2. Der Haselnußpfarrer

Das war ein seltsamer Kauz und wäre es wohl in jedem Stande gewesen, darum möchte ich ihn keineswegs als Typus des seinigen zeichnen; weil er aber doch einmal ein Pfarrer gewesen, so möge er hier seinen Platz finden, schon um seines Hauses willen, das gewiß der geistlichen Pflicht der Demut und Niedrigkeit in reichem Maße nachgekommen. Am besten ist's, wir begleiten, um Eingang ins Pfarrhaus zu erhalten, einen seiner Vikare, deren er gar viele gehabt, bei seinem ersten Eintritt; denn sonst ist es äußerst selten aufgesucht worden.

Es war im Sommer 18 .., als ein neuernannter Vikar mutigen Schrittes in das ihm noch gänzlich unbekannte Dorf einzog, dessen Pfarrer er infolge höherer Weisung zum Gehilfen gesandt wurde. Das Pfarrhaus aufzufinden, war aber keine leichte Sache, wenn man einem nicht zuvor gesagt hatte, es sei das baufälligste Haus im Ort. Unter Anleitung des Büttels, der zugleich Gänsehirt war und eben seine Schar heimgetrieben hatte, kam der Vikar aber doch damit zustande. Klein war das Haus eben nicht, sah aber höchst trübselig und wirklich lebensgefährlich aus; denn es war auf einer Seite mit Seilen an einen daneben stehenden starken Lindenbaum gebunden.

Der Vikar fragte nach dem Herrn Pfarrer und der Frau Pfarrerin. »Die Frau«, hieß es, »ist über Feld, der Herr aber [186] sind im Garten.« So ging er denn, ihn dort aufzusuchen, und dachte sich einen ehrwürdigen Herrn, zwischen Blumenbeeten und Obstbäumen umherwandelnd. Dem war aber nicht so, und einen solchen Garten hatte er noch nie gesehen. Ein halb Viertelmorgen war mit lauter Haselnußstauden, hohen und niedrigen, bepflanzt, nichts dazwischen als schmale Pfade. Inmitten dieser Haselnußwildnis wandelte der Pfarrer, eine dürre, starkknochige Gestalt mit einer bedeutend roten Nase und lederbraunem Gesicht, und erspähte prüfenden Blickes den Grad der Reife seiner Nüsse. Er empfing seinen neuen Vikar ziemlich kühl und schien es mißliebig aufzunehmen, daß man ihn in diesen Hain eingelassen hatte, führte ihn auch alsbald in das Wohnzimmer.

Dort war indes die Frau Pfarrerin von ihrem Gang auf den Markt der benachbarten Stadt angekommen, eine gleichfalls magere, höchst ungut aussehende Dame, die sich, nachdem sie einen himmelanstehenden Hut abgelegt hatte, in einer vergilbten Filethaube präsentierte und den Vikar fragte, ob er nicht Tee wolle, wenn es ihm nicht zu spät sei vor dem Nachtessen. Natürlich dankte er dafür.

Sonderlich wohl ward es dem Vikar nicht diesem Ehepaar gegenüber, zwischen dem ein außerordentlich kühles Verhältnis zu bestehen schien. Heiterer und gemütlicher Natur, versuchte er aber doch einen fröhlichen Ton anzuschlagen und gab alte Universitätsspäße zum besten, was wirklich beim Pfarrer einen gurgelnden Ton hervorrief, der ein Lachen vorstellen sollte; und auch die Frau Pfarrerin, der das besonders zu behagen schien, versuchte ihre Muskeln zum Lächeln zu verziehen.

Nach dem Nachtessen brach der Pfarrer plötzlich auf, und der Vikar sah ihn, mit einem schweren Kruge versehen, die Treppe hinabsteigen. Auch ihm wurde nun sein Gemach angewiesen, das im obersten Stockwerk gelegen war und so unerquicklich, dürr und trocken aussah wie das ganze Haus; er konnte seinen Stern nicht besonders preisen, der ihn unter dieses Dach geführt.

Sein Verhältnis zu der Frau Pfarrerin schien sich indes recht erträglich zu gestalten, während der Pfarrer sich auf den nötigsten [187] Verkehr beschränkte und besonders ängstlich bemüht schien, ihn von seiner Studierstube fernzuhalten, in welcher er den Tag über und abends fast alle Zeit zubrachte.

