Jules Verne
Reisen und Abenteuer
des Kapitän Hatteras


1. Abtheilung

1. Capitel
Erstes Capitel.
Der Forward.

»Morgen bei fallender Fluth wird die Brigg Forward, Kapitän K. Z., Lieutenant Richard Shandon, von New-Prince's-Docks abfahren. Bestimmung unbekannt.«

So las man im »Liverpool-Herald« am 5. April 1860.

Für einen der ersten Handelshäfen Englands ist die Abfahrt einer Brigg ein unbedeutendes Ereigniß, das inmitten der Schiffe jeder Größe und jeder Nationalität kaum bemerkt wird.

Dennoch fand sich am 6. April vom frühen Morgen an eine ansehnliche Volksmenge auf den Quais der New-Prince's-Docks ein. Die unzählbare Corporation der Seeleute der Stadt schien sich da ein Rendezvous zu geben. Die Arbeiter der benachbarten Werfte verließen ihr Tagewerk, die Kaufleute [5] ihre düsteren Comptoire, ihre unbesuchten Gewölbe. Die bunten Omnibus, welche längs der äußern Mauer der Bassins fahren, brachten jede Minute eine Ladung Neugieriger; die Stadt schien nur einen einzigen Gedanken zu haben: der Abfahrt des Forward beizuwohnen.

Der Forward war eine Brigg von hundertundsiebenzig Tonnen Gehalt, ein Schraubendampfer von hundertundzwanzig Pferdekraft. Bot er auch den Augen des Publicums nichts außerordentliches dar, so nahmen doch Kenner einige Besonderheiten wahr, welche jeder Seemann verstand.

Daher machte sich auch eine Gruppe Matrosen an Bord des in der Nähe ankernden Nautilus über die Bestimmung des Forward allerhand Vermuthungen.



»Was soll man, sagte einer, von diesen Masten denken? es ist doch nicht gebräuchlich, daß Dampfschiffe so viel Segel haben.

– Das Fahrzeug muß, erwiderte ein Bootsmann mit breitem, rothem Gesicht, sich mehr auf seine Masten als seine Maschine verlassen wollen, und wenn es so stark in hohen Segeln ist, so geschah es wohl deshalb, weil die niedrigen oft maskirt sein werden. Darum glaub' ich sicher, daß der Forward für die Nord- oder Süd-Polarmeere bestimmt ist, wo die Eisberge den Wind mehr hemmen, als es einem tüchtigen Schiffe paßt.

– Sie sollen Recht haben, Meister Cornhill, versetzte ein dritter Matrose, haben Sie auch bemerkt, wie dieser Vordersteven gerade auf's Meer fällt?

– Und dazu, sagte Meister Cornhill, ist er mit einer Schneide von [6] Gußstahl versehen, die scharf wie ein Rasirmesser ist, und einen Zweidecker entzweischneiden kann, wenn der Forward mit aller Kraft von der Seite her auf ihn eindringt.

– Sicherlich, erwiderte ein Lootse des Mersey, denn diese Brigg fährt mit ihrer Schraube hübsch vierzehn Knoten in der Stunde. Es war zum Staunen, wie sie bei der Probefahrt die Strömung durchschnitt. Glauben Sie mir, es ist ein seiner Segler.

– Und ebenso ist sie mit ihren Segeln nicht in Verlegenheit, fuhr Meister Cornhill fort; sie fährt stracks in den Wind und ist leicht mit der Hand zu lenken. Und noch etwas besonders! Haben Sie das weite Hennegat seines Steuerruders bemerkt?

– Wahrhaftig, so ist es, erwiderten die anderen, aber was ist daraus abzunehmen?

– Es beweist dies für's erste, Ihr lieben Bursche, versetzte der Meister mit Selbstzufriedenheit, daß Ihr weder zu sehen noch zu denken versteht; es ist daraus abzunehmen, daß man dem Kopf des Steuers Spielraum geben wollte, um leichter seine Stelle zu ändern. Sie wissen wohl nicht, daß dies Manoeuvre zwischen den Eisblöcken oft vorkommt?

– Vortrefflich geurtheilt, erwiderten die Matrosen des Nautilus.

– Und zudem, fuhr der eine von ihnen fort, wird die Meinung des Meister Cornhill durch die Ladung der Brigg bestätigt. Ich weiß es von Clifton, der unerschrocken Theil nimmt. Der Forward nimmt für fünf bis sechs Jahr Lebensmittel und dem entsprechend Kohlen mit. Die ganze Ladung desselben besteht aus Kohlen und Lebensmitteln, nebst einem Pack wollener Kleidung und Robbenfellen.

– Ah! Dann ist auch nicht mehr daran zu zweifeln, sagte Meister Cornhill; aber kurz, mein Freund, da Du Clifton kennst, hat denn der nichts von seiner Bestimmung gesagt?

– Er konnte mir nichts sagen, weil er's nicht weiß; darauf ist die Mannschaft geworben. Wohin es geht, soll man erst erfahren, wenn man an Ort und Stelle ist.

– Und auch, erwiderte ein Ungläubiger, wenn sie zum Teufel gehen, wie mir es ganz den Anschein hat.

– Aber auch was für ein Sold! fuhr Clifton's Freund lebhaft fort, welch' hoher Sold! Fünfmal höher, als der gewöhnliche. Ah! Sonst hätte [7] Richard Shandon Niemand gefunden, der unter solchen Bedingungen sich hätte werben lassen! Ein Fahrzeug von auffallendem Bau, das wer weiß wohin fährt, und nicht aussieht, als wolle es ernstlich wiederkommen! Ich meinestheils hätte nicht große Lust dazu.

– Lust oder nicht, Freund, erwiderte Meister Cornhill, Du wärest nie fähig gewesen, der Bemannung des Forward anzugehören.

– Und weshalb?

– Weil Dir die nöthigen Erfordernisse abgehen. Ich habe mir sagen lassen, Verheiratete würden gar nicht angenommen. Da Du nun zu dieser Sorte gehörst, so brauchst Du nicht so spröde zu thun; für Dich freilich wär' es eine wahre Zwangspartie.«

Der also angezapfte Matrose lachte mit seinen Kameraden, und gab damit zu erkennen, daß Meister Cornhill Recht hatte.

Cornhill fuhr mit Selbstbefriedigung fort: »Bis auf den Namen ist auch alles an dem Schiff erschrecklich kühn! Der Forward – d.h. Vorwärts, bis wohin? Und dazu kennt man den Kapitän der Brigg nicht.

– O ja! man kennt ihn, erwiderte ein junger Matrose mit etwas naivem Angesicht.

– Wie? Man kennt ihn?

– Allerdings.

– Kleiner, sagte Cornhill, kannst Du glauben, daß Shandon Kapitän des Forward sein werde?

– Aber, versetzte der junge Matrose ...



– So laß Dir sagen, daß Shandon Unterbefehlshaber ist, weiter nichts; es ist ein wackerer, kühner Seemann, ein Wallfischfahrer, der erprobt ist, ein tüchtiger Kamerad, aber schließlich doch nicht der Befehlshaber; er ist so wenig Kapitän, wie Du und ich, unbeschadet meinem Respect! Den, der nach unserm Herrgott an Bord befehlen wird, kennt er selber auch nicht. Wenn der rechte Zeitpunkt kommt, wird der wahre Kapitän zum Vorschein kommen, man weiß nicht wie, und wer weiß von welchem Ufer der beiden Welten; denn Richard Shandon hat nicht gesagt, und darf auch nicht sagen, wohin auf der Welt er fahren würde.

– Dennoch, Meister Cornhill, fuhr der junge Seemann fort, versichere ich Sie, daß sich einer an Bord vorgestellt hat, einer in dem Schreiben, worin dem Herrn Shandon seine Stelle übertragen ward, angekündigt worden ist!

[8] – Wie? entgegnete Cornhill mit Stirnrunzeln, Du willst behaupten, der Forward habe einen Kapitän an Bord?



– Ja wohl, Meister Cornhill.

– Du sagst mir das, mir?

– Allerdings, weil ich es von Johnson habe, dem Rüstmeister.

– Von Meister Johnson?

– Allerdings, er hat mir es selbst gesagt.

– Er hat Dir's gesagt?

– Er hat es mir nicht allein gesagt, sondern den Kapitän gezeigt. – Gezeigt hat er Dir ihn! erwiderte Cornhill betroffen.

– Ja wohl, gezeigt.

– Und Du hast ihn gesehen?

– Mit eigenen Augen.

– Und wer ist's?

– Ein Hund.

– Ein Hund?

– Ein vierfüßiger?

– Ja!«

[9] Die Matrosen des Nautilus waren ganz verdutzt; in jedem andern Falle würden sie hell aufgelacht haben. Ein Hund Kapitän einer Brigg von hundertundsiebenzig Tonnen! Aber der Forward war wirklich ein so außerordentliches Fahrzeug, daß man zweimal es ansehen mußte, ehe man lachte, ehe man in Abrede stellte. Uebrigens lachte selbst Meister Cornhill nicht.

»Und Johnson hat Dir diesen so außerordentlichen Kapitän gezeigt, diesen Hund? fuhr er fort zu dem jungen Matrosen.

– So wie ich Sie sehe, mit Erlaubniß.

– Nun, was denken Sie davon? fragten die Matrosen den Meister Cornhill.

– Ich denke nichts, erwiderte dieser barsch, ich denke nichts, als daß der Forward ein Schiff des Teufels ist, oder Narren gehört, die für das Irrenhaus reif sind!«

Die Matrosen sahen ferner den Forward schweigend an, und nicht einem einzigen von ihnen fiel es ein zu behaupten, der Johnson habe den jungen Seemann zum Besten gehabt.

Der Forward zog übrigens seit einigen Monaten die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Daß er etwas auffallend gebaut, mit Geheimniß umhüllt war; das Incognito seines Kapitäns; die Art, wie Richard Shandon seine Ausrüstung betrieb; die besondere Auswahl seiner Mannschaft; die unbekannte, von manchen kaum vermuthete Bestimmung desselben, – alles wirkte zusammen, der Brigg ein mehr als sonderbares Gepräge zu geben.

