ich gern, zum erstenmahl in meinem Leben. Ich ordnete das nöthigste für den morgenden Tag, und ging in mein Zimmer. Ich sank auf einen Stuhl neben dem Bette, und überließ mich den lieblichen Bildern, die allgewaltig auf meine Seele eindrangen.
Nur der vergangene Abend lag mir vor den Sinnen, aber in welchen [66] Zauberfarben, die mein ganzes Daseyn überglänzten, wie eine neu hervorbrechende Sonne! Mein Wesen ging mir in einer nie empfundenen erhöhten Kraft auf, eine Welt süßer Ahndungen umfaßte mich, und statt in flacher Dämmerung lag das Leben mit seinen Höhen und Tiefen klar vor meinem geistigen Auge. Immer fühlte ich den Druck seiner Hand aufs neue wieder, kindisch legte ich die meine auf die Gegend des Armes, die er berührt hatte, um gleichsam den Eindruck fest zu halten, und ihn in allen meinen Nerven wiedertönen zu lassen.
Holdes Zaubergefühl der Liebe, wo Sinn und Geist sich in einem allgewaltigen Klang vermählen! Ich[67] genoß diese einzigen Momente, voll und rein, in allem Reiz der süßen mystischen Dämmerung, die die Freuden der Liebe im Busen eines sittsam erzogenen Mädchens umschleiert. Mich hinzugeben dem unaussprechlichen, hohen und schönen, der mir als eine Göttergestalt erschien; in ihm, durch ihn nur zu leben, zu empfinden, – alles dieses ging mir in der Seele auf, und mein Inneres zerfloß in der Gewalt und im Wechsel dieser seligen Bilder. Die Stunde der Mitternacht ging so vorüber, und vergebens legte ich mich zum Schlummer, nachdem ich mir ein nettes, weißes Morgenkleid zurecht gelegt hatte. Holde Träume umfingen mich, und der Geliebte erschien [68] mir in tausend Gestalten und unter tausend verschiedenen Situationen.
Der Morgen begann. – In wenigen Stunden wirst du ihn sehen, sagte ich mir – und die sonderbare Furcht, mit welcher der Mensch allem hoch und heilig geachteten begegnet, ergriff mich. Die schlaflose Nacht bewirkte auch noch physische Ermattung; mit zitternder Hand kleidete ich mich an, und schlich leise durch Rosinens Zimmer, um sie noch eine Stunde Schlaf genießen zu lassen. Kaum wagte ich zu athmen, als ich auf dem Vorsaal an der Thür des Geliebten vorbey kam. Aufs neue ergriff mich das Bild des vergangenen Abends, als ich in das [69] Wohnzimmer trat; die Magd war noch nicht aufgestanden, es zu reinigen, und es lag und stand noch alles umher, wie ich es am Abend verlassen hatte. Ich setzte mich auf den Stuhl, wo der geliebte Mann gestern gesessen hatte. Das Morgenroth flammte in Osten, die Häupter der Berge waren verklärt, und bald von Strahlen übergoldet. Die ferne Gebirgkette, und die niedern Hügel, die unser Thal einschlossen, schwammen im blauen Dufte des Herbstes, und das harmoniereichste Farbenspiel belebte die liebliche Landschaft. Silbern glänzte der Fluß aus den Schatten des Ufers, die sich allgemach verloren. Wie neu erschien mir diese liebe, so bekannt gewordene [70] Gegend. – Sein Bild war gemischt mit allem was mir erschien, und alles Schöne schien mir nur ein Theil seines Wesens. Die Magd trat herein, um das Zimmer zu reinigen, und nur um die Sonderbarkeit meines frühern Erwachens zu entschuldigen, berief ich sie über ihr spätes Aufstehen. Es ist so spät noch nicht, erwiederte sie, und der Fremde wird auch gerne ausruhen wollen.
Diese Worte, die ersten die ich an diesem Tage vernahm, – sie trennten mich auf einmahl von meiner innern Welt freundlicher Bilder, wie die feindliche Scheere der Parzen das Leben von dem goldenen Lichte des Tages. Der Fremde! wiederhohlte ich bey mir selbst; das ist [71] er, und wird es vielleicht immer für dich bleiben, und du räumtest ihm dein ganzes Herz so leicht ein. Die Thränen stürzten aus meinen Augen, und ich eilte ins Kabinet meines Vaters, welches ich alle Morgen selbst mit leisen Schritten aufräumte, um durch kein unzeitiges Geräusch seinen Morgenschlummer zu unterbrechen.
Der Vorhang innerhalb der Glasthür war verschoben, und ich sah sein Gesicht gegen die Thür gewendet. Welche Würde und heitere Stille schwebte über der reinen Stirn, deren Falten nur ruhiges Denken gezeichnet hatte! – welche Lieblichkeit athmete der sanft geöfnete Mund, um welchen Antheil, Mitleid und [72] sorgliche Liebe sanfte Linien gezogen! Die milde segnende Hand lag auf der Decke, und drückte sanft auf die leis athmende Brust. Diese Stille umfing mich, und mein Busen wallte leichter und stiller. Ach für diese Beiden zu leben! sagt' ich bey mir selbst; keiner ohne den andern kann mich ganz glücklich machen! Ich vollführte mein gewöhnliches Geschäft, und ging dann in die Küche, um das Frühstück anzuordnen.
Nachdem alle häuslichen Geschäfte geordnet waren, setzte ich mich an das Pianoforte, um das Erwachen meines Vaters zu erwarten. Kaum hatte ich Naumanns Kora aufgeschlagen, und ein paar herzerhebende [73] Akkorde aus dem schönen Chor: Geist aller Welten etc. gegriffen, so hörte ich die Thür sich hinter mir öfnen. Mein Herz schlug hoch, und die Noten verwirrten sich vor meinen Augen. Es war der geliebte Mann, und aller Zauber meiner Träume schwebte um seine Gestalt. Die Furcht, meine Empfindungen möchten auf meinem Gesicht ausgedrückt seyn, brachte mich in beynahe schmerzliche Verwirrung. Er grüßte mich sanft, seine Stimme schien mir noch rührender, als am vergangenen Abend. Er ließ mich nicht vom Klavier ausstehen, und begleitete meine zitternden Noten mit dem reinsten vollkommensten Gesang. Ruhe durchströmte mich, die Morgenröthe flammte um [74] uns her, und der erhabene Sinn dieser Musik füllte meine Seele; ich konnte ihn bald mit meiner Stimme begleiten, und unser Gesang floß so rein in einander, wie der Odem der Liebe. Mein Vater kam noch während des Gesangs aus seinem Kabinet, und blieb still hinter uns stehen. Als ich ausgespielt hatte, ging der Fremde freundlich auf meinen Vater zu, und faßte seine Hände. »Wir hielten unser Morgengebet; lieber Vater, möchte ich jeden Tag mit so reiner Andacht beginnen! Der stille Geist Eures Hauses hat mich ergriffen, Ihr seyd glücklich, Euch fehlt nichts, mir fehlt auch nur eines – und vielleicht können Sie mirs geben.« – Er drückte hier des Alten [75] Hände heftiger an seine Brust, und seine Augen fielen auf mich; ich stand bebend auf, den Stuhl ans Klavier gelehnt. Mein Vater sah ihm heiter ins Auge, und als er seine Hände nicht los ließ, sagte er sanft: »Gern, gern, wenn ichs kann!« – Ich konnte mich nicht länger halten, schlich mich an dem Fremden vorbey, und eilte an ein Fenster auf den Vorplatz; die Thränen stürzten aus meinen Augen. Als ich mit dem Frühstück zurück kam, schien mir's als hätte ich die Unterredung gestöhrt; mein Vater schien sehr ernsthaft, der Fremde bewegt, und es schien eine Wolke vor seiner Stirn zu liegen. Der Ring blickte mir wieder ins Auge, indem er nachdenklich [76] seine Tasse Kaffee ausleerte, und der Nahme zog wie eine Last mein Herz aus der goldenen Zauberwelt zurück. Der Nahme ist nicht unbedeutend, sagte ich bey mir selbst; ein so feinsinniger Mann trägt kein Zeichen des Andenkens, als wenn es ihm herzlich werth ist. Ob er nur eine Schwester hat? Als er bey einer kleinen Abwesenheit meines Vaters sich mir näherte, sanft die Locken berührte, die über meine Schultern wallten, und dann mit bewegter, leiser Stimme sprach: Gutes, liebes Kind, o möchte ich etwas für Ihre Glückseligkeit thun können! dann schwoll mein Herz wieder in freundlichen Hofnungen, und der Nahme war vergessen. Er machte sich reisefertig, [77] ein Schauer faßte mich, als er Hut und Stock ergriff: – vielleicht seh' ich ihn zum letztenmahl, sagte mir eine Unglück weissagende Stimme in meinem Innern, denn er hatte nichts geäußert über seinen Aufenthalt, noch seine übrigen Verhältnisse. Bebend stand ich, und hielt mich am Fenstergesimms, denn meine Kniee fingen an zu wanken, während er von meinem Vater mit einer treuherzigen Umarmung Abschied nahm. Nun nahte er sich mir, schlang sanft den einen Arm um meinen Leib, und drückte seine Lippen auf meine glühende Wange. – Vergessen Sie mich nicht, – sprach er mit holder Stimme, und kaum konnte ich die hervorstürzenden Thränen [78] zuruckhalten. Schon war er an der Thür, und sah noch einmahl auf mich zurück, als wir das Rollen eines ankommenden Wagens vernahmen. Er warf einen Blick aus dem Fenster, und befahl dem Kutscher zu halten: er würde augenblicklich einsteigen; aber eine Dame rief ihm aus dem Kutschenfenster zu, sie wünsche hier eine halbe Stunde auszuruhn. Er erwiederte, sie hätten wenig Zeit zu verlieren; aber sie war schon beim Aussteigen, ehe sie seine Antwort ganz vernommen hatte, und mein Vater war an die Thür geeilt, sie zu empfangen.
Der Empfang der Dame ließ mir keine Zeit, mich meinen Empfindungen zu überlassen; aber ich war [79] in der disharmonischsten Stimmung. Freude über die aufgeschobene Abreise, und diese neue Erscheinung, die sich so schnell zwischen meinen Freund und mich drängte, kämpften in meinem Busen. Sein Betragen schien mir gezwungener, seitdem sie unter uns war, und drückte doch Achtung und Neigung für sie aus. Ihre Züge waren schön, aber sie versprachen mehr Verstand, als Gefühl. Der Firniß der feinen Welt, der über ihr Betragen gezogen war, entfernte mich, ohne mir zu misfallen. Sie begegnete mir auch nur mit jener, Menschen von feinen Sitten mechanisch gewordenen Gefälligkeit.
Ihre Entfernung, mein liebster [80] Freund, hat mir Sorgen gemacht, sagte sie halb laut in französischer Sprache; ich fürchtete, es wäre Ihnen ein Unfall begegnet. Er dankte mit einer Beugung des Kopfes für ihre Theilnahme, und wandte sich dann gegen uns. – Ich habe in dieser liebenswürdigen Gesellschaft einen der glücklichsten Abende meines Lebens zugebracht, und wünschte, Sie hätten ihn mit mir genossen. Die Dame sah mich scharf an, und zeigte mir nach dieser Äußerung mehr Aufmerksamkeit. Nicht ein Wort entfiel, aus welchem mir ihr gegenseitiges Verhältniß hätte klar werden können. Es schien mir große Vertraulichkeit zwischen ihnen zu herrschen; vergebens wünschte ich den [81] Nahmen Schwester zu hören, und ich wagte es nicht, auszudenken, daß sie vielleicht verheirathet seyn könnten.
Als ich nach einem kleinen Geschäft ins Zimmer zurückkam, fühlte ich, daß man von mir gesprochen hatte. Die Dame bat mich, neben ihr zu sitzen, nahm meine Hand, freute sich, mich so unvermuthet kennen zu lernen, und hofte, wir würden uns bald und öfters wiedersehen, um uns näher zu kennen. Sein Auge war mit innigem Wohlgefallen auf uns geheftet. Ich fing an, die Dame als ein Band zwischen ihm und mir anzusehen; dieses gab vielleicht meinem Betragen gegen sie die Farbe der Neigung. Ach, ihn [82] zu sehen, in seinem Kreise zu athmen, wie viel schien mir dieses in dem Augenblicke der Trennung! Die Dame sprach viel und scharfsinnig mit meinem Vater über Literatur, fremde Länder und Sitten. Wie interessant könnte mir ihr Umgang seyn, wenn sie die Schwester des geliebten Mannes wäre!
Zum zweitenmahl kam der Moment des Abschiedes, aber die Lage war verändert. Die Reinheit der ersten ungemischten Empfindung war durch die Dazwischenkunft der Dame mit mehreren kleinen Leidenschaften gefärbt. Am mächtigsten wirkte der Stolz, die tiefen Bewegungen meines Herzens den Augen eines scharfbeobachtenden Weibes verbergen zu [83] wollen. Ich folgte der Gesellschaft mit einer sonderbaren Dumpfheit des Sinnes an den Wagen. Wir werden uns wieder sehen, mein bestes Kind, sagte die Dame, als sie mich beym Abschied umarmte; Ihr guter Vater hat es mir zugesagt. Der Geliebte drückte noch einmahl schweigend meine Hand an seine Lippen; er sagte kein Wort, das Hofnung des nahen Wiedersehens zeigte. Lieber Vater, sagte er noch mit einem Blick stiller Liebe zu uns, man steigt vom Himmel auf die Erde, wenn man von Ihnen scheidet; geben Sie mir Ihren Segen! Aber wie schmerzlich bebte mein Busen, als er sich gegen die Dame mit den Worten wendete: »Liebe Amalie, nicht wahr, [84] Sie fühlen es mit mir, daß man dieses gastfreundliche Haus nur ungern verlassen kann?« Das ist also diese Amalie, sagte ich bey mir selbst. Ach ein glückliches, glückliches Weib, so an der Seite des liebenswürdigsten Mannes durch die offene schöne Welt zu fliegen! Süßes Geschäft, für ihn zu sorgen, und wieder die zarte Sorge seiner Liebe zu seyn! Mein Vater blieb gedankenvoll neben mir stehen, bis das Rasseln des Wagens in der weiten Ferne verstummte, faßte dann meine Hand, und hieß mich einige Stunden ruhen. Ich zitterte bey seiner Berührung. Der Gedanke, mit ihm allein zu seyn, mit ihm, in dessen Gegenwart kein Geheimniß in meiner Seele[85] bleiben konnte, ergriff mich, und in schmerzlicher Bewegung sank ich weinend an seine Brust. Mein gutes, gutes Kind, sagte er mit tröstender, weicher Stimme, Du bedarfst der Ruhe sehr, suche einige Stunden Schlummer zu finden, Deine Nerven sind verspannt; Du findest mich im Garten.
Vergebens suchte ich dem Rath meines Vaters zu folgen; der Schlaf floh mein bewegtes Gemüth. Ich ging an meine Hausgeschäfte, und das liebste war mir, das Zimmer des Fremden wieder in Ordnung zu bringen. Mein Vater war still und nachdenkend beym Mittogsessen, aber voll zarter Theilnahme gegen mich. Als ich mich nach Tische wieder entfernen[86] wollte, hieß er mich ihn in den Garten begleiten.
Wir saßen an einem kleinen Hügel, von dem wir die freie Aussicht in ein enges Thal hatten, wo zwischen dunklen Fichten ein Waldstrom hinbrauste. Er zog seinen Homer aus der Tasche, und las die rührende Klage Andromache's. Das Gefühl meines eigenen Leidens floh, mein ganzes Wesen war von Andromache's Schmerz durchwühlt, und als der Zauber der hohen Dichtung von mir wich, war meine Seele wie rein gebadet durch einen Strom des erhöheten Lebens.
Ich liebte, aber ich liebte reiner; meine Sehnsucht war still und lieblich. Das Bild des Geliebten lag [87] in meiner ruhigen Brust in all' seiner Schönheit, einfach und groß, wie der Mond auf der Fläche des ruhigen Sees. So hörte die Liebe auf, eine Krankheit für mich zu seyn. Die Tage der Woche gingen in dem gewohnten Zirkel einfacher Beschäftigungen hin. Alles hatte seine Zeit, aber alles war so weise vertheilt, daß jedes pedantisch lästige Ansehn dabey vermieden war. Wer die Wohlthat des einförmigen Lebens nie empfunden hat, der sieht nur Langeweile dabey; aber wer es gekannt hat, wie die Seele nach Zerstreuungen und Weltgewühl ihr besseres Ich in einer thätigen Einsamkeit wieder findet, wie sie sich endlich der äußern Stille und Ordnung anschmiegt, und [88] sie in sich einsaugt, der wird vielleicht diese Lebensweise die glücklichste nennen.
So verwebte sich das Bild meines Freundes mit allen meinen Beschäftigungen, aber sanft waren die Wallungen des Verlangens in meinem Busen, und zart die Sehnsucht. Mein Vater war noch sorgsamer und zärtlicher gegen mich als gewöhnlich; wenigstens schien seine Aufmerksamkeit noch ununterbrochener auf mich gerichtet zu seyn. Rührend war mir sein Schweigen über die neuen Bewegungen meines Herzens. Er fühlte sie tief, aber mit zarter Schonung vermied er jedes Wort, das eine Erklärung hätte herbeyführen können. Solche Momente [89] des Schweigens erzeugen Jahre der Freundschaft; die Seelen scheinen sich inniger zu nähern, als bedürften sie schon der Worte nicht mehr. Aber dieses Schweigen, mir so werth und meinem wunden Gemüth so wohlthätig, dünkte mir auch ein Beweis zu sehn, daß meine Liebe hofnungslos sey.
Ach diese Amalie ist sein Weib! sagte mir oft eine Stimme im Innern, aber eine andere widerlegte die erste. Nein, er würde sich nicht erlaubt haben, dir mit solcher Herzlichkeit zu begegnen. Lag nicht in seiner Rede der ganze Sinn, daß er mich zu besitzen wünsche? So gern gab mein hoffendes Herz der zweiten Stimme Gehör!
[90] In Rosinens Betragen war eine sonderbare Feierlichkeit. Nach meines Vaters Beispiel war auch zwischen ihr und mir alles unnütze Geschwätz verbannt, und wir respektirten uns gegenseitig zu sehr, daß wir nicht hätten wünschen sollen, uns immer nur etwas Passendes und Vernünftiges zu sagen. Rosine, die noch mit der alten Gewohnheit der Schwatzhaftigkeit zu kämpfen hatte, und die sich überdem bey mir, ihrem Zögling, der dankbarsten Achtung so gewiß hielt, überließ sich doch zuweilen in der Abwesenheit meines Vaters ihrer geschwätzigen Laune. Jetzt wartete ich seit mehrern Tagen vergebens auf ein Wort über die neue Begebenheit, die in [91] einem so einförmigen Leben nothwendig Eindruck auf sie gemacht haben mußte. So gern hätte ich den geliebten Nahmen von irgend einem lebendigen Wesen aussprechen hören. Es wäre mir ein Zeugniß der Wirklichkeit für die ganze Scene gewesen, die oft als ein leichter Traum aus meiner Seele zu entfliehen drohte.
Mehrere Tage verstrichen ohne Nachricht von dem Fremden. Mit neugieriger Eile nahm ich alle ankommenden Briefe in Empfang, und besahe alle Aufschriften und Siegel genau, denn ich kannte den großen Korrespondentenzirkel meines Vaters. Am fünften Posttage endlich erschien ein Brief mit großem unbekannten [92] Siegel; mit zitternder Hand reichte ich ihn meinem Vater beym Aufstehen, und vergaß vor glühender Ungeduld das Frühstück herbeyzuhohlen. Der Alte besah Aufschrift und Siegel, legte den Brief langsam auseinander, und setzte sich zum ruhigen Lesen. Ich kannte alle feinen Falten auf dem stillen Gesicht meines Vaters; mit Zittern nahm ich die Wirkung wahr, welche der Innhalt dieser Zeilen auf ihn machte, ein gewisses Staunen, in dem noch etwas Freudiges lag, das aber bald in eine Wolke des Schmerzens vor seiner Stirne verschwand. Meine Unruhe wuchs, als er den Brief hastig einsteckte, und mit einer ruhig seyn sollenden Miene nach dem [93] Frühstück fragte. Der Tag verstrich, als wenn eine gewitterschwüle Luft den Athem preßt; die gewohnten Geschäfte wurden gethan, aber die gedankenschwere Stirn des Hausvaters verbreitete Düsterheit über alles.
Nach einem einsamen Spatziergang fand mich mein Vater bey seiner Zurückkunft allein im Zimmer; ich fühlte mich gedrückt, da er den ganzen Tag vermieden hatte, mit mir allein zu seyn, und hielt schon die Thürklinke in der Hand, mich zu entfernen. Bleib, mein Kind! rief er mir zu, ich habe dir sehr wichtige Dinge zu sagen, die mir das Herz pressen – und die ich nur mit Geduld und Glauben an die ewige Güte mit Ruhe ertragen [94] werde; – die Zeit ist gekommen, wir müssen uns trennen. Ich flog mit einem lauten Schrey an seinen Hals, seine Thränen träufelten auf meine Wangen, und wir hielten uns sprachlos umschlossen. Nachdem unser Schmerz sich gemildert hatte, fuhr er mit zitternder Stimme fort: Die Vorsicht hat mir deine Bildung anvertraut, mein bestes einziges Kind, und ich fand das süßeste Geschäft meines Lebens darinnen. Gott hat mich nicht reich gemacht, aber ich machte mir es zur Pflicht, von meinem kleinen Einkommen jährlich so viel zurückzulegen, daß du nach meinem Tod für Mangel und Abhängigkeit sicher seyn könntest. Meine einzige Sorge war, wo du leben [95] würdest? Unter dem Zirkel unserer bisherigen Bekannten war niemand, dem ich dich mit ruhigem Gemüth hätte anvertrauen können. Meine Freunde sind zu weit entfernt, und alle in Familienverhältnissen, die für dich nicht taugen. Wir müssen uns nach einem Zufluchtsort für dich nach meinem Tode umsehen. – Stille deine Thränen; – einem siebenzigjährigen Mann muß der Tod so bekannt seyn, als der Schlaf, und wir finden uns ja wieder beym Erwachen! Ein heiterer Strahl fiel aus seinem Auge in meine Seele, und das Leben schwand vor mir hin als eine Wolke, mit seinen Freuden und seiner Noth; ich blickte gelassen zu meinem Vater und zum Himmel auf.
[96] So sehr ich durch deine Entfernung leiden werde, mein bestes Kind, fuhr mein Vater fort, so danke ich doch der Vorsicht für den Wink zu einem künftigen Aufenthalt für dich, bey Menschen, die meine Achtung verdienen, und die durch Geisteskultur und feine Sitten dein Leben anmuthig und glücklich machen können. Die Dame, welche jüngst bey uns war, ist die Gräfin von Wildenfels. Ihr Äußeres verspricht Feinheit und Bildung, aber ich kenne auch ihren Charakter durch einen meiner vertrauten Freunde, und ich kann dich ohne Sorge ihrer Führung anvertrauen. Sie wünscht dich für den nächsten Winter zu ihrer Gesellschafterin, und will aus besonderm Antheil, [97] welchen sie an dir nimmt, noch einige kleine Talente dir erwerben helfen, die du in unserm einsamen Aufenthalt entbehren würdest. Bist du mit der Gräfin und der neuen Lebensart zufrieden, so wird sie dich gern immer um sich haben. Sie wohnt für jetzt in D**. »Ich werde ihn wiedersehen!« war mein erstes Gefühl bey den Worten meines Vaters, aber die lieblichen Hofnungen, welche bey diesem Gedanken meinen Busen füllten, wurden bald von dem schmerzlichen Gefühl der Trennung verscheucht. »Du versuchst die neue Lage für ein halbes Jahr,« sagte mir mein Vater, als er meinen tiefen Schmerz wahrnahm; »misfällt sie dir ganz, so[98] kehrst du zu mir zurück, schließest meine Augen, und ich empfehle dich unserm himmlischen Vater. Aber ich kann nicht wünschen, den Sonnenschein weniger Tage für mich durch den Frieden deines künftigen Lebens zu erkaufen. Wende alles an, um dein Gemüth zu der neuen Welt gefällig zu stimmen, in welche du eintreten wirst.«
Schon in drey Tagen wollte mich die Gräfin durch ihre Kammerfrau abhohlen lassen. Meine Seele zerfloß in schmerzlichen Gefühlen. Alle Freuden einer glücklichen Kindheit, alle einsam genossene Stunden der erwachenden Jugendfantasie gingen in den Tagen der Trennung wieder auf, und drangten sich fester an[99] mein Gemüth. Ich ging durch das Dorf, und empfing mit gerührtem Herzen den treugemeinten Segenswunsch der guten Landleute; mein Vater, welcher den Verständigsten unter seiner Gemeinde gern Rechenschaft von seinem Thun und Lassen gab, hatte auch über meine Reise mit ihnen gesprochen, und ihnen gesagt, daß er sich um einen Aufenthalt für mich nach seinem Tode umsehen müßte. Einige der Wohlhabendsten drangen mit Bitten in ihn, für die Zukunft nicht zu sorgen, und wollten mich durchaus zwingen, Geschenke anzunehmen, die für ihre Umstände ansehnlich waren. In jedem Abschied, den ich nehmen mußte, fühlte ich schon den allerschmerzlichsten, den von meinem Vater.
[100] Die Salmische Familie empfing meinen Abschiedsbesuch mit ungewöhnlicher Feierlichkeit. Ich umarme Sie vielleicht als eine große Dame, wenn wir uns wiedersehen, sagte mir die älteste Fräulein beym Abschied. Ich achtete nicht mehr auf ihre Rede, als wie auf einen gewöhnlichen Mädchenscherz, und erzählte sie in diesem Tone Rosinen. Die gute Alte sah mich einige Minuten lang forschend an, führte mich mit geheimnißvollem Schweigen in ihr Kabinet, und verschloß die Thüre hinter uns. Sie drückte mich an ihre Brust, bedeckte mein Gesicht mit Küssen und Thränen, und rief aus: »Du bist unschuldig, bestes Kind, Gott sey Dank, du bist unschuldig![101] – Ach ich war so traurig; ich wähnte, du wüßtest um den Heurathsantrag des Fremden, und fürchtete deine Liebe und dein Vertrauen verloren zu haben, weil du mir nicht ein Wort darüber sagtest. Jetzt sehe ich, daß ich dir Unrecht that. Schweigen konntest du gegen mich, aber dich verstellen und die Unwissende spielen, das kann mein aufrichtiges gutes Mädchen nicht.« Von was schwatzest du, Mütterchen? erwiederte ich, indem ich sie mit großen Augen anstarrte. Liebes Kind, du sollst alles wissen, aber schweigen mußt du, selbst gegen deinen Vater, so hart es dir auch ankommen mag. Nein, ich begreife deinen Vater nicht, so sehr ich auch sonst alles recht gethan [102] finde, was er thut: – mir mag er's verzeihen, daß ich meiner Agnes alles entdecke.
Entsinnest du dich jenes Morgens, Liebe, als jener fremde schöne Mann bey uns war? Du verließest einmahl schnell das Zimmer, und er blieb allein mit deinem Vater; da war ich in dem Seitenkabinet. Du weißt, es ist nur durch eine Bretterwand von dem großen Zimmer geschieden, und ich verstand alle Worte, die gesprochen wurden. Da die Rede von dir war, half mein Herz meinem Gedächtniß, mir entfiel nicht eine Silbe der Unterredung. Liebliches Geschöpf! rief der Fremde aus, als du die Thür geschlossen hattest. – O daß diese Wahrheit und Reinheit [103] in deinem Wesen nie verfälscht werden möchte, ich wäre dann der glücklichste Mann, dich gefunden zu haben! Mein Vater, unsere Gemüther sind eins in der Liebe der Wahrheit, unter uns braucht es keine Umschweife, Sie sollen mich ganz kennen, ich will Ihre Tochter ganz kennen, und ist alles, wie ich mirs denke, wie Sie es wünschen, dann bitte ich aus voller Seele: Vater gib sie mir zum Weibe! und ich gelobe es Ihnen, sie soll ein glückliches Weib werden.
Sie kann sich nur selbst geben, sagte der Pfarrer. Du seyest seine Tochter nicht. Wessen Tochter sie ist, gilt mir gleich, erwiederte der Fremde. Ich besitze die Eigenschaften, die die [104] Väter meist bey einer Heurath für ihre Töchter suchen, ich bin reich, und von hoher Geburt. Aber wenn der Vater ihres Geistes mich werth findet, durch das holde Wesen glücklich zu werden, dann werde ich dreyfach glücklich seyn. Ich frage nach nichts was ihr äußeres Verhältniß betrift, weil ich unabhängig bin, aber Sie werden einen sonderbaren Mann finden, der Ihnen seine Seele öfnen wird; – ich schreibe Ihnen. Meine Adresse ist: Baron von Nordheim in D. Über die äußere Existenz des lieben Kindes haben Sie keine Sorge von heute an. Kann sie mein Weib nicht werden, so schenk' ich ihr ein Vermögen, das sie unabhängig macht; aber sie muß kein Wort von [105] meinem Plane wissen. Ihre Güte rührt mich tief, sagte mein Vater. Tröstend wäre es mir, meine Agnes als Weib eines edlen Mannes auf der Welt zurück zu lassen; ihre Geburt ist mir selbst noch ein unergründliches Geheimniß, und selbst meine Ahndungen darüber muß ich in meinen Busen verschließen. Alles was ich sagen kann, ist –« Du tratest wieder herein, mein Kind. –
Wunderbar, klar und leicht wurde mir bey dieser Erzählung. Sein Weib, des liebenswürdigen Mannes nächstes innigstes Verhältniß! ich dachte es mit stillem Entzücken. Doch schämte ich mich beinahe, meinem Vater gegenüber, etwas gegen seinen Willen erfahren zu haben; und [106] die peinliche Empfindung, ihm etwas verbergen zu müssen, ließ mich mit mehrerer Ruhe an die Trennung von ihm denken.
Der Tag des Abschieds brach an, alle nahmenlose Liebe, die ich empfangen hatte, füllte einzig meine Seele; sprachlos lag ich zu den Füßen meines Vaters, als der Wagen vorfuhr. Er wollte mich trösten, aber Thränen erstickten seine Worte: Gott segne dich in Zeit und Ewigkeit, meine Tochter! rief er mit zitternder Stimme. Endlich schieden wir beide in jener stillen Erhebung der Seele, welche nur der tiefern Empfindung eigen ist.
Meine Begleiterin war ein gutes harmloses Geschöpf, das mir [107] meine neue Lage mit den glänzendsten Farben vorzumahlen strebte. Zum erstenmahl dachte ich jetzt über meine Geburt und den Stand meiner Eltern nach. Ich fand mich fremd und allein in der Welt, da ich aus den Augen meines Vaters war. Das Gefühl war mir schmerzlich, und ich ermunterte mein Gemüth nur durch das Bestreben, sich selbst gleich zu bleiben, und keiner äußern Lage Gewalt über mich einzuräumen. Ernstlich nahm ich mir vor, meinen ganzen Sinn nur auf die Ausbildung der Talente zu richten, die ich jetzt erwerben konnte, und die meine Einsamkeit beschäftigen, und meine Unabhängigkeit in jeder Periode des Lebens mir versichern sollten. Reizend [108] dachte ich mir es, durch eine feine Mahlerey eine Summe zu erwerben, und dann meinen Vater unvermuthet mit einem Buche, welches er sich längst gewünscht hatte, zu überraschen. Ach ich wußte, daß er sich manches versagte, um mir irgend ein kleines Geschenk zu machen!
Die Neigung, welche mein Herz füllte, war zu rein, als daß ich sie mit einer Aussicht auf äußeres Glück hätte verknüpfen sollen. Wenn ich den geliebten Mann dachte, lagen alle Verhältnisse unter mir, so wie einer gläubigen Seele in dem Gedanken des Himmels alles Irrdische entschwindet.
Den zweiten Tag meiner Reise hielt ich Mittag in N**. Die Kälte [109] nöthigte uns in der Wirthsstube zu bleiben, bis ein besonders Zimmer erwärmt wurde. Mehrere Reisende befanden sich darinnen. Außer den gewöhnlichen Fragen und Gesprächen, nahm niemand aus der Gesellschaft besondern Antheil an mir. Ein Mann saß nachdenklich am Feuer; als er mich erblickte, stand er auf und sah mich einige Minuten hindurch scharf an. Wohin geht Ihre Reise, mein schönes Kind? redete er mich an; und als ich erwiederte: »nach D**.« schüttelte er den Kopf einigemahl bedeutend, und murmelte: so jung, so schön! zwischen den Zähnen. Er war ein Mann von mehr als mittlerer Größe, er trug einen dunkelblauen abgetragenen Überrock, seine schwarzen [110] Haare hingen zerstreut ums Haupt, und seine düstern Augen blickten scharf unter der hochgewölbten Stirne hervor. Seine Wäsche war sehr fein und reinlich. Er zog eine Schreibtafel hervor, bat mich um meinen Nahmen und um den Ort meines Aufenthalts. Dann bat er mich, mich in ein günstiges Licht zu setzen, weil er mein Portrait zu zeichnen wünsche.
Sein Benehmen dünkte mir sonderbar, aber es war von solch einer Unbefangenheit begleitet, daß man ihm seine Bitten nicht wohl versagen konnte. Sie sind unter einem glücklichen Zeichen gebohren, rief er aus, nachdem er einige Linien gezogen hatte. Es ist nichts Streitendes [111] in deinen Zügen, holdes Geschöpf! O ermüde nicht, diese holde Einheit durch das innigste Streben deines Gemüthes zu erhalten! Deine ganze Tugend ist, das zu bleiben, wozu die Natur dich machte. Dieses klare, blaue Auge vermag die Wahrheit vom Irrthum zu scheiden, und unter dem freien Gewölbe dieser Stirn entwickeln sich die Gedanken rein und zart. Wie fein ründet sich das Näschen, noch schwankend, ob es sich mehr zur Vorsichtigkeit und Klugheit, oder zur gutmüthigen, beynahe leichtsinnigen Hingebung formen wird. Aber den Übergang von der Nase zur Lippe, den hat ein guter Engel mit dem Finger der Liebe gezeichnet. Der Mund ist fest [112] und unverstellt; er sprach nur Wahrheit und Liebe. Gutes Mädchen, o laß deine unentweihte Lippen nie etwas anders reden! Gott gebe dir eine glückliche Liebe, und du kannst ein vollkommenes Weib werden.
