[111] Fünftes Kapitel.
Bianca.
Gefesselt von Elwirens Schönheit und ungewöhnlich erregt von dem zufällig gemachten Funde, begrüßte der Kapitän Madame Oehlers, die ihn mit mütterlicher Freundlichkeit empfing. Seine Schutzbefohlene hatte Aurel einstweilen einer Dienerin übergeben, da er es doch für nöthig hielt, die ihm wohlwollende Dame vorher noch persönlich zu sprechen.
»Darf ich Verzeihung hoffen, gnädige Frau, Verzeihung für meinen Ungestüm?« sagte der junge Mann, sein feuriges Auge auf den immer sanften Blick der Wittwe richtend.
»Gewiß, mein Freund,« versetzte Madame Oehlers anmuthig lächelnd. »Aber Sie geben [112] mir Räthsel auf, Graf, und Sie wissen doch, daß sich meine unzulängliche Bildung nie entschiedener geltend macht, als wenn es dergleichen Geistesknoten zu lösen gibt.«
»Haben Sie meine hastigen Zeilen erhalten?«
»Wie hätte ich Sie ohne dieselben so früh am Tage empfangen können!«
Aurel fühlte den zarten Verweis, der in dieser Antwort liegen konnte, erfaßte die Hand seiner Freundin und erwiederte, indem er sie an seine Lippen führte:
»Nochmals Verzeihung, meine Gnädige, Verzeihung wegen meines Verstoßes gegen alle Sitte! Ich konnte nicht anders – ein sonderbares Verhängniß zwang mich zu so ungewöhnlichem Schritte! O Gott, theure Freundin, Sie ahnen nicht, wie es in mir stürmt!«
Besorgt ließ die Matrone einen forschenden Blick über den Aufgeregten gleiten. »In der That, lieber Graf,« sagte sie, »es muß Ihnen etwas höchst Seltsames begegnet sein, denn so tief ergriffen sah ich Sie noch nie! Reden Sie, ich bitte, und wenn irgend meine Vermittelung Ihnen Beruhigung verschaffen kann, so sichere [113] ich Ihnen diese auf das bestimmteste jetzt schon zu.«
Aurel drückte der menschenfreundlichen Frau dankend die Hand. »Von Ihrem Edelmuth durfte ich dies erwarten,« versetzte er etwas gefaßter. »Gestehe ich es Ihnen denn, daß ich seit zwölf Stunden ein anderer Mensch geworden bin. Könnte ich Ihnen mit zwei Worten sagen, was mich bewegt und erschüttert, Sie würden mich eben so wenig wieder erkennen, wie ich mich selbst in diesem Augenblicke nicht kenne. Ich glaube, es wäre mir ein Leichtes, Einsiedler, Trappist oder gar Herrnhuter zu werden. Bei Gott!«
Madame Oehlers konnte ein feines Lächeln nicht ganz unterdrücken. »Das sind Einfälle eines heftig bewegten Gemüthes, lieber Graf,« gab sie zur Antwort. »Werden Sie ruhig, überblicken, überlegen Sie das Vorgefallene, und was Sie jetzt so gewaltig beunruhigt, wird spurlos wieder verschwinden. Ich fürchte, mein Freund, Sie haben in vergangener Nacht zu sehr geschwärmt,« setzte sie leicht drohend hinzu.
»Soll ich läugnen, daß ich mit dieser Absicht mich in das Gewühl der Menschen stürzte?« [114] entgegnete Aurel. »Wozu dies, da Sie mich, meine Natur, meine Neigungen kennen. Rascher, flüchtiger Genuß ist das heitere Element, in dem ich mich am liebsten bewege; mannichfachste Abwechselung verlangt mein schnell verzehrendes Temperament, und wenn ich ihm solchen verschaffe, so folge ich nur der Stimme der Natur, die laut fordernd stündlich an mich ergeht. Das Naserümpfen prüder Schönen und pedantischer Minutenmenschen kümmert mich nicht! Die See mit ihrem Wellengebrause und Sturmesdonner hat alle kleinliche Rücksichtnahme aus meinem Geiste weggefegt. Die Brust ist frei und stark, der Muth immer frisch und begehrend, warum also soll ich mich da nicht ganz so geben, wie ich nun eben bin und wie ich mich allein natürlich fühle? Aber diese Nacht hat mich so abgekühlt, als wäre ich ein halb Dutzend Mal gekielholt worden!«
»War das Mädchen, von dem Sie mir schrieben, eine so kühle Nymphe?« fragte Madame Oehlers.
»Foppen Sie mich immerhin, beste Freundin, Sie haben ein Recht dazu, wenn Sie nur gewähren, was ich fordere!«
[115] »Lieber Graf,« entgegnete die Wittwe, »Sie haben in dem edelmüthigen Drange Gutes zu thun vielleicht eine Unbesonnenheit begangen, die ich, weil Sie so offen gegen mich sind, im Fall der Noth mit auf meine schwachen Schultern nehmen will. Das Mädchen, das Sie so außerordentlich aufgeregt hat, soll eine Mutter in mir finden.«
Aurel athmete freier und ein unaussprechlicher Blick innigsten Dankes brach aus seinem feurigen Auge. »Ich danke,« sagte er gerührt, »mögen Ihnen diese zwei dürren Worte genügen! In späteren Tagen finde ich wohl schönere, klingendere Redensarten. Aber, beste Freundin, Sie haben mich in einem falschen Verdacht, wenn Sie glauben, es sei dies verlassene, gemißhandelte schöne Kind die Ursache, welche mir die Gedanken wie ein Wirbelwind rastlos durch das Gehirn peitscht. Das arme Mädchen interessirte mich, forderte meine Menschlichkeit heraus, aber was mich so krampfhaft durchschüttert, das ist etwas viel Geringeres.«
»Vergeben Sie mir als Weib ein klein wenig Neugierde? Ich wage zu fragen.«
[116] Aurel zeigte auf den kleinen Finger seiner linken Hand. »Wofür halten Sie dies?«
»Ich denke für einen Wappenring, wie ihn Frauen tragen.«
»Wie ihn Frauen tragen!« wiederholte der Kapitän und senkte nachdenkend das Haupt.
»Finden Sie dies so wunderbar? Oder führte Ihre verewigte Mutter bei Lebzeiten nicht einen ähnlichen Ring?«
»Eben das ist's, das ist's, was mich so tief bewegt!« rief Aurel aus. »Ich besitze den Ring meiner geliebten todten Mutter – er gleicht diesem nicht im geringsten, die Wappenzier ausgenommen – und nun muß ich solchen Fund bei solchem Manne thun! Das ist entsetzlich!«
Madame Oehlers, die immer verwirrter wurde durch Aurels unzusammenhängende Aeußerungen, bat um genauere Angabe und Aussprache, wozu sich denn der Kapitän nach einigen abermaligen Abschweifungen verstand. Er theilte der aufmerksamen Freundin mit, was wir bereits wissen, und verrieth ihr sogar den Ort, wo ihm weitere Auskunft von dem betrunkenen Trödler versprochen worden war.
