Zwei Frauen
Der 10. Oktober war gar oft schon ins Land gekommen seit jenem Abschied der zwei Bräute. In dem gesegneten Herbst des Jahres 1810 traf er Dörtchen in dem Städtchen Marbach, das so freundlich am Neckar liegt; ihr Mann bekleidete dort eine angesehene Beamtenstelle.
Das Dörtchen war nun eine ehrbare Matrone, und doch [128] noch das alte lebendige Dörtchen von Rebenbach mit den hellen blauen Augen, und die blühenden Töchter und der hochaufgeschossene Sohn, deren glückliche Mutter sie war, hätten leicht für ihre jüngern Geschwister gelten können.
Dörtchen saß eben mit ihrer ganzen Familie in der behaglichen großen Wohnstube des alten Schlosses, das ihnen als Amtswohnung eingeräumt war. Die Weinlese war diesmal ungewöhnlich früh gewesen, und vom großen Vorplatz des Hauses, wo die Weinbütten aufgestellt waren, scholl ein verworrenes, doch fröhliches Getümmel herauf. Dieser Platz war immer, besonders aber zur Herbstzeit, der liebste Tummelplatz der Kinder. »Die Bütten kommen 'raus!« ist ein Losungswort zu unendlichem Jubel; da wird Verstecken, Visiten, Haschen gespielt, alles in und um die Bütten. Nun, wo sie mit Most gefüllt waren, ging das nicht mehr an; dafür schlichen aber genug schelmische Burschen herum, mit ausgehöhlten Holderstäben bewaffnet, mittels deren sie das süße Getränk aus den Bütten schlürften. Dazwischen tönte das Geläut der Schellenmänner (Tagelöhner, die den Wein, der im Ort eingekeltert wird, in die Keller tragen und bunte Bänder auf der Lederkappe und Schellenriemen an der Seite haben, um von weitem bemerkt zu werden und nicht ausweichen zu dürfen).
Es war eben das Plauderstündchen nach Tisch, das auch in Dörtchens geschäftiger Familie für ein trauliches Beisammensitzen freigegeben war, denn der Rat liebte das »Tischeln« ungemein. Der Papa las noch die Zeitung; Luise, die älteste Tochter, studierte die Verkaufsanzeigen in den Beilagen; die rotwangige Sophie, die zweite Tochter, hielt Anna, das Nesthäkchen, auf dem Schoß, um sie besser in den Hof sehen zu lassen; Gustav, der einzige Sohn des Hauses, der als Student in den Ferien daheim war, hatte soeben der Mutter mit einiger Verschämtheit eines seiner Erstlingsgedichte hingeschoben und beobachtete nun über ein Zeitungsblatt weg die Miene, mit der sie es lesen würde; denn der Mutter klares Urteil, aus dem ein so warmes Verständnis ihres jungen Dichters sprach, galt ihm über alles.
[129] »Ei, Papa,« rief Luise, »da ist ein neues Buch angezeigt, das muß schön sein; das könnten Sie uns wohl kaufen: ›Elisa, oder das Weib, wie es sein soll‹.«
»Oh, nicht wahr, Papa!« rief Sophie dazwischen, »denken Sie nur, wie wir dann so erstaunlich vorzüglich würden!«
»Will euch was sagen, Mädchen,« sprach der Vater gutgelaunt, »wenn ihr drei miteinander nur halb so brav und so gescheit werdet wie eure Mutter, so will ich zufrieden sein, und euer Mann kann's auch, ohne die Elisa.«
Dörtchen, der ein Lob aus ihres Mannes Munde ungewöhnt klang, da er sonst kein Freund von vielen Worten war, sah mit hellen Augen zu ihm hinüber und gab ihm freundlich die Hand. Indem fiel ihr Blick auf die Zeitung. »So, heut ist der zehnte,« sagte sie langsam, und Elise und die Herbsttage von Rebenbach standen mit einem Male lebendig vor ihrer Seele.
Sie hatte Elise nicht vergessen, aber seit lange nichts mehr von ihr gehört; auch mochte sie niemand nach ihr fragen, weil ihr's weh tat, nur harte Urteile über sie zu vernehmen. Das hatte sie wohl erfahren, daß Elisens Ehe kurz und höchst unglücklich gewesen; daß ihr Leichtsinn, ihre Vergnügungssucht, ihr schlechtes Haushalten ihren Mann nach zwei Jahren schon zur Scheidung genötigt hatten. Seither wußte sie gar nichts mehr über ihr Leben und Treiben, da auch Elisens Mutter tot war; heute nun mußte sie ihrer so lebhaft gedenken, als ob sie erst gestern Abschied von ihr genommen hätte.
Da kam die Magd eiligst hereingesprungen: »Ach, Frau Rat, eine ganz vornehme Frau ist in einem Einspänner angefahren; gewiß eine Gräfin, sie kommt schon die Stiege herauf!« – »Wird nicht so arg sein mit der Vornehmheit,« meinte Dörtchen. »Sophie, räume schnell vollends den Tisch ab, und du, Luise, bleib da, bis man sieht, ob sie gegessen hat! Wenn ich mit den Augen winke, so koche gleich eine Grießsuppe und Pfannkuchen.«
Noch ehe diese Anweisungen ganz zu Ende waren, schritt eine große, abgemagerte Gestalt in rotem Samtkleid und einem vergilbten, ehemals weißen Seidenhut mit ausgebreiteten [130] Armen auf Dörtchen zu, mit dem Ausrufe: »Dörtchen, so sehen wir uns wieder!« –
An diesem Empfang hätte Dörtchen nun freilich Elise erkannt, auch wenn das verfallene, welke Gesicht keine Spur der Jugendzüge mehr gezeigt hätte. Sie stellte nun Frau Elise Bürger, ihre Jugendfreundin, ihrer höchst neugierigen Familie vor und bat sie mit der alten Herzlichkeit, sich's bequem zu machen. Während Luise auf den besprochenen Wink eilte, für die Bewirtung zu sorgen, und Gustav, der noch im Schlafrock war, sich durch eine Hintertür entfernt hatte, hörte sie an, was die arme Freundin für gut fand ihr selbst von ihrer Geschichte zu erzählen.