Er arbeitete während dieser Rede, die er ganz als einen Monolog zu betrachten schien, an seiner Zeichnung fort. Als er die Hauptzüge entworfen hatte, hielt er mir das Blatt vor die Augen, und sagte mit einem feierlichen Ton: »So sind Sie jetzt; die Fülle der Jugend muß von der Zeit verweht werden, aber möge nach dreyßig Jahren derselbe reine Geist diese Formen durchathmen! Sähe ich Sie wieder, und zum gemeinen Weibe gesunken, dann soll [113] dieses Blatt Ihr strafender Richter seyn. Sollte in diesen geradblickenden treuen Augen je Koketterie spielen, der liebeathmende Mund sich flach und falsch hin und her ziehen – O ich sah schon mehr solche gefallene Engel! Wie ein armer Landmann auf einem vom Hagel zerschlagenen Acker, den vor wenig Stunden noch eine blühende Saat schmückte, so ging ich oft unter den Ruinen der Menschheit. Mädchen, rief er aus, indem er mir freundlich die Hand bot, mache mir die Freude, ein reines einfaches Weib zu bleiben, dem Wahrheit und Liebe über alles geht.
Das ganz eigene Wesen dieses Mannes hatte mich bewegt. Es war eine solche Wahrheit in seinem Ton[114] und seiner Miene, daß alles Karrikaturmäßige aus seinem sonderbaren Benehmen verschwand. Werde ich Sie bald wieder sehen? fragte ich mit einem herzlichen Antheil, der seinem Auge nicht entging. Gutes Kind, ich weiß selten, was ich thun werde. Meine Zeit ist nicht mein, und mein Wirken folgt dem großen Laufe der Begebenheiten, deren tausendfache Räder auch mein Individuum forttreiben. Ich beobachte Sie vielleicht im Stillen und Ihnen unsichtbar, dann, wann Sie es am wenigsten vermuthen. Vielleicht auch verlange ich einmahl als Mahler Zutritt bey Ihnen. Sie sind der Kunst hold, üben Sie sie fleißig; gleich der Stimme eines treuen weisen Freundes [115] bringt sie Klarheit und Frieden in die Seele. Er führte mich an den Wagen, und legte ein aufgerolltes Gemählde mir gegenüber. »Nehmen Sie dieses als ein kleines Andenken. Es sey ein Talisman, sagte er lächelnd, den Sie in Stunden der Liebe vor Augen haben; dann denken Sie noch, liebes Mädchen, daß Sie eine glückliche Mutter werden wollen.« Ohne meinen Dank anzuhören, war er mir aus den Augen, und ich erstaunte, als ich die Leinwand aufrollte, eine trefliche Kopie von Raphaels Madonna della Sedia zu finden.
Den nächsten Tag kam ich in D** an. Es war Abend, als ich bey dem Hause der Gräfin vorfuhr.[116] Eine lange Reihe von Zimmern war erleuchtet, man sagte mir, eine große Gesellschaft sey bey ihr versammelt, und sie habe befohlen, mich in ihr Kabinet zu führen. Nach wenigen Momenten erschien sie selbst, in einem sehr glänzenden Putz, der meinem Willkommen etwas Feierlicheres gab, als ich wollte; da ich mich in die Stimmung, ihr mit Liebe und Offenheit zu begegnen, versetzt hatte. »Ich fühle, wie viel Sie mir durch die Trennung von Ihrem Vater aufopfern, mein bestes Kind,« redete sie mich nach einer Umarmung an. »Ich werde alles anwenden Ihren Verlust erträglicher zu machen; wenn Sie mich zufrieden mit sich sehen wollen, so sagen Sie mir mit der [117] Offenherzigkeit einer Freundin alle Ihre Wünsche. Ich muß Sie jetzt für ein paar Stunden verlassen, ich konnte die Gesellschaft heute nicht los werden. Sehen Sie sich in meinen Zimmern, unter meinen Büchern und Kupferstichen um, wenn es Ihnen Freude macht; hernach wird meine Kammerfrau Sie ankleiden, und ich hohle Sie zum Nachtessen ab. Sie verzeihen, daß ich mir die Freude mache, Sie diesen Abend nach meinem Geschmack geputzt zu sehen. Ich hatte es schon bemerkt bey unserer ersten momentanen Bekanntschaft, daß Sie von meiner Taille sind, und ließ Ihnen ein Kleid nach dem neuesten Schnitt machen. Wir müssen es mit den alten Kindern, die [118] man in den größern Zirkeln so häufig antrift, nicht verderben,« setzte sie lächelnd hinzu, und verließ mich.
Ich ging in den Zimmern umher, und die geschmackvolle Pracht, die ich überall erblickte, machte einen gefälligen Eindruck auf mich. Meine Fantasie ward reger, und ich dachte mich in den mannichfaltigen Situationen, die mich vielleicht in diesem Hause erwarteten. Das Schlafzimmer der Gräfin war am meisten nach meinem Geschmack. Alle Formen waren angenehm beruhigend, und die hellgrüne Seide der Vorhänge flog als ein leichtes Gewölk in den mahlerischsten Falten um das Ruhebette und die Fenster. Eine schöne antike Lampe war in der [119] Mitte des Platfonds durch goldene Ketten befestigt, und goß ein mildes Licht auf alle Gegenstände umher. Zwischen den Fenstern, gerade dem Ruhebette gegenüber, wallte ein seidener Vorhang herab über ein Gemählde. Ich hob ihn auf, und fand – das Bild Nordheims in schöner geistvoller Wahrheit. Ach es schien mir jetzt nur ein Augenblick, seit er mich verließ! Der holde Zauber seiner Gegenwart bebte durch meine Sinne, gleich der wiederkehrenden Frühlingssonne durch die Nerven eines Kranken. Alle Nebel waren verschwunden; er war wieder mein, und Sonnenschein und freundliches Daseyn umglänzten mich. Bald schwand die liebliche Magie; ich betrachtete [120] das Bild. Er war in Lebensgröße gemahlt, vor einer Herme stehend, welche die Büste der Gräfin vorstellte; die eine Hand ruhte auf dem Marmor, und das Haupt war etwas gesenkt, gleich als wär' er in Betrachtung verloren.
Welch ein inniges Verhältniß muß er zu dieser Amalie haben? Kein anderes Portrait ist in diesem Zimmer, gleich als sey es ein Heiligthum der Liebe, nur für diesen Einen bereitet! Die Gräfin stand neben mir, ohne daß ich sie wahrgenommen hatte. Ihre großen forschenden Augen waren fest auf mich gerichtet. Sie schien meine Verlegenheit nicht bemerken zu wollen, und sagte mit einem leichten Ton: [121] »Sie werden das Bild vortreflich gemahlt und getroffen finden! Ich pflege es sonst immer so für den Staub zu bewahren« – Sie drückte an einer Feder, und ein Feld der Tapete bedeckte das Gemählde. Sie schob ein kleines Ruhebette unter die Vorhänge, und führte mich aus dem Zimmer. Eine Wolke schien mir vor ihrer Stirn zu schweben, und ihr Betragen etwas minder herzlich zu seyn, doch sagte sie freundlich: »Ich werde Sie nun in die, für Sie bereiteten, Zimmer führen; Sie bewohnen sie, so lang es Ihnen gefällt; ich werde meine liebe kleine Gesellschafterin immer zu früh verlieren, und alle Künste anwenden, um sie zu fesseln. Vielleicht [122] hilft mir ein gewisser Geist, den magischen Kreis um sie zu ziehen.«
Ich hatte ein Besuchzimmer, ein Schlafzimmer und ein Ankleidezimmer; alle drey waren anmuthig geschmückt, und mit allen Bequemlichkeiten versehen. Ich mußte mich ohngeachtet alles Widerstrebens, von der Kammerfrau ankleiden lassen, und als ich fertig war, führte mich die Gräfin zur Gesellschaft. »Sie waren vielleicht noch nie in so einem großen Zirkel, als der ist, in den ich Sie heut einführe,« sagte sie mir, während wir über die lange Gallerie gingen. »Ihr feiner Sinn wird Sie in jeder Lage ein passendes schönes Betragen finden lassen. Die Kunst der großen Zirkel, liebes [123] Kind, ist übrigens die der Unbedeutenheit.«
Die Gesellschaft saß größtentheils beym Spiel, die Gräfin präsentirte mich an einigen Tischen unter dem Nahmen der Fräulein von Lilien. Lilien war der Nahme meines Vaters, nach welchem ich mich immer mit Freude und Stolz nennen hörte; aber die Fräulein fiel mir auf; es war mir widrig, mich mit fremden Federn zu schmücken, und mein Stolz konnte sich zu keinem Schein bequemen. Für jetzt mußte ich's schon schweigend hingehen lassen. Man that ein paar leere Fragen an mich, auf die ich eben so flache Antworten gab. Die Gräfin hieß mich zu ihrer Parthie hinsitzen, und begegnete [124] mir mit der gefälligsten Achtung, die bald die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich zog. Nach geendigtem Spiel glaubte mir jeder etwas sagen zu müssen, und Fragen nach meinem vorhergehenden Aufenthalt, nach meiner Reise, wechselten mit Schmeicheleyen ab. Die Gräfin wußte auf eine geschickte Art alle Fragen nach meinen vorigen Verhältnissen abzuschneiden, welches mir, da seit Rosinens Entdeckungen das Gefühl einer sonderbaren geheimnißvollen Existenz drückend auf meinem Herzen lag, zum erstenmahl eine dankbare, zarte Neigung für sie einflößte.
Bey der Abendtafel, wo der größere Theil der Gesellschaft sich [125] entfernt hatte, wurde die Unterhaltung zusammenhängender, und ich konnte mir den Umriß von einigen Charakteren entwerfen. Ich kannte noch wenig vom konventionellen Leben und der Sprache der Weltleute. Meine einfachen Grundsätze fanden so manches paradox, womit der durch Gewohnheit geschmeidige Sinn sich ohne Mühe aussöhnet. Es war mir so natürlich, als daß die Nacht auf den Tag folgt, den Betrogenen zu beklagen und den Betrüger zu hassen, die Tugend der Ehre, und die Ehre dem eigenen Vortheil vorzuziehen. In den Urtheilen dieser Gesellschaft sah ich alle diese Begriffe umgestoßen; selbst die Leidenschaften, die eine ungewöhnliche Kraft des[126] Gemüths erfordern, als die Liebe und der Ehrgeiz, dienten vielen Personen aus derselben zum Spott. Mir schien diese Höhe, von der sie auf alle ächten Verhältnisse unsers Daseyns herabblickten, eine schauervolle Öde zu seyn; nur Dornen und Disteln wachsen auf dem Felsengrunde des Egoismus. Die Gräfin gab kein Zeichen weder des Tadels noch der Billigung. Ihr Charakter blieb fleckenlos für mich; aber warum sind diese Menschen ihre Gesellschaft? Noch eine junge weibliche Gestalt, und zwey junge Männer, die ihr zur Seite saßen, zogen mich durch ein liebenswürdiges einfaches Betragen an. Einer der Männer warf oft betrachtende Blicke um sich, wenn [127] eine gemeine, niedrige Gesinnung sich äußerte, oder zeigte durch feinen Spott die Nichtigkeit des Gesagten. Die Dame war mir als Fräulein von R** vorgestellt worden, und ich fühlte, daß sie und ihre beiden Nachbarn mich genau beobachteten.
Die Gräfin brachte gewöhnlich einige Abende jeder Woche in der Gesellschaft des Fürsten zu, und ich mußte sie begleiten. Der Fürst war zwischen sechzig und siebenzig Jahren, und belästigte sich und andere noch mit der steifen, altfranzösischen Etiquette, die die deutschen Fürstensöhne am Hofe der französischen Könige erlernt, und auf ihren Boden, freilich in etwas verminderten Dimensionen [128] verpflanzt hatten. Der Fürst hatte durch Alter und Gewohnheit sich beynahe natürlich unter dieser schweren Rüstung des Ceremoniels bewegen lernen. Gegen die Frauen beobachtete er die feine hochgespannte Höflichkeit der alten Ritterzeit, so daß sein Äußeres für diese nicht ungefällig war; aber außer der Sphäre der feinen Manieren durfte er keinen Moment gerathen, um erträglich zu seyn. Seine Kinder suchten so viel wie möglich entfernt von ihm zu leben, weil sie nur den Despoten in dem Vater fanden. Der Sohn blieb auf Reisen, so lange es der Anstand erlaubte, und machte nur seltene Besuche bey seinem Vater; die Prinzessin, von der man [129] als einer der besten sanftesten Seelen sprach, lebte unter dem Vorwand ihrer Gesundheit bey ihrer verheuratheten Schwester.
Die Karrikaturen unter den Hofleuten schienen mir bald lächerlich, bald beweinenswerth. Die Ehrfurcht, die sie sogleich bey der Erscheinung ihres Herrn aus ihren Herzen in ihre Hände und Füße rufen konnten; ein gnädiger oder zorniger Blick, der wie ein elektrischer Schlag durch ihren Körper fuhr, und seine natürlichen Bewegungen veränderte; das augenblickliche Beugen ihrer Meinung nach der letzten Äußerung der fürstlichen Lippen, – dieses alles war mir unbegreiflich; ich stand wie vor einem Puppenkasten, so wenig [130] Menschliches, Wahres sorach an mein Herz. Der Fürst bezeigte mir viel Aufmerksamkeit, als mich die Gräfin vorstellte, und meine natürliche Unbefangenheit schien ihm, als eine ungewöhnliche Erscheinung, keinen unangenehmen Eindruck zu machen. Die Gräfin verstand es vortrefflich mit dem Fürsten umzugehen, und diese schwere Masse alter verrosteter Gefühle und Vorstellungen oft in ein gefälliges Spiel zu setzen. Ich schloß daraus, daß die Geistesarmuth der Hofleute vielleicht selbst den Fürsten bewog, ihnen nur als Maschinen zu begegnen. Fräulein R**, die beiden Herren von Alban, und der Arzt des Fürsten, der sich als eine [131] unentbehrliche Person fühlte, diese blieben in ihrem natürlichen Wesen.
Nach der Tafel kam Fräulein R** auf mich zu, und stellte mir die beiden Albans vor. Sie hatten Langeweile während der Tafel, sagte mir Fräulein R**, aber wir genossen nicht wenig Vergnügen, indem wir Sie beobachteten. Natur und Grazie sind uns hier eine seltene Erscheinung. Ich hoffe, Sie halten sich künftig zu uns. Wie Sie uns hier sehen, fuhr sie lächelnd fort, machen wir drey, die beiden Herren von Alban und ich, einen kleinen Staat im großen Staat der Gesellschaft aus. Herr von Alban der jüngere behauptet aus Ihrer Physiognomie zu sehen, daß Sie zu [132] uns gehören müssen, und ich fühle es.
Wenn Sie in Ihren Staat nur stille friedliche Bürger aufnehmen, erwiederte ich, so denke ich Ihr Vertrauen zu verdienen. Zu großen Geschäften und Negoziationen hoffe ich, werden Sie ohnedem ein Landmädchen, das die Welt noch so wenig kennt, nicht brauchen wollen. Wen die Natur so reich machte, fiel der jüngere Alban ein, den kann die Kunst wenig lehren. – Übergeben Sie sich uns nur ohne Bedingungen, lassen Sie mich nur Fräulein Lilien mit unserer Verfassung bekannt machen, rief Fräulein R** und führte mich in ein Fenster. Die zwei Herren und ich, fuhr sie fort,[133] sind von Kindheit an zusammen aufgewachsen. Ein guter Genius bewahrte uns vor einigen Thorheiten der Welt um uns her. Wir haben vielleicht andere dafür, aber wir bleiben dabey doch froh und unschädlich. Wir hassen die Falschheit, wir verachten die Kleinheit, die nur den Schein sucht, fliehen die Leerheit, und suchen uns selbst dafür zu bewahren. Da wir nicht alt und vornehm genug sind, um den Ton anzugeben, so helfen wir uns mit dem pythagoräischen Schweigen so gut durch, als wir können. Wir sind durch unsere Verhältnisse verbunden, einen großen Theil unsers Lebens in den großen Zirkeln zu verlieren, wo die Mittelmäßigkeit [134] das Regiment führt, aber wir streben, unser eigenes Selbst unverdorben durch den Strom der Gesellschaft hindurch zu treiben. Aber Sie müssen unsere Art zu seyn erst beobachten und prüfen. Ich danke, fuhr sie fort, der Existenz dieser kleinen Gesellschaft vieles von meiner moralischen Bildung. Viele gute Menschen haben stillschweigend unter sich dasselbe Bündniß, aber es schleicht sich nach und nach eine Art von Trägheit unter ihnen ein, die unter dem Nahmen der Toleranz am Ende alles, und sich selbst mit allem Andern hingehen läßt, wie es kann oder will. Wir vermeiden dieses durch ein Gesetz, uns alle acht Tage Rechenschaft von unsern Beobachtungen [135] zu geben. Die Mittheilung unserer Gedanken zwingt uns, unsere Wahrnehmungen aufzuklären. Wir leben glücklich durch diese Verbindung unter den heterogenen Menschen, die uns umgeben. Ich fand auch das Glück meines Herzens in unserm kleinen Zirkel. Der ältere Alban wird mein Gemahl werden, sobald unsere Familienverhältnisse es erlauben. Mein künftiger Schwager ist eigentlich die Seele des ganzen Verhältnisses durch die große Lebhaftigkeit seines Verstandes und seiner Einbildungskraft. Der ruhigere, aber nicht weniger tiefe Blick meines Albans macht einen angenehmen Kontrast mit der glühenden Fantasie seines Bruders. Oft belehrt [136] uns die Erfahrung, daß Julius, dieses ist der Nahme meines Schwagers, durch seine Fantasie uns und sich selber getäuscht hat. Wir lachen ihn aus, und glauben ihm doch das nächste mahl wieder. Theilen Sie uns Ihre Bemerkungen und Ihre Erfahrungen, wenn Sie wollen, mit, nehmen Sie dagegen das Gelübde der Aufrichtigkeit und Freundschaft von uns an.
Julius von Alban trat zu uns, und sagte halb feierlich: Nehmen Sie die Gelübde dreyer Menschen an, die nach dem hohen Sinn der Schönheit streben. Noch rein von jedem verfinsterten Hauche der Weltluft wird uns die himmlische Klarheit Ihrer Seele die Gegenstände im [137] treuesten Spiegel wiederstrahlen. Mit Vergnügen, liebe Fräulein R**, antwortete ich, werde ich meine besten Gedanken vor Ihnen und Ihren Freunden darlegen, weil ich Belehrung von Ihnen erwarte. Julius schien mehr Wärme von mir zu erwarten, aber es lag von jeher in meinem Wesen, daß ein exaltirter Ausdruck meine eignen Empfindungen herabstimmte. Mein Vater hatte mich immer gelehrt, große Worte nur für wirklich große Dinge zu brauchen.
Ich verlebte alle Abende in derselben Gesellschaft in verschiedenen Häusern. Fräulein R** und die beiden Albans waren geistvoll und liebenswürdig. Mein Herz öfnete [138] sich gegen sie; vorzüglich zog mich ihre zarte Neigung für ihren Bräutigam an; der Odem der Liebe ist einer sehnsuchtsvollen Seele so erquickend. Die Gräfin war sehr gefällig gegen mich, aber die glatten Weltsitten, vielleicht noch mehr meine Zweifel über ihr Verhältniß zu meinem Freund, hielten jedes vertrauliche Wort in meinem Busen zurück. Sie schien auch nur auf mein Äußeres wirken zu wollen, und sagte mir nach den ersten Tagen: »Ich bin zufrieden mit Ihrem gesellschaftlichen Betragen, und bewundere, wie Ihr Vater auch hier nur die freye schöne Natur in Ihnen entfaltet hat. Sie besitzen die Elemente der feinen Lebensart, sanfte bescheidene Gefälligkeit,[139] und einen heitern Geist, der immer die momentane Lage richtig faßt, und das passendste, was in ihr zu thun ist, findet.«
Wir sahen uns übrigens sehr selten allein, und ich konnte nicht begreifen, wie die Gräfin mit so viel Geist und Geschmack, und in solch einer freyen Lage, den größten Theil ihrer Zeit in leeren, geistlosen Zirkeln verlor. Ich bewunderte ihr Talent, mit dem großen Haufen zu leben, ohne dabey von ihrer feinern Individualität etwas einzubüßen. Sie wußte die gehörige Entfernung der feinen Lebensart vortreflich zu benutzen, um ihr Verhältniß zu fremdartigen Menschen auf die leichteste, beste Art zu stellen, und sich selbst [140] die Außerung jeder gemeinen Empfindungsart zu ersparen. Da sie selbst bey den Zwisten der kleinen armseligen Eitelkeit immer von Leidenschaft frey blieb, so wurde sie die Vertraute jeder Partey. Nur selten zeigte sich ein Funke ihres überlegenen Verstandes, vor welchem der Kurzsinn und die elende Egoisterei, gleich den lichtscheuen Vögeln, in ihre Dunkelheit zurückflohen. In kleinern gewählteren Zirkeln schien sie mir oft eine Schülerin der Aspasia. Jedes geringe Talent fühlte sich in ihrer Gegenwart erhöht, und jedes edle wahrhaft menschliche Gefühl stärkte sich. Die Unterhaltung war meist nur durch ihren Geist interessant, aber er wirkte in so leisen [141] flüchtigen Zügen, daß man seine Wirksamkeit, wie das Element welches uns immer umgiebt, nur genoß, nicht bemerkte. Ich achtete diese Talente, aber in einem gewissen Alter erwirbt sich Einseitigkeit eher Vertrauen und Liebe, als Vielseitigkeit.
Der theure Nahme wurde nicht genannt, und meine bebenden Lippen wagten keine Frage. Hat er nicht befohlen, seine Briefe nach D** zu addressiren? Warum wird eines so vorzüglichen Mannes nirgends gedacht? Und vor allen, warum spricht die Gräfin nicht ein Wort von ihm, da sie doch mein Herz bey seinem Bilde überraschte? Das erste leidenschaftliche Begehren weckt in dem jungen Gemüth alle [142] Kräfte zur Tugend und zum Laster. Ein qualender Argwohn füllte meine Seele, die Gräfin habe mich in ihr Haus genommen, um mich von meinem Geliebten zu entfernen, und seine vielleicht flüchtige Neigung für mich durch die Abwesenheit zu unterdrücken. Vielleicht sucht er mich eben jetzt bey meinem Vater auf, findet mich nicht, und das höchste Glück des Lebens, seine Liebe, geht mir für immer verloren. Diese ganze Lage, nebst der Sehnsucht nach meinem Vater, zog eine schwarze Wolke vor mein Gemüth, die meine neuen Freunde mit Antheil bemerkten, und durch eine verdoppelte Gefälligkeit zu zerstreuen suchten.
Der Umgang mit den beiden [143] Albans wurde mir immer interessanter, vorzüglich durch die Kenntniß von der politischen Welt, die sie mir mittheilten. Sie hatten beide in den wichtigsten Geschäften gearbeitet, und kannten die Menschen, welche die Staatsmaschine dirigirten. Ich las die neuern Geschichten der europäischen Staaten, und lernte die Begebenheiten an einander reihen, aus denen das Gemählde der gegenwärtigen Welt entstand. Die beiden Brüder freuten sich meines lebhaften Sinnes und Verstandes für diese Verhältnisse, aber mit wundem Herzen fühlte ich, daß Fräulein R** sich von mir entfernte, jemehr sich die Brüder mir näherten; ihre Augen ruhten mit Sorge und Unruh [144] auf mir, wenn ich mit ihrem Bräutigam sprach, und sie war nie ganz frey und heiter, als wenn sie mich mit Julius allein beschäftigt sah. Julius heftete sich jeden Tag inniger an mich; meine Liebhabereyen wurden die seinen; er bildete sich mit dem zärtesten Sinn nach meinem Geschmack, sein Ausdruck wurde einfacher, da sein Gefühl tiefer wurde, und mein Herz konnte ihm eine zarte Neigung nicht versagen.
Da mich Fräulein R** Stimmung nöthigte, seinen Umgang ausschließend zu suchen, so überließ er sich ganz der Hofnung, geliebt zu werden. Aus Schonung für Elisen von R** konnte ich ihm den Grund meines Betragens nicht entdecken, [145] und ich litt durch die Täuschung, in die ich ihn vielleicht über mein Herz setzte. Julius war ein schöner junger Mann, ein vollkommenes Ebenmaß war in seiner Gestalt und seinen Gesichtszügen, aber es fehlte dem Ganzen jener Ausdruck von Kraft, von ruhigem Bestand auf sich selbst, an den ein weibliches Herz sich gern anschmiegt. Er hatte poetisches Talent, und war oft versunken in seine Dichterwelt, wenn es darauf ankam, Würde und Kraft in der Wirklichkeit zu zeigen. Nur dem ächten Himmelssohn Genie gebührt es, aus der Klarheit seiner innern Welt als ein Fremdling auf die Erde zu schauen. Mein Geschmack war durch die Lektüre der Alten zu [146] sehr gebildet, um Julius Gedichte reizend zu finden. Aber ich selbst war meist der Gegenstand seiner Lieder, und sie sprachen nicht selten an mein Herz, da er sie mit so reiner Gutmüthigkeit und Anspruchlosigkeit überreichte.
Elisa sagte mir mit klaren Worten, daß sie mich gern als ihre künftige Schwägerin ansähe, und in den bunten Lebensansichten und Planen, in denen wir mit leichter, fröhlicher Jugendfantasie umherschwärmten, war immer ein ununterbrochenes Zusammenleben vorausgesetzt.
Ich sehnte mich nach einer unabhängigen Existenz. Die glückliche Unkenntniß der Verhältnisse des Eigenthums war für mich entflohen. [147] Stolz, und eine beynahe kranke Empfindlichkeit trat an die Stelle der Sorglosigkeit; ich empfing das kleinste Geschenk mit einem unaussprechlichen Widerstreben. Nur von meinem Vater empfing ich ohne Widerwillen, aber seine eingeschränkten Umstände schufen mir Leiden einer andern Art. Es ist ein unaussprechlicher, zwischen Wonne und Schmerz schwebender Zustand des Herzens, mit dem wir ein Geschenk von einem armen Freund empfangen.
Als ich meinen Koffre in D** auspackte, fand ich ein Paquet mit funfzig Louisd'ors, von meines Vaters Hand überschrieben: »Empfange und verbrauche es ohne Sorgen, ich genieße meine beste Freude in dir.«[148] Ich nahm es mit dem Gelübde der größten Sparsamkeit, und, um auch den Geschenken der Gräfin auszuweichen, nahm ich die größte Simplicität in der Kleidung an. Es kostete mich nicht wenig Erfindungskunst, immer gut und der Mode gemäß gekleidet zu seyn, um die Gräfin nicht aufmerksam zu machen; sonst wurde ich gezwungen, ein neues Kleidungsstück anzunehmen. Die Furcht, meinem Vater, selbst bey den eingeschränktesten Bedürfnissen, zur Last zu fallen, umzog mir oft die Aussicht in die Zukunft mit Sorge. Ich übte mein Talent für die Mahlerey, und, nicht ganz nach meiner Neigung, ausschließend die Portraitmahlerey; diese sah ich als [149] ein Mittel an, die Unabhängigkeit meiner Existenz zu erhalten, und meinem Vater ein gemächlicheres Alter zu verschaffen, indem ich ihn von aller Sorge für mich befreyte. Je mehr wahre treue Neigung ich bey Julius fand, je fester war ich entschlossen, ihm meine Hand zu versagen, da ich mein Herz nicht ihm allein geben konnte. Er war zufrieden in meinem Kreise zu leben, meiner Freundschaft gewiß zu seyn; das Bekenntniß meiner lebhafteren Neigung, welches ich ihm fest versagte, erwartete er von der Zeit und der stillen Kraft seiner treuen Liebe. Der ernstliche Wunsch unsers ganzen kleinen Zirkels, mich in ihre Familie aufzunehmen, rührte mich um so [150] mehr, da ihnen meine Lage ganz unbekannt war. Nie erlaubten sich meine Freunde eine Frage über meine Verhältnisse; nur im Allgemeinen schienen sie zu wissen, daß sie von Seiten des Vermögens nicht glück lich wären. Aus ihrem völligen Schweigen über mein vergangenes Leben konnte ich sogar schließen, daß sie das Geheimniß meiner Geburt ahndeten. Ich schwieg ganz darüber, weil mir die Dunkelheit über meine Existenz immer schmerzlicher wurde; nur in dem Fall, daß Julius dringender mit seinen Anträgen würde, nahm ich mir vor, ihm durch ein offenherziges Geständniß meiner ganzen Situation, die Schwierigkeit einer Verbindung mit mir vorzustellen.
[151] Es war ein heitrer Morgen. Ich genoß mit Elisen auf einem der öffentlichen Spaziergänge die lang entbehrten freundlichen Sonnenstrahlen. Unter mehreren bekannten und unbekannten Gestalten, die an unsrer Seite vorübergingen, erblickte ich den Mahler, dem ich auf meiner Reise begegnet war. Er ging ein paar mahl an uns vorbei, ohne zu grüßen, blieb aber an den Schranken der Allee stehen, wo wir nothwendig vorbei mußten. Ich war im Begriff, ihn als einen Bekannten anzureden, und ihm für sein Gemählde zu danken; aber er fiel mir ins Wort, und überreichte mir ein kleines zierliches Portefeuille, mit den Worten: Ich bin ein reisender Künstler, [152] liebes Fräulein. Sehen Sie diese Blätter durch, Sie haben die Güte, mir sie morgen um dieselbe Stunde auf diesen Platz wieder zu schicken; meine Adresse ist Johannes Charles. Er war uns aus den Augen, eh' ich ihm antworten konnte, und das Portefeuille blieb in meinen Händen. Wir sahen es auf einer Bank in der Promenade durch; es enthielt einige fein ausgeführte Landschaften und viele Skizzen, meistens Schweizeraussichten. Unter diesen fand ich einen Brief an Agnes Lilien überschrieben, mit Bitte, ihn allein zu eröfnen. Elise scherzte über diesen Vorfall, und verlangte den Brief zu sehen. Ich will keines Menschen Vertrauen beleidigen, sagte ich halb [153] ernsthaft, und steckte ihn ein, in der Vermuthung, daß er vielleicht ein aufrichtiges Geständniß seiner Bedürfnisse enthielte, welches er mir lieber abzulegen wage, als einer ganz Unbekannten. Ich eilte in mein Zimmer, das Blatt zu eröfnen. Es enthielt folgende Zeilen von einer kleinen, weiblich zarten Handschrift:
»Meine theure Agnes, deine Mutter schreibt diese Worte; ach schwere Verhältnisse hielten mich bis jetzt gebunden! – Ich konnte mich dieses Nahmens nicht werth machen – noch immer liegen sie auf mir, und nur unter der Decke des tiefsten Geheimnisses kann ich das Glück genießen, das, was mir auf der Welt am theuersten ist, zu sehen. [154] Johannes Charles wird dich morgen Abend gegen sechs Uhr zu mir bringen. Niemand darf um diese Zeilen und deinen Besuch wissen; suche einen Vorwand, um dich zu entfernen. Ist es dir für morgen unmöglich einen zu finden, so komm einen andern Abend. Aber eile, ich bin krank, schmachte nach deinem Blick, und darf mich auch nur kurze Zeit an dem Ort, wo ich dich sehen kann, aufhalten. Auf Johannes Charles kannst du dich ganz verlassen, er ist mein Freund.«
Meine Mutter – meine Mutter! rief ich aus, und die Gewalt des neuen süßen Gefühls machte sich durch einen Thränenstrom Luft. Ich werde das heiligste Band der Natur [155] kennen lernen! rief ich aus; werde kein verlaßnes Geschöpf mehr seyn, auf das man immer, selbst in den sanften Ergüssen der Freundschaft, mit einem gewissen Mitleiden hinblickt!
Aber wie konnte mich mein Vater in Hohenfels täuschen? Warum konnte er nicht mein Herz wenigstens mit einer leisen Ahndung meines Glücks beleben?
Ich verlor mich in diesen Gedanken. Meine innige Verehrung für meinen Vater litt keinen Schatten der Schuld auf seinem heiligen Bilde. Er wollte dich nicht täuschen, sondern wurde selbst getäuscht, sagte ich mir endlich. Aus sanfter Schonung wollte er mich nicht mit der [156] Ansicht ungewisser Verhältnisse quälen. War ich nicht reich genug in seiner Liebe?
Ich entsann mich jetzt auf alles dessen, was mir Rosine von meines Vaters Gespräch mit Nordheim gesagt, und jeder Zweifel über das Betragen meines Vaters verschwand.
