Achter Auftritt
Schön. Die Vorigen.
SCHÖN
erscheint auf der Galerie zwischen den beiden mittleren Säulen, indem er vorsichtig den Vorhang teilt.
Über die Bühne wegsprechend. Mein eigener Sohn!
ALWA.
... Mit deinen Gottesgaben macht man seine Umgebung zu Verbrechern, ohne sich's träumen zu lassen. – Ich bin auch nur Fleisch und Blut, und wenn wir nicht wie Geschwister nebeneinander aufgewachsen wären ...
LULU.
Deshalb gebe ich mich auch nur dir allein ganz ohne Rückhalt. Von dir habe ich nichts zu fürchten.
[307]ALWA.
Ich versichere dir, es gibt Augenblicke, wo man gewärtig ist, sein ganzes Innere einstürzen zu sehen. – Je mehr Selbstüberwindung ein Mann sich aufbürdet, um so leichter bricht er zusammen. Darüber hilft nichts hinweg als ...
Er will unter den Tisch sehen.
LULU
rasch.
Was suchst du denn?!
ALWA.
Ich beschwöre dich, laß mich mein Glaubensbekenntnis für mich behalten! Als unantastbares Heiligtum warst du mir mehr, als du in deinem Leben mit all deinen Gaben irgend sonst jemandem sein konntest!
LULU.
Wie denkst du darin doch so ganz anders als dein Vater!
Ferdinand kommt durch die Mitte, wechselt die Teller und serviert Brathähnchen mit Salat.
ALWA
zu Ferdinand.
Sind Sie krank?
LULU
zu Alwa.
Laß ihn doch!
ALWA.
Er zittert wie im Fieber.
FERDINAND.
Ich bin das Servieren noch nicht so gewohnt.
ALWA.
Sie müssen sich was verschreiben lassen.
FERDINAND
durch die Zähne.
Ich kutschiere gewöhnlich. – – Ab.
SCHÖN
auf der Galerie, über die Bühne wegsprechend.
Der also auch. Nimmt hinter der Brüstung Platz, sich nach Erfordernis mit dem Vorhang deckend.
LULU.
Was sind das für Augenblicke, von denen du sprachst, wo man gewärtig ist, sein ganzes Innere zusammenstürzen zu sehen?
ALWA.
Ich wollte nicht davon sprechen. – Ich möchte nicht gern über einem Glas Champagner verscherzen, was mir während zehn Jahren mein höchstes Lebensglück gewesen.
LULU.
Ich habe dir weh getan. Ich will nicht wieder davon anfangen.
ALWA.
Versprichst du mir das für immer?
LULU.
Meine Hand darauf. Reicht ihm ihre Hand über den Tisch.
ALWA
ergreift sie zögernd, preßt sie in der seinigen, drückt sie lang und innig an seine Lippen.
LULU.
Was tust du ...
[308] Rodrigo steckt rechts den Kopf aus den Gardinen. Lulu wirft ihm über Alwa hinweg einen wütenden Blick zu.
Rodrigo zieht sich zurück.
SCHÖN
auf der Galerie, über die Bühne wegsprechend.
Und da ist noch einer!
ALWA
ihre Hand haltend.
Eine Seele – die sich im Jenseits den Schlaf aus den Augen reibt ... O diese Hand ...
LULU
harmlos.
Was findest du daran ...
ALWA.
Ein Arm ...
LULU.
Was findest du daran ...
ALWA.
Einen Körper ...
LULU
unschuldig.
Was findest du daran ...
ALWA
erregt.
Mignon!
LULU
völlig verständnislos.
Was findest du daran ...
ALWA
leidenschaftlich.
Mignon! Mignon!
LULU
wirft sich auf die Ottomane.
Sieh mich nicht so an – um Gottes willen! Laß uns lieber gehen, ehe es zu spät ist. Du bist ein verworfener Mensch!
ALWA.
Ich sagte dir ja, ich bin der niederträchtigste Schurke ...
LULU.
Das sehe ich!!
ALWA.
Ich habe kein Ehrgefühl – keinen Stolz ...
LULU.
Du hältst mich für deinesgleichen!
ALWA.
Du? – du stehst so himmelhoch über mir wie – wie die Sonne über dem Abgrund ... Kniend. Richte mich zugrunde! – Ich bitte dich, mach ein Ende mit mir! – Mach ein Ende mit mir!