Mit Schreck und tiefem Mitleid erfuhr sie am Ende ihrer traurigen Erlebnisse, daß Elise nun heimatlos als Schauspielerin und Deklamatorin im Lande herumziehe und daß sie beabsichtige, auch hier im Orte ein Deklamatorium zu geben.
Nun hatte zwar das Dörtchen neben ihrem gesetzten Hausfrauensinn [131] noch ein warmes und offenes Herz für alles wirklich Schöne, was Kunst oder Natur bot; aber – ein Deklamatorium in einer Wirtsstube zu geben, das kam ihr doch als eine tiefe Herabwürdigung vor für eine Frau ihres Alters, für ihre ehemalige Herzensfreundin. Nur ihre Gutmütigkeit hielt sie ab, ihr den Plan auszureden, und es kostete sie große Überwindung, zu versprechen, daß sie mit ihrer Familie teilnehmen wolle, was Elise doch sicher erwartete.
Während Elise lang und breit ihren traurigen Lebenslauf entwickelte, an dem natürlich – laut ihrer Darstellung – nur ihr ungewöhnlich schweres Schicksal die Schuld trug, sah sie mit heimlicher Wehmut sich um in der traulichen, freundlichen Heimat, die ihr Dörtchen sich gegründet hatte, deren ganzer Reichtum sich freilich erst allmählicher Beobachtung enthüllte. Dieser solide bürgerliche Wohlstand, der sich auch in den kleinsten Dingen kundgab; diese anspruchslose, genügsame Einfachheit und vernünftige Sparsamkeit im Innern und diese herzliche, zwanglose Freigebigkeit nach außen; die Liebe und Achtung des Gatten, die sich ohne Worte doch so deutlich aussprach; der frischblühende Kreis der Kinder, die, alle glücklich begabt an Geist und Körper, mit der ehrfurchtsvollsten Liebe auf die Mutter sahen – hier war alles an seiner rechten Stelle, nichts Gezwungenes noch Geziertes; keine starre ängstliche Ordnung, sondern eine fröhlich belebte. Wie mochte es Elisen sein, wenn sie in ihr verödetes Herz, auf ihr zweckloses Dasein blickte?
Die deklamatorische Abendunterhaltung fand statt. Elise trat im roten Samtkleid und silbergestickten Federbarett auf. Bei all den feierlichen wie bei den scherzhaften Gedichten, die sie vortrug, hätte Dörtchen nur bitterlich um sie weinen mögen. Die arme Elise dauerte sie viel zu sehr, als daß sie sich noch um sie geschämt hätte; doch war sie froh, als sie wieder daheim mit ihr war. Sie leuchtete Elisen in ihr Zimmer und blieb dort noch eine Weile bei ihr, da das arme Geschöpf lange nicht zur Ruhe kommen konnte. Sie standen beisammen am Fenster und sahen schweigend in die sternhelle Nacht; drüben auf der Höhe ließen Knaben noch vom Herbst übrig gebliebenes Feuerwerk [132] los; man sah eine Rakete aufsteigen und erlöschen. Mit schmerzlichem Zucken wandte Elise sich ab und sprach leise: »Du hast das beste Teil erwählt!«
Dörtchen bat Elise am andern Tage recht herzlich, auf längere Zeit bei ihr zu verweilen; sie hätte ihr so gern etwas Gutes getan, wenn sie gleich heimlich fürchtete, ihr Mann werde wenig Freude haben an dem poetischen Gaste, dessen gekünsteltes, gesteigertes Wesen ihm so gar zuwider war. Aber Elise selbst schien es fortzutreiben von diesem gastlichen Dach, aus dieser Heimat der Liebe und des Friedens, voll kräftigen, gesunden Lebens. Sie reiste ab nach einigen Tagen, nachdem Dörtchen in aller Stille den Komödienstaat in ihrem leichten Koffer mit einem Vorrat guten Weißzeugs vermehrt hatte. Und so schieden die Freundinnen auf Nimmerwiedersehen.
Auf dem Kirchhof des Landstädtchens Marbach ist Dörtchens Grab. Auf ihrem Leichenstein, und diesmal spricht ein Grabstein Wahrheit, steht, daß sie starb »als das Kleinod ihres Gatten, als der Schutzengel ihrer Kinder, als der Trost der Armen, als das rechte Bild eines guten Weibes mit frommem, demütigem Herzen und rastlos tätiger Hand«. Sie lebt noch im Andenken der Ihrigen, ein teures Vorbild für die nachwachsenden Geschlechter.
In Frankfurt am Main, in einer Ecke des alten Kirchhofs ist Elisens unbeweintes Grab, verlassen und vergessen. Sie hat in jener Stadt ihre letzten Lebenstage kümmerlich gefristet durch den Erwerb, den ein mitleidiger Buchhändler ihr durch kleine Aufträge zuwandte. Wo man ihrer noch gedenkt, nennt man sie den bösen Engel ihres Gatten, dessen letzte Lebenstage sie vergiftet habe. Und doch war ihr Herz nicht schlimm, war ihr Wille einst gut gewesen. Aber die fromme Demut hatte ihr gefehlt, die Treue im kleinen, der ergebene Sinn, der nichts will, als recht und mit Freudigkeit die Bahn gehen, die der Herr ihm vorgezeichnet hat.
[133]