Als eines Tages der Pfarrer nach dem Nachtessen abermals verschwunden war, begann die Pfarrerin ganz zutraulich: »Herr Vikar, ich höre, Sie verstehen sich auf die Physiognomien und sehen den Leuten an, wie lange sie noch leben werden.« Der Vikar gab zu, daß er sich hie und da damit befaßt und namentlich bei Kranken oft einen richtigen Blick gehabt habe. »Nun, meinen Sie, daß ich oder mein Mann zuerst sterben werde?« Als der Vikar, erstaunt über eine so ruhig gestellte Frage dieser Art aus dem Munde einer Gattin, die Antwort schuldig blieb, fuhr sie mit schauerlicher Gelassenheit fort: »Sehen Sie, ich und mein Mann haben gar nie zusammengepaßt; ich hätte ihn nicht genommen, wenn mir's nicht um einen eigenen ›Unterschlauf‹ (Obdach) zu tun gewesen wäre. Seit wir geheiratet sind, hat er mich nur erzürnt: wenn ich fett koche, will er mager essen; habe ich eingeheizt, sperrt er die Fenster auf; will ich Bohnen pflanzen, pflanzt er Haselnüsse. Ich ärgere mich nun schon lange nicht mehr; aber ich muß oft denken, es wäre fast am besten, wenn der liebe Gott eins von uns zweien zu sich nähme, ich könnte dann nach Nürtingen ziehen.« Der Vikar, der nicht wußte, ob er über diese gottergebene Ehefrau lachen oder weinen solle, zog sich aus der Sache, so gut er konnte, und meinte, der Herr Pfarrer sehe noch sehr robust aus; doch habe man freilich Exempel, daß auch die kräftigsten Leute schnell wegsterben – und so weiter.

Ein Rätsel, dessen Lösung ihn täglich beschäftigte, war für den Vikar des Pfarrers Studierstube, zu der niemand Zutritt hatte; selbst Bauern, die zu ihm wollten, wurden stets die Treppe hinaufgewiesen. Ums Leben gern hätte er gewußt, was er eigentlich dort trieb: theologische Studien schwerlich, denn seine Gelehrsamkeit war ziemlich verrostet, und seine Predigten mahnten an die Gebeträder der Buddhisten, welche dieselbe Leier mechanisch abrollen. Hatte er einmal gar nicht studiert, so verkürzte er die zur Predigt bestimmte Zeit damit, [188] daß er nach Verlesung des Evangeliums anhob: »Dieses Evangelium ist so schön und so schön, daß ich's eurer Liebe noch einmal vorlesen muß,« und so fort. Klassische Studien trieb er wohl ebensowenig; denn seine ganze Kenntnis der alten Sprachen schien darauf eingeschrumpft, daß er das Wort Vikarius durch alle Fälle deklinierte: »Das ist des Herrn Vikarii Glas«; »schenke dem Herrn Vikario ein«; »Herr Vikarie, ich wollte Sie noch fragen«; »hat Sie den Herrn Vikarium gesehen?« – Was ging denn aber vor im geheimnisvollen Gemach, aus dem nur hie und da dumpfe, brummende Musiktöne in stiller Nacht heraufdrangen?

Da ereignete sich's einmal, daß das Pfarrpaar, das man fast nie zusammen erblickte, weil sie stets daheim blieb, wenn er ausging, und fortging, wenn er dablieb, eine gemeinsame Einladung zu einem Hochzeitsfest annahm. Zudem fügte es sich, dem Vikar äußerst erwünscht, daß man am selben Tage eine nötige Notiz aus einem der Kirchenbücher verlangte, die unter des Pfarrers Gewahrsam waren. Dieser hatte zwar den Schlüssel mitgenommen; aber Bäbel, die alte Hausmagd, erbot sich, mit dem Hauptschlüssel zu öffnen. Mit erwartungsvollem Schauder, fast wie Annchen in Blaubarts Stube, trat er in das geöffnete Heiligtum.

Siehe, da standen auf einem Tisch die sehr wenigen Bücher, deren der Pfarrer sich bediente; zwei lange Pfeifen, ein tüchtiger Krug; daneben lehnte eine mächtige Baßgeige, und an allen Wänden der Stube lagen Säcke, mit Haselnüssen gefüllt. Bäbel bemerkte sein stummes Erstaunen: »Ja, der Herr Pfarrer brechen immer selber alle die Haselnusse und essen sie auch allein.« – »So, deshalb bleibt er so lange auf?« – »Ja, und da kriegen sie Durst von den vielen Nussen, und den da«, auf den Krug zeigend, »trinken sie aus. Sie übersehen sich aber nie, sie können's gut vertragen, man spürt ihnen gar nichts an,« fügte sie entschuldigend hinzu.