»Und dies Alles muß Schlag auf Schlag [117] schnell nach einander geschehen! Muß geschehen fast in dem Augenblicke, wo ich einen so beunruhigenden Brief von meinem Bruder aus der Lausitz erhalte!«
Da Madame Oehlers von diesem Briefe nichts wußte, fragte sie jetzt danach und Aurel theilte das Wesentliche seines Inhaltes ebenfalls der Freundin mit. »Muß dies ein einfaches Menschengehirn nicht verwirren?« sagte er, die Erzählung beendigend. »Bei Gott, ich bin rathlos, rathloser, als hätte die heftigste Sturzsee das Steuer meiner schönsten Brigg zerbrochen!«
Die Wittwe überlegte einige Minuten das Vernommene, dann sagte sie mit freundlicher Ruhe: »Halten Sie die beiden Greise, welche auf Boberstein bei Ihrem Bruder mit so wunderbaren Anforderungen erschienen sind, für Betrüger?«
»Anfangs lachte ich darüber, gnädige Frau, wie dies in meiner Natur liegt, seit heut Morgen aber, wo dieser räthselhafte Ring in meine Hände kam, nicht anders, als würfe ihn ein dunkles Verhängniß absichtsvoll vor mich hin, beunruhigt mich die Mittheilung meines Bruders. – Bedenken Sie selbst, wenn die tausend Schreckensahnungen [118] auch nur in eine einzige entsetzliche Wirklichkeit zusammenliefen, wenn diese Wirklichkeit jetzt aus ihrem dunkeln so lange verborgenen Dasein auftauchte und als rächende Schreckensgestalt vor uns träte und von den Kindern Rechenschaft forderte für die Missethaten des Vaters! – O ich bitte, erwägen Sie diese Möglichkeit und sagen Sie, ob ich dann nicht Ursache habe, ernst zu werden, zu schaudern und zu zittern?«
»Wer gibt Ihnen ein Recht, lieber Graf, sich mit so düstern Phantasien nutzlos zu peinigen?«
»Wer? – Mein Gott, Adrians Brief und meine Ahnung, seit ich diesen Ring gefunden! – Ich kann das Wort der Schrift nicht mehr aus meinem Gedächtniß verjagen: die Sünden der Väter werden heimgesucht an den Kindern bis in's dritte und vierte Glied!«
»Nehmen wir die Drohung in diesem göttlichen Wort nicht so gar wörtlich, lieber Freund,« versetzte Madame Oehlers. »Wie vermöchten wir eine einzige Stunde ruhig zu leben, freudigen Herzens für der Welt Bestes zu wirken, wenn sich ein solch gräßliches Gespenst in unserm Geiste [119] fest einnistete. Wir sind freilich alle schwache, sündige Menschen, aber uns ist auch Vergebung verheißen, wenn aufrichtige Reue uns die Augen zum letzten Schlummer verschließt.«
»Mein Vater kannte die Reue nicht,« sagte Aurel, sichtbar erschüttert. »Ich erinnere mich noch mit Entsetzen, obwohl ich damals noch ein leichtfertiger Knabe war, der letzten Tage seines Lebens. Er konnte nicht sterben, der Arme! Seine Todesangst stieg bis zu wilder Raserei. Man mußte ihn schließen, um ihn nur bändigen zu können. So lag er drei Tage. Wir Kinder schlichen wohl hundert Mal an der Thür vorüber, die ihn unsern Blicken entzog, und flohen entsetzt, wenn wir das Klirren der Ketten, das hohle, dumpfe Lachen, das Knirschen seiner Zähne vernahmen. Die letzten Stunden schlug er die Wände und die Luft mit seinen Ketten, indem er unbekannte Namen nannte, Geister Verstorbener, die ihm erschienen und mit denen er kämpfen mußte. Ihren grausamen Umarmungen erlag er stöhnend, und röchelnd, wüste Flüche lallend, hauchte er seine gemarterte Seele aus! Man zeigte uns die Leiche nicht. Sie soll grauenvoll ausgesehen haben. Ganz in der Stille, ohne [120] Begleitung ward sie beigesetzt. So befahl es der Arzt und – die Unterthanen, sagte man! – Sind das nun wohl Erinnerungen, die mich beruhigen können?«
Obwohl Madame Oehlers von den Familienverhältnissen Aurels ziemlich genau unterrichtet war, hatte sie doch nicht über alle Epochen aus dem Leben des Grafen Magnus gleich ausführliche Nachrichten erhalten. Nach Aurels letzten Aeußerungen begann sie mit ihm besorgt zu werden, und konnte jetzt selbst nicht mehr das Bild eines langsam aus verschütteten Gräbern aufsteigenden Rachegeistes los werden. Um jedoch den heftig bewegten jungen Mann einigermaßen zu beruhigen, rieth sie ihm, vorläufig noch Alles für ein seltsames Zusammentreffen von Umständen anzusehen und ungesäumt dem Fingerzeige nachzugehen, den Klütken-Hannes ihm angedeutet hatte.
»Es ist höchst wahrscheinlich,« sprach sie, »daß der widerliche rohe Mensch sich aus Rache, weil Sie ihn in seiner eigenen Wohnung zum Sclaven Ihres Willens machten, einen so abscheulichen Scherz erlaubt hat. Dieser Ring kann Ihrer Familie gehört haben und verloren gegangen [121] sein. Irgend ein Wanderer hat ihn gefunden und verkauft und so ist er von Hand zu Hand gegangen bis in den Keller dieses Trödlers. Dies Alles aber beweist noch nichts gegen Sie, gibt dem aus Polens Wäldern heimgekehrten alten Wenden, der mit einer Klage gegen das Haus Boberstein auftreten will, kein Fleckchen fester Erde, auf dem er fußen könnte. Forschen Sie also nach und Sie werden erheitert gestehen, daß Sie ein bloßer Popanz erschreckt hat.«
Dies leuchtete dem Kapitän ein. Er versprach der Freundin Rath zu befolgen, bat nochmals dringend, das aus den Händen des Wüthrichs befreite Mädchen mütterlich wohlwollend aufzunehmen, und begab sich, während die Wittwe in das Zimmer ihrer Dienerin trat, wo Elwire bisher gewartet hatte, sogleich auf den Weg.
Es blieb dem Kapitän hinlängliche Zeit, mit sich selbst zu Rathe zu gehen, da jene Tavernen, wo der gemeine Matrose in den Genüssen des Lebens auf dem festen Lande schwelgt, erst in den späteren Abendstunden besucht werden. Theils, weil Aurel wenig Geschäfte zu besorgen [122] hatte, theils, weil sie ihm verhaßt waren, ging er gaßauf, gaßab, diesmal nicht der bittenden Mädchen achtend, die mit ihren Blumensträußern vor und neben ihm hertanzten. Er schlug den Weg nach dem Baumhause ein. Dort konnte er hoffen, zahlreiche Bekannte zu treffen, vielleicht auch waren neue Schiffe eingelaufen, deren Kapitäne interessante Nachrichten aus ferner Welt mitbrachten. Was draußen jenseit des Meeres, was im farbigen Süden Europa's oder unter der glühenden Sonne des Aequators vorging, das zog ihn mehr an, als die heimische nach kleinem oder großem Gewinn athemlos rennende Welt.
Das Baumhaus war sehr besucht. Schiffsmäkler und Kapitäne aller Länder saßen in Gruppen um kleine Tische, aßen frische Austern, Lachs oder Caviar und tranken dazu heiße spanische Weine. Die Conversation ward fast in allen Sprachen geführt, doch herrschte das Englische entschieden vor. Neben einigen Bekannten nahm Aurel Platz, bestellte ein Frühstück und las die neuesten Schiffsnachrichten im Correspondenten. Dabei horchte er zuweilen auf die Gespräche der zunächst Sitzenden, ohne selbst Theil daran zu [123] nehmen, denn er fühlte sich durchaus verstimmt.
»Bei Gott, das hätt' ich über dem neuesten Wirrsal beinahe vergessen!« rief er halblaut aus, als sein Blick auf die großgedruckte Anzeige eines Concertes fiel, das Nachmittags im Elbpavillon gehalten werden sollte.
»Arme Verirrte,« fuhr er fort, »mit welcher Verachtung würdest Du Dein eiskaltes Auge über das Gewühl der Männer haben gleiten lassen, wenn Du Dich von mir getäuscht gesehen hättest! – Aber mein Gott, was ficht mich denn eigentlich an, daß ich jetzt auf einmal allen Schutzlosen Schirm und Schild sein muß? Es ist komisch, bei Gott, und wenn ich noch ein paar Tage mit gleichem Glück so fortfahre, habe ich am Ende der Woche einen ganz hübschen Harem beisammen. Ich will vier und zwanzig Stunden im Mastkorbe sitzen, wenn ich weiß, was ich mit der blassen Brünette anfangen soll! Habe ich doch sogar ihren Namen vergessen! – Und zu welchem Zwecke will ich sie aufsuchen? Weil sie mir gefiel, mich reizte? Oder aus kindischer Neugier, um rührende Scenen aus ihrem Leben zu erfahren? – Pfui, Aurel! Streife [124] diese ekle Hülle schändender Selbstsucht von Dir und lebe für gemeinnützige Zwecke! Das Mädchen hat meine Zusage, ich muß sie halten. Mag dann geschehen, was immer will, es kann doch unmöglich meine Unruhe noch vermehren.«
Nachdem unser Freund einen so edelmüthigen Entschluß gefaßt hatte, verließ er das Baumhaus, da er die gewünschte Zerstreuung nicht fand. Mittlerweile war die Zeit der Börse beinahe herangekommen, die er mehr aus Gewohnheit als aus wirklichem Bedürfniß zu besuchen pflegte. Er ging daher nicht erst in seine nahe Wohnung, sondern verfügte sich zuvörderst auf die Börsenhalle, wo sich um diese Zeit die Hamburger Kaufmannswelt versammelt. Hier und später an der Börse selbst fand Aurel so viel Unterhaltung, daß er momentan vergaß, was ihn quälte und, weil er nicht daran gewöhnt war, ihm das Leben verbitterte. Auf dem Platze zwischen Rathhaus und Bank mit einigen lustigen Freunden auf und abwandelnd, verging die Zeit in gewünschter Schnelligkeit, und als auch die Börse vorüber war und nun jeder seiner Wege ging, nahm Aurel die Freunde am Arm und zog sie mit sich fort, bis sie seinem Drängen nachgaben[125] und ihm bei Tafel Gesellschaft zu leisten versprachen. Nun ward er wieder heiter, denn er wußte, daß ihm bei Gespräch und Wortwechsel keine Zeit übrig bleiben konnte, an die ärgerliche Angelegenheit früher zu denken, als es nöthig sein würde. So zeigte der körperlich robuste, an die größten Anstrengungen gewöhnte Kapitän, daß die geistige Lebenskraft von seinem sinnlichen, dem Genuß ergebenen Temperament weit überwogen wurde, und daß er bei all seiner Rüstigkeit doch eigentlich das verwöhnte Kind einer siechenden, matten und schlaffen Zeit war.
Das Diner verlängerte sich bis gegen Sonnenuntergang, so daß Aurel, der sich absichtlich nicht übereilte, erst bei grauer Abenddämmerung den Elbpavillon erreichte. Er wußte aus Erfahrung, daß um diese Zeit der Andrang Vergnügungslustiger am stärksten, das Gewühl in dem geräumigen Saale des Etablissements so lebhaft sei, daß Keiner den Andern beachtete. Und unbeachtet wünschte er zu sein, wenn er mit Bianca zusammentraf.