LULU.
Liebst du mich denn?
ALWA.
Ich bezahle dich mit allem, was mein war!
LULU.
Liebst du mich?!
ALWA.
Liebst du mich – Mignon ...?
LULU.
Ich? – Keine Seele.
ALWA.
Ich liebe dich.
Birgt seinen Kopf in ihrem Schoß.
LULU
beide Hände in seinen Locken.
– Ich habe deine Mutter vergiftet ...
Rodrigo steckt rechts den Kopf aus den Gardinen, sieht Schön auf der Galerie sitzen und macht ihn durch Zeichen auf Lulu und Alwa aufmerksam.
Schön richtet seinen Revolver gegen Rodrigo.[309] Rodrigo bedeutet ihn, den Revolver auf Alwa zu richten.
Schön spannt den Revolver und zielt auf Rodrigo.
Rodrigo fährt hinter die Gardinen zurück.
LULU
sieht Rodrigo zurückfahren, sieht Schön auf der Galerie sitzen, erhebt sich.
Sein Vater!
Schön erhebt sich, läßt den Vorhang vor sich nieder. Alwa bleibt regungslos auf den Knien.
Pause.
SCHÖN
eine Zeitung in der Hand, nimmt Alwa bei der Schulter.
Alwa!
ALWA
erhebt sich wie schlaftrunken.
SCHÖN.
In Paris ist Revolution ausgebrochen.
ALWA.
Nach Paris ... laß mich nach Paris ...
SCHÖN.
Auf der Redaktion rennen sie sich den Kopf gegen die Wand. Keiner weiß, was er schreiben soll ... Entfaltet das Zeitungsblatt, geleitet Alwa durch die Mitte hinaus.
Rodrigo stürzt rechts aus den Gardinen, will die Treppe hinan.
LULU
vertritt ihm den Weg.
Sie können hier nicht hinaus.
RODRIGO.
Lassen Sie mich durch!
LULU.
Sie rennen ihm in die Arme.
RODRIGO.
Er jagt mir sein Pistol durch den Kopf.
LULU.
Er kommt.
RODRIGO
zurücktaumelnd.
Himmel, Tod und Wolkenbruch! Hebt die Tischdecke.
HUGENBERG.
Kein Platz!
RODRIGO.
Verdammt und zugenäht!
Sieht sich um, verbirgt sich links hinter der Portiere.
SCHÖN
durch die Mitte, verschließt die Tür, geht, den Revolver in der Hand, auf das Fenster rechts vorn zu, schlägt die Gardine in die Höhe.
– Wo ist denn der hin?
LULU
auf den untersten Treppenstufen.
Hinaus.
SCHÖN.
Über den Balkon hinunter??
LULU.
Er ist Kunstturner.
[310]SCHÖN.
Das war nicht vorauszusehen. – Sich gegen Lulu wendend. Du Kreatur, die mich durch den Straßenkot zum Martertode schleift!
LULU.
Warum hast du mich nicht besser erzogen?
SCHÖN.
Du Würgengel! Du unabwendbares Verhängnis! Mörder werden oder im Schmutz ertrinken; mich einschiffen wie ein entlassener Sträfling oder mich über dem Morast aufhängen. Du Freude meines Alters! Du Henkerstrick!
LULU
kaltblütig.
Schweig doch und bring mich um!
SCHÖN.
Ich habe dir Hab und Gut verschrieben und nichts gefordert als die Achtung, die meinem Haus jeder Dienstbote zollt. Dein Kredit ist erschöpft!
LULU.
Ich kann noch auf Jahre für meine Rechnung einstehen. Von der Treppe nach vorn kommend. Wie gefällt dir mein neues Kleid?
SCHÖN.
Weg mit dir, sonst schlägt's mir morgen über den Kopf, und mein Sohn schwimmt in seinem Blute. Du haftest mir als unheilbare Seuche an, an der ich bis in mein Grab meine Lebenszüge verächzen soll. Ich will mich heilen. Begreifst du mich? Ihr den Revolver aufdrängend. Das ist dein Spezifikum. – Brich nicht in die Knie! – Du sollst es dir selbst applizieren. Du oder ich, wir messen uns.
LULU
hat sich, da die Kräfte sie zu verlassen drohen, auf den Diwan niedergelassen; den Revolver hin und her drehend.
Das geht ja nicht los.