Mit glühender Ungeduld erwartete ich den andern Morgen, um Charles zu sprechen. Die Winterlustbarkeiten waren ihrem Ende nahe, und wurden darum noch eifriger besucht. Den nächsten Morgen war Maskenball, und dieser erleichterte den Plan zu meinem Verschwinden im Hause. Ich legte in Charles Portefeuille, aus Vorsicht, im Fall ich ihn nicht unbeobachtet sprechen [157] könnte, ein Billet mit den Worten: »Ich komme zur bestimmten Stunde, hohlen Sie mich um neun Uhr an der Gartenthüre ab; ich bin bereit Ihnen überall zu folgen.« Zum erstenmahl mußte ich Umwege brauchen, um mir den einsamen Morgenspaziergang zu verschaffen. Meine Lage, und das Vertrauen meines Vaters hatten mich vor allen kleinen Unwahrheiten, zu denen die Tyrannei des Scheins zwingt, bewahrt; mit widerstrebendem Herzen nahm ich meine Zuflucht zur List. Eine widrige Empfindung zieht meistens Reflexionen nach sich. Wie wär' es, raunte mir ein böser Dämon ins Ohr, als ich, statt zu Elisen zu gehen, wie ich gesagt hatte, die Straße [158] nach der Promenade einschlug, wie wär' es, wenn man sich deiner Unerfahrenheit bediente, um dir Fallstricke zu legen? Ist es nicht eine Unbesonnenheit zu kommen? Aber der theure, theure Nahme, – und sie ist krank! Eh' ich mich bey meinem Vater in Hohenfels Raths erhohlen kann, müßte ich sie in der Ungewißheit lassen, könnte sie vielleicht verlieren, – sie niemahls sehen.
Charles stand vor mir. Ich komme, ja ich komme, sagte ich bei mir selbst, mein Herz fodert es, mag mich die Welt auch verkennen. Charles gerades, edles Gesicht gab mir meine Ruhe wieder. So erscheint oft im Moment der Noth ein Genius, wie mir Treue und[159] Wahrheit jetzt in seinen Zügen aufging, und allen Schatten von Betrug verbannte. Er war sauber gekleidet, seine braunen, sonst wildfliegenden Haare lagen natürlich, doch wohl geordnet um Stirn und Wangen, und in seinem Benehmen war etwas feierlich stilles. »Sie finden meine Antwort in dem Portefeuille. Wie geht es meiner theuern Mutter?« flüsterte ich ihm ins Ohr, indem ich ihm das Portefeuille übergab, denn mehrere meiner Bekannten näherten sich mir. »Ihre Mutter ist glücklich in der Hofnung, ihr geliebtes Kind zu sehen, erwiederte er; ich hoffe, ihre Unpäßlichkeit entstand nur durch die weite und schnelle Reise. Sie kommen heut, ich lese [160] es in Ihren Mienen.« Ich winkte Ja, und entfernte mich schnell.
Die Gräfin fuhr um fünf Uhr in eine Assemblee, von der sie dann gleich auf den Ball gehen wollte. Unter dem Vorwand einer Unpäßlichkeit erhielt ich, wiewohl ungern, die Erlaubniß zu Hause zu bleiben. Um allen Nachforschungen und allem Geschwätz der Bedienten auszuweichen, kleidete ich mich an, als wollte ich heimlich auf den Ball gehen, um die Gräfin und meine Bekannten zu überraschen. Die Gräfin liebte solche Auftritte, höchstens konnte sie diesen Schritt nur jugendlich unbesonnen, und bei meinem Mangel an Weltkenntniß natürlich und verzeihlich finden. In einer weißen [161] griechischen Kleidung, umhüllt mit einem langen Schleier, eilte ich um sechs Uhr in den Garten, und verbat alle Begleitung, weil Niemand außer meinem Kammermädchen wissen sollte, wie ich angekleidet sey. Charles erwartete mich schon, und führte mich schweigend durch die am wenigsten besuchten Straßen der Stadt, bis zu einem Thore, wo ein Wagen unser wartete. Er half mir einsteigen, und setzte sich neben mich. Die Nacht war sehr finster, und ich konnte weder Weg noch Gegend erkennen. Ich mußte ihm sagen, welche Maßregeln ich im Hause der Gräfin über meine Entfernung genommen hatte. Er lobte meine Vorsicht, und sagte: Nun so mögen die Schellen [162] der Thorheit auch einmahl den ächten Gefühlen der Natur dienen, die sie sonst mit ihrem Geklingel so oft übertäuben helfen! Er war sonst still und in sich gekehrt, seine Stimme war sanfter, als suchte er meine bewegte Seele in Gleichmuth zu wiegen Wir waren, so dünkte es mir, schon eine Stunde weit gefahren, und ein ängstigender Zweifel flog durch meine Brust. Charles schien ihn im Augenblick zu ahnden. Liebes, liebes Mädchen, haben Sie keine Angst, wir sind bald an dem Ort unsrer Bestimmung. Ach könnte ich jeden Zweifel ... er stockte, seine Stimme bebte, er nahm meine Hand zwischen seine beiden Hände, drückte sie an seine Lippen; ich fühlte daß [163] er weinte. Sein Schmerz lag mit solcher Gewalt auf meinem Herzen, als wäre ich die Ursache desselben. Die Zukunft erklärte mir diese sonderbare Ahndung nur allzu gut.
Ein großes erleuchtetes Haus glänzte mir aus der finstern Nacht entgegen, es lag einsam und war nur von einigen Nebengebäuden umgeben. Hier werden Sie Ihre Mutter sehen, sagte mir Charles. Wir fuhren an einer langen Gartenmauer hin, und der Wagen hielt an einer kleinen Thüre. Ein Schauer faßte mich beym Aussteigen. Die Nähe eines unaussprechlichen Glücks, – die Furcht vor einem unbekannten Übel, preßten meine Brust bis zum Ersticken. Meine Unschuld und Unerfahrenheit [164] über die Sitten in D ** verbargen mir was ich hätte fürchten können. Jetzt erhielt mich die Nothwendigkeit, weiter zu gehen, bei klaren Sinnen, und mein Herz sammelte seine Kräfte, um jeder Begebenheit zu begegnen. Die kleine Thüre führte zu einem langen schmalen Gang, den eine Lampe nur sparsam erleuchtete. Charles öfnete eine Seitenthüre, und hieß mich hineingehen. Ich trat in ein dunkles Zimmer, Charles schloß die Thüre hinter mir ab, und befahl mir auf dieser Stelle zu warten. Nach wenigen Augenblicken öfnete sich eine Thüre mir gegenüber, aus welcher ein mattes Licht drang, und eine sanfte Stimme rief: – »Komm herein, [165] meine Agnes, deine Mutter erwartet dich mit Ungeduld.« Ich folgte dem Ton dieser Stimme, und bei dem trüben Schimmer einer einzigen Wachskerze, die im Hintergrunde des Zimmers brannte, erblickte ich eine Gestalt in einem weißen Gewand, die auf einem Sofa lag, und ihre Arme nach mir ausstreckte. O mein Kind! mein Kind! rief sie aus, endlich mein nach so langer Sehnsucht! Sie drückte mich fest an ihre Brust, und die sanftesten Wallungen der Natur und Liebe bewegten mein Innerstes. Meine Mutter weinte heftig. – Ach daß ich dich so lang entbehren mußte, daß alle meine Liebe für dich sich nur in fruchtlosen Seufzern der Sehnsucht [166] aushauchen konnte! – Aber Gott sey Dank! jetzt habe ich dich! – Sie sank ermattet auf den Sofa zurück, ihre Augen schlossen sich, und wenn sie zuweilen sich gegen mich öfneten, brannte das feinste Feuer eines liebenden Geistes in ihnen, der gleichsam seine ganze Kraft durch sie auszudrücken strebte, da seine übrigen Organe durch die Gewalt der Krankheit gebunden waren. Ich suchte auf einem Nachttisch, der vor uns stand, krampfstillende Essenzen, und wollte das Licht aus dem Hintergrunde des Zimmers herbei holen. – Um Gottes willen rühre das Licht nicht an, rief meine Mutter mit Heftigkeit, wir sehen uns nie wieder! Diese sonderbaren Worte [167] füllten mich mit Schrecken, ob sie gleich nur einen unverständlichen Sinn für mich enthielten. Ich reichte ihr die Arzneigläser, um sie nach dem Gefühl wählen zu lassen. Ich mußte ihr einige Tropfen eingeben. Nun setzte ich mich zu ihren Füßen, und versuchte durch ein stilleres Gespräch ihr Gemüth zu beruhigen.
Wie vielen Dank bin ich Ihnen schuldig, meine theure Mutter, für die Erziehung, die Sie mir durch den ehrwürdigen Pfarrer von Hohenfels geben ließen! Mit der väterlichsten Zärtlichkeit pflegte er meiner Kindheit. Ich weiß es, meine Agnes, unterbrach sie mich. Wie freut es mich, diesen Gleichmuth in deinem Wesen wahrzunehmen, diese [168] Mäßigkeit in deinem Empfinden, die deiner Mutter zu ihrem Unglück fehlten. Mein theures Kind, mein Leben war ein Gewebe von Leiden, meine Gesundheit ist zerrüttet, und ich bin erst in meinem vierzigsten Jahre, könnte mich noch lange mit dir des irdischen Daseyns erfreuen. Mein tiefstes Leiden ist, daß ich den Zeitpunkt noch nicht bestimmen kann, in dem ich offen und frei vor den Augen der Welt dich als Tochter anerkennen werde. Bist du recht vorsichtig und verschwiegen, so können wir öfters in geheim zusammen kommen; aber die geringste Unvorsichtigkeit, – und dieses Glück wäre für immer verloren. Deine Geburt ist rechtmäßig, du bist von einem [169] vornehmen Geschlecht. Wenn es dir nöthig ist, will ich dich in Stand setzen, es zu beweisen; nach meinem Tode wirst du die Papiere, die dazu dienen, erhalten. Du wirst einmahl meine Geschichte erfahren, und wirst mit mir die unglückliche Stellung der Umstände beweinen, die mich des süßesten Glückes beraubte, die Sorge für deine Erziehung selbst zu übernehmen. In diesem Portefeuille sind zwanzigtausend Thaler in Banknoten enthalten, die dir eine unabhängige Existenz versichern, wenn du mit einer mäßigen Einrichtung zufrieden seyn kannst. Ich hoffe dieses von deiner Erziehung. Da ich nicht wußte, ob ich dir so viel Vermögen hinterlassen könnte, so ließ [170] ich diese so einfach und sparsam als möglich einrichten; dein Vater in Hohenfels selbst soll erst jetzt erfahren, daß du ein anständiges Einkommen besitzest. Auf die Frage, ob ich letzterem das Glück schreiben dürfte, sie gefunden zu haben? sagte sie: Nein, er soll es nächstens durch eine sichere Gelegenheit erfahren.
Sie sprach noch manches über meine Bildung, und schien sehr zufrieden mit dem Gang der Erziehung, welchen mein Vater eingeschlagen hatte. Beinahe, sagte sie mit einem muntern Tone, möchte ich der Vorsicht danken, daß sie mich zwang, dich von dem Kreise entfernt zu halten, in welchem ich unglücklich wurde. Eine ernste, feste Bildung des Geistes [171] ist selten im Zirkel der großen Welt möglich. Du wärest vielleicht ein Püppchen geworden, das am Seile der Meinung hin und her getanzt hätte, – und so bist du ein selbstständiges Wesen, das in der Fluth des Lebens sein besseres Selbst bewahren kann. Wie freue ich mich der Zeit, wenn du als Freundin mit mir leben kannst. Tausendmahl muß ich mir es sagen, daß ich um deines eigenen Besten willen dieses Glück noch entbehren muß. – Meine theure Mutter! rief ich aus, mein größtes Glück wäre mit Ihnen zu leben, ach und zumahl jetzt, da ich hoffen könnte, Ihnen durch meine Pflege einige Erleichterung zu verschaffen. Welches Auge kann treuer [172] wachen, als das Ihrer Agnes! Und glauben Sie, daß ich ruhig seyn kann, wenn ich entfernt von Ihnen in Ungewißheit über Ihre Gesundheit bleiben muß? Was nennen Sie mein Bestes, wenn es nicht die Befreiung aus diesem angstvollen Zustand ist? – Stille! verführerisches Mädchen, sagte sie, und legte ihren Finger auf meinen Mund, stille! Du mußt dich den Maßregeln, die ich jetzt für uns beide nehmen muß, unterwerfen. – Ja wenn es für Sie ist, rief ich schmerzlich aus! – Du wirst täglich Nachricht von mir erhalten, mein bestes Kind! sagte meine Mutter sanft; sie hatte eine der reinen sonoren Stimmen, die immer zum Herzen sprechen, und sie wußte [173] ihr die mannichfaltigsten Beugungen zu geben; für jeden Affekt der Seele hatte sie einen Ton. Überhaupt schien sie mir eines der zärtesten, feinsinnigsten Geschöpfe, bei denen jedes Wort, jede leise Bewegung bedeutungsvoll ist, als Theil eines harmoniereichen Ganzen. Ihre Füße ruhten unter einer Decke, ihr Nachtgewand war dicht und voller Falten, aber da es von einem weißen Zeuge war, erblickte ich bei dem Schimmer des trüben Lichtes doch die schönen Umrisse und das richtige Verhältniß ihrer Gestalt. Die Hande waren zart, und hatten die feinsten Formen. Eine tiefe Haube bedeckte ihr Gesicht. Stirn, Wangen und Kinn waren ganz versteckt, und von [174] den übrigen Zügen konnte ich in dem düstern Zimmer nur einen höchst schwankenden Umriß wahrnehmen. Nur an der lieben sanften Stimme dünkte mir, würde ich meine Mutter unter tausend fremden Gestalten erkennen können.
Sobald ich bemerkte, daß sie vermied, von mir gesehen zu werden, mußte ich meiner Neugier Gewalt anthun, und wagte nur flüchtige Blicke auf sie. Unter tausend zärtlichen Äußerungen, unter den gefälligsten Hofnungen für die Zukunft, sagte meine Mutter kein Wort über ihre äußere Verhältnisse; erst da ich wieder von ihr entfernt war, dachte ich darüber nach. Sie empfahl mir mehrmahlen dringend die größte Vorsichtigkeit. [175] Verbirg auch, sagte sie, dein Vermögen. Charles wird dir die Einnahme der Zinsen besorgen, und bald werde ich eine Zusammenkunft mit deinem Vater von Hohenfels veranstalten, in welcher du dich mit ihm verabreden kannst, wie dein Kapital auf eine vortheilhafte Art anzulegen ist. Dein Aufenthalt bei der Gräfin ist für jetzt unsern Zusammenkünften dienlich. Eine Wanduhr schlug Neune. Meine Agnes, ach, da schlägt die Glocke des Abschieds! Diese Stunde des Genusses war die Frucht thränenvoller Jahre, aber ich habe sie nun auch rein genossen, rein wie den Sterblichen ein Genuß vergönnt ist! So ein liebes Geschöpf in der Blüthe seiner Schönheit [176] und Unschuld vor sich zu erblicken, und der Natur danken zu können, daß ich das innigste zärteste Verhältniß zu ihm habe. – Ich hoffe, meine Agnes soll ein glückliches Geschöpf werden; ein ruhiges, weises Gemüth, das das Leben mit freyer Kraft ergreift, statt sich von dem schnellen Strom fortreißen zu lassen – möge es dein Loos seyn! Möge dich eine glückliche Natur in früher Jugend schon lehren, was wir in dieser Welt sind und können. Mich lehrten es schmerzliche Erfahrungen! Sage mir, Liebe, hat dein Herz schon eine heftige Neigung...
Charles erschien unter der Thüre, wo ich hereingekommen war. Ach es ist Zeit! rief meine Mutter, und[177] die Wallungen, die bei ihrer Frage mein Herz bewegten, vereinigten sich mit den Thränen des Abschieds. Ihre Arme hielten mich fest umschlossen, und mit lautem Weinen und Stöhnen ließ sie mich los. Charles riß mich mit Gewalt von ihrem Bette, und als ich laut über Grausamkeit klagte, meine Mutter in diesem Zustand zu verlassen, rief sie mir selbst noch zu: Gehe, gehe mein Kind! eile! Charles zog die Schelle, ehe wir das Zimmer verließen, und sprach mir zu, ruhig zu seyn, meine Mutter sey jetzt in den Händen ihrer Kammerfrauen, die ihr innigst ergeben seyen, und von welchen sie mit der zärtlichsten Sorgfalt behandelt werde.
Wir verabredeten während unsrer [178] Rückfahrt noch die Art, wie wir uns künftig sehen wollten, und wie ich alle Tage Nachricht von meiner Mutter empfangen könnte. Charles sollte als Zeichenmeister im Hause erscheinen, und so auf die natürlichste Art die Gelegenheit gewinnen, jeden Tag eine Stunde um mich zu seyn. Mein Herz war voll überwallender Freude, mich in so glücklichen Verhältnissen zu befinden. Vermögen, Stand, eine liebende Mutter, Unabhängigkeit, und die Hofnung meinem Vater in Hohenfels ein sorgenfreies Alter zu verschaffen! Wie viel reines Glück schenkst du mir, ewige Vorsicht! rief ich aus, und faßte Charles Hand, um dem nächsten vernünftigen Geschöpf mein [179] frohes Daseyn mitzutheilen. Charles drückte meine Hand, und sagte: Welcher Genuß ist es, eine freudenwallende Seele zu sehen, die in der Fülle ihres Herzens sich zu dem ewigen Lebendigen über den Wolken kehrt! Dank war gewiß das erste Opfer, welches ein edles Gemüth den Unsterblichen brachte. Die Bitte ist ein Zeichen der Schwachheit, das gepreßte Herz seufzet nach Hülfe. Ich ehre den, der im Unglück sich auf seine eigne Kraft zurückstemmt, und keinen Laut des Schmerzens zum Himmel schickt; aber ein Gemüth, dem die irrdischen Bande der Sorge gelöst sind, in dem das Leben rein und frey auf und ab fluthet, muß sich in Dank und Liebe der Gottheit verwandt fühlen.
[180] Die Wolken hatten sich zersireut, und die Sterne glänzten hell. Charles fuhr fort: Sieh wie der Himmel seine tausend Augen öfnet, um in dein freudiges Herz zu blicken, und ihm eine ewig fröhliche Zukunft zuzulächeln! Das Glück der Menschen ist wie eine hochgetriebene Woge, die nothwendig wieder zur Tiefe muß; aber die Erinnerung der Herzensfülle bleibt dem, der es als eine Erscheinung einer bessern Welt aufnahm, und sich durch keinen Genuß zum Übermuth versuchen ließ.
Am Komödienhause mußten wir uns trennen, so gern ich auch Charles länger angehört hätte. Seine sinnvollen Reden brachten Licht in meine Seele; gleichwie eine schöne [181] Dichtung der Musik dunkle Empfindungen entwickelt. Mein Innres wurde klärer, Entschlüsse und Regeln für mein künftiges Leben reihten sich in dieser Stimmung an einander.
Ich suchte die Thüre des Ballsaals, um mich unter dem Gewühl der Masken unbemerkt mit einzudrängen, aber aus Versehen gerieth ich in ein Nebenzimmer, welches noch durch einige andere Zimmer vom Saale getrennt war. Neben der Seitenthüre, durch welche ich eintrat, befand sich ein Alkove mit einem Vorhang drappirt; dieser war halb heruntergezogen. Ich hörte ein paar leise flüsternde Stimmen hinter dem Vorhange. Ich glaubte den Ton der Gräfin zu vernehmen, und wollte [182] deutlicher hören, ob ich nicht irre, und sie dann, nach meinem Plan, durch meine Erscheinung überraschen. Ich hofte so jede Spur meiner Entfernung aus dem Hause zu vertilgen. Ich blieb einige Momente in der Ecke des Zimmers stehen; die Stimmen sprachen immer leiser. Schon näherte ich mich der Thüre, welche ins Nebenzimmer führte, als meine Augen auf einen Spiegel fielen, in dem ich die verborgenen Gestalten des Alkovens erblickte. Ich erkannte die Gräfin im vertraulichen Gespräch mit einem Manne.
Sie hielt seine Hände zwischen den beiden ihrigen, und beugte ihren Kopf an seine Brust. Das Gesicht des Mannes war abgewendet, [183] aber die große edle Gestalt erinnerte mich sogleich an das geliebte Bild, welches so klar in meiner Seele lag. Er ist hier, und nicht für mich! fühlte ich schmerzlich; nicht einmahl eine Frage nach mir .... Von bangem Zweifel ergriffen, blieb ich wie an den Boden gekettet stehen.
Jetzt richtete sich die Gestalt auf, und ich erkannte wirklich die Gesichtszüge meines Geliebten. Lassen Sie uns jetzt gehen, Liebe, sprach er, und beide näherten sich der Thür. Sehen wir uns morgen? sagte sie zärtlich; – ich konnte seine Antwort nicht verstehen.
Betäubt floh ich in den Saal, und sank auf einen Stuhl. Mein Herz arbeitete in gewaltigen Schlägen[184] gegen meine Brust, und meine Sinne drohten zu erlöschen. Die Gräfin ging, auf den Arm meines Freundes gestützt, dicht an mir vorbey. Ich hatte weder Bewegung noch Stimme, und zitterte vor Furcht, daß sie mich erkennen möchte. In diesem Zustande war ich unfähig, das Anschaun des geliebten Mannes zu ertragen, auch wollte ich vor ihm nicht jugendlich unbesonnen erscheinen.
Diese ängstigenden Vorstellungen vermehrten mein Übelseyn. Ich war nahe an der Ohnmacht, und da ich keine bekannte Gestalt in meiner Nähe erblickte, blieb ich starr und fühllos auf meinen Stuhl gelehnt, in der Furcht, jeden Moment herabzusinken. [185] Julius erschien mir als ein guter Genius. Er hatte mich erkannt, und kam auf mich zu; ich bat ihn, mich sogleich in ein anderes Zimmer zu führen, wo ich freie Luft schöpfen könnte. Die Entfernung von der betäubenden Musik und einige Erfrischungen brachten mich wieder zu mir selbst, doch fühlte ich mich unfähig länger in dem Getümmel zu bleiben, und am unfähigsten, Nordheim mit der Fassung und Würde zu begegnen, wie ich wünschte. Ich bat Julius, mir einen Wagen, in dem ich nach Hause fahren könnte, zu verschaffen. Er drang in mich, noch wenige Momente auszuruhen. Seine zarte Sorge, in der der Antheil des Herzens so unverkennbar [186] war, rührte mich innig; dankbar drückte ich seine Hand. Meine theure Agnes, ich bin neu beseelt! rief er aus. Mir dieses Glück! Es war das erste sinnliche Zeichen einer zarten Neigung, welches er von mir empfing; ich hatte es ihm mit dem unbefangensten Herzen gegeben; nur als ich fühlte, wie hoch er es empfand, bereuete ich, es gethan zu haben. Er eilte auf meine wiederholte Bitte nach einem Wagen.
Mit der Unbedachtsamkeit, die einem reinen Herzen und ländlich einfachen Sitten so natürlich ist, verschloß ich die Thüren des Zimmers, um nicht weiter gesehen zu werden. Ein Fenster ging auf den Vorplatz, und hinter diesem wartete ich Julius [187] Zurückkunft ab. Man machte verschiedene Versuche, die Thüren, welche in die Nebenzimmer führten, zu öffnen, und eine Gesellschaft entfernte sich nach ihrer fehlgeschlagenen Mühe mit einem unbescheidenen Gelächter. Julius kam bald zurück, und führte mich zum Wagen; er war etwas verlegen, als er die verschlossene Thür wahrnahm, und meine Erzählung über die Versuche, sie zu öffnen, hörte. Ich bat ihn, der Gräfin zu sagen, daß ich auf dem Ball gewesen sey, aber daß mich ein schneller Anfall von Übelseyn gezwungen hätte, sogleich wieder nach Hause zu gehen.
Kaum waren wir zur Thüre hinaus, und auf einer engen Gallerie, [188] als uns Nordheim entgegen kam. Es war unmöglich, ihm auszuweichen, ich hatte unterlassen meine Maske wieder vorzunehmen, weil mir Julius gesagt, daß er mich eine Seitentreppe hinunter führen würde, wo uns niemand begegnen werde. Ich hielt mich mit Mühe an Julius Arme aufrecht, so gewaltig wirkte jene geliebte Erscheinung auf mich. Wir standen unter einem Wandleuchter, und Nordheims Gesicht war im vollen Licht. Wie finde ich Sie hier wieder? sagte er mit sanfter Stimme, indem sein scharfer Blick Julius maß. Meine Stimme zitterte, ich stammelte einige verwirrte Laute: Ich wollte die Gräfin überraschen ... Ich wurde nicht wohl ... Herr [189] von Alban will die Güte haben, mich nach Hause zu begleiten. Ein Blick auf Julius machte meinen Zustand noch schmerzlicher. Eine glühende Röthe flammte über seine Wangen, er wagte nicht die Augen aufzuschlagen, und ich fühlte, daß er meine Verwirrung theilte. Ich will Sie hier nicht länger aufhalten, sagte Nordheim, und verließ uns nach einer steifen Verbeugung.
Ich Unbedachtsamer, was habe ich gethan! rief Julius, als wir wieder allein waren. Erst nach mehreren Wochen erfuhr ich durch Elisen bey einer andern Veranlassung den Grund dieses sonderbaren Ausrufes, über den mir Julius keine Erklärung geben wollte.
[190] Julius hatte mich, in der dringenden Verlegenheit über mein Übelbefinden, unachtsamer Weise in ein Zimmer geführt, welches die jungen Herren einer gewissen Klasse in übeln Ruf gesetzt hatten. In Nordheims schwankendem Betragen und forschendem Blick nahm er zuerst seinen ganzen Irrthum wahr, und meine kindische Unbedachtsamkeit die Thüren zu verschließen, machte den Vorfall noch zweydeutiger. Er wollte mir diese unangenehme Entdeckung ersparen, und behielt sich vor, Nordheim, dessen nähere Bekanntschaft er zu suchen gedachte, die nöthige Aufklärung über diesen Zufall zu geben. Wie viel mußte ich durch diese in Julius Lage so natürliche Delikatesse leiden!
[191] Julius verließ mich, auf mein dringendes Bitten, am Wagen. Mein Gemüth war verwirrt durch die Gewalt der süßen und schmerzlichen Eindrücke, die ich in dieser Nacht empfangen hatte. Mein Schlaf war nur eine fieberhafte Ermattung, und meine Träume wiederholten die empfundenen Scenen in den sonderbarsten Zusammenstellungen. Mit den Morgenstralen ging mir die Wirklichkeit in ihrem lieblichen Schimmer auf; der Gedanke an meine Mutter, der Blick auf meine so glücklich verwandelte Lage, die Ahndung einer schönern Zukunft beruhigten mein Herz über den Verlust des Geliebten. Aber was soll ich hier, hier in diesem Hause, wenn mich seine [192] Liebe nicht hieher rief? Warum traute ich auch Rosinens Geschwätz, und nahm das bedeutungsvolle Schweigen meines Vaters nicht einzig zum Leitstern meiner Gefühle? Er liebt ja diese Amalie ... warum hörte ich nicht auf den Nahmen, der mir in der ersten Viertelstunde warnend von seinem Ringe entgegen rief? der sich als ein unglückweissagender Dämon zwischen die ersten Wallungen meines Herzens für ihn drängte?
Die Gräfin kam in einer ungewöhnlich zierlichen Morgenkleidung, mich zu besuchen. Ein freundlicher Schimmer ergoß sich um ihre ganze Gestalt, ihre Bewegungen waren leichter und der Ton ihrer Stimme sanfter. Seine Küsse schienen mir [193] von ihren Lippen entgegen zu schweben. Nach zärtlichen Fragen über mein Übelbefinden, von welchem sie durch Julius unterrichtet war, fragte sie, ob sie das Frühstück in mein Zimmer dürfe bringen lassen? Aber Sie müssen sich etwas ankleiden! rief sie mir zu, als sie schon halb zur Thüre hinaus war, denn ich bringe noch einen Fremden mit. Ich darf doch? – Sie eilte hinweg, ohne meine Antwort abzuwarten. Ihr Betragen schien mir Spott in meinen Verhältnissen; ich war schmerzlich bewegt, aber seit ich aus meines Vaters Hause war, hatte ich die so nöthige Kunst, Meister meiner äußern Bewegungen zu werden, genugsam erlernt.
[194] Ich will mich nicht ankleiden, beschloß ich in einem Ausbruch kranker Empfindlichkeit; ich will Amalien zeigen, daß ich nicht mit ihr über die Vorzüge der Gestalt und des Schmuckes wetteifere! Ein blau seidnes Tuch war nachläßig um meine Haare geknüpft, und über mein alltägliches weißes Morgengewand warf ich nur ein Schawl um; wahr ists, ich legte es so, daß es den Leib eng umschloß, und die Brust und Arme nur leicht und in malerischen Falten drappirte. Du willst kalt und zurückhaltend seyn, nahm ich mir vor, aber kaum war der geliebte Mann zum Zimmer hereingetreten, und hatte mich sanft und freundschaftlich gegrüßt, so sagte ich mir: Nein, du [195] willst wahr und einfach seyn! Eine herzliche Frage nach dem Befinden meines Vaters verbannte bald allen Zwang. Bei diesem theuren Nahmen verschwand alle Verwirrung, und ich fühlte mich in der fröhlichen Unbefangenheit meiner ersten Jugend.
Sonderbar dünkte es mir, daß er es ganz vergessen zu haben schien, wie wir uns gestern gesehen hatten. Ich mußte viel sprechen, und die Gräfin spielte ganz die Rolle einer gefälligen Freundin; sie gab mir Anlaß, meine Ideen auf die beste Art zu entwickeln, und wußte den Faden der Unterhaltung so kunstreich fortzuspinnen, daß sich meine geringe Kenntnisse auf die natürlichste Art einflechten mußten.
[196] Wissen Sie wohl, Nordheim, sagte sie bey einem Stillstand des Gesprächs, daß die liebe Kleine und ich uns noch sehr wenig kennen? Wir waren vielleicht nicht zwei ruhige Stunden ununterbrochen beisammen. Auch sehne ich mich aus dem Kreis der Karten und Würfel so herzlich hinaus, wie ein Kind aus der engen dumpfigen Schule sich nach der freien Himmelsluft sehnen mag. Wäre es nicht für Sie gewesen, so hätte ich es schwerlich so lange aushalten können. »Ich danke Ihnen herzlich für Ihre freundschaftliche Aufopferung, meine beste Freundinn, erwiederte Nordheim. Durch Ihre Bemerkungen bin ich kein Fremdling mehr auf dem Boden, den ich anbauen [197] soll. Mein Hauptzweck, dem künftigen Fürsten seine Residenz angenehmer zu machen, wird sicher durch Ihr Bemühen erreicht. Der durch Sie umgestimmte Ton gibt der Masse der Gesellschaft einen modernen Anstrich, und der Prinz wird sie der B .. schen, die ihn bisher so sehr anzog, weniger unähnlich finden. Ich wünschte, gefällige Eindrücke fesselten seine Neigung an sein Land. Ich habe das Vertrauen des Prinzen nicht gesucht; aber da ich es gewonnen habe, so will ich es ehren, und keine Aufopferung schonen, um ein edles Gemüth, durch erfüllte Pflicht, im Frieden mit sich selbst zu erhalten.«
»Ihre Bemerkungen über die [198] Menschen in D .. sind so fein, so treffend, so im einfachen Sinn der Wahrheit dargestellt, daß ich sie unsrer Agnes einmahl als ein Muster in dieser Art vorlesen werde. Entfernt von der Sucht zu spotten, die lieber das Böse wahrnimmt, weil Witz und Laune besser damit spielen können, und gleichweit entfernt von der schwachsinnigen Gutmüthigkeit, die nicht durch den äußern Firniß eines Karakters hindurchzuschauen vermag, erscheint Ihrem reinen, festen Blick immer die Linie der Wahrheit. In ihrem gesellschaftlichen Benehmen, in ihren Erhohlungsstunden entschleiern die Menschen ihre Individualität am leichtesten, und am allerwichtigsten ist es, den Grundton [199] eines Jeden zu kennen, ob Liebe, ob Egoismus das Übergewicht in seinem Handeln hat! Es freut mich, daß Sie einige Menschen von Gehalt unter den Geschäftsleuten fanden, auf die ich bei meiner Prüfung doppelt aufmerksam seyn werde.«
»Die beiden Albans nennen Sie mir? – Es scheinen mir Menschen von vorzüglichem Werth zu seyn, erwiederte die Gräfinn. Unsre Agnes ist zu meinem Vergnügen sehr genau mit ihnen bekannt geworden, ich freute mich schweigend dieser verständigen Wahl. Was denken Sie von ihnen, beste Agnes, und da Sie sie noch genauer als ich kennen, welchem geben Sie den Vorzug unter den beiden Brüdern?« Ich erwiederte: [200] dem Karakter nach wären sie beide gleich achtungswürdig. Beide hätten den reinsten Willen. Über ihre Talente wage ich nicht zu entscheiden. Mir schiene der älteste einen sicherern Blick, der jüngste hingegen einen schnelleren zu haben. Er übersähe immer ein weiteres Feld als fein Bruder. Der älteste kombinire in seinem engern Zirkel meist immer richtig; der zweite in seinem weiteren freilich manchmahl falsch, aber er ehre die Wahrheit über alles, und sey immer geneigt, jede fremde Meynung gegen die seine zu prüfen. Übrigens könne ich nicht ganz richtig urtheilen, weil ich mit Julius näher bekannt sey, als mit seinem Bruder.
[201] Ich hatte dieses mit der größten Unbefangenheit gesagt, aber ein schlauer Blick der Gräfin brachte mich bey Julius Lobe außer Fassung, und beinahe gerieth ich in's Stocken, weil mir die Folgerungen durch den Sinn flogen, die Nordheim über ein zärtliches Verhältniß unter uns daraus ziehen könnte. Ich schämte mich dieser egoistischen Ansicht, und nahm mir vor, da, wo es den Vortheil eines Freundes gälte, alle Launen der Liebe außer Spiel zu setzen. Mit glühenden Wangen und bebender Stimme fuhr ich fort: Julius schiene mir ganz gemacht, durch die rastlose Thätigkeit seines Geistes und edle Wärme seines Herzens, einen großen Kreis der Wirksamkeit würdig zu durchlaufen.