Die rauschende Concertmusik hatte verhältnißmäßig wenig Damen angelockt. Die Anwesenden verloren sich fast gänzlich unter den Hunderten [126] von Männern, die in modernster Kleidung rauchend und sprechend den Saal und die Nebenzimmer anfüllten. Dieser Umstand erleichterte Aurel das Auffinden Bianca's. Er traf sie wirklich an dem angegebenen Orte, ein Sträußchen mit dunkelrother Nelke am Busen. An ihr vorübergehend winkte er ihr mit den Augen nach einem weniger menschenerfüllten Nebenzimmer. Bianca folgte und bald saßen der Kapitän und das Mädchen plaudernd wie alte Bekannte einander gegenüber. Aurel fand sie noch anziehender als in der vergangenen Nacht, und gefesselt von ihrem feinen Benehmen, das fern von aller Frechheit war, die so oft Geschöpfen dieser Art unwillkürlich anklebt, vergaß er bald alle Sorgen, die ihn wiederholt den Tag über gequält hatten.
»Sie haben länger auf sich warten lassen, als ich von einem Schiffskapitän besorgen konnte,« sagte Bianca mit einem reizenden Lächeln. »Ich hatte nicht übel Lust, Sie den zahllosen vornehmen Lügnern beizuzählen, die uns armen, unerfahrnen Kindern so gefährlich werden.«
»Daß Sie es dennoch nicht gethan haben, spricht für die Reinheit Ihres Herzens.«
[127] Bianca schüttelte recht melancholisch ihr schönes Haupt. »Spotten Sie nicht, Herr Kapitän,« versetzte sie wehmüthig, »ich weiß ja doch, daß solche Worte mit Ihrer Ueberzeugung nichts zu thun haben.«
»Würde ich Ihnen gegenüber sitzen, wenn ich spotten wollte? Und trauen Sie mir zu, daß ich überhaupt fähig sein könnte, Scherz zu treiben mit dem Unglück? O nein, Bianca, so herzlos hat mich die Welt noch nicht gemacht! Reine Theilnahme, vielleicht auch ein wenig Ihre Schönheit fesseln mich an Sie, und ich bitte jetzt, wo sich Niemand um unser Geplauder bekümmert, lösen Sie nunmehr Ihr verpfändetes Wort! Haben Sie dann nur Zutrauen zu mir und meiner Redlichkeit, so darf ich Ihnen wohl jetzt schon die Versicherung geben, daß Ihre Lage eine andere, bessere werden wird, wenn anders Sie selbst nur Muth und Entschlossenheit genug besitzen, unwürdige Fesseln rücksichtslos abzuschütteln.«
Den schönen, von schwarzen glänzenden Locken umflatterten Kopf gesenkt, schwieg Bianca geraume Zeit. Dann erwiederte sie mit niedergeschlagenen Blicken:
[128] »Vielleicht finden Sie mich weniger verdammenswerth, wenn ich Ihnen, so weit ich mich noch auf Thatsachen besinnen kann, meine Jugendgeschichte mittheile. Hören Sie denn und brechen Sie, bin ich zu Ende, den Stab über mich, wenn Sie sich dazu für berechtigt halten sollten!«
Es trat abermals eine Pause ein, während der Aurel nur mit Blicken das schöne, so tief betrübte und unglückliche Mädchen zu bitten wagte. Bianca begann:
»Meine Heimath ist das herrliche sagen- und poesiereiche Bergland Thüringen. Dort ward ich von sehr armen Aeltern geboren, deren einziges und dabei größtes Gut ihre beispiellose Genügsamkeit war. Mit einer dürren Brodrinde und einigen wäßrigen Kartoffeln waren sie zufrieden, wenn der schmale saure Verdienst ihnen nichts Besseres gewährte. Ich habe, so lange ich die väterliche Hütte bewohnte, meine Aeltern über das jammervolle Lebensloos, das ihnen zugefallen war, niemals murren, Andere, die reich gesegnet waren mit Glücksgütern, nie beneiden hören. Immer fand ich sie fleißig vom ersten Morgensonnenstrahl bis tief in die Nacht hinein, [129] immer fromm und dankbar gegen Gott für Gutes und Böses, das sie betraf. Mein Vater tagelöhnerte, als er noch kräftig war, später mußte er diesen Erwerbszweig aufgeben, da ein unglücklicher Sturz vom Firsten eines Bauernhauses ihn schwer beschädigt hatte. Er suchte sich nun kümmerlich durch Schachtelmachen zu nähren, eine Kunst, mit der er sich in früher Jugend bekannt gemacht und einige Zeit abgegeben hatte. Das war aber ein so wenig einträgliches Geschäft, daß wir allesammt auch bei größter Einschränkung kaum ein kummervolles Leben elend hinfristen konnten. Der Vater sah dies wohl ein, allein es zu ändern stand nicht in seiner Macht, und so half er sich selbst über die trübsten und schwersten Stunden mit Beten und Singen hinweg.«
»Sie lächeln vielleicht, Herr Kapitän, über die kindische Thorheit eines alten simplen Mannes,« fuhr Bianca fort, indem sie einen forschenden dunkeln Blick auf ihren Zuhörer fallen ließ, »und doch ist dies treue Festhalten an Glaube, an Sitte und Religion das einzige unentreißbare Gut des Armen. Unsere Zeit spottet freilich darüber und möchte gern allen Glauben aus dem [130] Herzen des Volkes reißen. Unsere Jugend höhnt und lästert Gott aus Ueberzeugung und brüstet sich mit Verachtung aller Religion, ja sie behauptet wohl gar, wie ich oft genug zu hören Gelegenheit hatte, so lange man Glaube, Religion und Gott nicht abschaffe, könne es auf Erden nicht besser, könne das Volk nicht frei, nicht glücklich werden! Manche habe ich sogar behaupten hören, unter allen Sclavenketten, welche die gedrückte und mißhandelte Menschheit mit sich herumschleppe, sei die furchtbarste jene unsichtbare und grauenvolle, die vom sogenannten Himmel stamme und den demüthig Gläubigen zum willenlosen Werkzeuge eines hohlen Wahnes mache! – Möge mir der Ewige verzeihen, daß ich bei Anhörung solcher Worte und Gespräche selbst häufig Stunden hatte, wo ich mich zu diesem fürchterlichsten aller Glauben hinneigte! Sie gingen vorüber und mild, wie duftiger Abendwind von den Bergen meiner Heimath, berührte wieder der schlichte altväterische Glaube meiner armen Aeltern mein angstvoll schlagendes Herz. Ich armes Mädchen will Niemand richten, da ich selbst der Schonung und Nachsicht so sehr bedarf, aber aussprechen muß ich es, Herr Kapitän,[131] daß der Arme, der Darbende, der Unterdrückte ohne sein Festhalten an den Ueberlieferungen der Religion entweder wahnsinnig oder zum wüthenden Thiere werden müßte! Nur der Glaube und die Verheißungen des Glaubens lassen ihn den Jammer eines langen Lebens standhaft ertragen! Nur aus ihnen schöpft er die kargen, minutenlangen Freuden, mit denen er wie mit dem Schein einer geheiligten Lampe sein in ewige Finsterniß gehülltes Leben auf Augenblicke erleuchtet! Nur der Kraft dieses Glaubens verdankt er selbst sein sittliches Dasein, verdankt die Welt ihr geordnetes Fortbestehen! Könnten jene Verhöhner aller Religion, die schreiend ihre Fahnen entfalten über den Häuptern der Armen und die flatternden Fetzen Paniere der Freiheit nennen, könnten diese das darbende Volk zu ihrem Unglauben bekehren, dann würde man rettungslos den Untergang der Welt hereinbrechen sehen! Es ist wohl gut und wünschenswerth, daß man das Volk der alten Fesseln entledige, daß man es aufkläre, nur den Glauben an Gott und sein religiöses Bewußtsein nehme man ihm nicht!«
Bianca schwieg sinnend. Sie hatte sich so [132] ereifert, daß ihr Busen heftig wogte. Aurel betrachtete sie verwundert. Welche Wege mußte dies Mädchen gegangen sein, daß es solche Ansichten gewonnen, über so wichtige, die Zeit bewegende Fragen nachgedacht hatte? Nur großem, außerordentlichem Unglück oder dem Umgange mit gebildeten Männern konnte sie diese Aufklärung verdanken. Seine Neugier steigerte sich.
»Und Ihre Aeltern, Bianca?« fragte er sanft, um die in sich Versunkene wieder zum Reden zu bringen.