SCHÖN.
Weißt du noch, wie ich dich der Korrektionspolizei aus den Krallen riß?
LULU.
Du hast viel Zutrauen ...
SCHÖN.
Weil ich eine Dirne nicht fürchte? Soll ich dir die Hand führen? Hast du selbst kein Erbarmen mit dir? Da Lulu den Revolver gegen ihn richtet. Keinen blinden Lärm!
Lulu knallt einen Schuß gegen den Plafond.
RODRIGO
springt aus der Portiere, die Treppe hinauf, über die Galerie ab.
SCHÖN.
Was war das ...?
LULU
harmlos.
Nichts.
SCHÖN
die Portiere hebend.
Was kam da herausgeflattert?
[311]LULU.
Du leidest an Verfolgungswahn.
SCHÖN.
– Hältst du noch mehr Männer hier versteckt? Ihr den Revolver entreißend. Ist sonst noch ein Mann bei dir zu Besuch? Nach rechts gehend. Ich will deine Männer regalieren! Schlägt die Fenstergardinen in die Höhe, wirft den Kaminschirm zurück, packt die Geschwitz am Kragen und schleppt sie nach vorn. Kommen Sie durch den Rauchfang herunter?
GESCHWITZ
in Todesangst zu Lulu.
Retten Sie mich vor ihm.
SCHÖN
sie schüttelnd.
Oder sind Sie auch Kunstturner?
GESCHWITZ
wimmernd.
Sie tun mir weh.
SCHÖN
sie schüttelnd.
Jetzt müssen Sie notwendig noch zum Diner bleiben. Schleppt sie nach links, stößt sie ins Nebenzimmer, verschließt die Tür hinter ihr. Wir wollen keine Ausrufer. Setzt sich neben Lulu, drängt ihr den Revolver auf. Es ist noch genug für dich drin. – Sieh mich an! Ich kann in meinem Haus meinem Kutscher nicht helfen, mir die Stirn zu verzieren. Sieh mich an! Ich bezahle meinen Kutscher. Sieh mich an! Vergönne ich meinem Kutscher was, wenn ich den infamen Stallgeruch nicht verschnupfen kann?
LULU.
Laß anspannen. Bitte. Wir fahren in die Oper.
SCHÖN.
Wir fahren zum Teufel! Jetzt kutschiere ich. Den Revolver in ihrer Hand von sich ab und auf Lulus Brust wendend. Glaubst du, man läßt sich mißhandeln, wie du mich mißhandelst, und besinnt sich zwischen einer Galeerenschande von Lebensabend und dem Verdienst, die Welt von dir zu befreien? Hält sie am Arm nieder. Komm zu Ende. Es soll mir die glücklichste Erinnerung meines Lebens sein. Drück los!
LULU.
– Du kannst dich scheiden lassen.
SCHÖN
sich erhebend.
Das war noch übrig. Damit morgen ein nächster seinen Zeitvertreib findet, wo ich von Abgrund zu Abgrund geschaudert, den Selbstmord im Nacken und dich vor mir. Das wagt sich dir über die Lippen? Was ich von meinem Leben in dich hineingelebt, soll ich wilden Tieren vorgeworfen sehen? Siehst du dein Bett mit dem Schlachtopfer darauf? Der Junge hat Heimweh nach dir. – Hast du dich scheiden lassen? Du hast ihn unter die Füße getreten, ihm das Gehirn ausgeschlagen, [312] sein Blut in Goldstücken aufgefangen. Ich mich scheiden lassen! Läßt man sich scheiden, wenn die Menschen ineinander hineingewachsen und der halbe Mensch mitgeht? Nach dem Revolver langend. Gib her.
LULU.
Erbarmen!
SCHÖN.
Ich will dir die Mühe abnehmen.
LULU
reißt sich von ihm los, den Revolver niederhaltend, in entschiedenem selbstbewußten Ton.
– Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben, so setzt das meinen Wert nicht herab. – Du hast so gut gewußt, weswegen du mich zur Frau nimmst, wie ich gewußt habe, weswegen ich dich zum Mann nehme. – Du hattest deine besten Freunde mit mir betrogen, du konntest nicht gut auch noch dich selber mit mir betrügen. – Wenn du mir deinen Lebensabend zum Opfer bringst, so hast du meine ganze Jugend dafür gehabt. Du verstehst dich zehnmal besser als ich darauf, was höher im Wert steht. Ich habe nie in der Welt etwas anderes scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat, und man hat mich nie in der Welt für etwas anderes genommen, als was ich bin. – Du willst mich dazu zwingen, mir eine Kugel ins Herz zu jagen. Ich bin keine sechzehn Jahre mehr; aber um mir eine Kugel ins Herz zu jagen, dafür bin ich mir doch noch zu jung!