[202] Nordheim saß mit niedergeschlagenen Augen, und nur dann und wann traf mich ein Blick von ihm. Er antwortete nicht auf meine Äußerungen, sprach wieder von mir, sah meine Mahlereien durch, und wunderte sich, daß ich die Portraitmahlerei nur allein übe, und die Landschaft ganz vernachläßige. Ich sagte ihm offenherzig meine Gedanken dabei, daß ich diesen Zweig der Kunst nur in Rücksicht auf meine und meines Vaters in Hohenfels ökonomische Lage erwählt hätte. O liebe Seele! ... sagte er, und legte seine Hand sanft auf meinen Arm. Ich fühlte, daß er ein großmüthiges Anerbieten aus Feinheit zurückhielt. Ich war bewegt, und faßte den Augenblick, [203] um auch der Gräfin in seinen Augen über ihr Benehmen gegen mich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich fühle es, sagte ich, an der großmüthigen Sorgfalt, mit welcher man in diesem Hause allen meinen Wünschen zuvorkommt, daß ich auch der Sorge für die Zukunft überhoben seyn könnte; aber ich läugne nicht, es schiene mir Pflicht, und meinem innigsten Empfinden angemessener, mich durch eignen Fleiß zu erhalten, und die Wohlthaten gutmüthiger Menschen Unbemittelten zu überlassen, die sich durch kein Talent forthelfen können. Liebes Kind, o schweig mir davon! rief die Gräfin, und schloß mich in ihre Arme. Es war der erste Ausdruck einer lebhafteren [204] Empfindung, den ich an ihr wahrnahm; sie erschien mir in erhöhter Liebenswürdigkeit. Thränen glänzten in ihren Augen, als sich ihr Haupt aus meiner Umarmung wieder erhob, und mit einer ganz eignen Grazie lächelte sie unter den Thränen hervor. Die Kleine ist fürwahr recht eigensinnig, Nordheim, sagte sie; meynen Sie, daß sie mir erlaubte, mich nur im geringsten in ihre Garderobe zu mischen! Ich spreche von den ersten Kleinigkeiten. Schmälen Sie mit ihr! Lieber verdirbt sie ihre schöne kostbare Zeit damit, einer alten Haube eine neue Form zu geben, einen verwaschnen Zeug aufzufärben, ehe sie mir erlaubte, ihr für ein paar Dukaten[205] solchen Plunder zu kaufen. Wir haben schon manchen Streit darüber gehabt.
Nordheim sah uns mit stillem Wohlgefallen zu, ging in meinem Zimmer auf und ab, und verweilte vorzüglich bey meinem Bücherschrank. Er nahm meinen griechischen Homer, in welchem einige Blätter von meinen Übersetzungen lagen. – Darf ich, liebe Agnes? fragte er, indem er eines derselben herauszog. – Ich antwortete etwas verwirrt, es sey eine Arbeit, die ich noch bei meinem Vater in Hohenfels, und mit seiner Hülfe unternommen hätte. Es freut mich, liebes Mädchen, erwiederte Nordheim, daß Sie die griechische Sprache treiben; ich hoffe nicht, [206] daß Sie mich für einen der Männer ansehen, die die Krücken der weiblichen Umwissenheit gern zu ihrem eignen Fortkommen brauchen. Schon längst hielt ich es für ein schädliches Vorurtheil, daß man den Weibern in unsern höhern Ständen nicht durch eine sorgfältigere Erziehung die Bekanntschaft mit der alten Literatur erleichtere, die die Blüthe ächter Kultur für Geist und Herz so glücklich entfaltet. Die Gräfin bat mich, Nordheimen ihr von mir angefangenes Portrait zu zeigen; ich hohlte es aus dem Nebenzimmer, und als ich an der Thüre war, hörte ich Nordheimen folgende Worte aussprechen: – Nein, es ist unmöglich bei solcher Wahrheit und solchem [207] Geist! Sie waren mir räthselhaft, und nur durch Elisens Entdeckung über das unglückliche Zimmer im Komödienhause wurden sie mir in der Folge verständlich.
Elise kam, sich nach meiner Gesundheit zu erkundigen, und sprach mit der natürlichsten Unbefangenheit von meinem Übelbefinden auf dem Ball. Nordheims ganze Aufmerksamkeit war bei unserm Gespräch, ob er gleich nur mit meinem Gemählde beschäftigt zu seyn schien.
Aber nicht wahr, Fräulein R...., sagte die Gräfin scherzhaft, die Kleine soll uns nicht mehr aus den Augen! Scheues Vögelchen, wo in aller Welt hast du nur das Herz hergenommen, dich unter solch einem[208] Gewühl von Menschen allein zu verlieren?
Schon schwebte mir eine feine Antwort auf den Lippen, die mich durch einen Scherz aus der Schlinge gezogen hätte, als Nordheims Blick fest und fragend auf mich fiel. Meine Kraft versagte mir; diesem gegenüber etwas Unwahres zu sagen, dünkte mir unmöglich. Mein Athem war gepreßt, meine Stimme erlosch, und die glühende Verlegenheit preßte Thränen aus meinen Augen.
Elise, welche glaubte, ich fände eine Art Vorwurf in den Worten der Gräfin, suchte mich aus der Verlegenheit zu reißen.
Machen Sie mich zur Hofmeisterin unsrer Agnes, gnädige Frau, [209] sagte sie zur Gräfin, über alles was die Etiquette betrifft. Ich werde stolz seyn, sie auch nur von dieser armseligen Seite zu übertreffen, da es mir auf jeder andern doch mißglücken müßte.
Ich konnte die Augen wieder aufschlagen. Nordheim stand mir sehr ernsthaft gegenüber.
Ich fürchte, meine Freundin, sagte ich Elisen, Sie würden eine zu ungelehrige Schülerin an mir finden. Ich fühle zu sehr, daß ich nicht fürs höhere Leben gemacht bin, und die süße Freiheit meiner Kindheit in Hohenfels wird es mir immer schwer machen, mich mit Leichtigkeit in die künstlichen Schranken der Gesellschaft zu fügen.
[210] Sie sind zu ernsthaft, liebste Agnes, sagte die Gräfin. Wollen Sie nicht eine Spatzierfahrt machen? sagte Nordheim. Freie Luft und Bewegung ist die beste Arznei für unsre Freundin. Elise war zugesagt zum Mittagsessen, und konnte nicht mit von der Gesellschaft seyn. Die Gräfin und ich nahmen den Vorschlag mit Vergnügen an.
Wir fuhren in der Mittagsstunde weg, Nordheim war uns zu Pferde vorausgeeilt. Die ganze Gegend glänzte im Sonnenlicht, und mein Auge spähte sehnsuchtsvoll in der weiten Fläche umher, um nur eine Spur des Hauses wieder zu finden, in dem ich gestern das reinste Glück genossen hatte. Mein Bemühen blieb [211] fruchtlos, die Gegend war mit Dörfern und Landhäusern so reichlich übersäet, und von so vielen Straßen durchschnitten, daß es mir unmöglich war, den Weg, welchen ich gemacht hatte, wieder zu erkennen. In einem alten, majestätischen Tannenwald, durch welchen die Straße führte, fanden wir Nordheim wieder. Er ritt ein wildes muthiges Pferd mit großer Geschicklichkeit, oft warf er einen freundlichen Blick in den Wagen. Sahen Sie je einen schönern Mann, liebe Agnes? sagte mir die Gräfin; je einen, dessen ganzes Wesen solchen Adel, solche Grazie zeigt? Und welch eine himmlische Einheit ist in seinem ganzen Wirken und Leben! Schweigend stimmte mein [212] Herz in ihre Gefühle ein; sie verstand es, und schaute gedankenvoll vor sich hin.
Jetzt öfnete sich der dicht verwachsene Wald, und die reizendste Landschaft lag vor uns. Gegen Osten ergoß sich ein breiter Fluß durch eine unabsehbare Fläche, und gegen Westen drängten sich seine Ufer durch zwei Gebirgketten, die die sonderbarsten Formen bildeten. Drohende Felsen neigten sich über den Spiegel des Flusses, wechselnd mit freundlichen Wiesenflächen, an denen einfache, doch reinliche Häuser regellos hingestreut waren. Auf einem dieser Felsen lag ein Schloß, dessen graue Mauern im ernsten Charakter der Festigkeit emporragten.
[213] Wo führen Sie uns hin, Nordheim? rief die Grafin; ist das nicht Ihr Landgut? Ja, erwiederte er, und ich hoffe, Sie nehmen mit der geringen Bewirthung vorlieb, die ich Ihnen für heute anbieten kann. Der Wald war durch ein liebliches Wiesenthal mit den Felsen, auf welchen das Schloß lag, verbunden; wir wünschten dieses ganz zu genießen, und beschlossen, es zu Fuße zu durchwandern.
Der junge Rasen unter unsern Füßen war von klaren Bächen durchschnitten, die sich aus den Felsen ergossen, und mit frischem Grün umkränzt, in sanften Linien durch das Thal rieselten. Die Pappeln und anderes Gesträuche trugen schon zarte [214] Blätter, und der Hagedorn stand in voller Blüthe. Nur an den reinlich gehaltenen Wegen bemerkte man die Hand der Kultur in diesem Thal, in dem sonst die liebliche Freiheit der Natur herrschte.
Unser Weg führte uns an einigen zierlichen Häusern vorbei, wo Obst- und Gemüsepflan ungen angelegt waren. Ein alter Mann von ehrwürdigem Ansehen war in dem einen Garten beschäftigt, die Rebengeländer zu ordnen. Sorgfältigere Kultur rief hier die Erscheinungen eines mildern Himmelsstriches hervor. Die Weinranken wanden sich von Baum zu Baum, und bildeten zierliche Bogen. Der Alte grüßte uns schweigend, und fuhr in seiner Arbeit [215] fort. Aus dem zweiten Hause kam ein Mädchen und ein Knabe herausgesprungen, der Größe nach schienen sie beide zwischen vierzehn und sechszehn Jahren. Beide waren von schöner Bildung. Ihre lebhaften schwarzen Augen und dunkeln Haare, das warme Kolorit ihrer Gesichtsfarbe und ihre sprechenden Geberden gaben ihnen einen unter unserm Himmel fremden Anstrich. Warten Sie ein wenig! rief der Knabe Nordheimen auf italiänisch zu, meine Schwester bringt Ihnen Veilchen. Das Mädchen nahte sich bescheiden, und die zurückgehaltene Lebhaftigkeit gab ihrem ganzen Wesen ein reizendes Spiel. Mit einer angenehmen Verbeugung [216] gab sie Nordheimen einen Veilchenstrauß, und sprang schnell wieder fort. Während dem Laufen rief sie uns zu: sie eile, um den Damen auch Blumen zu hohlen. Nein, das will ich thun! rief der Bube, und sprang ihr nach. Auf halbem Weg wendete er wieder um, und fragte Nordheimen: ob er seine Flöte mitbringen dürfe und seiner Schwester Guitarre, um den Damen eine Musik zu machen? Das bitten wir uns einmahl in meinem Hause aus, Battista, die Damen sind jetzt ermüdet; erwiederte Nordheim, ohnerachtet die Gräfin bat, den Kindern die Freude nicht zu verderben.
Als sich der Kleine entfernt hatte, sagte uns Nordheim: er habe [217] Battista's Gesuch aus Schonung für die Mutter abgewiesen, die durch sonderbare Schicksale verstimmt, das Anschaun jedes Fremden fliehe, oder nur zuweilen, aus Gefälligkeit, mit schmerzlichem innern Kampf aushalte. Die Schwester eilte mit ihren Veilchen herbei, Battista nahm ihr den einen Strauß ab, und überreichte ihn mir mit einer natürlichen Feinheit, während seine Schwester den ihrigen der Gräfin gab. Nordheim reichte ihr seine Hand zum Abschied, die sie mit Heftigkeit an ihre Lippen drückte. Die Mutter sahen wir nur auf einen Blick durchs Fenster, ein edler ausdruckvoller Kopf einer hinwelkenden Schönheit. Sie bevölkern Ihren englischen Garten mit lebendigen [218] Bewohnern, sagte die Gräfin, und das ist freilich interessanter, als die ausgestopften Einsiedler, welche man jetzt überall findet, und die leeren Bauernhäuser, die ein wohlwollendes Herz nur mit dem Gedanken ansehen kann: Hier sollten glückliche Menschen wohnen!
Es ist vielleicht mehr Zufall als Plan in diesen Anlagen, erwiederte Nordheim lächelnd. Wenn es unser Genius gut mit uns meynt, so hält er uns eine Pflicht vor, indem wir eben eine Thorheit begehen wollten. Sie haben es errathen, der Plan war schon gemacht, dieses Thal zum Park umzuschaffen; das eine Haus sollte eine gothische Kapelle, und das andere ein griechischer Tempel werden. [219] Ein Freund, mit dem ich seit vielen Jahren in inniger Vertraulichkeit lebte, empfahl mir auf seinem Sterbebette eine Sängerin, die er unterhalten hatte, und die bei der Geburt seines zweiten Kindes durch eine heftige Krankheit ihre sehr schöne Stimme verloren hatte. Sie und ihre Kinder wurden hülflos durch den Tod meines Freundes; und ich ließ meine gothische Kapelle zum einfachen Wohnhause für sie einrichten. Die Kinder wuchsen heran, verriethen Talent, und ich war eben um ihre Erziehung verlegen, da ich sie ungern von der Mutter trennen wollte, als eines Morgens ein alter Hofmeister von mir ankam, der mir in meiner Jugend einen wichtigen[220] Dienst geleistet hatte, und sich jetzt, nach vielen vergeblichen Kämpfen mit dem Schicksal, nach einem Zufluchtsort umsah. Er besitzt mannichfaltige und gründliche Kenntnisse und eine gute Art sie mitzutheilen. Er soll deinen griechischen Tempel bewohnen, dachte ich, bot ihm einen kleinen Jahrgehalt an, den er mit Vergnügen annahm, und von dem er, bey seiner ächt philosophischen Simplicität und in der größten Unabhängigkeit, sehr glücklich lebt. Die Kinder sind ihm lieb geworden, und er verwendet sich mit Treue und Fleiß auf ihre Bildung. Mir ist wohl, auf dem kleinen Plätzchen einen Zirkel ruhig lebender Menschen vereint zu sehen; wenn ich hier bin, [221] verlebe ich manchen vergnügten Abend unter ihnen.
Ein bequemer Weg, mit Bäumen besetzt, führte von der einen Seite über den Felsenrücken bis an eine Zugbrücke. Mannichfache anmuthige Anlagen schmückten den Fels, und nur von einer Seite war er ganz unangebaut, und neigte seine formlosen Massen, zwischen denen wildes Gesträuch hervorwuchs, drohend über den Fluß. Wir gingen über die Zugbrücke in den geräumigen Hof, um das Innere des Gebäudes zu sehen. Die Thore waren mit zwei Wappen geschmückt, und alle Verzierungen waren im alten Geschmack in Stein, rein gezeichnet und gearbeitet, und auf das beste unterhalten.
[222] Ich habe mich sehr gehütet, sagte Nordheim, den alten Charakter dieses Gebäudes durch modernes Flickwerk zu verfälschen. Mir dünket oft, die Sprache der alten Zeit in diesen festgewolbien Hallen zu vernehmen. Aus der glatten, neuern Welt flüchte ich mich gern in diese rauhen Mauern, wo lauter feste und starke, wenn gleich etwas grelle Formen mich umgeben. Wir gingen durch einen großen Saal, dessen Hauptverzierung aus Familienportraits in Lebensgröße bestand, von denen die meisten durch gute Künstler gemahlt waren. Es war eine Reihe fester biederer Gesichter, in denen die Stärke der hervorstechendste Ausdruck war. Wappen und Titel [223] standen zu ihren Füßen, und die mehresten hatten in den ersten Fürstenhäusern Deutschlands ansehnliche Ämter bekleidet, bis auf Nordheims Vater und Großvater, die gar keine Titel hatten.
Die Gräfin bemerkte es, und Nordheim sagte lächelnd: Die Talente zum Hofglück verlöschten hier in unserer Familie, oder die Verfassungen änderten sich, und foderten andere Talente, als die wir von unsern redlichen Vorfahren ererben konnten. Was sollten die stolzen ehrlichen Ritter bey den französischen Kabinetskünsten? und die braven und geistvollen verachteten den müßigen Hofdienst. Mein Großvater merkte, wo der Wind der Zeit herwehte, und [224] zog sich auf seine Güter zurück, nachdem er die Welt durch Reisen hatte kennen lernen. Er kaufte diese zwei Dörfer, die Sie hier längs des Flusses sehen, wieder an sich. Seit langen Jahren hatten sie der Familie zugehört, und nur unter den letzten Besitzern gingen sie verloren, weil diese lieber den großen Diener in der Stadt spielten, als den Herrn in ihrem Hause. Mein Großvater war ein verständiger Landwirth und ein sorgsamer Vater seiner Unterthanen.
Ununterbrochen arbeitete er daran, seinen Nachkommen ein unabhängiges Vermögen zu verschaffen, und da seine Vorfahren oft wenig an die Nachkommen gedacht hatten, so [225] mußte er oft zu seiner Unbequemlichkeit an sie denken. Er hatte große Neigung zur Pracht, sein Geschmack hatte sich in den Hauptstädten Europens ausgebildet, aber er ordnete alle Liebhabereien den Grundsätzen einer weisen Sparsamkeit unter. Er lebte bequem, aber sehr einfach, und verbannte allen Luxus, der nur der Meinung fröhnt, ohne einen reellen Lebensgenuß zu verschaffen. Seine Freunde waren ihm alle Tage an seiner Tafel willkommen, aber nie wurde diese mit Überfluß besetzt. Jedem Fremden war wohl in seinem Hause. Weil er allen Zwang des eitlen Scheins abgeworfen hatte, stöhrte selten etwas seine gute Laune, und ich entsinne [226] mich noch, daß ich mich als Kind immer in des Großvaters Hause frey fühlte, wie ein Vogel, den man des Käfigs entlassen hat.
Mein Vater lebte auch in demselben Sinne wie mein Großvater, und hielt sich nur oft in S** auf, weil er mit dem Fürsten in freundschaftlichen Verhältnissen stand. Und sollte ein so biederes blühendes Geschlecht verlöschen, liebster Freund! sagte die Gräfin, indem sie ihre Hand auf Nordheims Arm legte. Möchte ein edler Sohn, fuhr sie fort – aber ihre Stimme bebte und verlöschte, eine sonderbare Bewegung war in ihrem ganzen Wesen sichtbar, ihre Wangen glühten, und in ihren Augen zitterten Thränen. Nordheims[227] Blicke fielen auf mich, wie in jenem Moment in Hohenfels, als er meinem Vater sagte: Mir fehlt auch nur eines, und Sie könnten mir's vielleicht geben! Er nahm die Hand der Gräfin und die meine zusammen, und sagte: Überlassen wir das der Zukunft, meine Besten! Die Bewegung der Gräfin stieg immer höher, und Nordheim führte mich gegen die andere Seite des Saals, als wollte er ihr Zeit lassen sich zu sammeln. Unsere Agnes muß auch meine Eltermütter kennen lernen, sagte er. Scheinen sie nicht sanfte stillthätige Seelen gewesen zu seyn, deren Blick, gewohnt sich in einem engen Zirkel zu beschränken, tief und scharf auf das ihnen Zunächstliegende sieht? [228] Das Blumensträuschen in ihrer Hand, oder der goldene Trauring an ihrem Finger, scheint ihre Gedanken zu beschäftigen, und eine süße Erinnerung ihres Brauttages vor ihrer reinen Fantasie zu schweben. Die Großmutter blickt schon freier um sich her, aber ein edles Selbstgefühl thronet auf der offnen Stirn. Auch war sie ein braves, kluges Weib, das während der Abwesenheit meines Vaters die Güter beinahe ohne männliche Beihülfe einige Jahre hindurch ganz nach dem Sinne ihres Mannes verwaltete. Alles hatte Gedeihen und glücklichen Fortgang unter ihrer Aufsicht.
Meine Mutter fehlt hier, Sie werden sie in meinem Zimmer sehen, [229] ich bin gerne unter ihren Augen. Auch sie hatte, wie wir es unbilligerweise ausdrücken, einen männlichen Geist. Die schöne Fähigkeit des weiblichen Gemüths in einer neuen fremden Lage, gleichsam in seinem Innern ein neues Ressort aufzufinden, sollte von uns mehr als eine dem Geschlecht inwohnende Kraft angesehen werden, anstatt daß wir sie nur für eine Ausnahme anerkennen wollen. Wir sind um so unbilliger in diesem Urtheil, da wir positive Vortheile gegen die Frauen haben, und mit manchen Federn geschmückt sind, die wir am Ende doch nur unsern stärkern Klauen verdanken. Die Vortheile einer frühern wissenschaftlichen Bildung und [230] mannichfacher Lebensverhältnisse mußten für Kraft des Charakters, für Besonnenheit in schweren Lagen auf unserer Seite entscheidend seyn, wenn nicht wirklich zuweilen ein innrer Reichthum der Natur die Weiber entschädigte. Aber nicht alle hat die Natur so begünstigt; wenige nur widerstehen durch eine glückliche Anlage der Gewalt, welche eine falsche Erziehung, schon von der frühesten Jugend, an ihnen ausübt. Die Unwissenheit und Charakterlosigkeit, zu denen sie meistens ihre Verhältnisse verdammen, tragen die bittersten Früchte für ihr ganzes Leben, und wer hat diese zu genießen, als wir selbst? Der Ruin vieler Familien entsteht größtentheils aus Schwachheit [231] und Kurzsichtigkeit der Weiber. Störriger Eigensinn ist die Folge eines beschränkten Geistes, und existirt meist neben kindischer Furchtsamkeit. Die unterdrückte Natur rächt sich; wir sind die Betrogenen, weil wir es seyn wollen. Weil die meisten unter uns Stärke an den Weibern nicht zu tragen und nicht zu lieben vermögen, so suchen sie nur die über alles gepriesene Sanftheit, und nehmen sie ohne Untersuchung hin. O wie ist die ächte Sanftmuth, die das Leben jedes dauernden Verhältnisses ist, so unverkennbar in der Grazie ihrer Äußerungen! Glücklich, wer sie besitzt und wer sie genießt. Nur von solchen Gemüthern haben wir Schonung zu erwarten, wenn sich [232] die Erbsünde des Übermuths in uns regt; ungebildete Seelen brauchen die rohen Naturwaffen gegen uns, Verschlagenheit und List.
Die Gräfin näherte sich uns, sie wünschte noch einen Gang durch die übrigen Zimmer zu machen. An beiden Seiten des Saals waren zwei runde Thürme durch wenige Verzierungen in sehr freundliche Zimmer verwandelt. Das eine diente zum Gesellschaftssaal, das andere zur Bibliothek. Aus der Bibliothek ging man in eine Reihe zierlich eingerichteter Zimmer, deren einige trefliche Kupferstichsammlungen, und wenige, aber vorzügliche Gemählde enthielten. Zuletzt sah man sich in einer kleinen Rotunde, die das Licht von [233] oben empfing, und worin Abgüsse der vorzüglichsten Antiken aufgestellt waren. Zum erstenmahl sah ich in solcher Vollkommenheit diese unsterblichen Werke, in denen der reinste Geist der Kunst ewig fortlebt.
Fräulein R** mit ihrer alten Tante und die beiden Albans kamen gegen Abend. Nordheim hatte sie eingeladen. Julius begrüßte mich mit seiner gewohnten Unbefangenheit, aber ein Blick Nordheims, der auf uns fiel, ließ mich in seinem Benehmen gegen mich etwas zu Freies finden. Aus Dankbarkeit für die zarte Sorgfalt, mit der er mich gestern gepflegt hatte, zwang ich mich alle Zurückhaltung gegen ihn aus meinem Betragen zu verbannen. [234] Mit Schmerz bemerkte ich, daß Nordheim mich und Julius bei allen Gelegenheiten zusammen zu bringen suchte, wie zwei Liebende, deren zärtliches Verhältniß allgemein anerkannt ist. Er sprach viel mit Julius, bezeugte Gefallen an seinen Kenntnissen und an dem geistvollen Ausdruck, den er seinen sehr eigenthümlichen Vorstellungsarten zu geben wußte.
Wir brachten den größten Theil des Abends bei der Antikensammlung zu, und das Anschaun der schönen Gestalten versetzte uns in eine erhöhtere Stimmung.
Sinn und Verstand waren bei Nordheim gleich lebendig bewegt, und seine Bemerkungen gaben mir neue Begriffe und reinern Genuß.
[235] Wie jeder Genuß sich in Sehnsucht auflöst, so schloß sich auch unser Gespräch mit der Betrachtung, daß das erste, fröhliche, schöne Jugendalter der Kunst nie in seinem vollen Glanze wiederkehren werde.
Nordheim führte mich in mein Zimmer. Die Glorie des Geistes schien mir um seine ganze Gestalt zu leuchten, und eine sonderbare heilige Stille war in seinem Wesen.
Wie glücklich sind wir, sagte er, wenn uns eine liebliche Gestalt begegnet, die uns in ihrer holden Einheit ein Ahnden jenes Grenzenlosen zuführt, das in den Kunstgestalten der Alten athmet! Die Reinheit des Sinnes findet keine Schranken, und wandelt mit himmlischer Freiheit durch [236] das Leben. Welche Gestalt auch das Schicksal unserm Verhältniß geben mag, sagte er, indem er meine Hand faßte, so danke ich Deinem Anschaun, holdes Wesen, ein süßeres Leben!
Ich hatte keine Worte, mein Innres war in der reinsten Liebe aufgelöst. Wir waren an der Thür des Zimmers, Elise stand bei mir, und er gab uns gute Nacht.
Welch ein schönes Leben erwartet uns, beste Agnes! sagte Elise, als wir uns auf unserm Zimmer allein befanden. Mehr als jemahls hoffe ich mit meiner Agnes eine Familie, ein Haus auszumachen. Julius ist hoffnungsvoller seit gestern; seine Liebe ist treu und zart. Sie werden glücklich mit ihm seyn, so [237] wie er und wir alle es unaussprechlich durch Sie seyn werden.
Wenn ich könnte, Elise, wenn ich Julius lieben könnte, wie er es verdient! erwiederte ich. – Wir sprachen oft darüber, sagte Elise nach einigem Nachdenken. Ihre Kälte bei allem was auf Liebe deutet, schien uns ein Phänomen in einem so weichen liebenden Herzen. Julius behauptet, Sie wären von zu reicher hoher Natur, um eine Leidenschaft zu haben, und diese Stille des Gemüths, die nicht aus Mangel an Kraft, sondern aus hoher Richtung derselben entstünde, würde sein Glück eher vermehren als vermindern. Ich glaube dennoch, fuhr sie lächelnd fort, der Drache der Eifersucht [238] würde diese goldenen Früchte der Weisheit mit immer offenen Augen bewachen. Ich verstehe Sie nicht, Elise, versetzte ich etwas empfindlich.
Ich kenne das heilige Herz meiner Agnes, sagte Elise, und weiß, daß es unfähig ist, Vertrauen und Liebe zu beleidigen. Ich wäre der Glückseligkeit unsers Julius an Ihrer Seite gewiß. Es war ein Scherz unter uns, der zu dem Gesagten Anlaß gab. Julius war diesen ganzen Abend hindurch sehr gespannt auf die Aufmerksamkeit und Achtung, die Nordheim für Sie bezeugte. Als Alban und ich es ihm im Scherz vorwarfen, sagte er: Dieser wäre ein gefährlicher Nebenbuhler, oder vielmehr [239] gegen einen Mann von solchen Vorzügen finde gar keine Rivalität statt. Alban tröstete Julius mit dem allgemein bekannten Verhältniß Nordheims mit der Gräfin.
Und welches? fragte ich mit erzwungener Kälte.
Die Welt sagt, sie seyen heimlich verheurathet. Die Welt sagt freilich viel Falsches, aber da die Gräfin schon seit zehn Jahren Wittwe ist, und während dieser Zeit mit Nordheim in der größten Vertraulichkeit lebt, auch seit dem Tode ihres Gemahls keinen andern Liebhaber hatte, so ist freilich hinlänglicher Grund zu dergleichen Vermuthungen vorhanden. – Sie sind nicht wohl, liebes Mädchen, rief Elise lebhaft [240] aus; Ihre Gesichtsfarbe wechselt so schnell! Oder hätte ich Sie durch meine Äußerungen über die Gräfin beleidigt? Verzeihen Sie, aber Ihre Kälte gegen diese Dame, die mir oft auffiel, da sie wirklich sehr liebenswürdig ist, diese verleitete mich jetzt, so treuherzig alles über sie herauszusagen.
Meine wechselnde Farbe hatte einen tiefern Grund, als meine gute Elise wähnte. Ich beruhigte sie, und sie überließ mich bald der Einsamkeit und meinen Betrachtungen.
Alle jene freundlichen Zauberfarben, mit denen die Liebe uns die Zukunft erhellt, verlöschten durch den Zweifel an Nordheims Neigung. Ich sah nur eine licht- und formlose Dämmerung [241] vor mir, und die Mühe, mich hindurch zu arbeiten, war das einzige was ich bestimmt erkannte. Das nöthigste für den Moment war mir, Julius aus seiner Täuschung zu reißen. Ich will ihm meine Liebe und meinen Schmerz gestehen, und eine beynahe gleiche Lage wird uns in fester Freundschaft verbinden. Julius selbst, vielleicht durch seinen Zweifel über Nordheim angetrieben, bot mir den nächsten Morgen die Gelegenheit dazu.
Nach eingenommenem Frühstück zerstreute sich die Gesellschaft. Die Gräfin ging auf ihr Zimmer, Nordheim in sein Kabinet, Elise ging mit ihrem Freunde in dem großen Saal auf und ab, und ich blieb allein [242] beim Klavier mit Julius. Er spielte mit großer Fertigkeit einige meiner Lieblingssonaten, und sprach dann von seiner Liebe und seinen Wünschen, für immer mit mir vereinigt zu seyn.
Sein Gesicht war so rein, so gut, so bescheiden hoffend, daß ich ihm meine Hand, die er zwischen den seinigen hielt, nicht entziehen konnte. – Ach, wenn Sie in meine Wünsche einstimmen könnten, beste Agnes, rief er aus, welche glückliche Familie würden wir ausmachen! Mein Bruder und Elise, unsre besten nächsten Freunde, die so harmonisch mit uns denken und empfinden, würden vereint mit uns leben. Auch Ihr Vater würde mit uns leben, [243] nicht wahr? Alles Leere und Unbedeutende würden Sie aus meinem Leben verbannen. Ihr großer Sinn würde mich in allem meinem Wirken zum Schönsten und Edelsten leiten. Sie selbst sollten so frey, so sorgenlos leben, ganz nach der Wahrheit Ihrer schönen Natur. Könnten Sie nicht auch glücklich seyn, wenn wir alle es durch Sie sind? Ach Sie müßten es seyn! Sprechen Sie, bestes Mädchen.
Das redliche Bemühen der gutmüthigen feinen Seele rührte mich innig, aber je zärter ich diese Seele empfand, je mehr fühlte ich, daß ich ihr nicht alles geben könnte, und nichts halbes geben dürfe.
O beste Agnes, Sie sind bewegt, [244] rief Julius. Reden Sie! – Aber Sie schweigen; o ich verstand Sie unrecht, ich habe Sie beleidigt! rief er schmerzlich aus, und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. – Nein, beste Seele, sagte ich, nein, wie wäre es möglich! – Julius – wenn ich könnte – ach wenn ich Sie so über alles lieben könnte, wie Sie es verdienen!
Über alles? meine Agnes, wie könnte ich das verlangen! Täuschen wir uns nicht, meine Beste; ein Herz wie das Ihrige, in dem sich so mannichfache Kräfte früh entwickelten, dieses kann keinen Mann über alles lieben.
Seyn Sie mir nur gut; lassen Sie mich Sie so glücklich machen, [245] als ich kann. Ihr Gutseyn ist tausendmahl mehr, ist inniger, zärter, als das was andere Frauen Liebe nennen.
Es war ein entscheidender Augenblick; das schwankende, vielleicht nur in meiner Einbildung gewebte Verhältniß mit Nordheim, schwebte mir vor, Julius reine zarte Liebe drang zu meinem Herzen; ich drückte seine Hand fester, und mein thränenschweres Auge verbarg sich an seinem Arm. Ein Geräusch unterbrach uns, ich erhob meine Augen Nordheim stand unter der Thüre, zog sich aber augenblicklich zurück. Werde ich nicht das Bild dieses einzig Liebenswürdigen immer mit verlangender Sehnsucht umfassen, selbst an [246] Julius treuem Herzen? Diese Frage bewegte meine ganze Seele. Meine Lippen zitterten, und ich hatte keine Worte, so wie keine klare Empfindung.
Julius saß mit dem Rücken gegen die Thüre, und hatte Nordheim nicht gesehen, er wähnte, Liebe für ihn bewege mein Herz so heftig. O beste Agnes, fuhr er fort, nur ein holdes Wort von Ihren Lippen, welches die süßen Ahndungen, die ich aus diesem Schweigen nehme, zur Hofnung erhebt! Nie sah ich Sie so bewegt: – ists für mich? – Ja, es ist ein sanftes Neigen Ihrer Seele gegen die meine.
Der Wahn, in dem Julius meine verwirrte Empfindungen zu seinem [247] Vortheil auslegte, war mir innig schmerzlich. Ich fühlte, daß ich ihm ganz wahr seyn, ihm mit Aufopferung aller Weiblichkeit den Zustand meines Gemüths rein darlegen müsse. Er hielt noch immer meine Hand, und sagte sanft: Warum wenden Sie Ihr liebes Auge von mir? O Agnes, können Sie mich lieben? – Liebte ich nicht schon, so könnte ichs, erwiederte ich mit weggewendetem Gesicht, während meine Hand die seine drückte. Ach Gott! rief er mit einem Ton des tiefsten Schmerzens. Nicht für mich! Nach einigen Momenten der lebhaftesten Bewegung, wo seine Brust einen tiefen Kummer zu verarbeiten schien, und sein Auge mit hervorstürzenden Thränen kämpfte, [248] wendete er sich wieder gegen mich, indem er ausrief: Und doch für mich! Wer kann mir die zarte Neigung rauben, die mich belebt? Wer die innige treue Sorge, die mit meinem ganzen Daseyn verwebt ist? Fühlte ich nicht erst die ganze Tiefe meines Wesens, seit die Gewalt dieser Liebe deiner allbesiegenden Schönheit alle Kräfte in mir aufregte! Ja, für dich will ich leben, du sollst meine zärteste Sorge seyn, wie du meine süßeste Freude hättest werden können.