»Meine Aeltern!« seufzte die Verirrte und schlug die großen melancholischen Augen wie fragend zum Himmel auf. Dann begann sie wieder:
»Mein Vater betete also und suchte die Arbeit seiner Hände durch Absingen frommer Lieder zu fördern. Halbe Nächte hörte ich seine wohllautende, nur häufig von Thränen halb erstickte Stimme, wenn ich frierend mit meiner älteren Schwester auf gemeinsamem Lager den Schlaf nicht finden konnte. Was ich von guten Liedern noch weiß – so nennt das ehrliche Volk die Kirchengesänge – das habe ich in jenen Nächten gelernt, wo der arme Vater auf Gott [133] vertrauend für uns arbeitete. Leider blieben mir nur die Worte im Gedächtniß, Sinn und Bedeutung derselben gingen mir verloren!«
»Meine um einige Jahre ältere Schwester hatte um diese Zeit ihr sechzehntes Jahr erreicht, war hübsch, von gutem Wuchs und freundlichem Betragen. Jedermann fand an ihr Gefallen und hatte sie gern, und da unsere höchst mißliche Lage kein Geheimniß war, so würde es Niemand den Aeltern verdacht haben, wenn sie die Schwester in die Dienste Fremder hätten treten lassen. Der Vater wollte dies aber nicht, einmal, weil die Schwester der schon hinfälligen Mutter zur Hand gehen und mich gelegentlich auch beaufsichtigen konnte, und sodann, weil das hübsche Kind für Bauernarbeit zu schwächlich war. So blieben wir denn beisammen, bis ein eigener Zufall uns trennte und unser Aller Unglück herbeiführte. Dieser Zufall war ein Gespräch meiner Mutter mit einer Frau von einem nahen Gebirgsdorfe, die als Botenweib häufig in die belebten Städte, namentlich nach Erfurt und Weimar ging und von dort nebst allerhand Neuigkeiten auch sehr freie Ansichten mit in unsere stille Waldeinsamkeit zurückbrachte. Ein Ungefähr machte mich [134] zum Zeugen dieses charakteristischen Gesprächs, das ich damals leider nicht verstand! Vielleicht wäre sonst Alles anders und besser gekommen.«
»Die Mutter kehrte aus dem Walde zurück mit einem Bund Schachtelholz, das sie vom Förster auf Credit für den fleißigen Vater geholt hatte. Müde vom scharfen Gehen setzte sie sich vor der Thür auf die Bank, legte das Holzbündel an die Erde und sah den goldenen Wolken, die von Abend her gleich beschwingten Engeln langsam über die blauen Berge schwebten, mit gefalteten Händen nach. Da ging die Botenfrau vorüber und grüßte die Mutter.«
»Guten Abend, Käthe! So andächtig? Und seht doch aus, als hättet Ihr in acht Tagen kein warmes Gericht mehr nur von weitem gerochen? Wie möchte ich mich nur so placken für nichts und wieder nichts!«
Dabei blieb sie wenige Schritte von der Mutter stehen, stemmte sich mit beiden Händen auf ihren langen Stock und heftete ihre falschen grünlich-grauen Augen fest auf meine betende Mutter. Ich fürchtete mich immer vor diesem langen, hagern Weibe mit dem braunen, von zahllosen Runzeln bedeckten Gesicht, in dem die [135] falschen Augen wie grüne Flammen brannten. Im Allgemeinen war das Weib beim Volke seiner Klugheit und seines körnigen Witzes wegen beliebt, auch konnte ihr Niemand offenbare Schlechtigkeiten nachsagen.
»Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!« entgegnete meine Mutter. »Ihr kennt ja den Spruch, Korbmartha!« So hieß man nämlich ihres übergroßen Tragkorbes wegen die Botenfrau. Indem hüpfte meine Schwester aus der Hütte, um Wasser im vorüberrauschenden Bache zu schöpfen. Korbmartha sah ihr nach und blickte dann noch lebhafter auf meine Mutter.
»Ist das Euere Tochter?« fragte sie, den Stecken aufhebend und nach der Schwester zeigend.
»Ihr wißt es ja,« sagte die Mutter. »Gott erhalte sie mir nur gesund! Das liebe Kind ist meines Mannes Augapfel.«
Die Botenfrau schüttelte den Kopf, und als meine Schwester im Hause wieder verschwunden war, sagte sie:
»Käthe, Ihr verdientet gradezu Hungers zu sterben für Eure Unvernunft! Warum füttert Ihr das Mädel wie ein Wickelkind? Sie [136] könnte ja, weiß der Herr, von der Mutter weg flugs heirathen, wenn sie Groschen hätte! Wäre die mein, die müßte dienen, und Ihr werdet recht wohl thun, Käthe, wenn Ihr die hübsche Blitzkröte lieber heut als morgen fortschafft und ein Maul weniger zu füttern habt.«
»Lieber Gott,« versetzte meine Mutter traurig, die Hände immer wie zum Gebet verschlungen, »wohin soll ich sie denn bringen? Sie ist schwach und zart, und die Bauern mögen sie nicht.«
»Wer spricht denn von groben Bauern,« fiel die Botenfrau ein. »Ein Mädel, so nett und flink und schelmisch, wie Eure Rese, muß in die Stadt. Solche Waldforellen hat man da gern. Die werden Euch dreimal so theuer bezahlt, wie das plumpe Volk, und hat sie erst ein halbes Jahr gedient, dann sollt Ihr Eure Freude an dem Mädel sehen, wenn sie Euch 'mal besucht. Wie eine Bürgermeisters-Tochter wird sie einhergehen und Kleider haben von halbseidenem Zeuge.«
»Ach Martha, das wäre schon Alles recht gut, aber bedenkt nur die Verführung in den Städten! Die jungen Herren laufen da jedem [137] frischen Dinge nach, das ein paar rothe Bäckchen und muntere Augen aufzuweisen hat, und wie bald läßt sich da solch ein unerfahrenes Kind durch schöne Worte bethören! Nein, nein, Martha, da will ich mir lieber den Bissen vom Munde abdarben, ja, wenn es sein muß, hungern, bis mich Gott in seiner Barmherzigkeit ausspannt! Nur mein Kind nicht dem Bösen Preis geben!«
Die Botenfrau lachte hellauf, trat meiner Mutter ein paar Schritte näher und sagte verächtlich:
»Käthe, Ihr seid eine Närrin! – Teufel noch 'mal, in welcher Zeit denkt Ihr denn, daß wir leben? Wir sind heutigen Tages aufgeklärter, wie vor vierzig Jahren; wir haben begreifen gelernt, daß man dem Glück die Hand reichen muß, will man es auf dieser Welt zu etwas bringen! Thörin, die ich war! Hätte ich's Zugreifen verstanden, wer weiß, ob ich nicht jetzt Frau Soundso wäre! O, ich wüßte zu erzählen, wenn ich nur wollte, aber das ist vorüber und darum mag ich nicht weiter daran denken. – Dagegen, was Eure Rese anlangt so rathe ich Euch nochmals, thut sie fort und zwar in [138] die Stadt. Sie kann erst als Kindermädchen ziehen, damit sie sich benehmen lernt. Da hat sie nicht viel zu thun und doch Gelegenheit, sich bekannt zu machen. Nun, und begegnet ihr, was Ihr alte Närrin ein Unglück nennt, so bringt sie das erst recht unter die Leute und macht ihr Glück. Sie entwöhnt ihr Würmchen und zieht als Amme. Da hat sie's besser, wie ich und Ihr zusammen, kriegt Bier, so viel sie trinken will, und zu essen vollauf, und spielt die Herrschaft, so oft sie Lust hat; denn um dem Kinde nicht zu schaden, thut man ihr schon allen Willen. Ich kenne das!«
»Pfui, schämt Euch, Martha!« entgegnete entrüstet meine Mutter. »Das sind ja, verzeih' mir's Gott, Vorschläge, als hätte sie der leibhaftige Satan erfunden und Euch auf die Zunge gelegt! Nicht zufrieden gäb' ich mich, brächte eine meiner Töchter solche Unehre auf unsern unbescholtenen Namen!«
»Nun dann betet und hungert oder geht zu guter Letzt betteln!« sagte mit recht höhnischem Tone die Botenfrau, »denn daß es über kurz oder lang kein anderes Ende mit Euch nehmen kann, das sieht doch Jeder ein. Und dann werdet [139] Ihr Eure glatten Püppchen noch selbst feilbieten wie frischgebackene Pfannkuchen. Gute Nacht und 'was Warmes zum Abendessen, wenn Ihr ein Stöckchen Holz im Hause habt!«
»Damit setzte die Korbmartha ihren Stecken fürbaß und wackelte langsamen Schrittes nach dem rauschenden Buchenwalde, der in geringer Entfernung die Hütte meiner Aeltern umschloß.«
»Ich hatte aus dem Fenster meiner Dachkammer diese ganze Unterredung mit angehört und konnte mich nicht genug wundern, daß meine so treffliche Mutter den Rathschlägen Marthas nicht folgen wollte, die mir eben so annehmbar und klug erschienen, als die Frau selbst mir zuwider war. In meinem kindischen Unverstande zürnte ich der Mutter, die regungslos vor dem Häuschen sitzen blieb und still bittend Gott um Rath und Rettung flehte. Das leise Zittern der festgefalteten Hände sagte mir dies, so wie die einzelnen Thränen, die in großen Tropfen über die eingefallenen, vom Kummer durchfurchten Wangen liefen. Mich hatte das Wort Stadt bezaubert und ich gelobte mir in kindischer Einfalt, sobald es meine Kräfte erlauben würden, [140] als dienende Magd vom einsamen Walddorfe in die lustige, unterhaltende Stadt zu ziehen.
Ehe ich allen Ernstes an Ausführung dieses flüchtigen Einfalles denken konnte, schritt der fürchterlichste Feind des Volks, der ausgelassenste Lästerer aller Tugend und Sitte, die Noth der Armuth, eigenmächtig ein und zwang die bekümmerten Aeltern, ihre Kinder mit eigener Hand aus dem Hause zu stoßen. Es war eingetroffen, was die Korbmartha vorausgesagt hatte. Mir mußten langsam Hungers sterben, trennten wir uns nicht freiwillig. Dem unerbittlichen Geschick gaben die Aeltern nach. Meine Schwester Therese mußte ziehen, und weil die harte Arbeit bei den Bauern von ihr nicht hätte verrichtet werden können, brachte sie die Mutter selbst nach Erfurt. Sie fand bei sehr braven Leuten ein anständiges Unterkommen und gefiel sich wohl. Ich blieb einstweilen noch bei den Aeltern, da ich noch zu unselbstständig war, um mir durch Dienen mein Brod verdienen zu können.