So war's also entdeckt, das dunkle Geheimnis! Jeden Abend um halb neun Uhr zog der Pfarrer samt seinem Krug, den er eigenhändig mit rotem Wein gefüllt, in die untere Stube, [189] schwelgte dort in Haselnüssen und baßgeigte dazwischen, bis der Krug leer war. Das also war's, was des Pfarrers Leben ausfüllte, was ihn stumpf machte fürs Wissen, lau im Beruf, gleichgültig gegen häusliche Freudlosigkeit! – Ein so seltsames Surrogat für Glück war dem Vikar noch nie vorgekommen.

Das konnte man dem Pfarrer nicht nachsagen, daß er neuerungssüchtig oder anspruchsvoll in betreff seiner Wohnung sei.

Das Mansardenzimmer des Vikars war allen Unbilden der Witterung ausgesetzt und an einem schönen Wintermorgen mit einem solchen Schneehügel bereichert, daß es nötig wurde, für längere Zeit einen gemeinsamen Schlafsaal zu errichten, was der annoch lebende Totengräber des Orts bezeugen kann.

Der Pfarrer nahm solches Mißgeschick mit großer Gelassenheit auf. Seit das Pfarrhaus durch den Lindenbaum wieder gestützt worden war, lebte er geruhig darin fort, versunken in seine Haselnüsse, bis eines schönen Morgens, da die Hausbewohnerschaft eben am Frühstück saß, der Zimmerboden ohne besondere Veranlassung hinunterbrach und sämtliche Mitglieder des Hauses, Herr und Frau, Vikar und Bäbel, rasch und sicher in den darunter befindlichen Kuhstall versetzte. Das war eine große Überraschung; die Frau Pfarrerin richtete sich zuerst auf, sie war weich gefallen, und sah nach, ob sie noch keine Veranlassung habe, nach Nürtingen zu ziehen; aber auch der Herr Pfarrer waren unverletzt; nur der Vikar lag härter und wirklich gefährlich unter einer Kuh.

Sobald man sich notdürftig erholt hatte, ward ein Bote ans Königliche Kameralamt abgesandt mit einem Bericht dieser merkwürdigen Begebenheit. Besagtes Amt kam tags darauf in höchsteigener Person mit einem Werkmeister, um den Schaden einzusehen und aufzunehmen. Die Herstellung des eingebrochenen Zimmerbodens sollte unverzüglich in den Bauüberschlag fürs nächste Jahr, die der zerschmetterten Fenster aber in den fürs nachfolgende aufgenommen werden, wenn der Pfarrer den Beweis erbringen könne, daß die Fenster durch Ausheben nicht noch hätten gerettet werden können. Auf des Pfarrers dringende Vorstellung, daß er sein Zimmer nicht entbehren [190] könne, ward ihm gestattet, es einstweilen auf eigene Rechnung herstellen zu lassen, mit der Bedingung, daß er die Stube wieder in statum quo setze, falls das Haus an einen andern übergeben würde, noch ehe die Herrschaft den Bauüberschlag genehmigt hätte.

Der Stubenboden wurde wiederhergestellt; die Herzen des Ehepaars schienen sich aber auch durch diese tragische Katastrophe nicht näher gekommen zu sein. Dem Vikar gefiel's je [191] länger je weniger; er ward es immer mehr satt, die trübselige Frau Pfarrerin zu unterhalten, während der Pfarrer seine Orgien in der Haselnußkammer feierte. So zog er denn ab, sobald es sich tun ließ.

Sein Nachfolger, ein hagebüchener, ausgedienter Vikar, war, scheint es, die verwandte Seele, die dem Pfarrer lange gefehlt hatte. Er begleitete des Pfarrers Baßgeige mit dem Violoncell, und ihm ward die Gunst gewährt, deren sich noch kein Sterblicher erfreut hatte: er durfte teilnehmen an den Schwelgereien unter den Nußsäcken; auch mußte von nun an der Krug allabendlich noch einmal aufgefüllt werden.

Nach Jahr und Tag führte den ersten Vikar sein Weg wieder in die Gegend. Da beschloß er denn, den Pfarrer wieder aufzusuchen und ihn mit einem Säckchen extraschöner Aug'stnüsse zu erfreuen. In der Nähe des Orts aber traf er mit dem hagebüchenen Vikar zusammen, der soeben seine Bestallung als Amtsverweser daselbst erhalten hatte. – Der Haselnußpfarrer und seine Frau waren an einem und demselben Tage gestorben.

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TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Erzählungen. Bilder und Geschichten aus Schwaben. Schwäbische Pfarrhäuser. 2. Der Haselnußpfarrer. 2. Der Haselnußpfarrer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A7E8-5