Sie sollen alles wissen, mein werther Freund, sagte ich ihm, meine Liebe, meinen Schmerz. Ach Julius! Warum mußte ein früherer Eindruck mein Herz für Ihre Neigung verschließen![249] – ein Eindruck, der mich schwerlich zur Glückseligkeit leiten wird.
Als mich Julius entschlossen sah, ihn zum Vertrauten zu machen, half er mir mit jener schonenden Feinheit, ihm mein Geständniß abzulegen, welche die Gedanken erräth, bevor sie sich noch Worte gebildet haben. Da ich endlich Nordheims Nahmen aussprechen mußte, erschrack er, als hätte er etwas ganz Unerwartetes vernommen.
Ihre Liebe, meine Agnes, wird mit Leiden verbunden seyn, sagte er. Die Hülfe der Freundschaft kann vielleicht den Kummer Ihres Herzens erleichtern. Heilig gelobe ich, Ihr Freund, und nur Ihr Freund zu [250] seyn. Ich verspreche nicht wenig, aber ich will und werde es halten.
Wie werth war mir Julius in diesem Moment! Ich gelobte mir selbst im Stillen sein Glück an meinem Herzen zu tragen, und ihm immer mit unverbrüchlicher Treue und Wahrheit zu begegnen.
Wir müssen jetzt zur Gesellschaft, sagte Julius; ich sehe, man versammelt sich im Garten. Wenn Sie nicht mein werden können, beste Agnes, so muß ich künftig vorsichtiger in meinem Betragen seyn, um die Welt in keiner Täuschung über unser Verhältniß zu lassen. Verzeihen Sie, daß ich meine Empfindungen bis jetzt zu laut sprechen ließ; es soll nicht mehr geschehen. Nur [251] wenn wir allein sind, werden Sie immer mein offenes, ganz von Ihnen erfülltes Herz auf meinen Lippen finden.
Die Gesellschaft war in einem kleinen Pavillon versammelt. Nordheim sah mich nur flüchtig an, als ich mich ihm näherte, gleich als wollte er meiner Verlegenheit schonen. Er begegnete mir mit derselben feinen Achtung als zuvor, aber doch hatte sich eine gewisse kalte Höflichkeit als eine fremde Farbe in sein Betragen gemischt, und die sanfte Vertraulichkeit war verschwunden. Mein Herz war gepreßt. Er schien mir unaussprechlich liebenswürdig. Selbst die Entfernung, welche er gegen mich beobachtete, deutete auf[252] einen zärteren Antheil seines Herzens an mir, der durch die Situation, in welcher er mich mit Julius gefunden, nothwendig beleidigt werden mußte. Wie gern hätte ich meine ganze Seele offen vor ihm dargelegt! Battista und seine Schwester waren eingeladen, uns mit ihrer versprochenen Musik zu ergötzen. Beide waren zierlich gekleidet, und die blühenden Gestalten voll jugendlichen Lebens, die unter einem Blüthenbaume saßen, und den Zauber ihrer einfachen herzlichen Melodien um sich her verbreiteten, theilten uns allen eine beinahe idealische Stimmung mit. Die Kinder spielten ein welsches Liedchen, und das Mädchen legte den ganzen Sinn hinschmelzender Zärtlichkeit [253] in die süße Melodie. Unter dem Schatten der breiten Augenlieder und der langen Wimpern blitzte zuweilen ein feuriger Blick hervor; immer traf er auf denselben Gegenstand, auf Nordheim.
Bravo, Bettina! sagte Nordheim, indem er die Kleine bey der Hand faßte, und die schwarzen Locken zurückschlug, die in der Gluth des Gesangs über ihre Stirne herabgefallen waren. Seit wann lehrte dich deine Mutter dies Liedchen?
Auf meine Bitte, erwiederte Bettina, lehrte Sie mich's vor einigen Tagen, da wir hörten, daß Sie zurückkommen würden.
Ich danke dir, mein Kind! sagte Nordheim freundlich. Bettina drückte [254] seine Hand an ihre Lippen, und eilte hinweg.
Arme Bettina! rief die Gräfin aus, indem sie ihr mit einem traurigen Blick nachsah.
Warum beklagen Sie Bettina, liebe Gräfin? fragte Nordheim. Ich rechne selbst auf Ihre Güte, um dem anmuthsvollen kleinen Geschöpf ein glückliches Schicksal zu bereiten.
Ich dachte nicht an Bettina's äußere Lage, als ich sie beklagte, sagte die Gräfin. Aber wohl schmerzte es mich, das junge Gemüth schon in der vollen Gluth der Leidenschaft auflodern zu sehen, die sie mit so rührender Wahrheit in ihrem Gesang aushauchte. Nordheim erwiederte: Sollen wir den großen Anlagen der[255] Natur mißtrauen, meine Freundin? An der Glut der Leidenschaften reift das Edelste in uns. Gewiß, mein Freund, sagte die Gräfin. Aber wenn ein hoher stolzer Baum vom Blitz zerschmettert vor unsern Augen hinstürzt, oder ein holdes Gemüth der Gewalt einer Leidenschaft unterliegend, in seinen besten Lebenskräften dahin stirbt, fühlt sich unser Herz nicht von allen Schmerzen der Zerstörung ergriffen? Zumahl, setzte sie hinzu, wenn ein eigenes schmerzliches Schicksal uns das innere Gefühl des Wesens in seiner geheimsten Tiefe erkennen lehrt?
Die Damen gingen nach ihrem Zimmer, um sich anzukleiden; ich nahm Bettina mit mir. Das holde [256] Geschöpf, voll Jugend und Leben, zog mich an sich, und die innigen wahren Laute der Natur in ihrer Neigung zu Nordheim trugen vielleicht nicht wenig bei, den Reiz zu vermehren, welchen ihr ganzes Wesen für mich hatte.
Anfänglich war sie still und verlegen, aber als sie fühlte, daß ich es wohl und treu mit ihr meynte, schwatzte sie lieblich und unbefangen über ihr häusliches Leben, ihre Beschäftigungen und Verhältnisse. Meine Mutter, sagte sie unter andern, spricht davon, mich in der Stadt in einem guten Hause unterzubringen, wo ich dann vielleicht mit der Zeit einen braven Mann fände, und so unserm Wohlthäter die Sorge für[257] uns erleichtert würde. Es sey unbescheiden, sagt sie, ihn mit unsrer ganzen Existenz zu belästigen.
Ich fühle, daß sie Recht hat, aber ... Die arme Kleine brach in einen Strom von Thränen aus. Ich sprach ihr zu, ruhig zu seyn, Nordheim sey zu gütig, um sie zu irgend einem Schritt zu nöthigen, welcher nicht mit ihrer Neigung geschähe; er selbst würde es nicht zugeben, daß ihre Mutter sich der Freude, sie zu sehen, beraubte. Ach welchen Trost Sie mir geben! rief sie lebhaft aus; ihr schönes schwarzes Auge kehrte sich gen Himmel, sie legte ihre Arme übers Kreuz und drückte sie fest an ihre Brust. Mein ganzes Leben soll im Gebet für das Glück des edelsten [258] liebenswürdigsten Mannes hinfließen, fuhr sie fort, o ihm verdanke ich ja alles! was kann ich sonst für ihn thun! Wär' ich wie mein Bruder, hätte ich Stärke in meinen Armen, um ein Roß zu bändigen, könnte ich schießen und mit Waffen umgehen, dann wiche ich nie von seiner Seite, ich folgte ihm auf Reisen als Knappe, in allen Gefahren blieb' ich bei ihm, und kein Unfall sollte ihm nahen; würd' er verwundet oder krank, dann wollt' ich nicht von seinem Bett gehen: meine Mutter lehrte mich Wunden verbinden und Kranke pflegen. Ach und wie vorsichtig wollte ich seyn! Niemand als ich sollte ihn anrühren, und niemand sonst an seinem Bette wachen, damit [259] der Schlaf durch keine unvorsichtige Bewegung von den lieben Augenliedern verscheucht würde.
Eine glühende Röthe überzog ihr Gesicht; sie fühlte erst jetzt, daß sie mir ihr innerstes Daseyn enthüllt hatte.
Die schönen Anlagen eines starker tiefer Eindrücke fähigen Gemüths, die sich so lieblich in ihrer Rede entfalteten, flößten mir herzliche Zuneigung ein. Ich versprach ihr Liebe und Sorge für ihr künftiges Leben, und sie freute sich der Hofnung, mir oft schreiben zu dürfen.
Durch einen Boten aus der Stadt empfing ich folgenden Brief: Eine Ihnen sehr werthe Person wünscht einige Zeilen von Ihrer Hand; vorzüglich [260] wünscht sie eine Antwort auf die letzte Frage, die sie an Sie gethan, ehe die Glocke des Abschieds schlug. In der Stunde der Mitternacht werden Sie einen treuen Boten bereit finden. Gerade der kleinen Pforte, die in den Garten führt, gegenüber, wird er Sie an der Gartenhecke, so lange Sie noch in diesem Aufenthalt sind, alle Nächte hindurch erwarten. Warten Sie Zeit und Umstände wohl ab, bis sich der günstigste Augen blick zeigt.
Johannes Ch.
Ich eilte sogleich meiner Mutter zu schreiben, und benutzte jeden Moment des Tages dazu, wo ich mich unbemerkt von der Gesellschaft hinwegstehlen konnte. Auf die Frage: [261] ob ich schon eine lebhaftere Neigung für irgend einen Mann empfunden? sagte ich ihr: An eine geliebte Gestalt ist die Freude und die Hofnung meines Lebens in der Liebe geheftet; und trennt mich das Schicksal von dieser, so wünsche ich unverheurathet einzig für meine theure Mutter und meinen Vater in Hohenfels zu leben.
Nordheim erhielt einen unerwarteten Besuch des Prinzen, welcher sich wegen einer Zusammenkunft mit seiner Schwester, für einige Tage auf einem Lustschloß in der Gegend aufhielt.
Der Prinz verband eine schöne Gestalt mit einem einnehmenden Betragen. Durch seinen langen Aufenthalt [262] in fremden Ländern hatten sich die scharfen Ecken abgeschliffen, welche Gewalt und Schmeicheley nothwendig in einem Charakter erzeugen. Sein Betragen war einfach und fein, doch zeigte es sich bey manchen kleinen Veranlassungen nur als erworbene Manier. Man näherte sich ihm, ohne jenes Vertrauen zu empfinden, welches nur eine schöne Natur, nur eine wohlwollende Seele einzuflößen im Stand ist. Die Neigung des Prinzen für Nordheim äußerte sich lebhaft; man fühlte, wie er nach seiner Achtung rang, und Beyfall oder Tadel in seinen Augen zu lesen strebte.
Während die Herren sich in den entfernteren Gartenanlagen umsahen, [263] ging die Gräfin auf ihr Zimmer, und bat mich, sie zu begleiten. Sobald wir allein waren, sagte sie: Liebes Mädchen, unter Menschen, die sich nicht fremdartig, vielmehr durch gleiche Liebe zum Schönen und Guten mit einander verschwistert sind, kommt früh oder spät ein Moment der innigeren Annäherung, wenn sich nicht feindselige Verhältnisse dazwischen legen. Ich wollte jenen Moment unter uns erwarten, denn es ist mit der Neigung wie mit gewissen Früchten, die, wenn sie auf den rechten Punkt der Reise gekommen sind, uns von selbst am schönsten zufallen. Das Gewebe sonderbarer Mißverständnisse, welches zwischen uns zu entstehen droht, änderte meinen [264] Entschluß. Ich fühle es, bestes Kind, meine geübtere Hand muß diese verworrnen Fäden trennen, und unsern Gemüthern die schöne Lauterkeit und Klarheit erhalten, für die wir beide gebohren sind. O Agnes, das Leben ist kurz, und wir verlieren den größten Theil desselben durch Mißverständnisse. Nicht nur wünschte ich mir, jeden Vorwurf über dein Schicksal zu ersparen, holdes Kind, sondern vielmehr die süße Beruhigung in der Seele zu tragen, daß ich ein liebenswürdiges Gemüth vor dem Unfrieden mit sich selbst bewahrte. Ich forsche nicht nach den Geheimnissen des Herzens, aber von mir nimm die Versicherung, daß ich Nordheim nie besitzen kann.
[265] In ungünstigen Verhältnissen verblühte die Jugend meines Lebens – meines Herzens; ich rettete nur Trümmer, und diese können das volle Glück eines Mannes nicht machen, der selbst die schöne Grazie eines jugendlichen Empfindens bewahrte. Ich läugne es nicht, ich halte es für ein beneidenswerthes Loos, in der innigsten ruhigsten Verbindung mit dem liebenswürdigsten Manne zu leben; – aber die Offenherzigkeit dieses Geständnisses kann dir auch, wenn du und ich anders dessen bedürfen sollten, die Wahrheit meiner Zusicherung verbürgen. Liebe Seele, sagte sie sanft, und zog mich an ihre Brust, bleibe dir selbst klar, du hast ihn geliebt; und wenn man ihn einmahl[266] geliebt hat, – kann man sein Herz von ihm wieder losreißen? Meine Lage war unglücklich und sonderbar, und meine Gemüthsstimmung wurde es auch. Der freie schöne Blick ins Leben ging früh für mich verloren; ich habe meinem eigenen Herzen Schulden abzubüßen, und nur in strenger Wachsamkeit auf mich selbst bewahre ich meinen innren Frieden. Mein Daseyn ist Kampf und Arbeit. Jetzt genug, Liebe, verlaß mich, und glaube sicher, daß ich deinem Glücke nicht im Wege stehe.
Ich sank stumm in Amaliens Arme; ihre Worte hatten mein Innres ergriffen, und Achtung und Mitleid füllten meine Brust.
[267] Mehr noch als ihre Worte, hatte ein unaussprechlicher Ausdruck des tiefen Leidens, der mir in ihren Zügen zum erstenmahl erschien, meine Seele in inniger Neigung gegen sie eröfnet. Unter der Herrschaft der Weltsitte hatte sie sich gewöhnt, einen Schleier des leichten Muthes um ihren Gram zu ziehen, der ihr in diesem Augenblick der herzlichen Vertraulichkeit entfiel.
Arme Amalia! sagte ich in dem tiefsten Herzen, aus welcher schmerzlichen Verwirrung sich unser Schicksal lösen soll, fasse ich noch nicht!
Die Herren kamen bald von ihrem Spatziergang zurück, und die Gesellschaft versammelte sich zum Thee. Der Prinz sprach mit Offenheit über [268] seine gegenwärtigen und künftigen Verhältnisse. Ich hoffe, sagte er, in solch einem geistvollen Cirkel ein guter Mensch zu bleiben, und Erhohlung und Lebensgenuß nach erfülltem Beruf unter Ihnen zu finden. Ich hoffe, fuhr er fort, auch meine Schwester wird von Ihnen werth gefunden werden, das Vergnügen Ihrer Gesellschaft zu theilen. Sie ist ein gutes liebenswürdiges Geschöpf, und mein Hof wird, durch die Grazie ihres Umgangs belebt, eine lieblichere Gestalt gewinnen. Er zeigte der Gräfin ein Portrait der Prinzessin, und hernach auch Elisen und mir. Mit welcher Gewalt ergriffen mich diese Züge! Eine dunkle Rückerinnerung an die Gestalt meiner Mutter [269] erwachte in meiner Seele; – ich bebte, erröthete, und verbarg meine Bewegung nur mit der größten Anstrengung vor den Augen der Gesellschaft. Der Prinz, welcher mir am nächsten stand, suchte mich mit seinem forschenden Blick zu durchschauen. Solche sanfte liebliche Formen, wie auf diesem Bildniß der Prinzessin, dichtete sich meine Fantasie zu dem zarten feurigen Blick meiner Mutter, der mir immer vor der Seele schwebte, so wie die reinen Verhältnisse ihrer Gestalt.
Nordheim gab bey seiner jedesmahligen Ankunft den Landleuten ein kleines Fest. Dieser Abend war dazu bestimmt, und der Prinz wünschte ein Zuschauer zu seyn. In der Mitte [270] des Dorfes war ein Rasenplatz für die Tänzer, hohe Linden überschatteten ihn, an beyden Seiten waren Tische mit Speisen und Getränke bereitet, und rings herum Bänke für die Zuschauer. Die fröhlichen selbstgenügsamen Gesichter der Eltern, und die starke markige Jugend, die sich gleichsam der Fülle ihrer Kräfte im raschen Tanz entlastete; alles zeugte von einem sichern ruhigen Wohlstand. Das bescheidne Betragen des größern Theils und seine Mäßigkeit in der Freude bewies, daß diese Göttin hier keine seltene Erscheinung sey. Wir mischten uns in den kunstlosen Tanz. Nordheim bot mir die Hand. In welchen süßen einzigen Klang der Liebe löste sich gleichsam mein ganzes [271] Wesen auf, als ich von seinen Armen umschlossen, unter dem klaren weiten Himmel dahin flog. Als der Schwindel des Tanzes meine Sinnen ergriff, und Bäume und Menschen um mich her anfingen sich zu drehen und zu schwanken, dann war mirs nicht anders, als trügen uns die lauen lieblichen Frühlingslüfte empor ins gränzenlose Blau des Himmels, wo irgend eine schöne Insel sich niedersenken und uns aufnehmen werde. Ich bebte als wir aufhörten zu drehen; er setzte sich neben mich; Himmel, Luft und Menschen, alles war so heilig und liebevoll um mich her, und sein Blick so voll göttlicher Reinheit auf mich gerichtet.
[272] Julius näherte sich uns, und er stieg auf, um ihm Platz zu machen. Ein Schatten der Trauer schien über das himmlische Bild zu schweben, während sein Blick mit einem Ausdruck süßer Neigung sich von mir losriß, als wollte er mir sagen: »Und du willst nicht die Freude deines Lebens an meinem Herzen suchen?« Mir dünkte, ich könne dem Drang meines Herzens nicht mehr widerstehen, müßte dem Geliebten nacheilen, und ihm sagen: »Du bist meine süßeste heiligste Liebe!« Als ich mich durch Schaam und Anstand gebunden fühlte, zuckte ein verwundender Schmerz gleich einem schneidenden Stahl durch mei nen Busen.
Ich mußte mit dem Prinzen walzen, [273] und es war mir erwünscht, meine Gefühle im Tanz zu zerstreuen, wenigstens zu verbergen. Ich gerieth in eine andere Verlegenheit. Als wir einigemahl rasch um die Linden herum geflogen waren, und in dem Zirkel der Tänzer nun langsam mit fortgingen, faßte der Prinz meine Hand, die in der seinen lag, fester, und sagte: Darf ich eine Frage an Sie thun, liebes Mädchen? Woher entstand die sonderbare Bewegung, mit welcher Sie heute das Portrait meiner Schwester betrachteten?
Ich war in quälender Verlegenheit, und suchte vergebens nach einer passenden Antwort.
Der Prinz fühlte es, und fuhr [274] fort: Ich schweige, meine Beste; ich habe Ihr Vertrauen noch nicht verdient, und war unbescheiden mit meiner Zudringlichkeit. Verzeihen Sie, ich hoffe wir lernen uns besser kennen.
In Wahrheit, gnädigster Herr, sagte ich etwas gefaßt, es giebt so manche Dinge, die wichtig für ein Mädchen wie mich sind, und die nur Kleinigkeiten für Sie seyn könnten, daß ich mich schämen würde, Sie damit zu belästigen.
Alles, was in so einem holden guten Herzen vorgeht, wird nie unbedeutend für mich seyn, sagte der Prinz lebhaft. Glücklich wäre der Bruder, wenn der zarte Antheil, welchen Sie der Schwester schenkten,[275] auch auf eine günstige Stimmung für ihn deutete!
Wir wurden aufs neue in den Wirbel des Tanzes mit fortgerissen, und ich konnte nichts antworten. Ich fühlte, daß er meine Bewegung beym Anblick des Bildes für sich auslegte. Durch meine einfache Erziehung, und durch frühe ernste Geistesbeschäftigungen war ich beynahe ganz unbekannt mit dem System der weiblichen Eroberungssucht geblieben, und der Ausdruck des Wohlwollens für Männer und Weiber hatte bey mir dieselbe Farbe, um so mehr seit meine zärtliche Neigung ausschließend für einen Einzigen sprach.
Ich dachte mir also keinen andern Sinn in den Worten des Prinzen, [276] als daß er mir wohlwolle, und meine Freundschaft wünsche.
Während des Tanzes fiel mir die große Ähnlichkeit seiner eignen Züge mit dem Bildnisse seiner Schwester erst recht auf, und das Andenken meiner geliebten Mutter, welches sich auf eine sonderbare geheimnißvolle Art mit jenem Bildniß verwebt hatte, gab meinem ganzen Wesen eine Stimmung zur Zärtlichkeit, welche den Prinzen in seinem Irrthum unterhielt. Er schloß mich während des Tanzes fest an seine Brust, seine Augen und sein ganzes Betragen verriethen eine Gluth der aufgeregten Sinne, die mich scheu und' verschlossen machte, und mein Gemüth endlich in Widerwillen von ihm abwendete.
[277] Das Nachtessen wurde in einer Laube von frischen Tannenzweigen aufgetragen, welche zierlich erleuchtet war. Die Tafel war mit den schönsten Blumen des Frühjahrs geschmückt. Der Abend war lieblich. In dem ganzen Ton des kleinen Festes herrschte eine schöne Einfalt. Die ländliche Musik, oft von den frohen Jubeltönen kunstloser Freude begleitet, stimmte das Herz zu reiner Fröhlichkeit, weil es rings um sich her mitgenießende Wesen wahrnahm.
In allen Anordnungen fand ich das wohlwollende Herz meines Geliebten. Er selbst war nicht heiter. Der Prinz ging den ganzen Abend hindurch nicht von meiner Seite, und [278] mir dünkte, Nordheim vermied, sich uns zu nähern, aber er beobachtete mich von fern, und selten, wenn meine Augen ihn suchten, fehlte mir sein lieber Blick.
Auch Julius war still und traurig. Ich konnte in dieser Situation nicht ruhig bleiben. Die leiseste schmerzliche Empfindung, die meine Freunde durch mein Betragen erfahren konnten, fiel auf mein eignes Herz zurück.
Mit Vergnügen sah ich die Pferde des Prinzen vorführen. Die Gräfin und die ganze Gesellschaft mußten dem Prinzen versprechen, in den nächsten Tagen in D. gegenwärtig zu seyn, um ihm die Langeweile des Hofes erträglich zu machen. Beym [279] Abschied führte er mich, so sehr es der Anstand litt, bey Seite, und flüsterte mir ins Ohr: Wenden Sie sich nicht von mir, süßes Mädchen, und verzeihen Sie es meiner angebohrnen Raschheit, wenn ich die schöne Blüthe im Sturm zu erobern wähnte, die, ich fühl' es, nur durch süße Sorge und Treue zu gewinnen ist.
Es war eine schöne mondhelle Nacht; die Herren begleiteten den Prinzen. Nach einem kleinen Spatziergang mit Elisen und Bettinen, den ich dazu anwendete, um die von Charles bestimmte Gartenhecke genau zu bemerken, eilten wir in unsre Zimmer. Als ich Bettina gute Nacht gab, sagte sie mit einem sanftschwärmenden [280] Ton: Zum erstenmahl sieht mich der Mond und die Sterne als deine Freundin, und sie sollen mich immer so sehen, so lang ich unter ihrem glänzenden Angesicht wandle! Die Neigung des guten Geschöpfs hatte ganz das Mädchenhaftscheue und Geheimnißvolle der ersten Liebe. Ein heftiges, lang verhaltenes Gefühl ihres Wesens fand auf einmahl in der Freundschaft für mich einen Ausdruck, in welchem es die ganze Kraft seines ahndungsvollen Verlangens auszuhauchen vermochte.
Unter dem Vorwand, daß ich sehr ermüdet wäre, und mich schlafen zu legen wünsche, hatte ich Elisen aus meinem Zimmer entfernt, um mich zu meiner nächtlichen Wanderschaft [281] vorzubereiten. Die Herren waren gegen eilf Uhr zurück gekommen, im ganzen Schloß herrschte tiefe Stille, und ich erwartete die Stunde der Mitternacht, um in den Garten zu eilen.
Unter allen Szenen des vergangenen Tages hatte die Erklärung der Gräfin am tiefsten auf mich gewirkt. Die erste Jugendliebe will ein Ganzes besitzen, wie sie ein Ganzes giebt; sie versteht es nicht, sich mit Verhältnissen abzufinden, die nur einen einseitigen Genuß gewähren. Die Liebe der Gräfin für Nordheim, das Mitleid für sie, und die Unfähigkeit meines Gemüths, durch den Verlust eines andern zu genießen, dieses alles brachte mich in eine verwirrtere [282] Stimmung, als ich noch je gekannt hatte. Das ununterbrochene Zusammenseyn mit Nordheim nährte auf der andern Seite die Lebhaftigkeit meiner Neigung. Die Liebenswürdigkeit seines Wesens zeigte sich in jeder veränderten Stellung der äußern Lage, in immer neuer Grazie, und mein ganzes Daseyn war Liebe für ihn.
Als die Glocke zwölf schlug, nahm ich eine kleine Handlaterne, und eilte zu der bestimmten Gartenhecke. Ich hatte meine Gestalt so sehr als möglich verhüllt, und hoffte unerkannt zu bleiben, im Fall mir jemand begegnen sollte. Mit Mühe fand ich durch die verworrenen Gänge des alten Gebäudes den Weg zur Gartenthüre. [283] Charles erwartete mich schon, nahm meinen Brief in Empfang, und verließ mich schnell, weil er befürchtete überrascht zu werden. Dringend empfahl er mir noch beym Abschied die größte Vorsichtigkeit im Nahmen meiner Mutter. Der leiseste Verdacht auf unser Verhältniß, sagte er, könnte uns aller Freuden der Zukunft berauben, und meine Mutter selbst lege sich die schmerzliche Trennung von mir auf, um unserer künftigen Zufriedenheit willen. Beym Rückwege durch den Garten verlöschte der Wind mein Licht. Mühsam schlich ich mich durch die unerleuchteten Gänge, und suchte die Treppe, welche zu meinem Zimmer führte. Ich half mir mit den Händen [284] an einer Wand fort, und glaubte am Ende der Gallerie die Treppe zu finden. Ich fühlte, daß ich an mehreren Thüren vorbey kam, und die Furcht, mich durch irgend ein Geräusch zu verrathen, brachte mich in die peinlichste Lage. Innerhalb der Zimmer vernahm ich jedoch keine Bewegungen, und tröstete mich mit dem Gedanken, sie seyen unbewohnt, oder ihre Bewohner liegen im tiefen Schlafe. Eben schlich ich an einer Thüre vorbey, als sie sich heftig gegen mich öfnete, und mich zu Boden schlug. Der Schrecken des Falles und der gefürchteten Entdeckung nahmen mir die Besinnungskraft. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich auf einem Lehnsessel, und Julius [285] mit einem Licht in der Hand, neben mir stehend.
Wie ist Ihnen, meine Agnes? fragte er besorgt. – O, daß ich die Thüre so ungestüm öfnen mußte! Aber wer konnte auch denken, Sie hier zu finden! Die Furcht, in Julius Zimmer angetroffen zu werden, gab mir schnell meine Kräfte wieder. Ich verirrte mich ... es war ein Irrthum ... stammelte ich verlegen und ungeschickt, zündete meine Laterne an, und eilte mich zu entfernen. Lassen Sie mich Sie nur die Treppe hinauf begleiten, ich fürchte Sie haben durch den Fall gelitten, sagte Julius. Zum erstenmahl sah ich in seinem so reinen liebenden Blick eine Spur des Mißtrauens,[286] und fürchtete meine Weigerungen möchten eine noch schlimmere Wirkung auf ihn haben. Ich duldete also schweigend seine Begleitung, weil die Furcht, einen Freund zu beleidigen, alle andern Rücksichten verdrängte. Eilen Sie, Julius, ich beschwöre Sie, bat ich, daß wir nicht gesehen werden.
Mein geheimnißvolles Wesen schien ihm unbegreiflich, doch erfüllte er meine Bitte, ließ sein Licht zurück, und faßte mich unter dem Arm, mich zu unterstützen. Kaum waren wir einige Schritte von Julius Zimmer entfernt, als Nordheim dicht vor uns stand. Er war die Treppe herab gekommen, und es war unmöglich ihm auszuweichen; er hielt ein [287] Licht, trat ein paar Schritte zurück, als er mich erblickte, und nie erschütterte ein Blick so meine Seele, als der seine in diesem Moment. Gern wäre ich zu seinen Füßen gesunken, aber weibliche Verlegenheit hielt mich starr und bewegungslos am Boden gekettet.
Die Furcht verkannt zu werden, und Stolz, der es seiner unwerth fand, sich zu entschuldigen, fesselten alle meine Gedanken und Bewegungen. Ich hatte in diesem Moment eine Ahndung des Zustandes jener Wesen aus der Fabelwelt, die ihre Lebenskraft in einer Felsenmasse erstarren fühlen.
Nordheim hatte schnell seine Besonnenheit wieder, ging an mir vorbey, [288] als bemerkte er mich gar nicht, und sagte zu Julius: Erlauben Sie mir einen Augenblick in Ihrem Zimmer zu verweilen. Es geschieht, um Ihnen die Freiheit zu lassen, mit dieser Dame durch mein Kabinet zu gehen, aus welchem Sie sogleich auf den großen Saal kommen, und schneller und unbemerkter zu ihrem Zimmer gelangen können. Verweilen Sie nur wenige Minuten in meinem Kabinet, um meinem Kammerdiener nicht auf der Gallerie zu begegnen.
Ich war auf das schmerzlichste bewegt, und konnte Nordheim nichts sagen; er war eilends in Julius Zimmer gegangen, und hatte die Thüre hinter sich zugemacht. Lassen [289] Sie mich allein gehen! rief ich schmerzlich. Ach Julius, lassen Sie mich, wie kann ich solche Kränkungen ertragen! – Julius selbst schien verwirrt und nachdenklich, aber seine zarte Liebe verläugnete sich keinen Augenblick.
Ich verlasse Sie, sagte er sanft, weil Sie es wollen. Beruhigen Sie sich, beste Agnes, Nordheim soll in keinem Zweifel über Sie bleiben. Seyn Sie ruhig, und genießen des Schlafes. Er drückte meinen Arm sanft an seine Brust, und küßte meine Locken, die über das Gewand zerstreut lagen. Ich eilte davon, so sehr es mir der Schmerz an meinem Fuß erlaubte, der durch den Fall gelitten hatte. Ich war in Nordheims [290] Kabinet, Liebe durchdrang mein ganzes Wesen, goldne Bilder webten sich vor meinen Sinn. Hier wird er ruhen, sagte ich mir. Eine Lampe brannte, mir dünkte die Harmonien unsichtbarer Genien um seine Lagerstatt zu vernehmen. – O möchte ihm ein Traum das reine unentweihte Bild der armen Agnes zeigen! Mit Gewalt mußte ich mich dieser Zauberluft entreißen, sie hatte mit einer freundlichen Magie alle Verwirrung in meinem Busen aufgelöst, die in der Einsamkeit meines Zimmers aufs neue erwachte, und den Schlaf von meinen Sinnen verscheuchte. Ich habe die Achtung des edelsten, geliebten Mannes verloren, er muß mich für ein leichtsinniges [291] Geschöpf halten, das sich selbst vergessend, die zarten Verhältnisse überschreitet, ... das von Leidenschaft hingerissen ... Ich wagte es nicht auszudenken, nicht mich selbst anzuschauen mit diesen quälenden Vorstellungen.
Wird nicht jede Ausrede, die ich nehmen könnte, Nordheimen auch nur eine Ausrede dünken? und muß ich nicht die Wahrheit verschweigen, muß ein Opfer der unglücklichen Stellung der Umstände werden, die die Reinheit meines Charakters in seinen Augen beflecken!
Es wird eine Zeit kommen, sagte mir ein milder tröstender Genius, wo du dein Innres entschleyern darfst, wo du von jedem Schatten des Verdachtes [292] gereinigt, vor Nordheim erscheinen wirst.
Die glückliche Spannkraft des Gemüths in der Jugend, wo das volle rege Leben der Einbildungskraft die Bilder der Zukunft mit der Gegenwart leicht und vielfach vermischt, half mir jenen bittern Schmerz, von meinem Geliebten verkannt zu seyn, nicht besiegen, aber wohl ertragen. Gleichwohl fühlte ich, es sey etwas in meiner innern Existenz zerrissen, da ich die erste Ungerechtigkeit des Schicksals erfuhr, indem ich unschuldig litt. Ich scheute mich, mich selbst anzusehen, als der Tag anbrach; mein unbefangenes frohes Daseyn fand ich nicht wieder, aber eine Kraft zu leiden durchdrang meinen Busen, [293] die ich noch nicht geahndet hatte. Ich schien mir um zehn Jahre älter an Erfahrung, und ein konzentrirteres Daseyn schien mein Wesen auf der einen Seite zu umschränken, auf der andern es in seinem Innern fester und sicherer zu gründen.
Elise kam zu mir zum Frühstück, aber ihre Augen, sonst so lieb und traulich, schienen mir, von meinem eigenen Mißtrauen gefärbt, nur forschend, sogar beleidigend.