Von Zeit zu Zeit, vierteljährig wenigstens einmal, besuchte uns Therese und an ihrem Benehmen, an ihrer Kleidung und heiterm unbefangenen Wesen erkannte ich mit inniger Freude, [141] daß die Botenfrau die Wahrheit gesagt habe. Seitdem faßte ich eine Art Zuneigung zu dem häßlichen Weibe, die ich ihr durch freundliches Grüßen oder Darreichung eines frischen Trunkes zu erkennen gab, wenn sie vorüber ging oder auf der Bank vor unserm Häuschen kurze Zeit ausruhte.
Nach drei Jahren vertauschte Therese Erfurt mit Weimar. Zugleich kam ich als Laufmädchen in ein Haus nach Jena. Lieber wäre ich ebenfalls nach Weimar gezogen, um die Schwester stets um mich zu haben und von ihr manchen Wink in den neuen ungewohnten Verhältnissen zu erhalten. Es fand sich jedoch keine passende Gelegenheit, und so war ich denn auch mit Jena zufrieden. Das Leben in dem kleinen Orte machte mir großes Vergnügen. Besonders war ich den Studenten sehr hold, die mir wie ein ganz aparter Menschenschlag erschienen. Wenn sie Arm in Arm über den Marktplatz zogen oder gar daselbst schlugen und zuletzt an langen Tafeln commerschirten, staunte ich sie und ihr wundersames Treiben wie Meerwunder an. Niemand hätte mich bewegen können, einen dieser jungen meist bärtigen und dazu abenteuerlich gekleideten [142] Männer anzureden. Ich verehrte sie viel zu sehr, als daß ich hätte glauben mögen, so gewaltig einherschreitende Männer würden die Frage eines so unscheinbaren armen Mädchens, wie ich damals wirklich war, beantworten.
Wochen und Monate blieb es auch in der That bei bloßem vergnüglichen Anstaunen. Nach Jahresfrist war ich aber bedeutend größer und voller geworden und nun richteten die jungen Leute ihre Blicke auf mich. Es dauerte gar nicht lange, so redete mich Einer und der Andere an, scherzte mit mir und lachte über mein Stammeln und Erröthen. Betrat ich Abends den Markt, so begleiteten sie mich in Masse unter dem Vorgeben, mich zu beschützen, und mehrmals, wenn ich mich dankend an der Thür meiner Herrschaft gegen sie verbeugte, ließen sie mich hoch leben. Obwohl solche Aufmerksamkeit meiner erwachenden Eitelkeit schmeichelte, erschreckte sie mich doch auch, um so mehr, als meine Herrschaft mich ernstlich bat, der wilden zügellosen Jugend keinerlei Anlaß zu fortgesetzter Huldigung zu geben. Dies fiel mir nun zwar nicht ein, so wenig, als ich mir in meiner Unschuld irgend etwas dabei dachte, nur fand ich bei häufigerem Beschauen [143] meiner Person im Spiegel, daß ich nicht garstig sei, und seit dieser unglücklichen Entdeckung verwandte ich weit mehr Sorgfalt auf meinen Anzug, als bisher. Fast alle meine kleinen Ersparnisse, von denen ich bereits Einiges nach dem Vorbilde meiner älteren Schwester den Aeltern hatte zufließen lassen, zehrte der Ankauf neuer und modischer Kleidungsstücke auf.
Ein in dem muntersten Tone geschriebener Brief Theresens meldete mir bald darauf, daß sie ebenfalls nach Jena kommen würde und wir fortan ein recht geschwisterliches Leben zusammen führen wollten. Meine Freude war sehr groß. Ich konnte Theresens Ankunft kaum erwarten und wußte mich nicht zu fassen vor innerlicher Glückseligkeit, als ich die geliebte Schwester nun wirklich in meine Arme schloß.
Therese war in den letzten beiden Jahren sehr schön geworden. Sie konnte mit ihrem tadellosen Wuchse, dem schönen Blond ihrer weichen Haare und dem feurigen Ultramarinblau ihrer länglichen Augen unter so vielen jungen Männern nicht unbemerkt bleiben. Schon nach Verlauf einiger Tage sprach man nur von dem schönen Dienstmädchen, hatte ermittelt, daß es [144] meine ältere Schwester war, und begann nunmehr in galantester Weise vollkommen Jagd auf sie zu machen. Ich erschrak bei dieser unerwarteten Wendung der Dinge, nicht weil ich mich im Augenblick vernachlässigt sah, sondern weil ich für meine Schwester fürchtete. Diese hatte aber während ihrer mehr als vierjährigen Dienstzeit die Welt und das Gebahren der jungen Männer hinlänglich kennen gelernt und wußte die Zudringlichsten und Kecksten mit erstaunlichem Tacte in gehöriger Entfernung zu halten. Es fehlte ihr nie an den schärfsten und treffendsten Entgegnungen auf kecke oder gar zweideutige Anfragen, und so wußte sie sich denn inmitten einer Unzahl von Anbetern vollkommen sicher.
So verstrich wieder mehr als ein halbes Jahr. Wir Schwestern lebten in freien Stunden viel zusammen, sendeten so oft wie möglich Botschaft an unsere Aeltern und erhielten dergleichen wieder zurück. Es hatte ganz den Anschein, als sei uns das Glück nicht abhold. Da bemerkte ich, daß Therese, die von Natur lebhafter und gesprächiger war, als ich, immer stiller wurde und oft sinnend vor sich hinstarrte. Ich beobachtete sie wochenlang, ohne nach dem [145] Grunde zu fragen, schlich ihr unbemerkt nach, wenn sie am dunklen Abend zu mir kam und wieder nach Hause ging, und entdeckte einen ihrer harrenden Begleiter. Es war ein hoher, schöner Mann, wie ich späterhin hörte, ein Lievländer, von adliger Geburt und sehr reich. Bei dieser Entdeckung fielen mir zum ersten Male wieder die Worte der häßlichen Korbmartha ein und eine peinigende, nicht mehr von mir zu wälzende Angst schnürte mir das Herz zusammen. Ich entschloß mich, meine Schwester in theilnehmendstem Tone auszuhorchen, zur Rede zu setzen und sie zu warnen.
Die Gelegenheit fand sich schon am nächsten Abend, wo ich Therese mit ihrem Galan auf der Hausflur in zärtlichster Umarmung überraschte. Der Lievländer verließ die Erschrockene mit einem Scherze, wobei ich selbst auch etwas abbekam, und wir hatten nun Muße, uns nach Herzenslust gegenseitig auszusprechen. Meine sehr eindringliche Rede hörte Therese mit tiefem Schweigen an. Sie rechtfertigte sich nicht, sie versuchte es auch später nie; sie hörte mir gesenkten Kopfes zu und seufzte nur. Als ich endlich ausrief: Bedenke, gute Schwester, daß ein [146] reicher Baron so weit her Dich, ein armes Dienstmädchen, nie heirathen wird, da fiel sie mir laut schluchzend um den Hals, küßte mich inbrünstig und drängte mich dann aus der Thür, die sie rasch hinter sich verriegelte.
Nachdenklich ging ich heim. Die ganze Nacht konnte ich kein Auge zuthun. Sollte ich die Aeltern von der Neigung Theresens benachrichtigen oder dieselbe verschweigen? Darüber zerbrach ich mir den Kopf, bis ein wüster Schmerz mich befiel. Um die Schwester nicht gar zu sehr zu betrüben, schwieg ich und beschloß, ferner nur im Stillen aufzupassen. Dies fruchtete jedoch nichts. Therese ließ sich nicht mehr überraschen, blieb aber still und sinnend, wie zuvor. Ob sie noch mit dem Lievländer umging oder um ihn trauerte, konnte ich damals durchaus nicht errathen. Mit schwesterlichem Bedauern bemerkte ich nur, daß die Liebende bleicher und immer bleicher ward, und schrieb dies auf Rechnung ihres Grames. Nur einmal fragte ich noch theilnehmend, was ihr fehle und warum sie so ganz eine Andere geworden sei? Da warf sie mir einen so entsetzlichen Blick zu, daß ich zurückschauderte [147] und mich fortan zuweilen vor der Schwester sogar fürchten konnte.