Für einen Denker, Träumer, Philosophen hat übrigens ein Schiff, das abzufahren im Begriff ist, etwas höchst anregendes; die Phantasie begleitet es gerne bei seinem Ringen mit den Wogen, seinen Kämpfen mit den Winden, bei der abenteuerlichen Fahrt, die nicht immer im Hafen ihr Ziel findet, und wofern nur der geringste ungewöhnliche Zwischenfall eintritt, er hält das Schiff ein phantastisches Aussehen.

So war es auch mit dem Forward. Und wenn die gewöhnlichen Zuschauer nicht so kundige Bemerkungen, wie Meister Cornhill, machen konnten, so gab es doch seit drei Monaten Stoff genug zu fortwährendem Gerede, für die Unterhaltung in Liverpool.

Die Brigg wurde zu Birkenhead, einer wirklichen Vorstadt von Liverpool am linken Ufer der Mersey, gebaut, und durch Dampfbarken in unablässigem Verkehr mit dem Hafen gehalten.

[10] Die Erbauer, Scott & Cie., hatten von Richard Shandon einen Aufriß und detaillirten Plan erhalten, welcher den Tonnengehalt, die Größenverhältnisse, das Modell der Brigg höchst genau angab. Man konnte darin den Scharfsinn eines vollendeten Seemanns erkennen. Da Shandon beträchtliche Mittel zur Verfügung hatte, so wurden die Arbeiten in Angriff genommen und nach der Weisung des unbekannten Eigenthümers auf's rascheste betrieben.

Die Bauart der Brigg war von erprobter Solidität; sie war offenbar bestimmt, enormem Druck zu widerstehen, denn sein Fugenwerk aus Teak, einem indischen, durch äußerste Dauerhaftigkeit ausgezeichneten Bauholz, war noch dazu mit dem stärksten Eisenbeschlag versehen. Man fragte sich unter den Seeleuten, weshalb der Rumpf eines mit solchen Widerstandsverhältnissen gebauten Schiffes nicht aus Eisenblech gefertigt wurde, wie bei anderen Dampfbooten. Darauf antwortete man, der geheimnißvolle Ingenieur müsse wohl seine Gründe dafür haben.



Die Brigg nahm auf dem Werft allmälig ihre Gestalt an, und ihre Stärke wie Feinheit setzten die Kenner in Erstaunen. Wie die Matrosen des Nautilus bemerkt hatten, bildete sein Vordersteven einen rechten Winkel mit dem Kiel; es war nicht mit einem Schnabel versehen, sondern mit einer Schneide von Gußeisen aus den Werkstätten R. Hawthorn's zu Newcastle. Dieses metallene, im Sonnenschein blinkende Vordertheil, gab der Brigg, obwohl sie gar nichts Militärisches an sich hatte, ein ganz besonderes Aussehen.[11] Doch wurde auf dem Vordercastell eine Kanone vom Kaliber eines Sechzehnpfünders aufgestellt; auf einem Zapfen sich drehend, konnte sie leicht nach allen Richtungen gestellt werden.

Am 5. Februar 1860 wurde das seltsame Schiff im Angesicht einer ungeheuern Zuschauermenge vom Stapel gelassen, was vollkommen gelang.

Aber welches war denn die Bestimmung des Schiffes? Es sollte den Erebus und Terror, den Sir John Franklin aufsuchen, nichts weiter. Denn im Jahr zuvor war der Commandant Mac Clintock mit sicheren Beweisen vom Scheitern dieser unglücklichen Unternehmung aus den Nord-Polarmeeren heimgekehrt.

Wollte denn der Forward nochmals die nordwestliche Durchfahrt machen? Wozu nützte dies? Der Kapitän Mac Clur hatte sie im Jahre 1853 aufgefunden, und sein Lieutenant Creswell hatte zuerst die Ehre, um das amerikanische Festland herum von der Behrings- bis zur Davis-Straße zu fahren.

Es war jedoch für Sachverständige unzweifelhaft, daß der Forward den Eisregionen Trotz bieten sollte. Wollte er zum Südpol vordringen, noch weiter als der Wallfischfahrer Wedell, als der Kapitän Roß? Aber zu welchem Zweck und Nutzen?

Am folgenden Tag, nachdem die Brigg vom Stapel gelaufen, kam ihre Maschine aus den Werkstätten von R. Hawthorn zu Newcastle an.

Diese Maschine, von hundertundzwanzig Pferdekraft mit oscillirenden Cylindern, nahm wenig Raum ein: für ein Schiff von hundertundsiebenzig Tonnen eine bedeutende Kraft. Da es zudem reichlich mit Segeln versehen war, so besaß es außerordentliche Schnelligkeit, wie die Probefahrten bewiesen.

Nachdem die Maschine an Bord war, begann das Einbringen der Vorräthe; keine geringe Arbeit, denn das Schiff wurde auf sechs Jahre verproviantirt. Die Lebensmittel bestanden aus gesalzenem und getrocknetem Fleisch, geräuchertem Fisch, Zwieback und Mehl; Kaffee und Thee wurden lawinengleich in die unteren Räume gewälzt. Richard Shandon leitete die kostbare Befrachtung als ein Mann, der sich darauf verstand; alles wurde streng ordnungsmäßig packetirt, etikettirt, numerirt; auch wurde ein großer Vorrath von dem indischen Präparat, Pemmican genannt, welches sehr nahrhafte Bestandtheile enthält, mitgenommen.

Diese Gattung von Lebensmitteln ließ keinen Zweifel, daß es auf eine lange dauernde Expedition abgesehen war; und ein kundiger Beobachter begriff[12] auf den ersten Blick, daß diese in die Polar-Meere gehen sollte, wenn er die Tonnen Lime-juice und Kalkpastillen, Päcke von Senf, Sauerampferkörnern und Löffelkraut sah, die Menge von solchen Mitteln gegen den Scorbut, welche man bei den Fahrten in die nördlichen und südlichen Zonen so nothwendig braucht. Shandon besorgte diesen Theil der Ladung mit ganz besonderer Sorgfalt.

Waffen wurden wenige mitgenommen, aber eine Kammer mit Pulver gefüllt, was beunruhigen konnte; denn die einzige Kanone an Bord konnte solches Bedürfniß nicht haben. Ebenso wurde für riesenhafte Sägen gesorgt und starke Werkzeuge, wie Hobel, bleierne Keulen, Handsägen, enorme Beile etc., dazu eine ansehnliche Menge Spreng-Cylinder, womit man das ganze Zollgebäude Liverpools in die Luft sprengen konnte, Raketen und Kunstfeuer zu Signalen, Fanale aller Art.



Die zahlreichen Zuschauer auf den Quais von New-Prince's-Docks bewunderten ferner ein langes Wallfischboot von Mahagoni, eine Pirogue von Blech mit Guttapercha bezogen, und eine Anzahl Halkett-boats, Kautschuküberzüge, welche man durch Aufblasen in Canots verwandeln konnte. Jeder fühlte sich um so mehr beunruhigt, als mit der sinkenden Fluth der Forward zu seiner geheimnißvollen Bestimmung abzufahren im Begriff war.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Ein unerwarteter Brief.
Das Schreiben, welches Richard Shandon acht Monate zuvor erhalten hatte, lautete wörtlich:

[13] Aberdeen, den 2. August 1859.


»Herrn Richard Shandon, Liverpool.


Mein Herr.


Gegenwärtiges soll Sie in Kenntniß setzen, daß sechzehntausend Pfund Sterling dem Bankhause Marcuart & Cie. in Liverpool zugestellt worden sind. Hier beifolgend eine Reihe von Anweisungen mit meiner Unterschrift, mit welchen Sie über Summen bis zu dem gedachten Betrag verfügen können.

Sie kennen mich nicht; darauf kommt wenig an. Ich kenne Sie, und das ist die Hauptsache.

Ich biete Ihnen die Stelle des Unterbefehlshabers an Bord der Brigg Forward, zu einer Expedition, die lang und gefährlich sein kann.

Lehnen Sie ab, so ist's nichts. Nehmen Sie an, so sollen Sie fünfhundert Pfund als Gehalt empfangen, und nach Verlauf jedes Jahres, so lange die Unternehmung dauert, soll Ihr Gehalt um ein Zehntheil erhöht werden.



Die Brigg Forward existirt noch nicht. Sie müssen sie noch bauen lassen, so daß sie spätestens Anfang April 1860 in die See stechen kann. Hierbei folgt ein detaillirter Plan mit Aufriß. Sie haben sich pünktlich daran zu halten. Das Schiff soll in den Werften der Herren Scott & Cie. gezimmert werden, mit welchen Sie sich darüber zu benehmen haben.

Ich empfehle Ihnen ganz besonders die Bemannung des Forward; sie wird bestehen aus einem Kapitän, der bin ich, einem Lieutenant, Sie, einem dritten Officier, einem Rüstmeister, zwei Maschinisten, einem Eismeister, acht Matrosen und zwei Heizern, zusammen achtzehn Mann, inbegriffen den Doctor Clawbonny aus dieser Stadt, welcher zu gehöriger Zeit bei Ihnen erscheinen wird.

Die zur Theilnahme an der Expedition des Forward berufenen Leute müssen Engländer sein, frei, ohne Familie, unverheiratet, nüchtern (denn geistige Getränke und selbst Bier werden an Bord nicht geduldet), bereit alles zu unternehmen und alles zu ertragen. Sie werden dieselben vorzugsweise aus Leuten von sanguinischer Leibesbeschaffenheit wählen, welche eben deshalb das Lebensprincip thierischer Wärme in höherm Grade in sich enthalten.

[14] Sie bieten ihnen das Fünffache ihres gewöhnlichen Soldes, mit einer jährlichen Zulage von einem Zehntel. Bei Beendigung der Unternehmung werden jedem derselben fünfhundert Pfund zugesichert, und zweitausend Pfund Ihnen. Diese Gelder werden von den obgedachten Herren Marcuart & Cie. bezogen.