Ach so gewiß entflieht die Liebe mit der Unschuld, da sie schon vor einem täuschenden Schatten der Schuld entweicht! Ich schützte Geschäfte vor, um allein zu bleiben, und las in einem meiner Lieblingsschriftsteller. Es war mir beruhigend, mich in [294] die Gedankenwelt zu flüchten, da die Welt der Empfindungen mein Herz so tief verwundete! Die ruhige Geschäftigkeit unserer Denkkraft ist dem leidenden Gemüthe, was ein stärkendes Bad dem ermüdeten Körper ist. Ein labender Quell spühlet alles Beängstigende aus unsern Vorstellungen hinweg, und wir empfangen, uns selbst unbewußt, mit dieser Stärkung des geistigen Vermögens, auch eine freyere Ansicht unserer äußern Lebensverhältnisse.
Elise kam nach einigen Stunden mit verweinten Augen in mein Zimmer. Sie schloß mich mit ungewohnter Heftigkeit in ihre Arme, und rief mit einem süßen Ausdruck der Liebe und Unschuld aus: Nein, das wird [295] mich niemand auf der Welt überreden, daß meine Agnes so fehlen kann! Guter lieber Engel, sagte sie, indem sie ihre Hand sanft an meine Wangen legte, du dich verstellen können, du unwahr und falsch seyn! aber welche fatalen Umstände zwangen dich ... – Was redest du, liebes Mädchen, fragte ich bewegt, wer beschuldigt mich der Falschheit? – Ich sollte dir schweigen, mußte selbst meinem Alban versprechen, daß ich es wollte, fuhr sie fort, aber ich vermag es nicht, und ich will es nicht vermögen! Als ich von dir ging, wollte ich auf den Balkon im großen Saal, der Morgenluft genießen, und fand die beyden Albans in heftigem Wortwechsel auf- und [296] abgehen. Beyde grüßten mich mit so verstörten Gesichtern, daß ich meinen Alban fragte, was geschehen sey.
Wir streiten über Agnes, sagte er mir, und ihre sonderbare geheimnißvolle Aufführung .... – Die wir, eben weil sie geheimnißvoll ist, nicht tadeln können, erwiederte Julius... – Aber die wir auch nicht ehren sollen, bis wir sie kennen, sagte mein Alban mit großer Heftigkeit, nicht mit einem unauflöslichen Band in unsere eignen Verhältnisse verflechten, und zu unserer eignen Schande machen müssen. – Bruder, nur du darfst mir dieses ungestraft sagen, rief Julius, und verbiß seinen glühenden Unmuth. Ich bat um Erläuterung über den Anlaß zu diesem Streit, [297] und Julius erzählte mir den Vorfall der gestrigen Nacht. Und bemerken Sie, Elise, sagte mein Alban, daß ich um dieselbige Stunde aus meinen Fenstern, die auf den Garten gehen, eine vermummte weibliche Gestalt durch denselben hereinkommen sah, die ihr Licht auslöschte, als sie sich dem Schloß näherte. Wenige Minuten nach ihr kam aus einem kleinen Pavillon am Ende des Gartens Herr von Nordheim, den ich ganz deutlich erkennen konnte, weil er ein Licht trug.
Erzähle nun weiter, Nordheims Anmuthung ... – Das ist alles nichts beweisend, fiel Julius ein, gegen Personen, für die man lang verdiente Achtung hegte. – Das ist der Fall [298] bey Agnes, aber Nordheim kennen wir persönlich seit wenigen Tagen, und können über seine Sitten nicht urtheilen, fiel Alban ein. Männer von so entschiedenen Verdiensten haben eine Toleranz vom Publikum zu erwarten, die sie selten vergessen in Anschlag zu nehmen. Über das Betragen gegen die Weiber herrschen sehr schwankende Maximen in der Welt, und daß Nordheim nicht unter diejenigen gehört, die sich streng an die einmahl eingeführte Regel binden, das zeigt er durch sein Verhältniß mit der Gräfin. Er ist zartfühlend, und das Mitleid für ein liebenswürdiges Mädchen wie Agnes, könnte ihn leicht bewegen, sie auf deine Unkosten aus einer Verlegenheit [299] zu ziehen, da er deine Liebe für sie kennt. Undankbar ist es wenigstens nicht. Menschen, die viel Verkehr mit der politischen Welt haben, gewöhnen sich leicht, alles was sie umgiebt, für Schachsteine anzusehen, die sie nach ihren Bedürfnissen hin und wieder schieben können. Nun bat er Julius, mir den Vorgang mit Nordheim zu erzählen, um mich selbst urtheilen zu lassen.
Als ich in mein Zimmer zurückkam, begann Julius, kam mir Nordheim mit ernster Miene entgegen, und sagte: Herr von Alban, ohne meine Erinnerung werden Sie wissen, was ein Mann von Ehre zu thun hat, wenn er ein liebenswürdiges Mädchen in den Fall setzte, [300] Schwachheiten für ihn zu zeigen. Ich traue Ihnen zu viel Charakter zu, um zu befürchten, daß Sie sich durch eine Laune des Herzens berechtigt hielten, Opfer anzunehmen, die ein weibliches Herz nur der treuen festen Neigung ohne Schaden bringen kann. Wenn Sie wahrhaft lieben, bedürfen Sie keiner Erinnerung, aber sollten Sie derselben bedürfen, so bin ich nicht der Mann, in dessen Angesicht man die sanfte Hingebung eines weichen Herzens ungerügt mißbraucht.
Julius sagte ihm, daß er sich irre, daß er aus einem ganz unvermutheten Zusammentreffen falsche Folgerungen ziehe, daß du, meine Agnes, einet leichtsinnigen Schwachheit [301] so unfähig seyst, als er selbst der Verführung. Die Unbesonnenheit, die er mit dem verrufenen Zimmer im Comödienhause begangen, und über die er seit einigen Tagen Gelegenheit gesucht, sich gegen ihn zu erklären, mit dem Zufall in dieser Nacht zusammen genommen, könnten natürlich Verdacht bey Nordheim erregen; – aber daß er ungegründet sey, versichere er ihn bey seiner Ehre, und hoffe es zu beweisen.
Elise gab mir hier zuerst Nachricht von jenem Vorfall, welchen ich früher anführte, der mich in nicht geringe Verlegenheit brachte, aber auf der andern Seite doch auch über Nordheims ungleiches Betragen beruhigte.
[302] Nordheim sey unüberzeugt geblieben, sagte mir Elise ferner. Mit Augen voll Unwillens, und mit verbissenen Lippen habe er lang geschwiegen, und dann zu Junus gesagt: Was soll ich von Ihnen denken? Ich hoffe nur aus jener, der wahren Liebe so natürlichen Feinheit wünschen Sie Ihr Glück profanen Augen zu verbergen. Aber Sie thun mir Unrecht. Ich habe kein gefühlloses Herz für die Verirrungen einer jugendlichen Neigung. Es hängt nur von Ihrem fernern Betragen ab, ob ich Sie tadeln, oder Ihnen aufrichtig Glück wünschen soll. Das Glück muß den Blüthen des Genusses folgen, sonst fällt mit diesen Blüthen die beste Kraft unsers Wesens ab. [303] Was bleibt, bey den einmahl festgestellten Verhältnissen, einem armen Mädchen, die mehr Zärtlichkeit als Klugheit besaß, anders, als bittre Reue? Und wenn wir nicht entartet sind, was kann uns bleiben, als der Unfrieden eines Räubers?
Julius wiederholte ihm von neuem, daß sein Verhältniß mit dir ganz und gar nicht von der Art sey, wie er es wähne.
Herr von Alban, Sie werden wissen und fühlen, was Sie zu thun haben, erwiederte Nordheim mit Heftigkeit. Nur noch eins erlauben Sie mir zu sagen, da ich Ihre Familienverhältnisse ganz und gar nicht kenne, und nicht weiß, wie sehr Sie darauf Rücksicht zu nehmen haben. – [304] Als ein vertrauter Freund des Pflegevaters Ihrer Geliebten, verspreche ich Ihnen, daß Sie über ihre Geburt, wenn es möglich ist, Aufklärung erhalten sollen. Sollte es unmöglich seyn, Ihre Wünsche über diesen Punkt zu befriedigen, so neh men Sie von mir die Versicherung an, daß Agnes in einen Stand erhoben werden soll, der ihre Existenz in D. glänzend machen wird. Auch soll sie ihrer Familie ein Vermögen hinterlassen, das ihren Enkeln den Verlust der Ahnen ersetzen kann.
Julius antwortete: wenn er dich glücklich machen könnte, so bedürfe er keines fremden Motivs, dich zu heurathen, als seiner Liebe. Aber er sey nie gewohnt, nach andern [305] Gesetzen zu handeln, als nach denen, die ihm sein eigenes Herz vorschriebe. Für heute nichts mehr, sagte Nordheim mit unterdrücktem Unwillen. Ich hoffe, Sie sind morgen einig mit mir, dem lieben Mädchen alles Erröthen zu ersparen. Wo nicht, – so kenne ich meine Pflicht, die Unschuld in meinem Hause vor jeder Beleidigung zu beschützen.
Ich vermuthe, es fielen noch mehrere Anzüglichkeiten unter ihnen vor. Julius hat nach der Stadt geschickt, um seine Pferde kommen zu lassen; sein Reitknecht hält am Schloßthor, auch höre ich, daß er ein Billet für Nordheim zurück zu lassen gedenkt.
Julius ist voll Liebe für meine [306] Agnes, voll Glauben an ihre reine Sitten, und wünschte nichts eifriger, als dir seine Hand zu geben, nachdem er Nordheim überzeugt haben würde, daß einzig der Wunsch seines Herzens eine Verbindung zwischen euch schließe. Mein Alban ist heftig dagegen, bis du dich über die Geschichte der vergangenen Nacht gerechtfertigt hättest. Er fürchtet, Nordheim liebe dich selbst, wolle aber wegen seines Verhältnisses mit der Gräfin nicht heurathen, und wünsche dir durch eine Verbindung mit Julius ein bleibendes Etablissement in D. zu verschaffen. Auch die Neigung des Prinzen für dich, die sich gestern Abend so lebhaft äußerte, erregte Verdacht bey ihm. [307] O was für unselige Umstände mußten zusammentreffen, um dieses Mißtrauen in dem edlen Herzen meines Albans zu erzeugen! Elise sank an meine Brust und weinte heftig. Beste Agnes! rief sie aus, ich beschwöre dich, löse diese schmerzliche Verwirrung durch ein offenherziges Geständniß. Du kannst keine Schuld haben! und ach! die halbe Freude meines Lebens ist dahin, wenn mich der Argwohn Albans von dir trennt.
Die treue Liebe des guten Mädchens stillte gleich einem labenden Thau die Glut der Verwirrung in meinem Innern. Wie friedebringend und wie achtungswerth ist der stille Sinn, der die Gestalten seiner Liebe fest und rein zu bewahren vermag, [308] in jenem Gewirre ungünstiger Verhältnisse!
Du vertraust meiner Unschuld mit Recht, liebstes Kind, sagte ich Elisen. Ich verdiene deine Freundschaft, und du sollst ewig die meinige besitzen. Aber wir müssen jetzt vor allen Dingen suchen, den Irrthum zwischen den zwey lieben Männern aufzuklären. Sage Julius, daß ich ihn vor seiner Abreise zu sprechen wünsche, und ich will Nordheim bitten lassen, auf einen Augenblick in mein Zimmer zu kommen.
In kurzem erschienen sie beyde zugleich, und waren etwas verwundert, einander anzutreffen. Ich suchte alle Verlegenheit zu überwinden, nahm Nordheims und Julius Hand, [309] und sagte: Da ich die unglückliche Ursache eines Mißverständnisses zwischen zwey edlen Gemüthern bin, so wünsche ich, sie auch wieder zu vereinen.
Sie thun mir Unrecht, Herr von Nordheim, wenn Sie an meinen Sitten zweifeln: – ich muß und will es ohne Vertheidigung dulden, aber wenn Sie auch keinen Glauben an mich fassen konnten, hätten Sie nicht das Andenken an meinen Vater in Hohenfels zu Hülfe rufen können? Sollte die Kraft zum Rechten und Guten so schnell in einem Gemüthe verblühen, das durch seine Pflege gebildet wurde? Herr von Alban hat sich immer als ein edler großmüthiger Freund gegen mich betragen, [310] und eben darum könnte ich seine Hand nicht annehmen, da ich keinem Freunde eine Frau zu geben wünschte, deren Verhältnisse sie vielleicht zuweilen nöthigen könnten, den Anstand der Pflicht aufzuopfern. Auch ich, für mich, bin ganz und gar nicht in der Lage, für jetzt an eine solche, Verbindung zu denken. –
Und nun, meine theuren Freunde, geben Sie mir die Ruhe wieder durch die Gewißheit, daß kein Zweifel mehr zwischen Ihnen Statt haben kann. Das Schicksal eines unbedeutenden Mädchens soll nicht edle Männer entzweyen, die bestimmt sind, sich zu schönen Thaten zu vereinigen.
Nordheim und Julius waren bewegt. [311] O wer, rief Nordheim aus, wer würde nicht von dieser Sprache der Unschuld und Wahrheit, selbst gegen das Zeugniß seiner eigenen Sinne hingerissen! Herr von Alban, sagte er, indem er Julius die Hand zur Versöhnung bot, wenn ich Sie durch Mißtrauen beleidigte, so verzeihen Sie es der Sorge für dieses liebenswürdige Kind, und helfen Sie mir auch von ihr Verzeihung erbitten! Julius faßte Nordheims Hand, und ich drückte die beyden lieben vereinten Hände herzlich an meine Brust. Meine Thränen flossen unaufhaltsam, mein tiefstes Wesen war aufgeregt von süßen, von schmerzlichen Empfindungen, ich mußte mich entfernen.
[312] Bettina benutzte einen günstigen Augenblick, wo sie mich allein im Garten fand. »Ich habe eine Bitte an Sie, sagte Sie mir leise. O bewegen Sie Herrn von Nordheim und die Gräfin, daß ich Sie in die Stadt begleiten darf! Ich weiß nicht, wie mich Ihr Anschaun so verwandelt hat, meine sonst so geliebte Einsamkeit scheint mir ein Grab. Ich fühle, wie wenig ich bin, aber zugleich den Muth, noch mehr zu werden. In welch kindischer Gedankenlosigkeit verstrichen meine Tage! Jetzt weiß ich, was ich werden möchte. Ein andres Daseyn steht mir so klar hier, (sie deutete mit dem Finger auf ihre Stirn) als wie die Gestalt dieser Blume vor mir steht, ob [313] sie gleich jetzt noch in der schwellenden grünen Knospe verborgen liegt. O ziehen Sie mich in Ihr Daseyn hinüber!« sagte sie mit dem sanftesten Ton.
Als ich Nordheim das Anliegen des guten Kindes vortrug, sagte er freundlich: Sie kommen meinen Wünschen zuvor. Bettina hat das Alter erreicht, in welchem nur der vertraute Umgang einer schönen weiblichen Seele ihre Bildung vollenden kann, denn sie hat nicht Kraft genug, durch sich selbst das rechte Gleichgewicht zu finden, aus welchem sich eine schöne Form zu entwickeln vermöchte. Die Mutter hat nur einzig in ihrem Talent und in ihren Reizen gelebt: seitdem sie mit [314] der Jugend diese Existenz verloren, ist sie in jene Erschlaffung und Dumpfheit versunken, mit der eine leere Seele immer in sich selbst zurückkehrt. Sie hat sich, in ihrem Wahn, dem Himmel, aber eigentlich den Träumen ihrer frühen Kindereinbildung zugewendet. Die todten Formen blieben in ihr liegen, weil keine Vernunft sie belebte oder hinwegräumte, und geben jetzt einen matten Trost. Beinah scheint mir die Furcht vor jeder Art von Gesellschaft, bey dieser Frau noch auf etwas mehr verschobenes im Gemüth zu deuten, als einzig auf das peinigende Gefühl der kleinen Eitelkeit, eine kleine Existenz überlebt zu haben. Sie sehen aus diesem allen, fuhr er fort, daß Sie [315] mir durch Ihre Güte für Bettina eine Sorge vom Herzen nehmen, ich will dem guten Geschöpfe herzlich wohl. Wie gern, beste Agnes, verdanke ich Ihnen dieses! Wie gern verdanke ich Ihnen alles! Er faßte meine Hand heftig, ließ sie aber im Augenblick wieder los, und entfernte sich.
Die Gräfin willigte sogleich in unsern Vorschlag wegen Bettina ein, und die Mutter wurde nunmehr befragt.
Nach einer halben Stunde kam Battista gelaufen, und rief: Meine Mutter wünscht die junge fremde Dame zu sprechen, welche so viel Güte gegen ihre Tochter bezeugt.
Das ist höchst sonderbar, sagte [316] Nordheim. Ich folgte Battista durch ein zierliches Blumengärtchen in das kleine Wohnhaus. Eine Frau von großer Gestalt und sehr feinen Gesichtszügen, in denen aber eine beunruhigende Lebhaftigkeit lag, empfing mich an der Treppe; sie schien verlegen, suchte dieß aber hinter einem kalten und steifen Anstand zu verbergen. Schweigend führte sie mich ins Zimmer, welches mit Verzierungen überladen war, und mehr für Nordheims Freigebigkeit, als für den guten Geschmack der Bewohnerin zeugte. Die Mutter befahl Battista, uns zu verlassen. Als wir allein waren, faßte sie meine beiden Hände, sah mir starr, doch freudig ins Gesicht, und rief: Ja, das ist [317] sie! das ist die Gestalt, die du mir als meine Beschützerin zeigtest, heilige Jungfrau! so schwebte sie aus goldnen Wolken zu mir hernieder; das sind dieselben blonden Locken, wie sie jenes himmlische Haupt umwallten. Ich erkenne das sanfte Lächeln wieder, welches die Hoheit der verklärten Züge milderte. Ja sie wird, sie muß mir helfen!
Ich war erschrocken, und wußte nichts zu sagen.
Sie faßte sich, saß einige Augenblicke mit beinah geschloßnen Augen neben mir, und fragte dann heftig: Welche von Ihnen beiden ist die Braut unsers guten Herrn, die Gräfin von Wildenfels oder Sie?
Ich antwortete, daß von keiner [318] Heurath des Herrn von Nordheim die Rede sey.
Die Gräfin ist es nicht? rief sie freudig, und Sie können es werden. O schönes gutes Mädchen, wie innig soll es mich freuen, Sie als die Gemahlin meines Beschützers zu verehren! Gewiß Sie machen einen sonderbaren Eindruck auf ihn! Nie sah ich ihn noch so himmlisch heiter, so sanft, so leuchtend möchte ich sagen von Leben und Freude, als wie er gestern neben Ihnen einherging. Innigst freute ich mich dieser Erscheinung, aber man sagte mir diesen Morgen, er werde seine Vermählung mit der Gräfin feiern. Es drang ein kalter Schauer durch meine Adern, Sie fühlen, ich habe mich [319] noch nicht vom Schrecken erhohlen können.
Die Reden des Weibes waren mir ein unbegreifliches Räthsel, aber immer bindet es uns mit einer gewissen magischen Gewalt selbst an das gleichgültigste Geschöpf, wenn wir den liebsten Wunsch unsrer Seele auch von seinen Lippen vernehmen.
Jetzt nahm sie ein verschloßnes Kästchen aus ihrem Schreibepult, ihre Hände zitterten, mit gen Himmel gerichteten Augen drückte sie das Kästchen an ihre Brust, und rief: Heilige Jungfrau! du selbst gebotest mir, ich folge deinem Wink, er kann mich nicht irre führen!
Starr richteten sich nun ihre Augen auf mich, indem sie fortfuhr: [320] Seit langen Jahren vertraute ich keinem menschlichen Wesen, und seit ich durch das Bekenntniß meiner Schuld von einem frommen Vater Vergebung empfing, seit dieser Zeit beschloß ich, mein Geheimniß auf ewig in meiner Brust zu begraben. Gleichwohl drängten sich mancherley Umstände, und meiner Kinder Schicksal foderte eine schmerzliche Eröfnung meines Herzens. Auf der andern Seite hieß mich auch manches schweigen. So rang ich mehrere Monathe nach einem Entschluß, und lebte im schmerzlichen Kampf. Ich flehte oft zur Mutter Gottes um einen leitenden Wink, endlich erschien sie mir im Traum, hielt eine Heilige an der Hand, und sagte zu mir: Dieser vertraue!
[321]Ich fühlte mich beruhigt, und wartete mit stillem Geist auf die Deutung dieses Gesichtes. Beim ersten Blick, den ich auf Sie warf, als Sie durch den Garten mit Herrn von Nordheim kamen, erkannte ich jene himmlische Traumgestalt. Um so mehr erschienen Sie mir als ein hülfreicher Engel zur schlimmsten Stunde der Noth, weil ich die Gräfin neben Ihnen erblickte. Sie werden dieses in der Folge verstehen. Ich sahe Sie noch oft lange und genau an, ohne von Ihnen bemerkt zu werden, und überzeugte mich ganz, daß ich mich nicht getäuscht hatte, als ich in Ihnen die versprochne Retterin zuerst erkannte. Die schwere Last fiel von meinem Herzen durch [322] diese augenscheinliche Hülfe des Himmels. Nun vertraue ich Ihnen mein und meiner Kinder Schicksal in den Papieren an, die dieses Kästchen enthält. Schwören Sie mir, daß unser Herr die Gräfin von Wildenfels nicht zum Altar führen soll, bevor Sie es eröfnet, ihr den Inhalt der Papiere verkündigt, und das Versprechen von ihr empfangen haben, daß sie für meine Kinder Sorge tragen will. Sind Sie die Braut, so werden Sie die Beschützerin meiner Kinder, und öfnen an Ihrem Hochzeittag das Kästchen. Herr von Nordheim wird dann um Ihrentwillen der Vater meiner Kinder bleiben, wie er es jetzt durch Güte und Sorge ist. Oft fühlte ich den Drang, meine [323] Seele vor ihm aufzuschließen, aber die Ehrfurcht hielt das Vertrauen gebunden.
So glaubte ich mir aus der schmerzlichen Verwirrung geholfen zu haben, fuhr sie fort, nachdem sie wenige Momente in Nachdenken versunken, unbeweglich vor mir stand. Schwören Sie mir nun, sagte sie feierlich, bei allem was Ihnen heilig ist, schwören Sie mir bey dem Allwissenden, meine Bitte zu erfüllen, und geben so einer Unglücklichen die Ruhe wieder!
Ihre Augen waren mit wildem schmerzlichen Verlangen auf mich geheftet, alle ihre Züge blieben wie erstarrt, und der Mund halb geöfnet. Ich gelobte die Erfüllung ihrer [324] Bitte, sofern sie in meinen Kräften stünde, indem ich den Allwissenden zum Zeugen anrief. Jetzt fiel sie mir zu Füßen, benetzte meine Hände mit Thränen, und pries sich selig, von dem bängsten Zustande befreit zu seyn. Ich suchte sie zu den gesunden wahren Gefühlen der Natur zurück zu führen, indem ich von dem Schicksal ihrer Tochter redete, und für sie Sorge zu tragen versprach. Mir dünkte, die Einsamkeit sey ihr schädlich, und werde sie am Ende ganz zur Schwärmerei führen, so wie dieses vielleicht bey jedem erfolgen muß, der sich nicht durch Beschäftigung des Verstandes im gehörigen Gleichgewicht zu erhalten weiß. Jeder braucht im gewissen Sinn das [325] Leben mit Andern, um seiner selbst gewiß zu werden, aber Menschen von schwachen Fähigkeiten denken allein mit den Worten und Formen, die sie von Andern empfangen.
Ich sprach von Entwürfen, auch die arme verstimmte Frau, so wie ihre Tochter, wieder in das gesellige Leben zu verflechten, aber sie sagte traurig lächelnd: Nein, die Nachtigallen sind im Winter unansehnliche lästige Thiere, ich will einsam bleiben, bis ich im Chor der Engel wieder singen kann.
Bettina sollte mir noch denselben Abend das geheimnißvolle Kästchen überliefern, ihre Mutter schien keinen vollkommenen Frieden zu finden, bis sie jedes sinnliche Zeichen [326] ihres schmerzlichen Geheimnisses von sich entfernt hatte.
Ich begegnete Nordheim und Julius als ich durch den Garten zurück ging. Sie schienen in einem vertraulichen Gespräch begriffen. Nordheim faßte meine Hand, und fragte: wie ich Madame Barsino gefunden?
Mir dünkt, sagte ich, ihr Gemüth bedürfe eines starken äußeren Anstoßes, um die tiefen Spuren der Vergangenheit wieder auf eine leichte Art mit der umgebenden Welt vermischen zu lernen.
Der Rest des Lebens, sagte Nordheim, muß nothwendig schaal seyn, wenn der Anfang nur der einseitigen Kultur eines Talents gewidmet war, dessen wir uns nur durch Andere [327] erfreuen können. Nur Geist und Liebe tragen Frucht in jeder Region des Lebens.
Wir standen an einer Bank, über welcher sich eine Laube wölbte. Nordheim hieß uns sitzen. Es war etwas zärtlicheres in seinem Betragen, als ich noch je wahrgenommen, und der Ton seiner Stimme wurde weicher und zärter, wenn er mit mir sprach.
Ist es der Wunsch, ein angethanes Unrecht vergessend zu machen? Ist es Liebe?
Dieser Zweifel bewegte meine Seele, aber lebendig drang die holde Erscheinung zu meinem Herzen. Julius, Nordheim und ich waren in der lebhaftesten Stimmung, nur abgebrochne [328] Worte hielten den Faden der Unterhaltung zusammen. Etwas Unaussprechliches, Unendliches füllte unsre Busen, glänzte in unsern Blicken, arm und leer schien jedes Wort, wir unterhielten uns von den entferntesten Dingen, um nur das nächste Gefühl unsers Herzens nicht zu verrathen. Der Wunsch, mit Nordheim allein zu seyn, wechselte mit einer sonderbaren Furcht vor einem entscheidenden Augenblick, in welchem ich das Geständniß seiner Liebe empfangen sollte, und Julius schien selbst so nach einer Gelegenheit zu suchen, uns mit Anstand zu verlassen, und nur aus Verlegenheit zu bleiben, daß ich nicht unzufrieden mit ihm seyn konnte. Ich[329] wünschte auch eigentlich seine Entfernung nur, weil ich fürchtete, es müsse ihn schmerzen, wenn er den vollen Ausdruck meiner Liebe gegen Nordheim als Augenzeuge empfände. Ich hätte ihn mit mir an der Brust meines Geliebten gewünscht, selig mit mir im reinsten Genuß an dem liebeschlagenden Herzen.
Unsre lebhafte Stimmung stieg beinah bis zur schmerzlichen Spannung. Es zog sich gleich einer drückenden Gewitterwolke um uns her, die sich nur in Blitzen entlasten konnte.
Julius stand auf, und war im Begriff sich zu entfernen. Die lieblichste heiligste Ahndung einer glücklichen völlig einverstandenen Liebe [330] bebte durch mein Wesen; – aber in dem Augenblick verließ uns Nordheim mit einer flüchtigen Entschuldigung von Geschäften.
Meine Arme erhoben sich unwillkührlich, die geliebte Gestalt fest zu halten, mein Herz schlug gewaltig gegen meine Brust, und ein lauter Seufzer verrieth Julius meinen Zustand.
Was habe ich gethan, rief er schmerzlich aus. Warum zögerte ich, mich zu entfernen? Warum muß ich Unseliger! immer der Glückseligkeit des liebsten Wesens im Wege stehen?
Seine Verwirrung gab mir meine Fassung wieder.
Lieber Freund, sagte ich ihm, dar [331] Schicksal läßt sich die schönsten Blumen des Lebens nicht entreißen, sondern reicht sie nur freiwillig dar. Sollte mir noch gewährt seyn, Nordheims Liebe zu gewinnen? Alles beinahe heißt mich zweifeln.
Ich empfand in diesem Augenblick, wie ich sprach; Furcht und Verlangen erhalten unser Gemüth nothwendig im Irrthum. Nordheim konnte selbst wünschen, mich mit einem andern Manne zu verbinden; wie kann er mich lieben? So schloß ich natürlich in dem Moment einer getäuschten Hofnung.
Julius Blicke ruhten mit der zärtesten Theilnahme auf mir. Vertrauen Sie meinen Augen, liebste Agnes, sagte er sanft. Sie werden [332] geliebt. Einfacher, klärer faßt eine weibliche Seele das Gefühl der Liebe; mit mannichfachen oft streitenden Gestalten vermischt es sich in der Brust des Mannes. In einer so reichen Natur wie Nordheim, wo so hohe Kräfte wirken, muß die Liebe eine ganz eigne, neue Gestalt annehmen, die zu mancher Täuschung Anlaß geben kann.
Ich fühlte mich gestärkt und beruhigt, mehr durch das Anschaun von Julius schönem Wesen, das seine Freiheit bei dem lebhaftesten Empfinden so rein zu bewahren vermochte, als durch die Hofnungen, welche er mir einzuflößen strebte.
Wir kehrten noch denselben Abend nach der Stadt zurück. Der Prinz [333] hatte die ganze Gesellschaft dringend eingeladen, sich bey einem Fest einzufinden, welches er seiner Schwester zu Ehren veranstaltet hatte.
Ungern trennte ich mich von dem Wohnort meines Geliebten. Die Gärten, das Haus, die Zimmer und alles was sie enthielten, schienen mir als sein Eigenthum von seiner Gegenwart belebt und verschönert zu seyn. Ein freundlicher Schimmer erleuchtete alles was mich umgab; so wie ein heitrer Sonnenblick uns alle Formen einer wohlbekannten Gegend gleichsam erneut, und näher an die Seele bringt.
Die nächsten Tage waren geräuschvoll. Mir war nie wohl unter dem Gewühl einer bunten Menge, [334] sie brachte mich immer in eine Art von Betäubung, in welcher ich den Mangel an innrer Klarheit schmerzlich empfand.
Die Gestalt der Prinzessin ergriff mich mit sonderbarer Gewalt. Sie saß in einem Zirkel von Damen, als ich mich ihr näherte. Ihr Anstand war edel, ihr Putz einfach und geschmackvoll. Ich mußte den Zirkel vermehren, und als ich ihre Gesichtszüge genauer betrachten konnte, fand ich sie alle von dem Ausdruck unaussprechlicher Lieblichkeit belebt.
Nur wenig, und sehr leise wurde von den Damen gesprochen; die Prinzessin schwieg, oder sagte ihren Nachbarinnen ein paar Worte, von denen ich nichts vernehmen konnte. [335] Endlich wendete sie sich mit einer Frage an mich. Der Ton ihrer Stimme durchdrang mein Innres. Meine Nerven bebten. Die Verzierungen der Zimmers, die Personen der Gesellschaft schwankten vor meinen Blicken, mit Mühe hielt ich mich auf meinem Stuhle. Ich saß neben einer gutmüthigen geschäftigen Alten, sie faßte mich bey der Hand, und wiederholte mir leise die Frage der Prinzessin. Ich stammelte einige Worte gegen diese. Die gute Alte hielt meinen Zustand für Verlegenheit, und suchte dem armen Landmädchen zu Hülfe zu kommen. Der Prinz näherte sich uns, die Prinzessin sprach viel und lebhaft, ich bekam nach und nach meine Fassung [336] wieder, und schalt mich thöricht, einem ersten Eindruck der Macht eines Tones solche Gewalt über mich gestattet zu haben.
Der Prinz begegnete mir im Angesicht der Gesellschaft, und vorzüglich unter den Augen seines Vaters mit zurückgehaltener Aufmerksamkeit. Dennoch fanden die Hofleute, deren Scharfsinn nur ein einziges Feld, die Schwachheiten ihres Herrn kennt, sehr bald etwas Auszeichnendes in dem Betragen des Prinzen gegen mich. Ich mußte manches Lob und manchen Tadel ertragen, ohne beides zu verdienen.
Ich fühlte, daß Nordheim und Julius über mein Verhältniß mit dem Prinzen wachten; ihre gegenseitige [337] Vertraulichkeit schien täglich inniger zu werden. So sehr es mich freute, zwei mir so werthe Menschen vereinigt zu sehen, so schmerzlich fühlte ich doch die Veränderung in Nordheims Ton gegen mich. Die Güte eines zärtlichen Vaters lag in seinem Blick, so wie in dem Sinn seiner Rede. Täglich sah ich ihn, täglich entfaltete sich sein Wesen in neuer Liebenswürdigkeit, und gerade in einer Art der Liebenswürdigkeit, die unsre ganze Weiblichkeit mit Verlangen befängt.
Der Wunsch, Liebe zu gewinnen, anzugehören, er greift unser Wesen nie stärker und inniger, als wenn wir eine hohe Kraft in Thätigkeit erblicken. In den leichten Verhältnissen [338] der Gesellschaft war Nordheim hingebend, wohlwollend, voll hinreißender Grazie, aber sobald es ein ernstes Verhältniß galt, stand er mit unerschütterlicher Festigkeit bey seinen Grundsätzen. Voll Muth und Würde glich er einem kräftigen Löwen, der die Insekten großmüthig in seinen Mähnen spielen läßt. Selbst die sinnloseste Menge hat die Ahndung einer unüberwindlichen Kraft, und fühlt ihre ganze dumpfe Beschränktheit in ihrer Nähe. Des Prinzen allgemein bekannte Freundschaft für Nordheim gab ihm Einfluß auf den Zirkel der Geschäftsleute, sein heller Verstand war die Freude der Rechtschaffenen und das Schrecken der Arggesinnten.
[339] In der Einsamkeit meines Zimmers überließ ich mich der Sehnsucht nach den ersten lieblichen Träumen, die mich aus dem frohen Gleichmuth der Kindheit erweckten.
Nordheim liebt mich nicht. – Welchen Ersatz vermag mir das Schicksal für den Verlust dieses einzig schönen Glückes darzubieten?