SCHÖN
auf sie eindringend.
Nieder, Mörderin! Nieder mit dir! In die Knie, Mörderin! Er drängt sie bis vor die Treppe. Die Hand erhebend. Nieder – und wage nicht wieder aufzustehn!
LULU
ist in die Knie gesunken.
SCHÖN.
Bete zu Gott, Mörderin, daß er dir Kraft gibt! Flehe zum Himmel, daß er dir die Kraft dazu verleiht!
HUGENBERG
unter dem Tisch aufspringend, den Sessel beiseite stoßend.
Hilfe!
Schön wendet sich gegen Hugenberg, Lulu den Rücken kehrend.
Lulu feuert fünf Schüsse gegen Schön und hört nicht auf, den Revolver abzudrücken.
[313]SCHÖN
vornüberstürzend, von Hugenberg aufgefangen, der ihn in den Sessel niederläßt.
Und – da – ist – noch einer ...
LULU
auf Schön zustürzend.
Allbarmherziger ...
SCHÖN.
Aus meinen Augen! – – – Alwa!
LULU
auf den Knien.
Der einzige, den ich geliebt!
SCHÖN.
Dirne! Mörderin! – Alwa! Alwa! – Wasser!
LULU.
Wasser; er verdurstet.
Füllt ein Glas mit Champagner und setzt es Schön an die Lippen.
ALWA
kommt über die Galerie, die Treppe herunter.
Mein Vater! Um Gottes willen, mein Vater!
LULU.
Ich habe ihn erschossen.
HUGENBERG.
Sie ist unschuldig!
SCHÖN
zu Alwa.
Du bist es. Es ist mißglückt.
ALWA
will ihn aufheben.
Du mußt zu Bett. Komm.
SCHÖN.
Faß mich nicht so an. – Ich verdorre ...
LULU
kommt mit dem Champagnerkelch.
SCHÖN
zu Lulu.
Du bleibst dir gleich. Nachdem er getrunken, zu Alwa. Laß sie nicht entkommen. – Du bist der nächste ...
ALWA
zu Hugenberg.
Helfen Sie mir, ihn aufs Bett bringen.
SCHÖN.
Nein, nein, bitte, nein. Sekt, Mörderin ...
ALWA
zu Hugenberg.
Fassen Sie mit an. Nach links deutend. Ins Schlafzimmer.
Beide richten Schön empor und führen ihn nach rechts. Lulu bleibt neben dem Tisch, das Glas in der Hand.
SCHÖN
stöhnend.
O Gott, o Gott, o Gott ...
ALWA
findet die Tür verschlossen, dreht den Schlüssel und öffnet.
Gräfin Geschwitz tritt heraus.
SCHÖN
sich bei ihrem Anblick steif emporrichtend.
Der Teufel – Schlägt rücklings auf den Teppich.
LULU
wirft sich neben ihn, nimmt seinen Kopf auf den Schoß, küßt ihn.
Er hat es überstanden. –Richtet sich auf, will die Treppe hinan.
ALWA.
Nicht von der Stelle! –
GESCHWITZ
zu Lulu.
Ich glaubte, du wärest es.
[314]LULU
sich vor Alwa niederwerfend.
Du kannst mich nicht dem Gericht ausliefern. Es ist mein Kopf, den man mir abschlägt. Ich habe ihn erschossen, weil er mich erschießen wollte. Ich habe keinen Menschen auf der Welt geliebt als ihn. Alwa, verlang, was du willst. Laß mich nicht der Gerechtigkeit in die Hände fallen. Es ist schade um mich! Ich bin noch jung. Ich will dir treu sein mein Leben lang. Ich will nur dir allein gehören. Sieh mich an, Alwa. – Mensch, sieh mich an! Sieh mich an!
Von außen wird an die Tür gepoltert.
ALWA.
Die Polizei.
Geht, um zu öffnen.
HUGENBERG.
Ich werde von der Schule gejagt.