Diese Unternehmung wird lange dauern und voll Strapazen, aber ehrenvoll sein. Sie haben sich also nicht zu besinnen, Herr Shandon

Antwort poste restante Götteborg (Schweden) unterK. Z.«


»P.S. Sie werden künftigen fünfzehnten Februar einen großen dänischen Hund mit herabhängenden Lefzen, schwärzlich fahl mit schwarzen Querstreifen empfangen. Sie wollen ihm an Bord eine Stätte anweisen und ihm Gerstenbrod vermischt mit Brühe von Talgbrod zum Futter geben. Den Empfang des Hundes melden Sie nach Livorno unter gleichen Buchstaben wie oben.

Der Kapitän des Forward wird zu passender Zeit sich einfinden und zu erkennen geben. Im Augenblick der Abfahrt werden Sie neue Instructionen bekommen.

Der Kapitän des Forward K. Z.«


[15]
3. Capitel
Drittes Capitel.
Der Doctor Clawbonny.

Richard Shandon war ein guter Seemann; er hatte lange Zeit Wallfischfänger in den Nord-Polarmeeren commandirt, und dabei in ganz Lancaster einen fest begründeten Ruf gewonnen. Ein solcher Brief konnte mit Recht tiefen Eindruck machen; dies geschah denn auch bei ihm, doch blieb er kaltblütig.

Er befand sich zudem in den gewünschten Verhältnissen; weder Frau, noch Kinder, noch Verwandte; ein freier Mann, wie irgend einer. Da er also mit Niemand zu berathen hatte, begab er sich stracks zu den Bankiers Marcuart & Cie.

»Wenn das Geld da ist, sagte er sich, kommt das Uebrige von selbst.«

Er wurde in dem Bankhause mit den Rücksichten empfangen, welche man einem Manne zollt, auf den sechzehntausend Pfund ruhig in einer Kasse warten. Als dieser Punkt im Reinen war, ließ sich Shandon ein Blatt weiß Papier geben, und meldete mit derber Seemanns-Handschrift seine Annahme unter der angegebenen Adresse.

Noch denselben Tag setzte er sich mit den Schiffsbaumeistern zu Birkenhead in Verbindung, und vierundzwanzig Stunden nachher lag bereits der Kiel des Forward der Länge nach auf den Stapelblöcken des Zimmerplatzes.

Richard Shandon war ein Junggeselle von vierzig Jahren, kräftig, energisch und tapfer, drei Vorzüge eines Seemanns, denn sie verleihen Zuversicht, Nachdruck und Kaltblütigkeit. Er war als ein eifersüchtiger und schwer zu befriedigender Charakter bekannt, daher auch nie von seinen Matrosen geliebt, vielmehr gefürchtet. Dieser Ruf ging übrigens nicht so weit, daß er ihm Mühe verursacht hätte, seine Mannschaft zusammenzubringen, denn man wußte, daß er sich gewandt aus der Noth herauszuziehen vermochte.

Shandon besorgte, die geheimnißvolle Seite möge geeignet sein, ihn in seinem Vorgehen zu hemmen.

»So ist's denn auch am besten, sagte er sich, nichts laut werden zu lassen; es giebt Seehunde, die möchten auch das Weil und Warum der Sache wissen, und da ich nichts weiß, so wäre ich sehr in Verlegenheit, ihnen zu antworten. Dieser K. Z. ist sicher ein sonderlicher Geselle; aber schließlich [16] kennt er mich und rechnet auf mich: das genügt. Sein Schiff soll hübsch hergerichtet werden, und ich will nicht Richard Shandon heißen, wenn es nicht die Bestimmung hat, das Eismeer zu befahren. Aber das wollen wir unter uns behalten.«

Darauf ließ sich Shandon angelegen sein, seine Mannschaft aufzubringen, und zwar genau unter den vom Kapitän vorgeschriebenen Bedingungen.

Er kannte einen wackeren, sehr ergebenen Burschen, der ein guter Seemann war, James Wall mit Namen. Derselbe mochte dreißig Jahr alt sein, und hatte schon mehrmals die nördlichen Meere besucht. Shandon bot ihm die Stelle eines dritten Officiers an, und James Wall nahm ohne Weiteres an; es war ihm nur um die Fahrt zu thun. Shandon setzte ihm die Sache im Detail auseinander, und ebenso einem gewissen Johnson, den er zu seinem Rüstmeister machte.



»Ein groß Glück ist's nicht, erwiderte James; soviel werth als sonst etwas. Handelt sich's darum, die nordwestliche Durchfahrt zu suchen, so kann man wieder heimkehren.

– Nicht immer, erwiderte Meister Johnson; aber es ist das doch kein Grund, um die Fahrt nicht zu machen.

– Uebrigens, irren wir nicht in unseren Vermuthungen, fuhr Shandon fort, so muß man zugeben, daß die Fahrt unter günstigen Umständen vor sich geht. Der Forward wird ein vorzügliches Schiff sein, und mit einer guten Maschine versehen kann er weit fahren. Wir brauchen nur achtzehn Mann im Ganzen.

– Achtzehn Mann, versetzte Meister Johnson; soviel hatte der Amerikaner Kane an Bord, als er seine berühmte Fahrt nach dem Pol unternahm.

– Es ist immer höchst auffallend, fuhr Wall fort, daß ein Privatmann noch einmal den Versuch macht, durch das Meer von der Davis- zur Behrings-Straße zu dringen. Die zum Auffinden des Admirals Franklin ausgeschickten Expeditionen haben England schon über siebenhundertundsechzigtausend Pfund gekostet, ohne zu irgend einem praktischen Resultat zu führen! Wer zum Teufel kann nochmals sein Vermögen an eine solche Unternehmung setzen?

– Vor allem, James, erwiderte Shandon, raisonniren wir über eine [17] bloße Vermuthung. Ob wir wirklich in die nördlichen oder südlichen Polar-Meere fahren werden, weiß ich nicht. Vielleicht handelt sich's darum, eine neue Entdeckung zu versuchen. Uebrigens soll über kurz oder lang ein gewisser Doctor Clawbonny sich einfinden, der wird ohne Zweifel mehr davon wissen und Auftrag haben, uns darüber zu unterweisen. Werden schon sehen.

– So warten wir also ab, sagte Meister Johnson; ich meinestheils will nun tüchtige Untergebene aufsuchen, Commandant; und was ihr Princip der Lebenswärme, wie der Kapitän sagt, betrifft, so will ich zum Voraus dafür einstehen. Sie können sich auf mich verlassen.«

Dieser Johnson war ein sehr schätzbarer Mann; er war mit der Schifffahrt in den hohen Breitegraden vertraut. Er hatte sich als Quartiermeister an Bord des Phönix befunden, welcher zu den im Jahre 1853 zum Aufsuchen Franklin's entsendeten Expeditionen gehörte; dieser wackere Seemann war sogar beim Tod des französischen Lieutenants Bellot zugegen, welchen er bei seiner Fahrt durch die Eisberge begleitete. Johnson kannte das Matrosenpersonal zu Liverpool, und machte sich sogleich an's Werk, seine Leute zusammenzubringen.

Shandon, Wall und er hatten solchen Erfolg, daß schon in den ersten Decembertagen ihre Mannschaft vollständig beisammen war; doch ging es nicht ohne Schwierigkeiten ab; viele, die wohl durch die hohe Löhnung sich anlocken ließen, wurden doch durch die unbestimmte Zukunft der Expedition abgeschreckt, und mancher ließ sich zwar entschlossen anwerben, kam aber nach einiger Zeit wieder, um sein Wort und Draufgeld zurückzugeben. Alle versuchten übrigens durch das Geheimniß zu dringen, und drängten den Commandanten Richard mit Fragen; derselbe verwies sie an Meister Johnson.

»Was willst Du, daß ich Dir sagen soll, mein Freund! erwiderte der Letztere unabänderlich; ich weiß nicht mehr als Du. Jedenfalls wirst Du Dich in guter Kameradschaft befinden mit unerschrockenen Gesellen, die nicht wanken; das ist schon etwas! Also nicht so viel Bedenken! es gilt annehmen oder lassen!«

Und die meisten nahmen an.

»Du begreifst wohl, fügte manchmal der Rüstmeister bei, daß mir die Wahl wehe thut. Eine so hohe Löhnung, wie man sie noch niemals erlebt hat, mit der Gewißheit, bei seiner Rückkehr ein hübsches Capital beisammen zu haben, so etwas kann doch wohl anziehen.

[18] – Allerdings, erwiderten die Matrosen, das ist sehr verführerisch! Ein gutes Auskommen bis an's Ende seiner Tage!

– Ich will indeß nicht verhehlen, fuhr dann Johnson fort, daß die Unternehmung langwierig, mühevoll und gefährlich ist; das steht ausdrücklich in unseren Instructionen; also muß man sich wohl merken, wozu man sich verbindlich macht; sehr wahrscheinlich, alles Menschenmögliche zu versuchen und vielleicht noch mehr! Also hast Du nicht Muth im Herzen, einen erprobten Charakter, hast Du nicht den Teufel im Leibe, magst Du Dir nicht sagen, daß zwanzig gegen eins Du dabei bleiben kannst, kurz, ist es Dir darum zu thun, daß Du Deine Haut lieber an dem Ort lässest, wie an einem andern – so kehre mir den Rücken und überlaß Deinen Platz einem kühneren Gesellen!

– Aber doch, Meister Johnson, fuhr der Matrose, wenn ihm so zugesetzt wurde, fort, Sie kennen doch wenigstens den Kapitän?

– Kapitän ist Freund Richard Shandon, bis daß ein anderer an seine Stelle tritt.«

Das war auch wohl die Meinung des Commandanten; er gab sich gern der Idee hin, daß er im letzten Moment seine genauen Instructionen über das Reiseziel erhalten und dann Chef an Bord des Forward bleiben werde. Er verbreitete auch gern diese Meinung, sei's im Gespräch mit seinen Officieren, sei's im Verlauf der Schiffbauarbeiten.