Nur das Andenken an meinen Vater in Hohenfels, der Wunsch sein Alter zu beglücken, wie er meine Kindheit verschönerte, diese erhielten meinen Lebensmuth.
Die Sorge für Bettina verband sich mit dem Andenken an meinen Vater, um das Gleichgewicht in meinem Gemüth zu erhalten, wenigstens jedes äußere Zeichen des Unmuthes [340] zu unterdrücken. Bettina war viel in meinem Zimmer. So wie ich über den ruhigen Kreislauf ihrer Beschäftigungen wachte, erinnerte ich mich selbst an Arbeiten, die meine Träume unterbrachen. Lust und Reiz war mit der Hofnung der Liebe entflohen, und mein erloschnes Auge kündigte ein Gemüth an, das in sich selbst zurückkehrt, den Muth aufsucht, um den freudenlosen Gang durchs Leben zu vollenden.
Nordheim schien den wahren Zustand meines Innern zu übersehen; oft schien es sogar, als hielt er sich an die falsche Seite einer erkünstelten heitern Laune, die ich der Gesellschaft darbot.
Julius kannte mein Herz, und [341] betrug sich mit edler Feinheit. Er vermied, sich mir zu nähern, um allem Anschein von Ansprüchen auszuweichen. Wenn er es irgend konnte, ohne bemerkt zu werden, sagte er mir ein herzliches Wort, das innigen Antheil an Leidenschaft verrieth. Ich fühlte den Werth dieses Betragens, und lernte seine gleich schöne und starke Seele täglich mehr schätzen.
Die Gräfin verhielt sich seit der ersten und einzigen Erklärung gegen mich ganz passiv. Die Eröfnung ihres Herzens schien mit einer schmerzlichen Anspannung ihres ganzen Wesens verbunden zu seyn, und sie in einen so gewaltsamen Zustand zu versetzen, den sie wo möglich zu vermeiden [342] suchte. Sie betrug sich mit sanfter schonender Gefälligkeit, als fühlte sie meinen Zustand, aber als habe sie die Pflicht einer Freundin schon gegen mich erfüllt, und müsse mich meinem Schicksal überlassen.
Elise war zart und liebend, aber von zu wenig Energie für solch eine Lage; auch hatte Albans Mißtrauen gegen mich die Vertraulichkeit unsers kleinen Zirkels in etwas vermindert.
Der Prinz war nur mit sich beschäftigt, so sehr er auch nur mit mir beschäftigt scheinen wollte, vielleicht es selbst zu seyn wähnte.
So war ich mitten in einem Zirkel treflicher Menschen dennoch einsam und mir selbst überlassen.
Der erste gewaltige Eindruck, welchen [343] die Prinzessinn auf mich gemacht hatte, ließ eine Art von Furcht, mich ihr zu nähern, in mir zurück. Gleichwohl zog sie mich gewaltig an, mit einem sonderbaren Vergnügen stand ich hinter ihrem Spieltisch, ihre unbedeutendsten Worte blieben in meinem Gedächtniß, und wenn ich im Vorübergehen ihr Gewand berühren konnte, fühlte ich ein unbegreifliches Vergnügen. Die Prinzessin schien mich ganz zu übersehen, aber zuweilen suchte mich ihr glänzendes Auge in einer Ecke des Saales auf, wo ich es am wenigsten erwartete. Sie ist dir nicht ungeneigt! sagte ich mir mit innigem Vergnügen, und nur meinem ersten kindischen Benehmen schrieb ich es [344] zu, daß sie mir eine neue Verlegenheit ersparen und nicht wieder mit mir sprechen wollte.
In Augenblicken, wo ich es nicht vermeiden konnte, mit dem Prinzen allein zu seyn, sprach er von Leidenschaft. Ich wurde oft unwillig, einen Charakter, der mir anfänglich im schönen Lichte erschienen war, durch solch eine Schwachheit entstellt zu sehen. In seiner Neigung war mehr Begierde als Zärtlichkeit, und, selbst mit einem ganz freien Herzen, hätte ich ihr widerstanden.
Ich stand eines Abends, als Gesellschaft beym Fürsten war, mit einigen jungen Damen in einem Fenster des Saals. Der Prinz wußte sie durch einen Vorwand zu entfernen, [345] und als ich ihnen folgen wollte, hielt er mich mit Gewalt zurück. Agnes! verdien' ich diese Kälte? sagte er heftig. Ist es meine Schuld, daß ich gebunden bin durch unleidliche Verhältnisse, daß ich Ihnen jetzt nur ein Herz anbieten kann? O ich bin unglücklich genug, unter dem Zirkel hirn- und herzloser Puppen, die meinem Stand und Reichthum so platt entgegen kommen, ein gutes Herz gefunden zu haben, es mit wahrer Neigung zu umfassen; und von diesem verkannt zu werden! Warum entziehen Sie mir die Blüthe Ihrer Schönheit? O wir Fürsten sind Opfer der Verhältnisse! selbst unsre Freunde entfernen sich von unsern ächt menschlichen Gefühlen, und ihr mitleidsvoller [346] Blick wiederholt es: – Ihr seyd Opfer!
Die Stadt lag vor uns am Fuße des Berges, und die Lichter in den Häusern glänzten durch die dunkle Nacht. Ich war gerührt und sagte: Theurer Prinz, es kann nur eine trübe Laune seyn, in welcher Sie Ihre Bestimmung verkennen, die den höchsten menschlichen Kräften die schönste Übung gewährt. Sollte es Ihrem Herzen nichts sagen, wenn Ihr Nahme in stillen Familienzirkeln als ein guter Genius genannt wird? Wenn aus Ihrem hellen Verstand, aus der Kraft Ihres Herzens der Wohlstand dieser Gegend erblüht?
O meine Agnes, sagte er, Sie entflammen nur das Verlangen nach [347] Ihrem Besitz, indem sich Ihre geistige Schönheit vor mir enthüllt. Ich will streben, das zu werden, was Sie wünschen! Nehmen Sie diesen Ring, Geliebte, fuhr er fort, zum Pfand alles Guten, was dieser Augenblick in mir entfaltet. Jene erste glückliche Täuschung, welche ich durch ihn erfuhr, werde ich nie vergessen.
Er verließ mich in heftiger Bewegung, und der Ring blieb an meinem Finger. Es war dasselbe Bild seiner Schwester, welches ich mit so sonderbaren Regungen angesehen hatte.
Als ich wieder ins Gesellschaftszimmer gehen wollte, wickelte sich eine Gestalt aus den Vorhängen des [348] Fensters, welches zunächst an dasjenige stieß, wo ich mit dem Prinzen gestanden. Ich eilte vorbei, aber ich fühlte mich gehalten, und zärtlich umschlungen.
Ich erkannte die Prinzessin. Gutes Kind, sagte sie, ich nehme herzlichen Antheil an Ihnen, kommen Sie, wir schwatzen ein wenig zusammen.
Ihre Stimme zitterte, aus Verlegenheit, wie ich es deutete, mich und ihren Bruder vielleicht gegen ihren Willen belauscht zu haben.
Ich mußte mich neben sie setzen, und sie fuhr fort.
Ich habe Ihre Unterredung mit meinem Bruder gehört. Ob ich zufrieden mit Ihnen bin, fühlen Sie. [349] Ich beklage ihn, und freue mich zugleich, daß er so wählen konnte. Leicht und beweglich wie die Farben der Iris, Kinder aller Elemente sind unsre Neigungen, und wie sie jenen gleich aus Regen und Sonnenschein entstehen, so verkünden sie doch auch nur, wie sie, aufs neue Regen. Ich wünschte Ihnen ein heiteres Daseyn unter einem blauen wolkenlosen Himmel. Darf ich einen Mann nennen, neben welchem Sie dieses finden würden?
Ich schwieg bewegt und verlegen.
Darf ich? fragte sie aufs neue. Darf ich Julius von Alban nennen?
Er ist ein edler, achtungswerther Mann, sagte ich.
[350] Ich habe den rechten Nahmen nicht genannt, erwiederte die Prinzessin. Ich muß Ihr Vertrauen erst verdienen lernen, liebste Agnes. Sie hielt meine Hand, ihr Bild fiel ihr in die Augen.
Das ist der Ring meines Bruders!
Trage ich ihn auch mit Ihrer Genehmigung? fragte ich. Ich leugne nicht, ich würde mich nur mit Schmerzen von diesem lieben Ringe trennen. –
Von welchen Erinnerungen sprach mein Bruder?
O von den heiligsten meines Lebens! sagte ich mit einer Offenheit, die ich mir selbst im nächsten Moment vorwarf.
[351] Wie das? fragte die Prinzessinn heftig.
Ich war verwirrt, und fuhr fort: Er giebt mir die wunderbarste Reminiscenz durch die Ähnlichkeit mit einer sehr geliebten Person.
Lassen Sie uns zur Gesellschaft gehen, sagte sie, indem sie rasch aufstand, und mich mit sich in den Saal zog.
Charles kam den nächsten Morgen zu mir. Er brachte mir einen zärtlichen Gruß von meiner Mutter, und eine Ermunterung unsre für jetzt nothwendige Trennung ruhig zu ertragen. Der Inhalt meines Briefes habe sie betrübt, sagte mir Charles, doch werde sie nie nach einem Einfluß in mein Schicksal streben, welcher [352] meiner Neigung Gewalt anthun könnte. Ein gesundes Gemüth werde durch sich selbst mit allen Erscheinungen im Leben fertig, und lerne seine Macht kennen, sie zu verwandeln, oder zu ertragen. Ihre Mutter, fuhr Charles fort, vertraut Ihrer guten Natur. In einem heftigen allbezwingenden Verlangen lernt unser Wesen seine ganze Kraft empfinden. Die Illusion der Leidenschaft ist in der Ökonomie der menschlichen Natur, was die Blüthe in der Pflanzenwelt ist. Die Schönheit umschleiert den Moment, wo sich die Kraft und Gestalt eines Wesens entscheidet. Ich zweifle nicht, meine Agnes wird in reiner tadelloser Form aus dieser Verwandlung hervorgehen, und mit[353] erhöhter Kraft zum Leben und Wirken gerüstet. Eine Seele, die im Zauber der lebendigen Fantasie ihre entflohenen Freuden und Leiden zurückzurufen vermag, bewahrt leichter das heilige Gesetz der Billigkeit gegen andere, als lebendiges, gegenwärtiges Gefühl in der Seele. Sie werden Ihre Mutter bald wiedersehen, auch in kurzem Ihren Pflegevater in Hohenfels, und wenn Sie selbst wollen, werden Sie an seiner Seite einen Kreis der Thätigkeit finden, der Ihnen das Glück der Liebe ersetzen kann, oder in stäter Dauer bewahren wird.
Charles brachte in jeder Woche einige Morgenstunden bey mir zu. Er ließ mich Zeichnungen kopieren, die er selbst nach den besten Meistern [354] entworfen hatte. Ich wählte eine Landschaft nach Poussin, und während dieser Arbeit fielen unsre Gespräche auf die wichtigsten Gegenstände.
Charles herzlicher Antheil, und die Klarheit seiner Vorstellungen wirkten wohlthätig auf mein Gemüth. Ich wurde mir selbst klärer in seinem Umgang. Er faßte meinen Zustand, und suchte die verworrenen Bilder zu zerstreuen, welche meine Fantasie aus den großen Cirkeln der vergangenen Abende zurückgebracht hatte. Ich heftete mich an ihn, und ehrte ihn wie einen guten Genius, der den Faden meines geistigen Daseyns aus dem Gewühl des Sinnlichen zu lösen vermochte.
[355] Meine kleine Kunstarbeit hatte während unsrer Gespräche guten Fortgang. In jeder Darstellung eines großen Sinnes liegt eine gewisse magische Kraft gleich als für immer gefesselt, sie bewegt jeden fühlenden Beobachter, er fühlt eine fremde Gewalt, die seine Kräfte aufregt und emporzieht. So wirkte auch der Geist des großen Meisters, dessen Dichtung vor uns lag, still und erhebend auf mein Gemüth; und das Andenken an meine Mutter, das mir in Charles Gespräch beinah zu einer geheimnißvollen Gegenwart wurde, stärkte mein Herz in dem zarten süßen Leben der Hofnung.
Ich war heiterer und lebendiger nach jeder Zusammenkunft mit Charles, [356] und hatte manche kleine Spötterey der Gräfin über den Einfluß des Zeichenmeisters auf meine Laune auszustehen.
Bettina war oft gegenwärtig, während Charles bei mir war, sie zeigte viel Freude und Geschicklichkeit zur Kunst, und gewann Charles Neigung sehr bald.
Die Kleine hatte ihre Liebe zu Nordheim so innig mit der Neigung gegen mich vereinigt, daß wir beide gleichsam zu einem Bilde in ihrer Vorstellung zusammengeflossen waren. Je inniger sie uns in sich vereinte, je schärfer trennte sie jede dritte Erscheinung von der unsern. Jede kleine Vertraulichkeit Nordheims mit der Gräfin schmerzte sie tief, sie [357] kam traurig zu mir, und verweilte mit ihrem kindischen Geschwätz bei jedem kleinen Umstand. Sie machte auch in Charles Gegenwart oft bittre Anmerkungen über die Gräfin, und schwatzte nach und nach so viel, daß Charles den Grund ihres Herzens und des meinen erblickte. Nein, rief sie einmal heftig aus, nein, es ist unmöglich, daß Nordheim ein anderes Weib als meine Agnes lieben sollte! Ich suchte meine Bewegung durch einen Scherz zu verbergen, aber ich fühlte es, Charles hatte mein Geheimniß errathen.
Mir selbst blieb Nordheims Verhältniß mit Amalien immer ein Räthsel, ich scheute mich bei den Kleinheiten der Eifersucht in meinem Gemüth [358] zu verweilen, und verstattete mir keine genauere Beobachtungen. Es fuhr gleich einem kalten Stahl durch meine Brust, wenn ich die Gräfin mit Nordheim allein fand, meine Lippen bebten, und meine Worte wurden zu unsichern Lauten. Aber ein freundliches Wort von Nordheim, voll einfachen treuen Sinnes, brachte den Frieden in meinem ganzen Wesen zurück. Was willst du? fragte ich mich selbst; nimmt er nicht Theil an dir, will dir wohl? ist das nicht schon so viel? ist es nicht genug?
Ein sonderbarer Vorfall zeigte mir auf einmahl die ganze Gewalt der Leidenschaft über mein Herz, indem er den freundlichen Wahn der [359] Erfüllung zerstörte, welcher sich insgeheim immer an unsern heißesten Wunsch anschmiegt, so sehr unser klarer Verstand ihn auch zurückzuweisen strebt.
Die Hindernisse, welche Elisens Verbindung im Wege standen, waren nunmehr besiegt, der Tag der Hochzeit war festgesetzt, und der Hof nebst der ganzen Gesellschaft versammelte sich bei Elisens Tante, um der Trauung beizuwohnen. Die Gesellschaft vertheilte sich bis zum Anfang der Ceremonie in mehrere Zimmer. Elise nahm mich geheimnißvoll bei der Hand, und führte mich in ein Kabinet, wo ich den Prinzen fand.
»Verzeihen Sie das, was ich Ihnen [360] zu sagen habe« redete er mich an: »es ist ein Auftrag meiner Schwester, welche uns seit wenigen Tagen verließ.«
Die Prinzessin hatte mich seit der letzten sonderbaren Szene ganz vernachläßiget; ich war durch ihr Betragen gekränkt, weil etwas unaussprechlich Anziehendes für mich in ihrem Wesen lag.
»Meine Schwester und ich,« fuhr der Prinz fort, »vereinigen uns mit den Wünschen Ihrer Freundin, heut mit einem liebenden Gemahl zugleich auch eine geliebte Schwester zu besitzen.«
Elise lag in meinen Armen. O meine Agnes, gewähre uns allen dieses Glück! rief sie aus. Mein Alban [361] bittet für seinen Bruder, Julius bittet nur mit stiller Liebe und Treue.
Geben Sie uns allen die Freude, Sie für immer unter uns zu sehen, sagte der Prinz. Selbst mein Vater ist von dem Zauber Ihres Betragens gerührt, und wünscht, Sie möchten bey uns leben. Er wird Julius in eine Lage setzen, welche Ihnen eine angenehme Existenz versichert.
Der Fürst trat herein, und sein freundliches gütiges Lächeln über den ernsten Zügen, die aus allen ihren gewohnten Falten gerückt waren, ergriff mich auf eine sonderbare Art, und rührte mich bis zu Thränen.
Ein geschäftiges Männchen unter [362] den Hofleuten hatte etwas von der Szene durch die halboffne Thür gesehen, und breitete in den andern Zimmern die Nachricht aus, ich empfinge die Glückwünsche zu meiner Heurath. Das Kabinet füllte sich, Nordheim kam mit den Übrigen, blieb ernsthaft an der Thür stehen, ohne ein Wort zu sprechen. Julius erfuhr von Elisen die Veranlassung dieses Auftritts. Er sah mich in der peinigenden Verlegenheit, wagte nicht, sich mir zu nähern, und bat die Gräfin, mich von der lästigen neugierigen Menge zu befreien.
Ich hatte mich unterdessen gefaßt, und ersuchte den Prinzen, seinem Herrn Vater meinen Dank auszudrücken, nebst dem Wunsch, für jetzt [363] noch unverheurathet zu bleiben. Der Fürst sah verdrießlich aus, und sagte halb laut: Er hätte von mir solch eine Ziererey nicht erwartet. Der Tadel des alten Mannes schmerzte mich, wie mich sein Antheil bei seiner sonstigen gewohnten Kälte rührte. Die Gräfin zog mich in ein Fenster, und sagte nach einigen Minuten: Welch eine eigne Gestalt nehmen doch alle gewöhnlichen menschlichen Verhältnisse für Seelen gewisser Art an! Die Liebe für Dich, meine Agnes, scheidet sich von jedem eigennützigen Begehren, sie will nicht sowohl besitzen, als Dein Wesen gleich einer schönen Kunstgestalt in reiner Anschauung genießen. Dein holdes Gemüth wirkt geheimnißvoll, [364] aber mächtig auf alles, was sich Dir nähert, und bildet eine Welt feinerer zärterer Verhältnisse um Dich her. Doch jeden, fuhr sie fort, jeden, mein bestes Kind, ergreift früh oder spät das unbezwingliche Schicksal, und versetzt ihn in den Kreis des Bedürfnisses und der Noth, in welchen unser Daseyn gebannt ist. Nichts bleibt rein und ungemischt in diesem, und jedem Genuß folgt bittres Entbehren. Besser ist es, freiwillig den Göttinnen des Schicksals ein Opfer zu bringen, einem Gut zu entsagen, um ein andres zu gewinnen. Doch ich fühle, sagte sie mehr sanft und betrübt, als unmuthig, ich fühle, daß ich Ihr Vertrauen nicht besitze, ob ich gleich [365] wähne, es zu verdienen. Wir waren allein im Kabinet geblieben, Nordheim näherte sich uns. Vertraulicher als ich es in der letzten Zeit gewohnt war, faßte er meine Hand, seine ernsten Blicke ruhten mit zärtlicher Theilnahme auf mir, indem er sagte: Wie gern, beste Agnes, nähme ich noch auf eine weite Reise, die ich in kurzem antreten werde, die Überzeugung mit mir, daß ich meine Freundin glücklich zurückließ.
Sie wollen verreisen? sagte ich mit zitternder Stimme.
Ich muß, erwiederte er. Im Vertrauen auf die Freundschaft Ihres Vaters, wage ich es, vielleicht zudringlich zu werden. Die Wünsche [366] Ihrer Freunde scheinen mir einen Lebensweg für Sie zu bezeichnen, der zur Zufriedenheit führen wird. Der, welchen Sie aus eigner Stimmung für jetzt vielleicht erwählen könnten, würde Sie nur zu Unruhe und Sorge führen. Trauen Sie den Blicken eines Freundes, der zärtlichste Antheil macht sie scharfsichtig. Was mich selbst betrifft, so bliebe mir noch einiges zu sagen übrig. Ich wünsche klar vor Ihnen zu stehen, ob ich gleich Ihr Vertrauen nie erwerben konnte. Sie werden mich aus meinen Briefen an Ihren Vater ganz kennen lernen, in kurzem werden diese in Ihren Händen seyn. Julius edle Liebe wird Ihr Leben beglücken, meine theure Agnes, und [367] Ihr Glück wird die reine Freude Ihres fernen Freundes seyn. Ich gewöhnte mich seit langer Zeit, nur in dem Glück meiner Freunde zu genießen. Der Moment, wo ich aus diesem Daseyn heraustrat, rächte sich durch manche innre Verwirrung.
Nordheim verließ mich hier schnell.
Unendlich ist der Schmerz der Liebe, weil sie selbst ein Verlangen nach dem Unendlichen ist.
Nordheim selbst wünscht dich mit einem andern Mann verbunden! Jeder Wunsch nach dir ist also in seinem Herzen erloschen! Er liebte dich nie! Nur dieses Gefühl klang immer aufs neue in meiner Seele wieder, meine Sinne waren wie erstarrt, und jedem äußern Eindruck verschlossen.
[368] Die Gräfin faßte meine Hand, und diese Berührung erweckte mich durch eine höchst widrige Empfindung. Ich hatte den Sinn ihrer Worte nicht ganz gefaßt, und nur eine dunkle Vorstellung dabei gehabt, als enthielten sie den Rath, Julius meine Hand zu geben, und meiner Neigung für Nordheim zu entsagen. Ich war schon in der widrigsten Stimmung gegen die Gräfin, als sich Nordheim zu uns gesellte, und jetzt in dem schwersten Moment meines Lebens stand sie vor mir als ein feindseliger Dämon, der sich meines bösen Geschicks erfreute, in welches er mich, so wähnte ich, selbst hineingezogen. Ich hatte keine Worte für solche widrige Gefühle; in Liebe [369] und Stille der Seele erzogen, kannte meine Brust den kalten Haß nicht.
Mit einer unwillkürlichen Bewegung hatte ich den Arm der Gräfin zurückgestoßen, und jetzt strebte ich, meinen Schmerz zu verbergen. Julius bemerkte die gewaltsame Anstrengung in meinem Wesen, und äußerte sein Mißvergnügen, der Anlaß zu einer so unangenehmen Szene für mich gewesen zu seyn, der er meinen ganzen Zustand zuschrieb.
Ich hielt die Gesellschaft aus, aber man trug mich halb ohnmächtig aus dem Wagen, so sehr hatte die Gewalt, mit welcher ich mein Herz zurückhielt, meine Nerven zerrüttet. Wie wohlthätig kehren sich die Genien unsrer entflohenen guten [370] Stunden in jenen Zeiten zu uns, wo uns eine hofnungsleere Finsterniß umgiebt!
Nachdem ich einen Strom erleichternder Thränen vergossen, standen meine lieblichen Wälder von Hohensels mit ihren kühlen Lauben vor meiner Fantasie. Dort, sagte ich mir, wo mir die ersten goldnen Jugendträume blühten, dort wird das Andenken an Nordheim, mein ewig lebendiger Schmerz über seinen Verlust, ungestört wohnen!
Ich rief mir jetzt Nordheims Worte zurück. Außer ihrem schmerzlichen Sinn, welcher mir eine Verbindung mit einem andern Manne anrieth, lag noch etwas Räthselhaftes in seiner Äußerung.
[371] Er warnt dich selbst, dich deiner Neigung für ihn zu überlassen! Auf diese Erklärung kam ich endlich zurück, ob sie mir gleich mit seiner Bescheidenheit und Feinheit zu streiten schien.
Wir sind so geneigt, die fehlgeschlagnen Hofnungen unsers Herzens aus der Stellung der äußern Umstände herzuleiten, um die Erscheinung eines geliebten Wesens rein in unsrer Seele zu bewahren. An welchen zarten Fäden hängen oft die wichtigsten Begebenheiten unsres Lebens! sagte ich mir. Ein geheimnißvolles Gewebe umspannt uns unsichtbar, aber gewaltsam, und alle Kraft unsers Herzens vermag nicht die eisernen Fäden zu durchbrechen. [372] Hätte die Gräfin heut nicht zwischen uns gestanden, hätten uns statt der steifen Hofwelt, Wälder und Wiesen umgeben, statt des engen Zimmers, das weite blaue Gewölbe des Himmels, o! wer weiß, ob nicht das innigste Gefühl der Liebe in meiner Brust ein Wort, einen Ausdruck gefunden hätte, welcher Nordheims Herz mir wieder zugewendet! Alles erinnert uns an Beschränktheit in den Cirkeln der feinen Welt, sie bestehen nur durch dieselbe, und die himmlische Freiheit der Liebe fühlt sich dort gefesselt. Welche unselige Stellung der Umstände mußte den entscheidenden Moment meines Lebens umgeben! Ich habe alles verloren! für immer verloren!
[373] Unter diesen Selbstgesprächen nahte der Morgen. Der Entschluß, Nordheim nicht wieder zu sehen, stand hell in meiner Seele. Die Gräfin kam, mich zu besuchen; ich war milder gestimmt, und sie selbst schien mir mehr ein Werkzeug des Schicksals zu meinem Unglück, als die erste Ursache desselben. Gleichwohl blieb ich ungerührt von ihrem gutmüthigen Betragen, so sehr ich mich selbst darüber tadelte. Es giebt Menschen, welche uns nie von ihrem guten, und andre, welche uns nie von ihrem bösen Willen überzeugen können. Außer meiner leidenschaftlichen Stimmung, die eine unreine Farbe in das Bild der Gräfin mischte, lag noch vielleicht in [374] ihrem eignen Wesen ein gewisses Etwas, welches das Vertrauen raubte. Wo die Manier ganz vorherrscht, da scheint zuletzt der Charakter selbst nur Manier.
Der reine Klang des Herzens entlockt einzig hinwiederum dem Herzen Neigung und Vertrauen.
Man rief die Gräfin bei mir ab, weil Nordheim zu ihr gekommen war.
Mein Entschluß, ihn nicht wieder zu sprechen, blieb fest, aber noch einmahl wollte ich den lebendigen Zauber seiner Gegenwart empfinden, und seine Gestalt als ein holdes Bild für meine dunkle Zukunft bewahren.
Ich lauschte hinter meinem Fenster, [375] bis er aus dem Hause ging. Er trug dasselbe Reisekleid, in welchem ich ihn zuerst gesehen. Er wendete sich nach meinem Fenster. Muth und Vertrauen und Vergessenheit alles Schmerzens strahlte aus dem edlen liebevollen Gesicht in meine Brust. Aber als er hinter der Ecke der Straße verschwand, ergriffen mich alle Schauer der Zerstörung aufs neue. Zum letztenmahl – es ist vorbei – es ist aus, sagte ich mir. Zum letztenmahl, ist ein beunruhigendes Gefühl bei der gleichgültigsten Sache, weil es an unser engbeschränktes menschliches Daseyn so innig erinnert; und zum letztenmahl! bey der höchsten Lebensfreude ergreift uns wie die kalte Hand des Todes.
[376] Charles trat in diesem Augenblick ins Zimmer. Ich eilte ihm entgegen, und suchte mein Gemüth zu verbergen, aber er wich stumm und erschrocken bei meinem Anblick zurück.
Haben Sie mir eine böse Zeitung zu bringen? fragte ich ihn. Nein, erwiederte er, möge ich keine von Ihnen zu vernehmen haben, und Ihre Worte Ihrem Aussehen widersprechen.
Sein herzlicher Antheil löste alle Banden meines Schmerzens, meine Thränen flossen unaufhaltsam.
Der zarte Sinn meiner Mutter schien mir von Charles Lippen entgegen zu schweben. Er nahte sich mir sanft, faßte meine Hand, und [377] nach einem tiefen Blick in meine Seele saate er: Sollte für dich, gutes Geschöpf, der Moment schon gekommen seyn, wo die freundlichen Täuschungen der Sinnenwelt sich in quälende Gestalten verwandeln? Ist der jugendliche Wahn einmahl verschwunden, in dem wir freundlich und harmonisch mit der äußern Welt zusammenfließen, wo unser Wesen in allem innig und ganz lebt, und eben darum keine Trennung in seinem Innern empfindet; ist jene Magie einmahl aufgehoben, und mußt du den innern Bestand in dir selbst durch eignes Streben wieder herstellen, dann kann dir vielleicht der Rath eines Freundes nützen. Dein Wesen, gutes Kind, fuhr er fort, [378] ist Liebe und Sympathie. Genuß ist für dich nur in der reinen Stimmung deines Innern zu finden; also lasse früh ab von der Täuschung, die uns einen äußern Gegenstand als die höchste Wonne des Lebens vormahlt. Aber hüte dich auch vor jenen Momenten starrer Apathie, in welche unser Gemüth so leicht nach einer zerstörenden Anspannung fällt. Handle nicht eher, bis der klare Blick deines Verstandes alle Dinge in ihrem rechten Maß zu würdigen vermag. Der erste tiefe Schmerz getäuschter Erwartung treibt die Seele aus dem endlichen Beschränkten empor ins Unendliche. Wir herrschen über die Gestalten der Erde in unserm Gemüth, denen wir sonst dienten. [379] Glücklich wenn wir in solch einer Periode innrer Klarheit und Neinheit uns selbst eine richtige haltbare Stellung in unsern innern und äußern Verhältnissen geben! Glücklich, wenn das Schicksal uns an einem Scheideweg stehen läßt, bis wir uns selbst gesammelt haben, und das Maß unsrer Kraft zu ermessen vermögen. Wenig Glückliche führt ihr Genius ganz schuldlos durch das Leben. Manche müssen mit dem Opfer eines ganzen Lebens wenige Augenblicke büßen, in welchen sie verschmähten, auf jenen leitenden Wink zu achten. – Hier hielt Charles ein, schlug die Augen nieder, und sein ganzes Wesen verrieth einen Sturm durch die Gewalt schmerzlicher [380] Erinnerungen erzeugt. Meine Agnes, rief er aus, indem sein Auge einen Blick unaussprechlicher Liebe auf mich warf, wenn es mir gelänge, dir den reinen nie getrübten Frieden der Seele zu erhalten, dann will ich jedes Leiden, das ich erduldete, als eine Wohlthat des Schicksals dankend verehren! Er stieg heftig von seinem Stuhl auf, lief ein paarmahl im Zimmer auf und ab, und kam dann mit ruhiger Miene wieder zu mir.
Sie müssen sich billig wundern über den so lebhaften Antheil eines Unbekannten, sagte er, aber es ist meine Art so. Mein Herz nähert sich allem Liebenswürdigen mit einem innigen Verlangen, es in seiner[381] eigenthümlichen Grazie erhalten zu sehen. Das Schicksal versagte mir zarte Naturverhältnisse, in denen meine Liebe lebendig wirken könnte, und darum spähet mein Auge nach allen holden Gestalten, die in meinen Kreis kommen, und mein Herz schließt ihnen seine Erfahrungen auf.
Charles Worte hatten mich lebhaft ergriffen, seine Vorstellungsart drang sich meinem Verstande auf, und die Wärme seines Herzens belebte meinen Willen. Ich fühlte die Kraft, neue Ansichten des Lebens zu fassen. Die Pflicht, die gesunde heitre Thätigkeit meines Gemüthes für meine Mutter zu erhalten, war das erste Verhältniß welches ich lebendig [382] ergriff. Wenn Freude und Hofnung vom Herzen gefallen sind, finden wir nur unser Daseyn im nothwendigen, allgemeinen Gesetz unsrer Natur wieder.
Sie werden Ihre Mutter diesen Abend sehen, sagte mir Charles, und sie wird Ihnen viel Wichtiges und Neues entdecken, was die Sphäre Ihrer künftigen Thätigkeit und den Ort Ihres Aufenthalts betrift.
In Ansehung des Wunsches, sogleich zu meinem Vater nach Hohenfels zu eilen, verwies er mich auf die Unterredung mit meiner Mutter.
Ich blieb den ganzen Tag auf meinem Zimmer. Bettina's liebevolle heitre Geschäftigkeit erhielt mich in einer sanften wehmüthigen Stimmung. [383] Das liebe Geschöpf wird doch immer ein Verhältniß zwischen Nordheim und mir erhalten; wenigstens werde ich wissen, wo er lebt, sagte ich mir. Über Bettina wird er mir etwas zu sagen haben, und ich zu antworten. O die einzig edle, holde Gestalt wird nicht ganz für mich in das Reich der Schatten verschwunden seyn! Ich werde zuweilen ein Zeichen seines Daseyns empfangen. Diese Gedanken gaben meiner Neigung für Bettina etwas rührend Zärtliches, welches ich noch nie bei ihr empfunden hatte. Ich sagte ihr manches über ihre innre und äußre Existenz, welches sie mit lebendigem Wahrheitssinn aufnahm, denn ich selbst hatte ein sehr klares [384] Gefühl ihrer ganzen Individualität. Ohne etwas besonders dabey zu denken, brachte ich meine Sachen in Ordnung, und versiegelte meine Papiere. Bettina fiel mir weinend in die Arme, und rief: Ach du willst mich verlassen! Ich lachte, und versprach ihr dann ernsthaft, sie sollte immer bey mir bleiben.
Bei einbrechender Nacht entfernte ich das Mädchen, verhüllte meine Gestalt so sehr als möglich, und eilte dem Stadtthor zu. Charles hatte diese Einrichtung getroffen, er schien mir bedenklicher, ja furchtsamer, als bei unsrer ersten Zusammenkunft mit meiner Mutter.