Sechs Wochen später weckte mich früh am Morgen ein entsetzlicher Tumult. Ich eile an's Fenster, reiße es auf und sehe mitten auf dem Markte eine Menge sich drängender Menschen. Nun stürze ich die Treppe hinunter, frage, was es gibt? und dringe, da mir Jeder schüchtern ausweicht, immer weiter vor, bis ich vor meinen Füßen den bleichen, schönen Körper meiner armen Schwester liegen sehe. Fest umschlungen und zum Schutz noch mit Stricken an die Brust gebunden hielt sie ein neugebornes Kind. Die Unglückliche hatte sich unmittelbar nach erfolgter Entbindung in die Saale gestürzt. Zwei Tage vorher war der Lievländer, ihr Verführer, in seine Heimath abgereist. Ein Brief von ihm, den ich unter den Sachen meiner Schwester fand, verrieth mir dies. Er war sehr lakonisch und scherzhaft beleidigend. Der reiche Herr bedauerte, daß seine Zärtlichkeiten so unangenehme Folgen haben sollten und meinte, daß für diese nicht er, sondern das ›schöne, gefällige Kind‹ einzustehen habe. Schlüßlich wünschte er ihr alles Gute recht bald einen neuen Freund, den das tückische [148] Schicksal nicht von ihr reiße, und damit sie sähe, daß er ihr noch immer gewogen sei und für sie sorge, erlaube er sich die Kosten der Taufe in einigen Goldstücken beizuschließen. – –«
Ein Strom von Thränen erstickte Bianca's Stimme. Aurel ließ die Bedauernswürdige gewähren und benutzte die eingetretene Pause, um einen Blick in den großen Saal zu werfen, wo seit Kurzem lebhafter Wortwechsel sich erhoben hatte. Er bemerkte, daß eine Menge junger elegant gekleideter Herren ein hübsches weinendes Mädchen zu beruhigen suchten, während andere tobten, fluchten und bei Allem, was Ihnen heilig sei, den Unverschämten zu züchtigen schworen. »Ein gewöhnlicher Wirthshausstreit,« dachte der Kapitän und nahm seiner Schönen gegenüber wieder Platz. Er fand sie gefaßt und bereit, den abgerissenen Faden ihrer Erzählung wieder anzuknüpfen. Aurel bat darum und Bianca fuhr sort:
»Sie kennen unstreitig die Einrichtung auf Universitäten, nach welcher die Leichname der Selbstmörder auf die Anatomie abgeliefert werden müssen. Ich hatte mehrmals davon gehört und würde jedenfalls selbst in meinem unaussprechlichen [149] Schmerze daran gedacht haben, wäre ich nicht durch die frohlockende Bemerkung eines vorübergehenden Studenten auf der Stelle in furchtbarer Weise daran erinnert worden. Ich hörte nämlich dicht hinter mir rufen, indem sich ein bärtiges Gesicht über meine Schulter schob:
Donnerwetter, das ist ein Bissen für uns! Eine von den drei Grazien ohne Widerrede! Wo das die Theologen spitz kriegen, muß der Profector das Auditorium schließen lassen, sonst erdrücken uns die Jünger des heiligen Geistes, um den Genuß zu haben, ein junges schönes Mädchen im Naturzustande, so lange es ihnen beliebt, mit lüsternen Blicken betrachten zu können.«
»Mich überlief es eiskalt. Meine arme unglückliche, gemißhandelte Schwester noch im Tode entehrt, den Blicken neugieriger Spötter ausgesetzt zu wissen – dieser Gedanke empörte mich! Ohne Zaudern that ich Schritte, um meine todte Schwester loszukaufen. Daß dies häufig geschah, wußte ich. Selbst während meiner Anwesenheit in der Universitätsstadt war es schon einige Male vorgekommen. Namentlich erinnerte ich mich eines Falles, wo die Tochter einer angesehenen [150] Familie, die selbst Hand an sich gelegt hatte, gegen Erlegung der festgesetzten Summe sogleich von der Universität frei gegeben wurde. Darauf fußte ich. An Geld fehlte es mir auch nicht, wenn ich zu dem vorgefundenen Golde meine eigenen Ersparnisse legte. Es hatte nichts mehr Werth für mich, als der Körper der entseelten Therese.
Mit dem nöthigen Gelde versehen, von Schmerz und Scham tief gebeugt, brachte ich mein Anliegen vor und – ward kühl abgewiesen. Schönes Kind, sagte man zu mir, es thut uns leid, Deine Bitte nicht erfüllen zu können. Deine Schwester ist Mörderin und Selbstmörderin zugleich und überdies als liederliche Dirne aus der Welt gegangen. Solche Personen sind unrettbar dem Messer des Anatomen verfallen. Wäre Therese häßlich, nun, dann könnten wir allenfalls ein Auge zudrücken, so aber ist die Entleibte ein Meisterwerk der Schöpfung, und je seltener so tadellose Cadaver zu bekommen sind, desto mehr müssen wir danach angeln. Gib Dich also nur zufrieden, liebes Kind, behalte Dein Geld und mache Dir einen guten Tag!
Ich glaubte vor Entsetzen in die Erde sinken [151] zu müssen. Ich warf mich dem strengen Herrn zu Füßen, ich bat mit flehendster Schmerzensstimme, ich bot den doppelten Preis – Alles umsonst! Zuletzt ward ich hart angelassen und mit der Bemerkung aus dem Zimmer geführt: Bei armen Mädchen könne man durchaus keine Rücksichten nehmen; man habe genug mit den Reichen zu thun, die auf ihr Vorrecht pochend bei unangenehmen Ereignissen ähnlicher Art nie unterließen, an dasselbe zu appelliren. Ihnen müsse man aus Klugheit willfahren, bei armen Dienstboten aber fiele jeder haltbare Grund weg.
So ungefähr, wenn auch in andern Worten, lautete der mir gegebene Bescheid. Ich wußte mir nicht mehr zu rathen, zu helfen. Theresens Leichnam war bereits auf die Anatomie gebracht worden, und, wie die Sachen standen, keinerlei Aussicht vorhanden, irgendwie meinen Zweck zu erreichen. Indeß wollte ich doch nichts unversucht lassen und so lief ich denn durch die halbe Stadt, um Erkundigungen einzuziehen und mit den zur Zeit geltenden Verordnungen und Gesetzen mich bekannt zu machen. Was ich auf diesen schweren Gängen ermittelte, war freilich [152] für mich nicht sehr tröstlich. Damals ward mein geängstetes Herz zum ersten Male von der entsetzlichen Wahrheit zerfleischt, daß in unsern civilisirten Staaten die Armuth sogar vom Gesetz wie ein Laster behandelt wird!«
»Sollten Sie, armes Mädchen,« fiel Aurel ein, »unserer Gesetzgebung nicht einen zu harten Vorwurf mit dieser Behauptung machen?«
»Nein, Herr Kapitän. Hören Sie, nach welchen Grundsätzen auf jener Universität zu meiner Zeit die Anatomie mit Leichnamen versorgt ward. Zuerst erfuhr ich, was ich bereits wußte, daß nur reiche Verwandte Selbstmörder von der Anatomie loskaufen können. Ferner war es damals noch Sitte – ob inzwischen eine Aenderung stattgefunden hat, weiß ich nicht – daß nur bei der Section im Hospital verstorbener armer Mädchen, die gesetzlich auf die Anatomie geliefert werden mußten, das Hospitiren der Nichtmediciner gestattet ward. Jedermann weiß, daß diese nicht wissenschaftliches Interesse, sondern einzig und allein Neugier und wollüstiger Kitzel an den Secirtisch treibt. Man ergetzt sich in Gemeinschaft an schönen Formen und unzarten, wo nicht sittenlosen Witzen, die man auf [153] Kosten des vorliegenden Leichnams oder des ganzen wehrlosen Geschlechtes macht.
Nach einer andern gesetzlichen Bestimmung mußten alle unehelichen Kinder, wenn sie vor dem zurückgelegten vierzehnten Jahre starben, unausbleiblich auf die Anatomie geliefert werden! Wahrscheinlich sind die Gesetzgeber bei dieser höchst moralischen Bestimmung der Ansicht gewesen, die bis heut noch leider allgemein verbreitet ist, daß jede vom Priester nicht eingesegnete Verbindung eine sündhafte sei und der erkauften Liebe gleichkomme! Eine entsetzliche, verdammenswürdige Annahme, die jede reine Neigung tödtet, die alle wahre Sittlichkeit gänzlich untergräbt! Weit entfernt, die Ehe herabsetzen zu wollen, bin ich doch fest übezeugt, daß mehr ehelich geborene Kinder unkeuschen Umarmungen ihre Entstehung verdanken, als unehelich geborene, und doch entblödet man sich nicht, diesen Schuldlosen einen Fehl, einen Flecken anzudichten, der sie in den Augen der vorurtheilsvollen Menge der übrigen Menschheit gegenüber herabsetzt.
Am schrecklichsten aber und gradezu unmenschlich erschien mir die grausame, aller christlichen [154] Liebe hohnsprechende Verordnung, nach welcher alle Leichname gefallener Dienstmädchen, wenn auch seit ihrem Falle ein Zeitraum von vierzig Jahren vergangen sein sollte, der Anatomie anheimfallen. Merken Sie wohl, nur der Dienstmädchen, gefallene Töchter der Bürger und des Adels unterliegen dieser Strafe, die mithin nur für die Armuth erfunden worden ist, nicht. 1
Schon wollte ich mich in mein Schicksal fügen, als ich aufmerksam gemacht wurde, daß vielleicht durch persönliche Rücksprache mit einem hochgestellten Manne ein Tausch bewerkstelligt werden könne. Man lobte die Höflichkeit und Zuvorkommenheit dieses Mannes und ich ging der todten Schwester zu Liebe zu ihm. In der That fand ich einen der einnehmendsten Männer in ihm, die mir je vorgekommen sind. Jung, interessant, sehr lebhaft und überaus galant, behandelte er mich wie eine Dame. Dies gewann ihm sogleich mein Vertrauen, denn ich war bisher [155] immer nur an unfreundliche Befehle gewöhnt. Meinen inständigen Bitten schien er nicht abgeneigt. Er versprach mir, sich zu erkundigen, ob eine Vertauschung, ohne Verdacht zu erwecken, möglich sei, und bat mich, ihn Abends nach Sonnenuntergang nochmals mit meinem Besuche zu beehren.