Shandon und Johnson hielten sich strenge an die hinsichtlich der Gesundheit der Mannschaft gegebenen Vorschriften; dieselbe hatte ein befriedigendes Aussehen; ihre elastischen Glieder, ihre klare und blühende Hautfarbe zeigte, daß sie die strengste Kälte auszuhalten fähig waren. Es waren zuversichtliche und entschlossene Männer, energisch und von dauerhafter Leibesbeschaffenheit.


Matrosenunterhaltung über den Forward. (S. 18 u. 19.)

Die gesammte Mannschaft gehörte dem protestantischen Religionsbekenntniß an; das gemeinsame Gebet, das Bibellesen, trägt oft dazu bei, widerwärtige Gemüther in Eintracht zu halten und zur Zeit der Entmuthigung aufzurichten. Shandon wußte aus Erfahrung, wie ersprießlich diese Gewohnheiten in ihrem Einfluß auf die Sittlichkeit einer Mannschaft sind.

Hierauf besorgten Shandon und seine beiden Officiere die Verproviantirung, wobei sie sich strenge an die Instructionen des Kapitäns hielten, welche klar, präcis und in's Einzelne gehend waren und die Quantität wie Qualität der geringsten Artikel vorschrieben. Die empfangenen Anweisungen setzten den [19] Commandanten in Stand, jeden Artikel baar zu bezahlen, mit einem Discont von acht Procent, welchen Richard Shandon pünktlich zu Gunsten des K. Z. eintrug.

Mannschaft, Proviant, Ladung, alles war im Januar 1860 bereit und fertig. Shandon fand sich tagtäglich zu Birkenhead ein.

Am 23. Januar Vormittags befand er sich seiner Gewohnheit nach auf einer der breiten Dampfbarken, welche an beiden Enden mit einem Steuer versehen unablässig die Ueberfahrt von einem Ufer des Mersey an's andere besorgen; es herrschte damals einer der gewöhnlichen Nebel, welcher die [20] Bootsleute des Flusses nöthigte, sich des Compasses zu bedienen, obwohl die Ueberfahrt kaum zehn Minuten währt.

Indessen, so dick dieser Nebel war, sah Shandon durch denselben hindurch einen Mann von untersetzter Statur, etwas dick, mit seinen, munteren Gesichtszügen und freundlichem Blick, der auf ihn zuging, seine beiden Hände ergriff, und mit einer Wärme und Vertraulichkeit schüttelte, die, wie die Franzosen sich ausdrücken, »ganz südlich« war.


Ankunft des Doctor Clawbonny. (S. 20.)

Aber war dieser Mann auch nicht aus dem Süden, so kam er doch eben [21] von dort; er sprach und gesticulirte flink; sein Gedanke machte sich Luft um jeden Preis; seine Augen, klein wie die eines Mannes von Geist, sein großer, beweglicher Mund, gaben der Ueberfülle des Inneren einen Ausweg; er sprach so viel und so lebhaft, daß Shandon, offen gestanden, nichts davon verstand.



Doch erkannte der Schiffslieutenant sogleich den kleinen Mann, obschon er ihn nie gesehen hatte; und als dieser einmal Athem holte, äußerte Shandon rasch:

»Der Doctor Clawbonny?

– Er selbst, in eigner Person, Commandant! Seit einer vollen Viertelstunde suche ich Sie, frage allerwärts nach Ihnen! Sie sind es also, Commandant Richard Shandon? Sie sind's leibhaftig? Keine Mythe also? Ihre Hand, Ihre Hand! daß ich sie nochmals drücke. Wenn es nun einen Commandanten Richard Shandon giebt, so giebt es auch eine Brigg Forward unter seinem Befehl; und wenn er abfährt, wird er den Doctor Clawbonny mitnehmen.

– Ja wohl, Doctor, ich bin Richard Shandon, es existirt eine Brigg Forward, die wird abfahren!

– Das ist logisch, erwiderte der Doctor. Darum bin ich auch so froh, auf der Höhe meiner Wünsche! Seit langer Zeit wartete ich auf solche Gelegenheit, voll Sehnsucht, eine solche Reise zu machen. Nun, mit Ihnen, Commandant ...

– Gestatten Sie ... sagte Shandon.

– Mit Ihnen, fuhr Clawbonny fort, ohne ihn zu hören, werden wir gewiß weit fahren, und keinen Fußbreit weichen.

– Aber ... versetzte Shandon.

– Denn Sie haben schon Proben abgelegt, Commandant, und ich weiß, was Sie geleistet haben. Ah! Sie sind ein stolzer Seemann!

– Wollen Sie die Güte haben ...

– Nein, ich will Ihre Kühnheit, Ihre Tapferkeit und Geschicklichkeit nicht einen Augenblick in Zweifel gezogen haben, nicht einmal von Ihnen! Der Kapitän, der Sie zu seinem Stellvertreter gewählt hat, versteht sich darauf, dafür bürg' ich!

– Aber darum handelt sich's nicht, sagte Shandon ungeduldig.

[22] – Und warum handelt sich's denn? Sie lassen mich lange schmachten.

– Sie lassen mich ja nicht reden, zum Henker! Sagen Sie mir nur gefälligst, Doctor, wie sind Sie dazu gebracht worden, an der Expedition des Forward Theil zu nehmen?

– Nur durch einen Brief, den ich hier Ihnen vorweise; er ist sehr lakonisch, aber hinreichend!«

Mit diesen Worten überreichte er Shandon das Schreiben, welches also lautete:


Inverneß, den 22. Januar 1860.


»An den Doctor Clawbonny, Liverpool.


Wenn der Doctor Clawbonny sich für eine lange dauernde Expedition auf dem Forward einschiffen will, kann er sich dem Commandanten Richard Shandon vorstellen, welcher dafür instruirt ist.


Der Kapitän des Forward.

K. Z.«


»Der Brief ist diesen Vormittag angekommen, und ich bin schon bereit, an Bord des Forward zu gehen.

– Aber doch, fuhr Shandon fort, wissen Sie, Doctor, worin der Zweck dieser Reise besteht?

– Durchaus nicht; aber was liegt daran? Gehe ich nur irgendwo hin. Man nennt mich einen Gelehrten; der bin ich nicht, Commandant, ich weiß nichts, und wenn ich einige Bücher schrieb, die Absatz finden, so that ich nicht wohl daran; das Publicum ist wohl so gütig, sie zu kaufen. Ich weiß nichts, sag' ich Ihnen; nur das weiß ich, daß ich nichts weiß. Nun bietet man mir an, meine Kenntnisse zu vervollständigen, oder besser gesagt, mir erst Kenntnisse zu erwerben in Medicin, Chirurgie, Geschichte, Geographie, Botanik, Mineralogie, Conchyliologie, Geodäsie, Chemie, Physik, Mechanik, Hydrographie. Nun, ich nahm's an, und versichere Sie, daß ich mich nicht bitten lasse!

– So wissen Sie also nicht, fuhr Shandon verdrießlich fort, wohin der Forward gehen soll?

– O ja, Commandant; er fährt dahin, wo es etwas zu lernen, zu entdecken, sich zu belehren, zu vergleichen giebt, wo man andere Sitten, andere [23] Länder, andere Völker trifft, um sie bei ihren Verrichtungen zu studiren; er fährt, mit einem Wort, dahin, wo ich noch niemals gewesen bin.

– Aber specieller? rief Shandon.

– Specieller, erwiderte der Doctor, ich hörte sagen, er fahre in die Nordmeere. Gut, ich bin es zufrieden nach Norden!

– Sie kennen doch, fragte Shandon, den Kapitän des Schiffes?

– Im mindesten nicht! Aber, Sie dürfen mir's glauben, es ist ein wackerer Mann!«

Als der Commandant und der Doctor zu Birkenhead ausgestiegen waren, machte jener diesen mit der Sachlage bekannt, und dieses Geheimniß entzündete die Phantasie des Doctors. Beim Anblick der Brigg war er über die Maßen erfreut. Seit diesem Tage wich er Shandon nicht von der Seite, und besuchte jeden Morgen den Rumpf des Forward.

Auch wurde er besonders beauftragt, die Einrichtung der Pharmacie an Bord zu überwachen.

Denn dieser Clawbonny war Arzt, und sogar ein guter Arzt, aber mit wenig Praxis. Im fünfundzwanzigsten Jahre ein Doctor wie alle andern, war er im vierzigsten ein echter Gelehrter; sehr gekannt in der ganzen Stadt, wurde er ein einflußreiches Mitglied der literarischen und philosophischen Gesellschaft zu Liverpool. Sein kleines Vermögen gestattete ihm, unentgeltlichen Rath zu ertheilen, der darum nicht minder Werth hatte; geliebt, wie es einem ausnehmend liebenswürdigen Mann gebührte, fügte er nie Jemand ein Leid zu, nicht einmal sich selber; lebhaft und redselig, wenn man will, aber das Herz in der Hand, reichte er diese Jedermann.

Als sich in der Stadt das Gerücht von seiner Aufnahme an Bord des Forward verbreitete, boten seine Freunde alles auf, ihn zurückzuhalten; aber das bestärkte ihn nur um so mehr in seinem Vorhaben. Wenn aber der Doctor irgendwo Wurzel gefaßt hatte, gehörte viel dazu, um ihn wieder von diesem Boden auszureißen!

Von diesem Tage an nahmen die Vermuthungen und Befürchtungen in steigendem Maße zu; aber das hinderte nicht, daß der Forward am 5. Februar 1860 vom Stapel lief. Zwei Monat später war er zum Auslaufen bereit.

Am 15. März, wie das Schreiben des Kapitäns angekündigt hatte, wurde auf der Eisenbahn von Edinburgh nach Liverpool ein Hund dänischer Race [24] an Richard Shandon überschickt.