Es war eine sehr finstre Nacht. Regenwolken umhüllten den Mond [385] und die Sterne, und der Regen fing schon an zu fallen, als ich kaum einige Schritte vom Hause der Gräfin entfernt war. Ich eilte so sehr ich konnte, aber ich war schwach von der schlaflosen Nacht und den mancherlei Stürmen, welche in den letzten Tagen auf mein Gemüth eindrangen. Der Wind jagte mir den Regen entgegen, und benahm mir die Luft. Athemlos lehnte ich mich für einen Augenblick an eine Mauer, einem Laden gegenüber, welcher sehr erhellt war. Eine große Gestalt ging ganz dicht an mir vorbei, sie hatte den Hut tief in die Augen gedrückt. Aber in dem Moment, wo das Licht aus dem Laden das Profil des Untergesichts stark erhellte, dünkten mirs [386] Nordheims Züge zu seyn. Ich bebte vor Furcht und vor Freude. – Ein Wort der Liebe von den geliebten Lippen zu vernehmen, und dann an der Brust der Erde mein Leben auszuhauchen, um in dem Athem des Ewiglebenden neu aufzublühen, dieser Wunsch bewegte mein Innerstes. Wenn uns die Naturkräfte im Sturm aufgeregt erscheinen, und wir selbst dem Sturm in unserm Innern kaum entrannen, dann schmiegt sich ein Gemüth. welches das Vermögen besitzt, sich der ewigwirkenden Kraft nahe zu fühlen, mit unendlichem seligem Verlangen an das Eine, Bleibende, in oder über der Natur.
Die grüne Erde dünkt uns wirklich der Schooß der Mutter, über [387] welchem ewig unwandelbares Leben weht, um uns einem neuen Daseyn zuzubilden.
Wie sonderbar geht oft eine neue ungewöhnliche Stimmung in unsrer Seele einer Begebenheit zuvor, die unsern Verhältnissen und uns selbst eine neue Gestalt giebt; gleich als gäbe uns unser Genius den Wink, unsre Kraft zu sammlen! Der Wunsch nach der Auflösung unsers Wesens, bildet in gewissen Stimmungen unsrer Seele ein neues Lebensorgan, und die gestaltlose, aber lichte Zukunft, der sich unser Innres entgegendrängt, wirft auf alle Erscheinungen der Erde ein neues milderes Licht. Welcher feine Mensch, der gewöhnt ist in sich selbst zurück zu [388] blicken, kennt nicht jene Momente des reichern höheren Lebens, wo die Seele eine unabsehliche Kette der Gedanken durchfliegt, und die reicher an lebendigen Erscheinungen in seinem Innern sind, als oft Zeiträume von Jahren!
Ich halte solch einen Moment durchlebt, und fand mich gestärkt und erhellt, um jeder Begebenheit zu begegnen. Selbst der geliebten Erscheinung Nordheims ging ich mit Ruhe und stiller Freude, ohne Furcht und Sehnsucht entgegen.
Der Regen dauerte fort, und durch die Finsterniß und den Sturm arbeitete ich mich nur mühsam und langsam hindurch, bis zum bestimmten Ort. Als ich bei einigen erleuchteten [389] Häusern vorbeikam, dünkte mir's, als folge mir die Gestalt, die ich zuvor sah; sie stand still, sobald ich mich nach ihr unwendete. Ich dachte nicht mehr, daß es Nordheim wäre, und glaubte mit Recht, meine Einbildung habe mich betrogen.
Auf dem bestimmten Platz fand ich den Wagen. Charles bot mir die Hand zum Einsteigen, und nahm seinen Sitz neben mir. Er schien ungewöhnlich bewegt, und sprach wenig. Wir waren ohngefähr eine Viertelstunde gefahren, als der Weg vom Steinpflaster abging. Einige Reiter waren uns bis dahin gefolgt, Charles sah sich oft nach ihnen um. Jetzt verließen sie uns, und er schien ruhiger.
[390] Wir hatten schon einen weitern Weg gemacht, als bei der ersten Zusammenkunft, als sich die Wolken zertheilten und der Himmel aufhellte. Ich öffnete das Wagenfenster, um des gestirnten Himmels zu genießen. Welch eine schöne Nacht, mein Freund! sagte ich zu Charles, um seinen Trübsinn zu zerstreuen. Ist's Ihnen nicht auch, fuhr ich fort, als ob die Klarheit des Äthers den innren Sinn umleuchtet, wie die Sonne die Gestalten der Erde? Alles Drückende und Verworrene löst sich auf, mit einem Blick in das grenzenlose Blau des Himmels, von dem eine Ahndung des Unvergänglichen uns entgegenweht. Dieser Tag soll mir ein merkwürdiger Tag bleiben. Ihr Gespräch [391] diesen Morgen hat mich zu mancherlei Erscheinungen in meinem eignen Wesen vorbereitet. – Charles drückte meine Hand, und sagte mit zitternder Stimme: Unser eignes Daseyn ist zu ermessen und zu ertragen, aber die Sorgen der Liebe drücken uns dreifach schwer darnieder. Wer für sich nur fürchtet, fürchtet nichts.
Die Reiter stießen wieder zu uns. Charles hieß mich ängstlich, mich nicht wieder aus dem Wagenfenster herauszubeugen. Sie folgten unserm Wagen seit einer halben Stunde, Charles wurde immer unruhiger, und als wir durch ein Dorf fuhren, sagte er: Wir müssen diese Leute von unsrer Spur entfernen; und bat mich, [392] am Wirthshause auszusteigen. Man führte uns in ein kleines Zimmer, dessen Fenster gegen den Garten geöfnet waren. Die Düfte der vom Regen erfrischten Pflanzen wallten uns durch die helle Mondnacht entgegen. Mir war wohl und sonderbar klar in meinem Gemüth. Ich sprach mit Charles von der Freude, meine Mutter zu sehen, und von der Hofnung, daß die geheimnißvollen drückenden Verhältnisse sich endlich einmahl auflösen würden.
Hoffe nichts und fürchte nichts, liebes Kind, sagte Charles, so hat das Schicksal keine Gewalt über dich. Er stand trübsinnig neben mir, und gab nur unzusammenhängende Antworten.
[393] Ein wilder Lärm drang an unsre Thür. Charles verwahrte sie von innen, so gut er konnte, stellte sich mit bloßem Degen davor, und bat mich, in einer Ecke des Zimmers ruhig zu bleiben.
Unter einem wilden Getöse von mancherley Stimmen erkannte ich Nordheims Stimme. Mit festem gebietendem Ton befahl er dem Wirth, die Thür unsres Zimmers zu öffnen. Der Wirth entschuldigte sich, es sey ein Herr mit einer Dame darinnen, welche gewiß nichts weniger als einen Überfall erwarteten.
Nichtswürdiger! sagte Nordheim zornig, eben das Mädchen fodere ich, sie ist mit Gewalt geraubt.
Wie belebend fühlte ich in meinem [394] ganzen Wesen Nordheims Antheil an mir! Die ganze peinigende Verworrenheit dieser Szene vermochte nicht dieses Gefühl niederzuschlagen. Ich bat Charles, die Thür zu öfnen, und sich gegen Nordheim frei zu erklären. Er sah mich wild an, und sagte: Du weißt nicht, was du begehrst. Du bist deiner Mutter für immer entrissen, wenn du in die Hände des Fürsten kommst, Nordheim ist sein Freund. O er ist edel, Charles! rief ich. Lassen Sie uns ihm alles vertrauen. Er kann nie ein in ihn gesetztes Vertrauen beleidigen.
Armes, hingebendes, leichtgläubiges Geschöpf! sagte Charles. Du kennst das Leben noch nicht, und[395] welche doppelte Gestalt es dem menschlichen Gemüth aufdrückt. Laß dich zu keiner Unvorsichtigkeit verleiten, die du ewig bereuen müßtest.
Nordheims wiederholter Befehl, die Thür zu öfnen, machte unserm Wortwechsel ein Ende. Er befahl seinen Leuten, sie aufzuschlagen. Der Wirth gab wahrscheinlich nach. Die Thür öffnete sich, Nordheim trat herein, und eine Menge von Leuten des Wirths und von seinen eigenen drangen ihm nach.
Es wage sich keiner über diese Schwelle! rief Nordheim. Alles entfernte sich, bis auf einen von seinen Leuten, der bittend rief, indem er auf Charles wilde Gestalt deutete: Bester Herr, lassen Sie mich bleiben! [396] Geh augenblicklich! sagte Nordheim, und schloß die Thür hinter ihm ab.
Jetzt, redete er Charles an, jetzt sagen Sie, was berechtigt Sie zu diesem Betragen? Nur die Neigung dieser Dame für Sie kann es entschuldigen, aber nie rechtfertigen, Im Nahmen Ihres väterlichen Freundes bitte ich Sie, sogleich nach dem Hause der Gräfin zurückzufahren, sagte er mir sehr ernsthaft. Mein Wagen erwartet Ihren Befehl. Er faßte meine Hand, legte sie in seinen Arm, und eilte der Thüre zu. Ich vermochte es nicht, der süßen Gewalt zu widerstehen; ich folgte, beinah unwillkührlich, denn der Gedanke an meine Mutter hielt mich nicht weniger [397] mächtig zurück. Nun schrie Charles: Ich behalte das Mädchen, oder den Tod für einen von uns beiden! Vertheidigen Sie sich. Er hatte Pistolen aus dem Gürtel gezogen, reichte die eine Nordheimen, und behielt die andre, nach ihm zielend, in der Hand.
Waffen können nur zwischen Menschen von gleichen Rechten und gleicher Kraft entscheiden, sagte Nordheim. Ich schlage mich mit keinem Unbekannten. Wer sind Sie? Und was treibt Sie an, die Ruhe eines edlen Mädchens und ihrer Freunde zu kränken?
Ich hatte einst einen Nahmen, der mir das Recht gab, mich mit den Edelsten zu messen, sagte Charles,[398] aber er ist aus dem Reich der Lebendigen verlöscht; – ich bin nichts mehr, – ein Schatten, der kraft- und thatenlos umherschwebt.
Die Hand mit dem Pistol sank, und er blieb starr und unbeweglich. Es war ein Ausdruck dumpfer Verzweiflung in seinem Ton. Nordheim näherte sich ihm edel und gütig, ohne Waffen, und sagte: Was zwingt Sie, Unglücklicher, solch eine Rolle zu übernehmen? Ist es eine unbezwingliche Leidenschaft, so werde ich Ihr Vertrauen nicht mißbrauchen. Handeln Sie zur Beförderung fremder Zwecke, unter fremdem Einfluß, so kann nur ein offenherziges Geständniß Ihnen meine Verzeihung erwerben. Dringt Sie die Noth, [399] ein unedles Geschäft zu übernehmen, so erwarten Sie von mir eine größere Belohnung, wenn Sie sich davon lossagen. Reden Sie, aber widersetzen Sie sich nicht, daß ich das Fräulein zurückführe, oder Sie bezahlen es mit Ihrem Leben, denn in jedem Fall bin ich entschlossen, sie nicht hier zu lassen.
Bittres Schicksal, zwingst du mich, auch noch ein Mörder zu werden! rief Charles, und richtete das Pistol gegen Nordheim.
Ich hatte mich von Nordheim losgemacht, und fiel Charles in den Arm, ihn zurück zu halten. Nordheim war mir schon zuvor gekommen, und hatte ihm das Pistol mit einer geschickten Bewegung und [400] überlegener Stärke aus den Händen gewunden.
Wie rasch, bestes Kind! sagte mir Nordheim. Wie leicht hätten Sie sich verwunden können! Beruhigen Sie sich, ich werde keine Waffen gegen einen Mann führen, der Ihnen werth ist. Aber folgen Sie mir jetzt. Verzeihen Sie, ich muß es fordern, und ich weiß, Sie selbst werden es mir in einer ruhigen Stimmung danken.
Die reine Güte in diesen Worten zog mein Herz unaussprechlich zu Nordheim, so sehr mich auch ihr Sinn schmerzte, der ein Herzensverhältniß mit Charles durchaus voraussetzte, und auch in meiner glühenden Besorgniß um ihn selbst nur Liebe für seinen Gegner sah.
[401] Ach Nordheim, sagte ich, wie sind Sie so gütig, und so grausam zugleich! Meine Thränen flossen unaufhaltsam.
Seyn Sie überzeugt, meine Agnes, ich wünsche nur Ihr dauerhaftes Glück, sagte Nordheim sanft. Ich verspreche alles für Ihre Liebe zu thun, aber für jetzt folgen Sie mir!
Ich fühlte, wir verwirrten uns unauflöslich. Meine vorhergegangene Stimmung hatte mich über alles konventionelle erhoben, und ich glaubte mich wirklich in diesem Moment jugendlicher Selbsttäuschung über alle Leiden und Freuden des Lebens emporgerückt.
Charles stand in stummer Betäubung mit dem Rücken an die Thüre gestemmt, und schien entschlossen,[402] alles zu wagen. Die Spannung zwischen ihm und Nordheim mußte aufgelöst werden. Nur der unendliche Himmel mit seinen glänzenden Sternen lag vor meinem Auge. Ich fühlte eine Kraft der Wahrheit, des Vertrauens, in meinem Busen, und den Muth, als könne und müsse ich diese verworrene Lage auflösen.
Hören Sie mich an, Nordheim, sagte ich. Es sind die letzten Worte, die Sie von meinen Lippen vernehmen werden. Nach diesem Augenblick werden Sie mich nie wieder sehen. Nicht Liebe führte mich hierher mit diesem Manne. Ein Geheimniß, welches nicht mein gehört, und ich Ihnen also verbergen muß, hieß mich diesen und alle andere Schritte thun, welche Ihnen von [403] jeher Verdacht gegen mich einflößten. Was Liebe und Zärtlichkeit in meinem Wesen heißt, fand längst einen Gegenstand, den es fest und einzig umsaßte, – aber seit gestern mit tiefen Schmerz verläßt. Leben Sie wohl, sagte ich mit tiefer Bewegung, und bewahren Sie das Bild eines Wesens, welches Ihnen angehörte, rein im Andenken. Jetzt lassen Sie mich meinen Verhältnissen, meinen Pflichten ruhig folgen. – Nordheim lag zu meinen Füßen. Ist es möglich! xief er, bin ich der Glückliche! von Ihnen geliebt! Verzeihung, beste Seele, – ich wagte dieses Glück nur vor wenig Augenblicken zu träumen. Von nun an lebe ich nur für Sie. Können Sie mir verzeihen? – Süßer einziger [404] Moment unsers Lebens, wo unsre heiligste Hofnung unser Herz als Wirklichkeit ergreift, und mit jenen süßen geheimnißvollen Schauern eines neuen Daseyns überströmt!
Ich hatte keine Worte, meine Sinne waren verwirrt, ich zog Nordheim zu mir auf, seine Arme umfaßten mich, und unsre Lippen berührten sich.
Jene süßen Augenblicke bewahrt sich selbst die Zauberkraft der Erinnerung nur in geheimnißvollen Zeichen, und wagt es nicht, sie in eine Sprache zu übersetzen. Schwindelnd entwand ich mich Nordheims Umarmung, und da mein Herz in seinem beschränkten Daseyn seine Vergangenheit wieder fand, schwankte Amaliens Bild vor meinen Sinnen. Auch[405] sie ruhte an dieser Brust! sagte ich mir. Vergebens wollte ich dieses Bild zurückweisen, ein tiefes schmerzliches Mitleiden, bald mit ihr, bald mit mir selbst, bewegte meine Seele. Nordheims Blicke sprachen nur Liebe und hingebende Zärtlichkeit, unter süßen Thränen bat er aufs neue um meine Verzeihung. Auch ihm schien die Vergangenheit lebendig vorzuschweben, aber nur sein schwankendes Betragen gegen mich schien ihn schmerzlich zu bewegen. O wie viel, rief er aus, nimmt uns das Leben mit der Welt, indem es das holde Vermögen zerstört, der sichern Stimme unsers Herzens zu folgen. Wir müssen uns des Glaubens entwöhnen, wenn wir für andere handeln und leben, und können ihn dann [406] für uns selbst oft nicht wieder finden. Mißtrauen konnte ich der heiligen Einfalt und Wahrheit deines Herzens nie, über jede Vergleichung erhaben stand dein schönes Wesen vor mir. Oft fühlte ich deine Liebe, – hätte ich meinem Herzen gefolgt. – Doch so süß ist es auch, all mein Glück Ihrer Güte zu danken, meine Agnes.
Himmlische Ruhe, Klarheit und Treue leuchteten aus Nordheims Augen; – ich fühlte mich unaussprechlich sein. Von diesem heiligen Herzen kann mir nichts Böses kommen, von dem Anschaun dieser theuern Gestalt kann ich nicht scheiden, – unter den verworrensten Lagen wird mich dieses Gefühl empor halten. Der stille Entschluß, um seinetwegen [407] alles zu tragen, überglänzte wie ein leuchtender Schild Amaliens Bild, so stark es auch hervordrang.
Mein Freund, sagte ich jetzt zu Charles, ich bin bereit Ihnen zu folgen. Sie werden Herrn von Nordheim künftig näher kennen lernen.
Charles hatte wie in einem tiefen Traum gestanden. Es ist ein Nahme, den die Welt mit Ehrfurcht nennt, sagte er, ein mir unaussprechlich theurer Nahme! Aber ein finstres Schicksal hält mich gebunden. Ich muß die liebsten und schönsten Erscheinungen als düstre kalte Schatten vor mir vorbey schweben sehen. Meine Hand darf nichts Lebendiges mit Muth und Freude ergreifen. Alles Mißtrauen schwindet vor solch [408] einer edlen Gestalt, sagte er freundlicher und indem er sich Nordheim näherte; ob Sie gleich ein Freund des Fürsten von ** sind, der mich verfolgt, so fühle ich doch, Sie können mir gerecht seyn.
Ich folgte Ihnen nur, erwiederte Nordheim, um das Herz meiner Agnes zu ergründen, um sie vor einem Fehltritt jugendlicher Übereilung zu beschützen. Jede andre Beweggründe sind fern von mir. Ohne irgend ein bestimmtes Verhältniß in D., diene ich nur zu Übungen der Güte. Ich weiß, daß der Fürst aufmerksam auf Ihren Aufenthalt in der D .. schen Gegend war. In jedem Fall war meine Meinung, Ihnen auf meinen Gütern eine Freistatt anzubieten. Jenes alles sind von nun [409] an fremde Verhältnisse, und als der Freund meiner theuren Agnes haben Sie ein Recht an meinem wärmsten Diensteifer.
Charles sah uns beide einige Minuten hindurch fest und mit scharfen Blicken an. Ist es so? sagte er leise vor sich hin, und seine Augen blieben sinnend am Boden geheftet. Dann eilte er freudig auf uns zu, indem er rief: Ja, es ist so! Reine Freude, der erste belebende Strahl der Liebe flammt in den Blicken meiner Agnes; und, indem er auf Nordheim deutete: auf solch einer Stirn wohnt keine Unwahrheit. Möge ein gutes Schicksal die heiligen Blüthen, die die Natur jedem menschlichen Wesen nur einmahl reicht, für euch, meine Kinder, in Schutz nehmen. [410] Möge nur die Zeit sie hold umwandeln, aber kein Sturm sie abbrechen. Verzeihen Sie mein voriges Mißtrauen, Herr von Nordheim, fuhr er fort, in einem lange gepreßten Herzen ist die Furcht eingewachsen. Verachten Sie mich nicht um meiner ängstlichen Sorge willen. – O wenn Sie wüßten, warum ich leben muß!
Nordheims Augen fielen voll schmerzlicher Besorgnisse auf mich. Charles sonderbares Wesen schien ihn zu beunruhigen.
Ich hoffe, sagte er sanft zu Charles, Sie gönnen mir für die Zukunft ein Vertrauen, welches uns beyden wohlthätig seyn wird. Sie finden auf meinem Gute alles zu Ihrem Empfang bereit, und sobald als [411] meine Agnes es wünscht, komme ich selbst zu Ihnen.
Jetzt lassen Sie uns eilen! sagte Charles zu mir. Sobald ich Agnes wieder nach D. begleitet habe, eile ich nach Ihrem Schlosse. Bereiten Sie sich manches von mir zu vernehmen, was Sie verwundern, schmerzen, aber auch erfreuen wird.
Geht meine Agnes auch keiner neuen Gefahr entgegen? sagte Nordheim bedeutend. Ohne in Ihr Geheimniß eindringen zu wollen – dürfte ich Sie nicht begleiten, nur von fern Ihrem Wagen folgen, um Ihnen auf den ersten Ruf nah zu seyn?
Ich fühle Ihre Besorgniß, sagte Charles, aber ich muß diesen Wunsch versagen.
[412] Ich bin ein unglücklicher, aber ein ehrlicher Mann! Es lag ein fürchterlicher Nachdruck in dem Ton, mit welchem er diese Worte aussprach, und sein starrer Blick, eine wilde Bewegung der Hand nach Nordheims Arm, deutete auf die ganze Bitterkeit gegen ein Schicksal, welches ihn nöthigte, zu diesem Selbstgeständniß seine Zuflucht zu nehmen.
Bitten Sie Herrn von Nordheim, uns nicht zu folgen, sagte mir Charles.
Sie fühlen, mein Theurer, sagte ich zu Nordheim, daß nur die unbezwingliche Nothwendigkeit mir gebieten kann, Ihnen einen Augenblick Unruhe zu machen. Meine Thränen flossen auf Nordheims Hände, die ich zwischen den meinigen hielt. Es [413] ist das erste Zeichen meiner völligen Ergebenheit, liebste Agnes, sagte er sanft, ich gestehe daß es mir viel kostet, aber ich werde Ihrem Befehl folgen. – O meine theure Liebe, wie schnell gewöhnt sich doch unser Herz an das Glück! Schon ist mir's, als könnte ich mich nicht für wenige Stunden von dir trennen. In einer süßen Umarmung strebten unsre Herzen sich auf ewig zu vereinigen, und schon schwebt drohend die kalte Hand des Schicksals über uns, die ein menschliches Daseyn unaufhaltbar in der Fluth der Begebenheiten fortdrängt. Unsre Thränen flossen unaufhaltsam. Gute Seelen! sagte Charles bewegt. Überlassen Sie mir das Mädchen getrost, Nordheim, sagte er halbscherzend. Sie hörten von [414] Ihrem Vater den Nahmen eines alten unglücklichen Freundes?
Ist es möglich? rief Nordheim freudig. Mit ihm beschäftigte sich mein Vater in seiner Todesstunde, vertraute mir Papiere für ihn, und manches meinem Gedächtniß, was zu gefährlich fürs Papier war. Sonderbare Ahndung, du hast mich also nicht betrogen!
Auch haben Sie etwas, um sich auf das weitere, welches ich Ihnen für morgen verspreche, zu vertrösten, – sagte Charles, und faßte meinen Arm. Leben Sie wohl bis dahin. Wohl mir! rief er aus, ich werde den treuen Sinn meines entschlafenen Freundes noch einmahl vernehmen. Die Zeit verstattet für jetzt keine weitere Erklärung.
[415] Er zog mich fort. Nordheims Auge strahlte Freude und Ruhe, und auch aus meiner Brust entflohen die Sorgen in seinem heitern Blick. Zwar lag mir ein Schleyer über meinen Verhältnissen, aber es war der duftige Rosenschleyer eines Frühlingsmorgens, hinter welchem das neusprossende Leben der Natur waltet, um den Schooß der Erde mit jungen Blumen zu schmücken.
Ich grübelte nicht über Charles Rede, und genoß die Fülle süßer Ahndungen. Morgen finden wir uns wieder, sagte Nordheim als er mich in den Wagen hob, und ein Kuß auf meine Hand aus dem Wagenfenster goß eine belebende Flamme durch mein Wesen.
Ihre Mutter, sagte Charles als [416] wir im Wagen saßen, muß morgen diese Gegend verlassen. Der Trost, Sie noch einmahl zu sehen, war zu ihrer Erhaltung nothwendig.
Ich mußte Charles von meiner Liebe reden. Wir durchflogen eine goldene Zukunft; Charles hatte eine innige Empfindung meines Glückes, die mich tief rührte.
Ich gäbe die Momente meines Zwistes mit Nordheim nicht um Jahre einer längern Bekanntschaft, sagte er unter andern. Die Art, wie sich ein Mann in solchen Lagen benimmt, ist entscheidend für Charakter und Herz.
Welche Größe und Festigkeit war in seinem Betragen! Der wahre Muth, der aus Kraft des Charakters entspringt, Besonnenheit und [417] heller Blick in der Gefahr, bleibt immer die Krone des Mannes.
Das Lob des Geliebten ist die süßeste Musik; ich war verloren in Entzücken und süßen Hofnungen.
Wir fuhren an der langen Mauer hin, die ich beim ersten Besuch bemerkt hatte. Bald hielt der Wagen. Charles stieg aus. Statt des Stillen und Geheimnißvollen bei unserm ersten Empfang, sah ich ihn von Leuten umringt, die mit Lichtern und Geschrey durch einander liefen. Ich hörte heftigen Wortwechsel mit Charles, zwey Schüsse, nach denen ich meines Freundes Stimme nicht wieder vernahm.
Ich wollte mich aus dem Wagen werfen, man stieß mich ungestüm zurück. Der Gewalt konnte ich nicht[418] widerstehen, und lag in dem schmerzlichsten Zustand der gebundenen Kraft bei dem regesten Willen, in Krämpfen auf dem Boden des Wagens. Man spannte andere Pferde vor, und fuhr weiter. Ein fremder ganz unbekannter Mann richtete mich auf, und setzte sich neben mich. Er gab keine Antwort auf meine Fragen, doch bezeugte er Mitleid bei den Ausbrüchen meines Schmerzens.
Es soll Ihnen kein Übel widerfahren! wiederholte er mir öfters.
Ich fiel in Fieberhitze, dann in Ermattung und Ohnmacht, endlich verlor ich alles Bewußtseyn.
Als ich aus diesem Zustand erwachte, lag ich in einem kleinen düstern Zimmer. Eine Frau saß an meinem Bette, es war eine kleine [419] zusammengefallene Gestalt, ihre Gesichtszüge trugen die Spuren mancher widriger Schicksale, und die Freundlichkeit, die sie anzunehmen suchte, machte sie ganz zur Larve. Seit acht Tagen, sagte sie mir, lagen Sie hier, ohne ein Zeichen des Bewußtseyns von sich zu geben; Sie sind mir theuer empfohlen, und Ihr Zustand machte mich sehr besorgt.
Wo bin ich aber? fragte ich aufs neue; und sie erwiederte: Beunruhigen Sie sich nicht, Sie sind an einem Ort, wo Sie sich bald Ihrer völligen Genesung erfreuen werden. Die Lage ist anmuthig, die Luft gesund, und man wird sich ein Vergnügen daraus machen, alles zu [420] Ihrem Zeitvertreib beizutragen, was die Umstände nur immer erlauben.
Ich hörte an der Aussprache, daß die Frau keine Deutsche war, sondern eine Französin. Der Mann hatte sich entfernt. Die Kraft der Jugend und meine gute Natur hatten die Macht der Krankheit besiegt, mein Blut ging seinen ruhigen Kreislauf aufs neue, und mein Gedächtniß fing an, die Fäden der wirklichen Begebenheiten aus dem Gewirre der Erscheinungen zu lösen, die meine Einbildungskraft während der Fieberhitze erzeugt hatte.
Kalt und zerstöhrend ergriff mich die Entfernung von meinem geliebten Freunde. Das Gefühl des Fremden und Unbekannten um mich her ergriff mich mit Grauen, ein wilder [421] Schmerz bewegte krampfhaft meine Brust, und mein Daseyn drohte aufs neue in dumpfer Fühllosigkeit zu vergehen, als ein guter Genius meine jugendliche Phantasie neu und heiter belebte, und mein Herz auf eine wundersame Art mit Glauben und Hofnung stärkte.
Ein lieblicher kleiner Knabe trat herein, und brachte einen Teller voll der schönsten Früchte. Ich empfand ein inniges Vergnügen bei diesem Anblick, er knüpfte sich auf eine sonderbare Art an eine meiner vergangenen Erscheinungen, die ich während der Fieberhitze gehabt hatte, und die sich jetzt als ein liebliches Bild in meiner Seele wieder ordnete. Mit unaussprechlich lebhafter Farbe stellten sich alle jene Traumgestalten [422] vor mich, nur ein leichter duftiger Nebelschleyer schien zwischen ihnen und der Wirklichkeit zu liegen.
Ich saß neben Nordheim in einem blühenden Garten. Er hielt mich ernst und schweigend bei der Hand. Ein großer bunter Vogel mit den glänzendsten Farben geschmückt, flog auf uns zu, und hielt ein Körbchen voll der schönsten Früchte in seinem Schnabel. Wir reichten beide nach den Früchten, aber der Vogel flatterte bei uns vorbei, lachte und rief Nordheimen zu: Noch nicht, sobald noch nicht, denn sie liebt dich nicht! Nordheim zog seine Hand aus der meinen, und eilte sich zu entfernen, ich warf mich zu seinen Füßen, weinte, wollte ihn zurück halten, aber vergebens, er war [423] verschwunden. Ich suchte ihn auf, aber wo ich auch hinfloh, so zog sich ein Kreis von Gebüschen, meist von wilden Rosen um mich her, und versperrte mir den Ausgang. War ich einmahl durch eine Lücke der Hecke entwischt, so bildete sich gleich wieder ein neuer Kreis, der zu einer schauerlichen Höhe empor wuchs. Julius stand mitten in solch einem Kreis, er trug die Rüstung eines alten Ritters, und über die Brust eine breite weiße Binde, die Blutflecken hatte. Ich näherte mich, er riß die Binde auf, und aus seiner Brust wuchs eine Blume von sonderbarer Gestalt und Farbe, die ich nie gesehen. Reiß mir die Blume von der Brust, sagte er mir ernsthaft, und ich befreie dich. Ich gab mir alle Mühe, die Blume[424] abzubrechen, aber vergebens. Er sah mir lächelnd zu, berührte die Rosenhecke um uns her mit seinem Degen, und es öfnete sich ein kleiner Fußpfad. Bald zertheilten sich die Gebüsche, vor uns lag Nordheims Schloß. Nordheim selbst näherte sich uns freundlich, und als wir alle drey dicht bei einander standen, flog derselbe bunte Vogel auf uns zu. Langsam ließ er sich über unsern Häuptern nieder, und als er die Erde berührte, sahen wir statt seiner einen wunderschönen Knaben. Er hielt denselben Teller mit Früchten, welchen uns der Vogel erst versagt hatte, wir eilten alle drei, das Kind zu umarmen.
Der Zauber dieser Traumgestalten wirkte belebend auf mein Gemüth, [425] wie die Gegenwart eines Freundes, und die alte Frau freute sich der sonderbaren Veränderung, die der Anblick des Kindes in mir bewirkt hatte.
In kurzem erschien der Arzt, ein Mann von mittlerem Alter, mit einer angenehmen Bildung und wohlwollenden Miene; er näherte sich mir mit Anstand, und erkundigte sich mit bescheidnen Fragen nach meinem Befinden.
Ich bemerkte bald, daß ihm die Gegenwart der Alten Zwang auflegte; als sie sich auf ein paar Augenblicke entfernen mußte, sagte er sanft: Vor allem wird es zu Ihrer Genesung beitragen, wenn Sie sich über Ihre, ich gestehe es, freilich sonderbare Lage an diesem Ort, keine [426] beunruhigenden Gedanken machen. Haben Sie Muth, und sorgen jetzt einzig und allein für Ihre Genesung! Die Alte kam zurück, ehe ich antworten konnte, und das Betragen des Arztes gegen sie, hieß mich jede Frage in ihrer Gegenwart unterdrücken.
Als sie auch entfernt auf meine Gemüthsstimmung deutete, und mich Muth fassen hieß, antwortete ich kalt, daß ich mir nichts bewußt wäre, wodurch ich ein böses Schicksal verdient hätte, und daß ich also auch keins befürchtete.
Der Arzt sagte hierauf: alles läge daran, jede trübe Vorstellung zu entfernen, und mich auf eine angenehme Art zu zerstreuen. Die Alte sollte mir leichte und anmuthige Geschichten vorlesen, [427] die meiner Phantasie freundliche Bilder zuführten. Sie haben ja die Schlüssel zu der Bibliothek, sagte er, und das Fach der Mährchen ist gewiß gut besetzt.
Ich wußte es dem Arzt herzlichen Dank, daß er mich durch diesen Vorschlag von der unerträglichen Alten lästigem Gespräch befreite. Die Feinheit und der gute Wille, welchen dieses Mann gegen mich bezeigte, waren mir sehr tröstend, und gaben mir Hofnung, bald Nachricht von meinen Freunden zu erhalten. Charles Schicksal füllte mein Herz mit Bangigkeit, und lag immer als ein dunkler Schatten vor den süßen Rückerinnerungen jenes letzten Abends, der dem gewaltsamen Zustand, aus welchem ich eben erwacht war, voranging.
[428] Alle kleinen Züge jener seligen Zeit erfrischten sich in meiner Vorstellung, und des Gefühl: Du besitzest Nordheims Liebe! gab mir ein neues, wundersames, kräftigeres Daseyn. Er war mir auf eine unaussprechliche Art immer gegenwärtig, Verlangen und Sehnsucht nach seinem lebendigen Daseyn waren zart und lieblich, aber nicht ungestüm. Die Kraft, alles zu werden, was hoch und treflich ist, fühlte ich nie so tief und lebendig. Seine Sorge um mich war das Schmerzlichste, was ich empfand; und doch, welcher geheimnißvolle unaussprechliche Reiz gab auch dieser Sorge eine sanfte Farbe!
Nur zuweilen flog durch meinen von der Krankheit geschwächten Kopf, in welchem Traum und Wahrheit [429] noch schwankten, ein beunruhigender Zweifel, ob mein Glück auch kein Traum sey? Mit welchem Vergnügen fand ich bei meinen Kleidern, die auf einem Stuhl am Fuß des Bettes lagen, ein Tuch mit Nordheims Nahmen gezeichnet! Ich verwahrte das Tuch an meinem Herzen als das liebste, was ich besaß, und gleich als vermöchte es die Fülle lieber Erinnerungen mit dem Schleyer der Wahrheit zu bedecken und fest zu verwahren.
Der Arzt kam täglich, aber meine Alte bewachte mich mit Drachenaugen, und ein besondres Gespräch mit ihm war unmöglich.
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