Beruhigter kehrte ich zu meiner Herrschaft zurück, die mich sehr ungnädig aufnahm. Unverdiente Vorwürfe und bittere Schmähungen mußte ich ohnehin so tief Gebeugte über mich ergehen lassen. Sie kündigte mir den Dienst, da sie ein Mädchen, auf welches die ganze Stadt mit Fingern deutete, nicht um sich haben möge. – Ich ertrug Alles schweigend und konnte den Abend kaum erwarten, der mir Gewißheit bringen sollte. Er kam, ich besuchte den Mann, der mir allein noch helfen konnte, abermals. Noch höflicher, als am Tage, empfing er mich. Es wird sich thun lassen, mein schönes Kind, sagte er. Noch in dieser Nacht soll ein anderer weiblicher Körper abgeliefert werden. Niemand weiß davon und so kann ich Dir gegen Morgen Deine arme Schwester wieder geben.
Ich war gerührt, entzückt, drückte dem gütigen[156] Manne im heißen Dankgefühl die Hand und bot ihm all mein baares Geld für seine Großmuth an. Lächelnd schlug er es aus. Das behalte für Dich, Du wirst es schon brauchen, sagte er. Weit lieber wäre mir ein Kuß von den schönen Lippen, die so anmuthig danken können. Werd' ich vergeblich darum flehen? – Er sah mir so freundlich, so mild und gutherzig in die Augen, und ich fand den Gefälligen in jenem Augenblick so schön und wahrhaft liebenswürdig, daß ich mich nicht lange besann. Weinend sank ich an seine Brust, schlang meine Arme um seinen Nacken und preßte meine Lippen fest an seinen Mund. Lange hielten wir uns umschlungen, wir fühlten den beschleunigten Schlag unserer Herzen. Als ich mich endlich aus den Armen des vortrefflichen Mannes wieder losmachen wollte, fühlte ich mich in der heftigsten Aufregung. Der gütige Vermittler entließ mich nicht. Von Neuem umschlang, drückte er mich an sich. Es ist um Deine Schwester! flüsterte er mir zu, und dies Zauberwort hätte mich damals selbst in der Hölle fest gehalten. Seinen Bitten konnte ich nicht widerstehen. Ich blieb, blieb lange, lange, und als ich von ihm [157] ging, hingen Thränen an meinen Wimpern, Thränen, die nicht meiner Schwester, die mir selbst galten! Jetzt hätte ich neben der Todten niederknien und auf ihren kalten Mund einen Kuß der Vergebung drücken mögen. Was war ich mehr, als sie? Konnte ich nicht gleich ihr endigen, nun ich gefallen war, wie sie? –«
Verstohlen, dem Monde ausweichend, um den Schatten meiner Gestalt nicht zu sehen, schlich ich nach Hause. Schlaflos brachte ich die Nacht unter Thränen, unter Gebet, unter entsetzlichen Vorwürfen hin. Als der Morgen graute, verließ ich mein ärmliches Lager, das mir zur Folterbank geworden war. Ueber die öden Gassen eilte ich schnellen Laufes nach der Anatomie. Da schmetterte mich die trockene Antwort nieder, daß der versprochene Leichnam untauglich sei und mir demnach die Schwester nicht verabfolgt werden könne! – –
Dabei blieb es. Therese verfiel dem Messer des Anatomen und ich hatte meine Jugend, meine Unschuld, meine Ehre einem Phantom geopfert!
Von meiner Dienstherrschaft entlassen, das Augenmerk der ganzen Stadt, für die ich nur [158] die Schwester der schönen Selbstmörderin war, blieb mir nichts übrig als schleunigste Flucht. Vielleicht wäre ich Therese in den Tod gefolgt, hätte mich nicht das Schicksal, welches meiner dann harrte, abgehalten. Der fürchterliche Secirtisch der Anatomie und die lüsternen Blicke der jungen Männer, die sich lachend an meinen erkalteten Gliedern dann weideten, schreckten mich zurück. Flucht! Flucht! rief ich mir wohl tausendmal zu, packte meine wenigen Habseligkeiten zusammen und brach auf.
Erst als die kleine Stadt mit ihren kahlen Bergen hinter mir lag, fragte ich mich: wohin? Die Entscheidung war nicht schwer. Meine unglücklichen, frommen, genügsamen Aeltern lebten noch in ihrer rauschenden Bergeinsamkeit. Noch ahnten sie nichts von dem grauenvollen Unglück, das sie am Spätabend ihres Lebens ereilt hatte. Sie beteten in gottgefälliger Einfalt für ihre fernen Kinder, davon eins schon nicht mehr unter den Lebenden wandelte. Zu ihnen! rief es in der Tiefe meines Herzens, und ich schlug den Weg nach der Heimath ein.
Vor der Thür ihrer Hütte sitzend fand ich die Aeltern. Sie erkannten mich nicht in der [159] modernen städtischen Kleidung, die ich seit meinem Dienstantritt trug. Als ich sie bei Namen rief, umarmten sie mich unter Freudenthränen. Sie fragten nach Theresen, nach ihrem Wohlbefinden. Ich senkte den Kopf und schwieg. Als sie nun eine unerfreuliche Nachricht erwarteten und heftig in mich drangen, erzählte ich mit schonendster Milde den Hergang und das traurige Ende der Schwester. Meine Mutter sank besinnungslos in die zitternden Arme des alten schwachen Vaters. Ich kniete vor beiden nieder und benetzte mit reuigen Thränen ihr Gesicht, ihre Hände.
»Dummes Ding!« hörte ich hinter mir eine nur zu bekannte krächzende Stimme höhnisch rufen. »Wie abgeschmackt für ein hübsches Mädchen von zwei und zwanzig Jahren, sich eines Kindes wegen in's Wasser zu stürzen! Die hat ihren Vortheil schlecht verstanden, und da ist denn freilich weder zu rathen noch zu helfen. Sei Du klüger, hübscher Schwarzkopf, wenn Dir's ähnlich ergehen sollte! Zu einem kalten Bade hat man alle Tage noch überflüssige Zeit!«
Es war die Korbmarthe, die aus dem [160] Walde ihres Weges ziehend den traurigen Schluß meiner Erzählung mit angehört hatte und sich zu dieser gemeinen Bemerkung gedrungen fühlte.
»Dumme Dirne! Dumme Dirne! Sich zu ersäufen in der Blüthe ihrer Schönheit!« murmelte sie vor sich hin, indem sie an uns vorüber schritt. Die Erscheinung dieses häßlichen alten Weibes erfüllte mich mit wahrhaftem Entsetzen, reizte aber auch zugleich meinen Zorn dergestalt, daß ich mir Gewalt anthun mußte, um nicht mit Tigerwuth mich auf sie zu stürzen und ihr das Genick zu brechen. Sie schien mir eine Abgesandte der Hölle, die sich ihres Triumphs über uns freute.
»Ohne ihre tiefe unerschütterliche Gottgläubigkeit würden meine Aeltern diesem Schlage sogleich erlegen sein. Die Religion, die längst einen wahrhaften Bestandtheil ihres Wesens ausmachte und in ihnen lebendig geworden war, hielt sie aufrecht, das Gebet gab ihnen Kraft und Stärke, das Entsetzliche zu ertragen. Sie flehten Gott allabendlich um Gnade für ihr verirrtes, als zwiefache Verbrecherin aus der Welt geschiedenes Kind, und wenn je das Gebet frommer Aeltern Erhörung findet bei Gott, so muß [161] Therese durch das gläubige Bitten ihrer Aeltern begnadigt worden sein.
So innig ich an meinen braven Aeltern hing, so unheimlich ward mir doch in ihrer Nähe. Ich taugte ja nicht mehr in so heilige Kreise, ich war eine Sünderin, deren Herz vor Groll und Ingrimm brechen wollte. Eine unsichtbare Gewalt zog mich hinaus in die Welt, um in ihrem Geräusch Vergessenheit und ein neues Glück zu suchen. Mich drückte, mich beleidigte die Armuth, seitdem ich wußte, wie man mit ihr verfährt, wie man sie gleich einem räudigen Hunde von sich stößt oder sie mit herzloser Gleichgiltigkeit behandelt! Obwohl fromm und schlicht und zu genügsamem Leben erzogen, vermochte ich doch nicht mehr andachtsvoll zu einem Gott zu beten, der Tausende seiner Geschöpfe so unwürdig behandeln läßt, und das Wort Christi: Selig sind die Armen, denn das Himmelreich ist ihr! konnte mich zu verzweifeltem Lachen reizen. Ich konnte nicht an eine Seligkeit jenseits glauben, die ich mit völliger Vernichtung meiner angeborenen Menschenwürde diesseits erkaufen sollte! Werde reich! schrie es Tag und Nacht in mir mit gellender Stimme, [162] werde reich um jeden Preis und Du bist glücklich, angesehen, geehrt!
Daheim konnte ich nicht bleiben. Meine Aeltern wünschten dies eben so wenig, als ich selbst, ich war daher Willens, wieder einen Dienst, wo möglich in einer großen Stadt zu suchen. Dort hoffte ich, sollte sich Gelegenheit finden, die mir von der Natur geschenkten Gaben zu meinem Vortheil zu benutzen. Ich war ja schön, und Schönheit mit Jugend gepaart wirft man so leicht nicht vor die Thür, wenn sie den zarten Panzer des Weibes, die verlockende List, anlegen.