Das Thier schien tückisch, scheu, selbst ein wenig schlimm, mit einem eigenthümlichen Blick. Auf seinem kupfernen Halsband war die Inschrift Forward. Der Commandant wies ihm sogleich an Bord seine Stätte an, und meldete den Empfang unter den angegebenen Buchstaben nach Livorno.

So war also bis auf den Kapitän die Bemannung vollständig. Sie bestand aus:


1. K.Z., Kapitän;
2. Richard Shandon, Commandant;
3. James Wall, dritter Oficier;
4. Doctor Clawbonny;
5. Johnson, Rüstmeister;
6. Simpson, Harpunier;
7. Bell, Zimmermann;
8. Brunton, erster Maschinist;
9. Plover, zweiter Maschinist;
10. Strong (Neger), Koch;
11. Joker, Eismeister;
12. Wolsten, Waffenschmied;
13. Bolton, Matrose;
14. Garry, Matrose;
15. Clifton, Matrose;
16. Gripper, Matrose;
17. Pen, Matrose;
18. Waren, Heizer.
4. Capitel
Viertes Capitel.
Kapitän Hund.

Mit dem 5. April war der zur Abfahrt bestimmte Tag erschienen. Die Aufnahme des Doctors an Bord beruhigte ein wenig die Gemüther. Wohin [25] der würdige Gelehrte zu gehen sich entschloß, konnte man getrost auch gehen. Doch waren die meisten Matrosen etwas unruhig, und Shandon, in Besorgniß, es möchten einige ausreißen, wünschte lebhaft auf hoher See zu sein. War einmal die Küste außer Sicht, so würde die Mannschaft sich darein ergeben.

Die Cabine des Doctor Clawbonny lag im Hintergrund des Hüttendecks und nahm die ganze Rückseite des Schiffes ein. Die Cabinen des Kapitäns und des Schiffslieutenants, welche mehr zurückstanden, hatten eine Aussicht auf's Verdeck. Die des Kapitäns blieb, nachdem sie mit verschiedenen Instrumenten, Möbeln, Reisekleidern, Büchern, Kleidern zum Wechseln, und Geräthschaften nach detaillirter Angabe ausgestattet worden, hermetisch verschlossen. Nach Weisung des Unbekannten wurde der Schlüssel zu dieser Cabine ihm nach Lübeck adressirt zugeschickt; er hatte also allein Zutritt zu seinem Gemach.

Diese Bestimmungen waren Shandon nicht nach dem Sinn, und nahmen ihm viel Aussicht auf sein Obercommando. Seine eigene Cabine hatte er vollständig nach den Bedürfnissen der projectirten Reise eingerichtet, da ihm die Erfordernisse für eine Polar-Expedition gründlich bekannt waren.

Das Zimmer des dritten Officiers lag innerhalb des falschen Verdecks, welches ein geräumiges Schlafgemach für die Matrosen bildete; die Leute hatten es hier sehr gemächlich, und sie hätten schwerlich an Bord eines andern Schiffes eine so bequeme Einrichtung getroffen. Man bewies ihnen eine Sorgfalt, wie einer Ladung von Werth; ein geräumiger Ofen nahm die Mitte des gemeinsamen Saales ein.

Der Doctor Clawbonny fand alles nach Wunsch; er hatte seit dem 6. Februar, dem Tage nach dem Stapellassen des Forward, seine Cabine in Besitz genommen, und wie ein Kind Vergnügen daran gefunden, sein wissenschaftliches Gepäck in Ordnung zu bringen. Seine Bücher, Herbarien, Meßinstrumente, physikalischen Apparate, seine Sammlung von Thermometern, Barometern, Hygrometern, seine Brillen, Compasse, Sextanten, Karten, Pläne, die Fiolen, Pulver, Fläschchen seiner sehr vollständigen Reise-Apotheke, alles dies war dermaßen geordnet, daß es hätte das British Museum beschämen können. Dieser Raum von sechs Quadratfuß enthielt schätzbare Reichthümer.

Er war stolz auf diese Ausstattung und glücklich in seinem schwimmenden Heiligthume, das leider so enge war, daß es seine zum Besuch hinströmenden Freunde nicht aufnehmen konnte.

[26] Zur vollständigen Beschreibung der Einrichtung des Forward habe ich noch beizufügen, daß die Lagerstätte des Hundes dicht unter dem Fenster der geheimnißvollen Cabine angebracht war; aber ihr wilder Bewohner zog vor, in den Gängen oder dem untersten Schiffsraum umherzustreifen, und bei Nacht hörte man ihn jämmerlich heulen, daß es in den leeren Räumen des Fahrzeugs in unheimlicher Weise wiederhallte.

That er dies aus Sehnsucht nach seinem abwesenden Herrn? oder aus innerm Vorgefühl drohender Gefahren? Die Matrosen waren geneigt das letztere zu glauben.

Der Doctor Clawbonny, dessen Sanftmuth und Liebkosungen einen Tiger zähmen konnten, bemühte sich vergebens um die Gunst dieses Hundes; er verlor Zeit und Mühe.

Da dieses Thier übrigens auf keinen der Namen hörte, welche sich im Hundekalender verzeichnet finden, so kamen die Leute an Bord zuletzt darauf, ihn Kapitän zu benennen, denn er schien die Gebräuche an Bord völlig zu kennen. Offenbar hatte er schon Seereisen gemacht.

Unter den gegebenen Umständen war Richard Shandon nicht ohne Unruhe, und sprach diese am Abend vor der Abreise, dem 5. April, in einer Unterhaltung mit dem Doctor, Wall und Johnson aus.



Diese vier befanden sich im Versammlungszimmer des Hüttendecks beim zehnten Gläschen Grog, ihrem letzten ohne Zweifel, da nach den Vorschriften des Schreibens aus Aberdeen die ganze Mannschaft, vom Kapitän bis zum Heizer an Bord, weder Wein, noch Bier oder geistige Getränke bekommen sollten, außer im Krankheitsfall auf Anordnung des Arztes.

Seit einer Stunde sprach man von nichts als der bevorstehenden Abreise. Den Instructionen des Kapitäns nach mußte Shandon morgen ein Schreiben mit den letzten Anordnungen erhalten.

»Wenn dies Schreiben, sagte der Commandant, mir nicht den Namen des Kapitäns angiebt, muß es uns wenigstens den Bestimmungsort des Schiffes melden. Wohinaus soll man sonst steuern?



– Wahrhaftig, erwiderte der ungeduldige Doctor, an Ihrer Stelle würde [27] ich selbst ohne den Brief abreisen; er würde uns wohl einzuholen verstehen, denk' ich.

– Sie haben keine Vermuthung darüber, Doctor! Aber in welcher Richtung würden Sie steuern, wenn es beliebt?

– Nach dem Nordpol zu, offenbar! Das versteht sich ja ohne allen Zweifel.

– Ohne allen Zweifel! entgegnete Wall; und warum nicht nach dem Südpol?



– Nach dem Südpol, schrie der Doctor, gewiß nicht!

– Sollte der Kapitän den Gedanken haben, mit einer Brigg durch den ganzen Atlantischen Ocean zu fahren! Denken Sie doch einmal daran, lieber Wall.

– Der Doctor hat auf alles eine Antwort, erwiderte letzterer.

– Gut, also nach Norden, fuhr Shandon fort. Aber, sagen Sie mir, Doctor, meinen Sie nach Spitzbergen? Grönland? Labrador? Oder die Hudsonsbai? Führen diese verschiedenen Wege auch alle zu demselben Ziel, der undurchdringlichen Eisdecke, so wäre ich doch sehr in Verlegenheit, mich für einen oder den anderen derselben zu entscheiden. Können Sie mir darüber eine entschiedene Antwort geben, Doctor?

– Nein, erwiderte dieser in Verlegenheit; aber schließlich, was wollen Sie thun, wenn Sie kein Schreiben erhalten?

– Nichts; abwarten.

– Abfahren nicht? rief Clawbonny, und schwang sein Glas in Verzweiflung.

– Allerdings nicht.

– Das ist das Gescheiteste, erwiderte Meister Johnson gelassen, während der Doctor, der an seinem Platz keine Ruhe hatte, um den Tisch herum spazierte. Ja, das Gescheiteste; doch kann ein zu langes Abwarten mißliche Folgen haben: erstlich, die Witterung ist gut, und wenn es nach Norden zu geht, müssen wir den Eisbruch benutzen, um durch die Davis-Straße zu fahren; überdies wird die Mannschaft immer unruhiger; unsere Leute werden durch ihre Freunde und Kameraden veranlaßt, den Forward zu verlassen, und ihr Einfluß könnte uns einen schlimmen Streich spielen.

[28] – Man muß weiter annehmen, fuhr James Wall fort, daß, wenn eine Panik einträte, die Matrosen bis zum letzten Mann ausreißen würden; und ich weiß nicht Commandant, ob es Ihnen gelingen würde, Ihre Mannschaft von neuem aufzubringen.


Clawbonny in seiner Cabine. (S. 26 u. 27.)

– Aber was anfangen? schrie Shandon.

– Was Sie gesagt haben, versetzte der Doctor: Abwarten, aber nur bis morgen, ehe man den Muth sinken läßt. Die Versprechungen des Kapitäns sind bis her mit einer Regelmäßigkeit erfüllt worden, die eine gute Bürgschaft [29] ist; man hat also keinen Grund zu glauben, daß wir nicht zu richtiger Zeit über unsere Bestimmung werden in Kenntniß gesetzt werden; ich zweifle keinen Augenblick, daß wir morgen auf dem Irländischen Meere fahren; dazu, meine Freunde, schlage ich ein letztes Glas vor auf unsere glückliche Reise; sie beginnt zwar auf eine etwas unklare Weise, aber mit Seeleuten wie Sie giebt es tausend Wege zum guten Ende.«

Und alle vier stießen zum letzten Mal an.

»Jetzt, Commandant, fuhr Meister Johnson fort, darf ich Ihnen einen Rath geben, so besteht er darin: Sie treffen alle Vorbereitungen zur Abfahrt; die Mannschaft muß Sie ganz sicher wissen. Morgen, mag ein Brief kommen, oder nicht, machen Sie segelfertig, zu heizen ist noch nicht nöthig; es sieht aus, als wolle der Wind gut halten, und es ist leicht die hohe See zu gewinnen; der Lootse komme an Bord; zur Zeit der Fluth verlassen Sie die Docks und ankern draußen vor der Spitze von Birkenhead; dann haben unsere Leute mit dem Lande keine Verbindung mehr, und wenn der verteufelte Brief endlich kommt, wird er uns dort finden, wie anderwärts.

– Brav gesprochen, wackerer Johnson! sagte der Doctor, und reichte dem alten Seemann die Hand.

– So wollen wir es denn machen!« erwiderte Shandon.

– Jeder begab sich dann in seine Cabine und erwartete in unruhigem Schlaf den Sonnenaufgang.

Am folgenden Morgen fand sich bei den ersten Briefabgaben in der Stadt nicht ein einziger an den Commandanten Richard Shandon.

Demungeachtet machte dieser seine Vorbereitungen zur Abfahrt; das Gerücht davon verbreitete sich sogleich in Liverpool, und es strömte eine außerordentliche Menge von Zuschauern auf die Quais von New-Prince's Docks.

Es kamen viele derselben an Bord der Brigg, dieser um von einem Kameraden Abschied zu nehmen, jener um einem Freund abzurathen, ein anderer um sich das seltsame Schiff zu besehen, wieder ein anderer, um den Zweck der Reise zu erfahren, und man murrte, als man den Commandanten schweigsamer und rückhaltender sah wie jemals.

Dafür hatte er wohl seine Gründe.

Es schlug zehn Uhr; elf sogar. Gegen ein Uhr Nachmittags sollte die Fluth fallen. Shandon warf vom Hüttendeck aus einen unruhigen Blick auf [30] die Menge; die Matrosen vollzogen schweigend seine Befehle, stets die Augen auf ihn gerichtet, in Erwartung einer Mittheilung, welche ausblieb.

Meister Johnson machte segelfertig; es war bedeckter Himmel, und vor den Bassins draußen ging die See sehr hohl; es wehte ein ziemlich starker Südost, doch konnte man leicht aus dem Mersey herauskommen.

Um zwölf Uhr noch nichts. Der Doctor Clawbonny ging unruhig auf und ab, lorgnettirte, gesticulirte. Er fühlte sich aufgeregt, was er auch thun mochte. Shandon biß sich die Lippen blutig.

Jetzt trat Johnson heran und sagte zu ihm:

»Commandant, wollen wir die Fluth benutzen, so dürfen wir keine Zeit verlieren; vor Ablauf einer guten Stunde kommen wir nicht aus den Docks heraus.«



Shandon blickte noch einmal umher und sah auf seine Uhr. Die Zeit der Briefausgabe zu Mittag war vorüber.

»Wohlan denn!« sagte er zu seinem Rüstmeister.

Dieser rief den Zuschauern zu, das Verdeck zu räumen.

Es entstand eine rege Bewegung, indem die Einen auf das Quai eilten, die Anderen die Taue lösten.

In der Verwirrung, da die Matrosen ohne viel Rücksicht die Neugierigen wegtrieben, hörte man den Hund heulen.


Abfahrt des Forward. (S. 30.)

Dies Thier sprang auf einmal vom Vordercastell mitten durch die dichte Menge. Man wich ihm aus; er sprang auf das Hüttendeck, und – tausend Zeugen sahen es – der Kapitän Hund hielt zwischen den Zähnen einen Brief.

[31] »Ein Brief! rief Shandon, aber da ist er ja an Bord?

– Dagewesen ist er ohne Zweifel, aber nun ist er nicht mehr da, erwiderte Johnson und zeigte auf das nun völlig geräumte Verdeck.

– Kapitän! Kapitän! ici!« rief der Doctor, und versuchte den Brief zu nehmen, aber der Hund wich ihm aus mit lebhaften Sprüngen. Es schien, er wolle seine Botschaft nur Shandon selbst einhändigen.

»Kapitän, ici!« rief dieser.

Der Hund kam herbei; Shandon nahm ihm den Brief ab, und Kapitän bellte dreimal laut beim tiefen Schweigen der Menge.

[32] Shandon zögerte den Brief zu öffnen.

»Ei so lesen Sie doch! Lesen Sie!« rief der Doctor. Shandon sah ihn an. Die Adresse, ohne Ort und Datum lautete:


»An den Commandanten Richard Shandon, an Bord der Brigg Forward.«


Shandon öffnete und las:


»Sie fahren nach dem Cap Farewell zu. Am 20. April werden Sie dort eintreffen. Wenn der Kapitän sich da nicht an Bord einfindet, fahren Sie durch die Davis-Straße und das Bassins-Meer hinauf bis zur Melville-Bai.

Der Kapitän des Forward.

K. Z.«


Shandon legte den lakonischen Brief sorgfältig zusammen, steckte ihn in seine Tasche, und gab Befehl zur Abfahrt. Seine im Pfeifen des Ostwindes hallende Stimme hatte etwas Feierliches.

Bald war der Forward aus den Bassins heraus, und fuhr, von einem Lootsen aus Liverpool geleitet, die Strömung des Mersey. Die Menge stürzte auf das äußere Quai längs den Docks Victoria, um das seltsame Schiff noch einmal zu sehen. Die Mastbäume waren rasch aufgerichtet, die Segel aufgehißt, und mit deren Beistand fuhr der Forward, nachdem er um die Spitze Birkenhead gebogen, äußerst schnell in's Irländische Meer.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Auf hoher See.

Der Wind war ungleich, doch günstig, mit starken Aprilstößen. Der Forward durchschnitt rasch das Meer, und seine Schraube beseitigte jedes Hinderniß. Gegen drei Uhr kreuzte er mit dem Post-Dampfer zwischen Liverpool und der Insel Man. Der Kapitän rief ihn von seinem Bord [33] aus an, das letzte Lebewohl, welches die Mannschaft des Forward zu hören bekam.

Um fünf Uhr gab der Pilot die Leitung des Schiffes an Richard Shandon zurück, und sein Kutter verschwand bald im Südwest.

Gegen Abend fuhr die Brigg um das Südende der Insel Man. Während der Nacht ging das Meer sehr hohl; der Forward hielt sich gut, ließ die Spitze von Ayr nordwestlich und steuerte dem Nord-Canal zu.

Johnson hatte Recht; auf dem Meer gewann bei den Matrosen die Liebe zur See die Oberhand. Beim Anblick der Trefflichkeit des Fahrzeugs vergaßen sie das Besorgliche ihrer Lage. Das Leben an Bord gestaltete sich regelmäßig.

Der Doctor schlürfte mit größtem Behagen die Seeluft; er ging kräftigen Schrittes allen Windstößen entgegen, für einen Gelehrten auf ziemlich seemännischem Fuß.

»Das Meer ist doch etwas Herrliches, sagte er zu Meister Johnson, als er nach dem Frühstück wieder auf das Verdeck sich begab. Ich mache mich etwas spät mit demselben vertraut, aber ich werde mich bald darein finden.

– Sie haben Recht, Herr Clawbonny; ich gäbe alle Continente der Welt für ein Stückchen Ocean. Man behauptet, die Seeleute würden bald ihr Geschäft müde; nun bin ich schon vierzig Jahre Seefahrer, und dies Leben gefällt mir noch so gut, wie am ersten Tag.

– Es ist doch eine wahre Lust, ein gutes Schiff unter den Füßen zu haben, und irre ich nicht, so hält sich der Forward trefflich.

– Sie urtheilen richtig, Doctor, erwiderte Shandon, der zu den beiden hinzutrat; es ist ein trefflich Fahrzeug, und ich sage offen, noch nie ist ein für die Fahrt in's Eismeer bestimmtes Schiff besser versehen und bemannt gewesen. Das erinnert mich, wie vor dreißig Jahren der Kapitän James Roß, als er die nordwestliche Durchfahrt suchte ...

– Er fuhr auf der Victoria, sagte lebhaft der Doctor, einer Brigg von etwa gleichem Tonnengehalt, wie die unsrige, und ebenfalls mit einer Dampfmaschine.

– Wie? Das wissen Sie?

– Urtheilen Sie selbst, fuhr der Doctor fort; damals waren die Maschinen noch in ihrer Kindheit, und die der Victoria verursachte derselben mehr wie eine nachtheilige Verzögerung: nachdem der Kapitän Roß sie Stück für Stück [34] vergeblich reparirt hatte, ließ er sie zuletzt auseinander nehmen, und gab sie bei seinem ersten Winteraufenthalt auf.

– Teufel! rief Shandon; Sie wissen es genau, sehe ich!

– Was meinen Sie? fuhr der Doctor fort; das hat man vom Lesen. Ich habe die Werke von Parry, Roß, Franklin, die Berichte von Mac Clure, Kennedy, Kane, Mac Clintock gelesen, und es ist dabei etwas an mir hängen geblieben. Ich sage weiter, daß dieser nämliche Mac Clintock an Bord des Fox, einer Schraubenbrigg, wie die unsrige, leichter und directer zum Ziel gelangte, als alle seine Vorgänger.



– Sie haben vollkommen Recht, erwiderte Shandon; dieser Mac Clintock ist ein kühner Seemann; ich hab' ihn bei der Arbeit gesehen; Sie können beifügen, daß wir uns gleich ihm schon im April in der Davis-Straße befinden werden, und wenn es uns gelingt, zwischen den Eisblöcken durchzudringen, so wird das unserer Reise einen bedeutenden Vorschub geben.

– Sofern nicht, entgegnete der Doctor, es uns geht, wie dem Fox im Jahre 1857, daß wir gleich im ersten Jahre zwischen den Eisblöcken des nördlichen Bassins-Meeres stecken bleiben und mitten in der Eisdecke überwintern müssen.