Ich wandte mich nun zuerst nach Hannover, da ich aber bei meiner schnellen Dienstentlassung und der Verwirrung, in die mich der unerwartete Tod meiner Schwester versetzt, ein Zeugniß meines Wohlverhaltens mir ausstellen zu lassen vergessen hatte, fand ich nicht sogleich einen Dienst, wie ich ihn wünschte. Es schien mir sogar, als zweifle man an meiner Unbescholtenheit, wozu ich vermuthlich selbst Anlaß gab durch freundliches, einschmeichelndes Betragen, das mehr von forcirter Koketterie als von [163] reizender Natürlichkeit an sich haben mochte. Es vergingen ein paar Wochen und meine Baarschaft schmolz zusammen. Da machte ich an einem öffentlichen Orte die Bekanntschaft eines nicht mehr jungen, aber, wie ich auf den ersten Blick bemerkte, sehr wohlhabenden Mannes. Mein forschend auf ihn gerichtetes Auge mochte ihm Verheißungen vorgespiegelt haben, an die ich selbst nicht dachte. Er knüpfte ein Gespräch mit mir an, schenkte mir Blumen und schlug mir vor, als er meine nicht eben beneidenswerthe Lage erfuhr, die Stelle einer Haushälterin bei ihm anzunehmen. Er bedürfe grade einer solchen und sei in Verlegenheit, eine Person zu finden, der er vertrauen könne. Ich gefiele ihm, und hätte ich Lust, es mit ihm und seinen kleinen Launen zu versuchen, so könnte ich gleich morgen in seinem eigenen Wagen mit ihm abreisen.
Herr M* war aus Hamburg, Kaufmann und Hagestolz. Seine Bedingungen dünkten mir sehr annehmbar, und da ich durchaus nichts zu verlieren hatte und dieser Anfang mir den vielversprechenden Eingang zu den schimmernden Palästen des Reichthums öffnen zu wollen schien, [164] so nahm ich sie an. Drei Tage später war ich in Hamburg.
Sie können errathen, Herr Kapitän, welch ein Leben ich hier führte. Eine Zeit lang war Herr M* sehr zufrieden mit mir. Er überhäufte mich sogar mit nicht ausbedungenen kostbaren Geschenken, die ich aus den angedeuteten Gründen annahm. Später mußte ich mich dafür erkenntlich zeigen, wozu ich mich nach einigen heftigen innern Kämpfen denn auch entschloß. Ich hoffte Madame M* zu werden und gab dies sehr unverhohlen zu erkennen. Dies war nicht politisch; mein Gebieter ward von Stund' an kälter gegen mich; ich begann ihn zu tyrannisiren, auf meine Ansprüche pochend. Dies verdroß Herrn M* und eines schönen Morgens lohnte er mich ganz ruhig ab und händigte mir außerdem eine ansehnliche Summe als Abfindungsquantum ein. Obwohl ich es jetzt mit Bitten versuchte und keine kleine List unterließ, den Beleidigten mir wieder zu versöhnen, konnte ich ihn doch nicht erweichen. Ich mußte sein Haus verlassen –
In diesem Verhältniß hatte ich so viel erworben, um nöthigen Falles allein anständig leben zu können. Dies zog ich einer neuen dienstlichen [165] Stellung vor. Ich miethete mir ein elegantes Logis, gab mich für eine junge Wittwe aus und spielte nicht ohne äußerliches Glück die gebildete Dame. So hoffte ich am leichtesten ein Ehebündniß mit irgend einem wohlhabenden Manne, der mir gefiel, herbeiführen zu können. Allein auch diese Speculation schlug mir nicht zum Glück aus. Ich fand viele Liebhaber, keinen Geliebten, und da ich schon längst den festen moralischen Halt verloren hatte, sank ich von Monat zu Monat tiefer, bis ich mich selbst verachten mußte. Ich ging von einer Hand zur andern, lebte äußerlich gut, befand mich scheinbar wohl und trug tief verborgen die Hölle in meinem Herzen. Nach und nach wich die erkünstelte Heiterkeit von mir, die so leicht alle Männer bestach und sie mir zuführte. Ich ward traurig, kalt, abstoßend, melancholisch. Da flohen mich die Männer, die immer nur Lust und Scherz beim Weibe suchen. Ich kam, möchte ich sagen, klänge es nicht zu fürchterlich, aus der Mode, und um doch ein anständiges Leben dem Scheine nach fortsetzen zu können und der verhaßten Armuth nicht gänzlich zu verfallen, ward ich genöthigt, die Salons zu besuchen.«
[166] »Dies ist mein äußerst beneidenswerther Lebenslauf,« schloß Bianca mit bitterm Lächeln ihre Erzählung, »und finden Sie jetzt noch, daß ein ehrlicher Mann seine Hand rettend nach mir ausstrecken darf, ohne sich für immer zu besudeln, dann, Herr Kapitän, will ich es wagen, Ihrer Großmuth mich anzuvertrauen!«
»Aber Ihre Aeltern, Bianca? Wissen sie, auf welchen Wegen ihre geliebte Tochter wandelte?«
»Gott Lob, Sie wissen es nicht, wenn sie nicht gleich Gott allwissend sind! Der Tod hat sie längst erlöst.«
Es war stiller und immer stiller geworden im Pavillon. Nur wenige Gruppen saßen noch verstreut im großen Saale. Da ward die Thür des kleinen Gemaches, wo Aurel sich mit Bianca unterhielt, behutsam geöffnet und Gilberts lebhaftes Gesicht lauschte her ein. Gleich darauf stand er vor dem Kapitän.
»Endlich ist das Fahrwasser sicher,« sagte er mit leichtfertigem Lächeln. »Ich habe verteufelt warten und mich verkriechen müssen wie eine Schiffsratte, und hatte es doch so eilig!«
[167] »Was gab es?« fragte Aurel.
»Zum Teufel, Herr Kapitän, wird man denn taub, wenn man einem so reizenden Mädchen, wie Ihre Gesellschafterin es ist, in die geheimnißvollen feuchten Sterne schaut?« Gilbert begleitete diese galanten Worte mit anmuthvoller Verbeugung gegen Bianca. »Als ich vor beinahe zwei Stunden Sie hier aufsuchte, lief mir draußen im Saale ein solcher Himmel mit zwei blauen Sonnen in die Arme, ich fing ihn auf und weil es ja doch eine große Seltenheit zu sein pflegt, den Himmel warm und weich an sein Herz zu schließen, so nahm ich mir geschwind diese Freiheit und berührte die beiden funkelnden Sonnen mit meinen Lippen. Und um solcher himmlischen Neigung wegen wollten mich die glanzfilzigen Bengel todtschlagen! Darum mußte ich ausreißen und bis jetzt warten. Ich habe mich aber doch amusirt! Oben auf dem Stintfange traf ich ein freundliches Kind, frisch und munter wie ein Lachs. Mit ihm habe ich Sternenkunde getrieben bis jetzt und alle sieben Himmel Muhameds durchstreift. Es war prächtig, auf Matrosenehre!«
[168] Aurel schüttelte lächelnd den Kopf. »Schon gut, mein Junge, ich kenne Dich! Behalte jetzt Deine himmlischen Erkenntnisse für Dich und sage, was Deine Eile zu bedeuten hat?«
»Nichts weiter als einen Brief. Da ist er! Schleunigst zu besorgen, steht darauf gekritzelt, irre ich nicht, von der Hand Ihres sehr ehrenwerthen Herrn Bruders.«
Gilbert überreichte Aurel das Schreiben, der mit einiger Hast danach griff.
»Sie erlauben, mein Fräulein?«
»Bitte!«
Aurel riß das Couvert auf, ein langer Brief blieb in seinen Händen. »Das geht nicht,« sagte er, das Schreiben zu sich steckend. »Ich brauche mindestens eine Stunde, um diese Buchstaben zu entziffern.«
»Lassen Sie sich durchaus nicht stören, Herr Kapitän!«
»Es hat Zeit,« fiel Aurel Bianca ins Wort. »Geh, Gilbert, und besorge eine Droschke!«
Gilbert entfernte sich.
»Bianca,« rief nun der junge Kapitän gerüht, [169] indem er beide Hände des schönen Mädchens erfaßte, »Ihre Offenheit hat mich eben so tief erschüttert, wie die betrübenden Erfahrungen, die Sie, noch so jung, bereits gemacht haben. Ich nehme wahrhaften Antheil an Ihnen, und ich wünsche, daß bessere, heiterere, schuldlosere Tage die Vergangenheit mit all ihren Schrecknissen Sie werden vergessen machen. Nehmen Sie es für ein Schicksal, daß ich, selbst ein vielfach gefallener Mann, Ihnen gerade jetzt begegnet bin, und geben Sie mir das Versprechen, Hamburg zu verlassen, sobald ich es fordere. Es wird sich ein passenderer Aufenthaltsort für Sie finden, ich weiß es, und was an mir liegt, einen solchen recht bald zu ermitteln, soll geschehen. Können Sie sich dazu entschließen?«
Bianca's Blick ruhte geraume Zeit auf den freundlichen, treuherzigen Augen des Kapitäns. Sie drückte ihm dankend die Hand und sagte: »Ich folge Ihnen, denn ich erblicke in Ihnen den rettenden Engel, den meine fürbittenden Aeltern mir senden.«
Aurel stand auf, drückte die schöne Sünderin [170] an sich und hauchte einen Kuß auf ihre Stirn.
Ein Wagen fuhr vor. Gilbert meldete, daß Alles bereit sei. Ein paar Secunden später rollte die Droschke mit Aurel, Bianca und Gilbert nach der Stadt.