– Wir müssen hoffen, daß wir glücklicher sein werden, Herr Shandon, erwiderte Johnson; und wenn man mit einem Fahrzeug wie der Forward nicht dringen kann, wohin man will, muß man es ganz aufgeben.

– Uebrigens, fuhr der Doctor fort, wenn der Kapitän an Bord ist, wird [35] er besser als wir wissen, was zu thun ist, und um so mehr, als es uns vollständig unbekannt ist; denn aus seinem gar zu lakonischen Briefe können wir den Reisezweck nicht errathen.

– Es ist schon viel werth, erwiderte Shandon lebhaft, daß wir wissen, welchen Weg wir zu nehmen haben; und jetzt, seit einem Monat, denk' ich mir, wir können die übernatürliche Einwirkung dieses Unbekannten und seiner Instructionen schon entbehren. Uebrigens wissen Sie meine Meinung über ihn.


Der Forward steuert in's hohe Meer. (S. 34.)

– Ho! Ho! rief der Doctor aus, ich glaubte wie Sie, dieser Mann [36] werde das Commando des Schiffes Ihnen lassen, und niemals an Bord kommen, aber ...

– Aber? versetzte Shandon etwas ärgerlich.

– Aber seit Ankunft des zweiten Briefes hab' ich in dieser Hinsicht meine Ideen ändern müssen.

– Und weshalb, Doctor?

– Weil dieser Brief Ihnen zwar die Richtung angiebt, welche genommen werden soll, allein über die Bestimmung des Forward keine Auskunft giebt; man muß aber doch wissen, wohin man fährt. Wie kann frage ich, ein dritter Brief an Sie gelangen, da wir uns auf hoher See befinden!


Sonntagsfeier an Bord. (S. 38.)

Auf Grönland muß der Postdienst etwas zu wünschen übrig lassen. Sehen Sie, Shandon, ich denke mir, dieser Schalk wartet auf uns an einem dänischen Platze, zu Holsteinborg oder Uppernawick; dort wird er zu seiner Ladung noch Robbenfelle, Schlitten und Hunde kaufen, kurz alle Geräthschaften, welche für eine Reise in das nördliche Eismeer nöthig sind. Es wird mich daher wenig überraschen, wenn wir ihn eines schönen Morgens aus seiner Cabine herauskommen und das Commando auf eine durchaus nicht übernatürliche Weise führen sehen.

– Möglich, erwiderte Shandon trocken; aber inzwischen weht frischer Wind, und es ist nicht klug, zu solcher Zeit seine Masten einer Gefahr auszusetzen.«

Shandon verließ den Doctor und gab Befehl, die hohen Segel aufzugeien.

[37] »Es hält, sagte der Doctor zum Rüstmeister.

– Ja, erwiderte letzterer, und das ist zu bedauern, denn Sie könnten wohl Recht haben, Herr Clawbonny.«

Am Samstag gegen Abend fuhr der Forward am Vorgebirge Galloway vorüber, dessen Leuchtthurm nordöstlich bemerklich ward; während der Nacht ließ man das Vorgebirge Cantyre im Norden und Cap Fair im Osten der Küste Irlands. Gegen drei Uhr früh lief die Brigg neben der Insel Rathlin vorbei aus dem Nord-Canal in den Ocean.



Es war Sonntag, der 8. April; die Engländer, besonders die Matrosen, feiern diesen Tag streng; daher widmete man einen Theil des Vormittags dem Vorlesen der Bibel, welches der Doctor gern vornahm.

Der Wind wurde darauf zum Orkan, welcher die Brigg an die irländische Küste zurückzuwerfen drohte, die Wellen wurden stark, und das Schwanken des Schiffes arg. Der Doctor spürte nichts von der Seekrankheit, weil er nicht wollte. Um Mittag verschwand im Süden Cap Malinhead, das letzte Stück von Europa, welches die kühnen Seeleute erblicken sollten.

Man befand sich damals unter 55°57' Breite, und 7°40' Länge.



Gegen neun Uhr Abends legte sich der Sturm, und der Forward blieb als guter Segler in nordwestlicher Richtung; er war nach dem Urtheil der Kenner zu Liverpool vorzugsweise Segelschiff.

Während der folgenden Tage kam der Forward rasch nordwärts voran; der Wind schlug um in Süd, und das Meer ging gewaltig hohl; die Brigg fuhr damals mit vollen Segeln. Einige Sturmvögel flatterten über dem Hinterdeck; der Doctor war so glücklich, einen der letzteren zu schießen, und derselbe fiel an Bord. Er verstand es auch denselben schmackhaft zuzubereiten, indem er zuerst alles unter der Haut liegende Fett ablöste, [38] so daß der ranzige Geschmack, welcher den Seevögeln mitunter eigen ist, völlig beseitigt wurde.

Während des letzten Sturmes hatte Richard Shandon Gelegenheit, sich von den Vorzügen seiner Leute besonders zu überzeugen.

James Wall, der Richard höchst ergeben war, faßte gut auf, verstand gut auszuführen, aber es mochte ihm am selbständigen Auftreten fehlen; in einer Stellung dritten Ranges war sein Platz.

Johnson, ein erfahrener Seemann, ergraut in Fahrten nach dem Eismeer, war an Kaltblütigkeit und Kühnheit unübertrefflich.

Der Harpunier Simpson und der Zimmermann Bell waren zuverlässige Leute, an strenge Disciplin und Pflichterfüllung gewöhnt. Der Eismeister Foker, im Seedienst erfahren, in Johnson's Schule gebildet, versprach die trefflichsten Dienste zu leisten.



Von den übrigen Matrosen schienen Garry und Bolton die besten zu sein: Bolton, ein lustiger Geselle, munter und redselig; Garry, ein Junggeselle von fünfunddreißig Jahren, energischen Gesichtszügen, doch etwas blaß und traurig.

Die drei Matrosen Clifton, Gripper und Pen schienen weniger eifrig und weniger entschlossen; sie murrten gern. Gripper wäre bei der Abfahrt selbst den Dienst wieder aufzugeben geneigt gewesen, hätte ihn nicht einiges Schamgefühl gehalten. Ging es gut, waren nicht allzuviel Gefahren zu bestehen, oder Manoeuvres auszuführen, so konnte man auf diese drei Männer bauen; aber man mußte sie tüchtig nähren.



Trotz der Vorschrift fiel ihnen die Enthaltsamkeit schwer, und bei der Mahlzeit vermißten sie den Branntwein oder Gin; sie entschädigten sich jedoch am Kaffee oder Thee, welche reichlich an Bord gespendet wurden.

Die beiden Maschinisten, Brunton und Plover, und der Heizer Waren waren zufrieden, [39] daß sie bis jetzt die Arme kreuzten. Shandon wußte also, wie er mit jedem daran war.

Am 14. April durchschnitt der Forward den großen Golfstrom, welcher, nachdem er entlang der Ostküste Amerikas bis zur Bank New-Foundlands nordwärts geflossen, sich nordöstlich dem Gestade Norwegens zuwendet. Man befand sich damals unter 51°37' Breite und 22°58' Länge, zweihundert Meilen von der Spitze Grönlands ab. Das Wetter wurde kälter; das Thermometer fiel auf zweiunddreißig Grad (0° des hunderttheiligen), d.h. auf den Gefrierpunkt.



Der Doctor hatte noch nicht seine Polarwinterkleidung angezogen, sondern sein Seemannscostüm, gleich den Matrosen und Officieren. Es war eine Lust, ihn zu sehen, wie er ganz in den hohen Stiefeln steckte, mit seinem großen Hut von Wachsleinwand, Hosen und Jacke von gleichem Stoff; durch die starken Regen und großen Wellen, welche die Brigg überschütteten, bekam der Doctor das Aussehen eines Seethieres, worauf er sich etwas einbildete.



Zwei Tage lang war das Meer äußerst unruhig; der Wind schlug um nordwestlich, und hemmte die Fahrt des Forward. Vom 14. bis 16. April ging die See sehr hohl; aber am Montag erfolgte ein heftiger Platzregen, der das Meer fast augenblicklich beruhigte. Shandon machte den Doctor auf diese eigenthümliche Erscheinung aufmerksam.

»Ei, erwiderte letzterer, dies bestätigt die merkwürdigen Beobachtungen des Wallfischfahrers Scoresby, welcher Mitglied der königlichen Gesellschaft zu Edinburgh ist. Sie sehen, daß während des Regens die Wellen wenig merkbar sind, selbst bei heftigem Wind; dagegen, wäre das Wetter trocken, so würde die See auch bei minder starkem Wind mehr aufgeregt sein.

– Aber, wie erklärt man diese Erscheinung, Doctor?

– Sehr einfach, man erklärt sie nicht.«

In diesem Augenblick machte der Eismeister auf eine rechts vom Bord, etwa fünfzehn Meilen unter'm Wind, schwimmende Masse aufmerksam.

»Ein Eisberg in diesen Strichen!« sagte der Doctor.

[40] Shandon richtete sein Fernrohr nach der bezeichneten Stelle, und bestätigte die Angabe des Piloten.

»Das ist merkwürdig! sagte der Doctor.

– Darüber staunen Sie? sagte der Commandant lachend. Sollten wir so glücklich sein, auf etwas zu stoßen, das Sie in Erstaunen versetzt?

– Es ist mir auffallend, ohne daß es mich in Staunen versetzte, erwiderte lächelnd der Doctor; denn die Brigg Ann de Poole aus Greenspond blieb im Jahre 1813 unter'm vierundvierzigsten Grade nördlicher Breite in wahren Eisfeldern stecken, und ihr Kapitän Dayement zählte die Blöcke nach Hunderten!

– Gut! sagte Shandon, Sie können uns noch dazu belehren!

– O! Das will noch wenig heißen, erwiderte bescheiden der liebenswürdige Clawbonny, ist man ja unter noch weit niederen Breitegraden auf Eisberge gestoßen.



– Damit sagen Sie mir nichts neues, lieber Doctor. Als ich Schiffsjunge an Bord der Kriegscorvette Fly war ...

– Im Jahre 1818, fuhr der Doctor fort, zu Ende März, oder auch April sind Sie unter'm zweiundvierzigsten Breitegrad zwischen zwei große schwimmende Eisinseln gerathen.

– Ah! Das ist zu arg! rief Shandon aus.

– Aber es ist wahr; ich brauche also nicht in Staunen zu gerathen, wenn uns zwei Grad weiter nördlich ein schwimmender Eisberg aufstößt.

– Sie sind wie ein Brunnen, Doctor, erwiderte der Commandant, aus dem man nur zu schöpfen braucht.

– Gut! Ich werde rascher seicht werden, als Sie sich denken, und jetzt, können wir die Erscheinung näher ansehen, Shandon, so würde mir es eine große Freude sein.

– Sogleich. Johnson, sagte Shandon zu seinem Rüstmeister, der Wind wird, scheint es, stärker.

– Ja, Commandant, erwiderte Johnson; wir gewinnen jedoch wenig, und die Strömung der Davis-Straße wird sich bald fühlbar machen.

[41] – Sie haben Recht, Johnson, und wenn wir am 20. April das Cap Farewel in Sicht haben wollen, müssen wir mit Dampf fahren, oder wir werden an die Küste von Labrador getrieben. Herr Wall, wollen Sie also Befehl zum Heizen ertheilen.«

Dieser Befehl wurde ausgeführt; nach einer Stunde hatte der Dampf schon hinreichende Treibkraft; die Segel wurden beschlagen, und die Schraube trieb den Forward kräftig dem Nordwest entgegen.

6. Capitel
Sechstes Capitel.
Die große Polarströmung.

Bald ließen sich zahlreichere Scharen von Vögeln, Sturmvögel und andere Bewohner dieser öden Gegenden sehen, woraus man die Nähe Grönlands erkannte. Der Forward fuhr rasch nordwärts.

Am Dienstag, den 17. April, gegen elf Uhr Vormittags, meldete der Eismeister das erste Erscheinen des Eis-Blink, welches sich mindestens zwanzig Meilen in Nord-Nord-West zeigte. Es war ein blendend weißer Streifen, welcher trotz dichten Gewölkes den ganzen benachbarten Theil der Atmosphäre lebhaft erhellte. Die Leute von Erfahrung an Bord konnten über die Erscheinung keinen Zweifel haben, und sie erkannten an dem weißen Schein, daß dieser Blink von einem ausgedehnten Eisfeld dreißig Meilen über dem Gesichtskreis hinauskommen mußte, und durch Brechung der Lichtstrahlen entstand.

Gegen Abend schlug der Wind südlich um, und ward günstig; Shandon konnte tüchtig Segel aufspannen und ließ aus Sparsamkeit die Heizung aufhören. Der Forward fuhr mit vollen Segeln dem Cap Farewel zu.

Am 18. um drei Uhr ließ sich an einem weißen, nicht eben dichten, aber glänzenden Streifen, der lebhaft zwischen den Linien des Meeres und Himmels abstach, ein Eisstrom erkennen. Er trieb offenbar vielmehr von der Ostküste Grönlands her, als von der Davis-Straße, denn die Eisblöcke ziehen sich [42] vorzugsweise an den Westrand des Bassins-Meeres. Eine Stunde nachher fuhr der Forward mitten durch abgesonderte Blöcke des Eisstroms, und da wo sie am meisten zusammenhingen, folgten sie der Wellenbewegung.

Am folgenden Morgen, bei Tagesanbruch, meldete die Wache ein Schiff: es war eine dänische Corvette, Walküre, welche in entgegengesetzter Richtung des Forward der Bank von New-Foundland zufuhr. Die Strömung von der Straße her machte sich schon fühlbar, und Shandon mußte die Segel verstärken, um dagegen zu steuern.

Damals befanden sich der Commandant, der Doctor, James Wall und Johnson beisammen auf dem Hinterdeck, um die Richtung und Kraft dieser Strömung zu untersuchen. Der Doctor fragte, ob wirklich diese Strömung gleichmäßig im Bassins-Meer existire.

»Allerdings, erwiderte Shandon, und die Segelschiffe können nur mit Mühe dem Polarstrom entgegen steuern.

– Um so mehr, fügte James Wall bei, als man ihn ebensowohl auf der Ostküste Amerikas als auf der Westküste Grönlands findet.

– Nun, sagte der Doctor, das giebt den Aufsuchern der nordwestlichen Durchfahrt einen besondern Grund! Dieser Strom fließt mit einer Schnelligkeit von etwa fünf Meilen die Stunde, und es ist schwerlich vorauszusetzen, daß er im Innern des Golfs entsteht.

– Dies ist um so richtiger, Doctor, fuhr Shandon fort, als man gleich dieser Strömung von Norden nach Süden eine entgegengesetzte von Süden nach Norden in der Behrings-Straße findet, welche den Ursprung dieser bildet.

– Demnach, meine Herren, sagte der Doctor, muß man zugeben, daß Amerika völlig von den Polarlanden losgetrennt ist, und daß die Gewässer des Stillen Meeres um diese Küsten herum bis in's Atlantische fließen. Uebrigens ergiebt sich auch aus dem höhern Niveau der Gewässer des erstern noch ein Grund für deren Abfluß in die Meere Europas.

– Aber, fuhr Shandon fort, es muß doch Gründe für diese Theorie geben, und wenn das der Fall ist, muß unser Universal-Gelehrter sie kennen.

– Wahrhaftig, versetzte letzterer mit liebenswürdiger Befriedigung, wenn dies Sie interessiren kann, so will ich Ihnen sagen, daß Wallfische, die in der Davis-Straße verwundet wurden, einige Zeit nachher in der Nähe der Tartarei noch mit der europäischen Harpune im Leibe gefangen wurden.

– Wofern sie also nicht um's Cap Horn, oder das der guten Hoffnung [43] gefahren sind, erwiderte Shandon, so müssen sie nothwendig ihren Weg um die Nordküste Amerikas herum genommen haben. Das ist unbestreitbar, Doctor.



– Wenn Sie jedoch nicht überzeugt wären, mein wackerer Shandon, sagte der Doctor lachend, so könnte ich noch andere Thatsachen vorbringen, z.B. das in der Davis-Straße flößende Holz, Lärchen, Zitterespen und andere Producte der tropischen Zone. Nun wissen wir, daß des Golfstromes wegen dieses Holz nicht in die Enge hineintreiben kann; wenn sie also aus demselben heraustreiben, so konnten sie nur durch die Behrings-Straße in denselben hineinkommen.

– Ich bin überzeugt, Doctor, und gestehe, daß man bei Ihren Beweisen schwerlich ungläubig bleiben kann.

– Meiner Treu! sagte Johnson, da kommt just etwas, was die Sache klar machen kann. Ich sehe da draußen ein hübsch großes Stück Holz. Mit Erlaubniß des Commandanten wollen wir den Baumstamm auffischen, an Bord ziehen und um sein Heimatland befragen.

– Ganz recht, sagte der Doctor, das Beispiel nach der Regel.«

Shandon gab den Befehl dazu; die Brigg fuhr auf das wahrgenommene Holz und bald darauf zog es die Mannschaft mit einiger Mühe an Bord.

Es war ein Acajoustamm, der vom Gewürm bis in den Kern zerfressen war, sonst hätte er nicht obenauf schwimmnen können.

»Das ist ja überführend, rief der Doctor freudig, denn, da die Strömungen des Atlantischen Oceans denselben nicht haben in die Davis-Straße [44] treiben können, weil er nicht durch nordamerikanische Flüsse in das Polar-Becken getrieben werden konnte, da der Baum in der Gegend des Aequators wächst, so ist es klar, daß er direct aus der Behrings-Straße kommt. Und sehen Sie, meine Herren, dies Meergewürm, von dem es durchfressen wurde; es gehört zu den Gattungen der heißen Zone.

– Offenbar, versetzte Wall, haben die Widersacher der Durchfahrt Unrecht.

– Mit diesem da sind sie gänzlich geschlagen! erwiderte der Doctor. Geben Sie Acht, ich will Ihnen den Weg beschreiben, welchen dieses Acajouholz gemacht hat. Es ist durch einen Fluß des Isthmus von Panama oder aus Guatemala in den Stillen Ocean geflößt worden; von da aus hat die Strömung längs der amerikanischen Küsten es bis zur Behrings-Straße geführt, und, gutwillig oder nicht, es mußte in die Polarmeere hinein; es kann noch nicht lange her sein, daß es aus seiner Heimat abgefahren ist; sodann ist es glücklich über alle Hindernisse der langen Reihe von Engen bis zum Bassins-Meer hinausgekommen, und von der aus dem Norden kommenden Strömung lebhaft ergriffen ist es durch die Davis-Straße getrieben, um an Bord des Forward aufgefischt zu werden zu großer Freude des Doctor Clawbonny, welcher den Commandanten um die Erlaubniß ersucht, ein Musterpröbchen davon aufzuheben.

– Thun Sie es nur, versetzte Shandon; aber gestatten Sie auch mir, Ihnen mitzutheilen, daß Sie nicht der einzige Besitzer eines solchen Strandgutes sind. Der dänische Statthalter der Insel Disco ...

– An der Küste Grönlands, fuhr der Doctor fort, besitzt einen Tisch, der aus einem Block desselben Holzes gefertigt ist, welcher unter gleichen Umständen aufgefischt wurde; es ist mir dies nicht unbekannt, lieber Shandon; nun, ich beneide ihn nicht um seinen Tisch, denn, wenn es nicht zu viel zu schaffen machte, so hätte ich hier genug, um mir ein ganzes Schlafgemach zu zimmern.«

Während der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag wehte der Wind äußerst heftig; das Treibholz zeigte sich häufiger; die Annäherung an die Küste war gefährlich zu einer Zeit, wo die Eisberge sehr zahlreich sind; der Commandant ließ daher die Zahl der Segel vermindern, und der Forward fuhr dann mit nur zweien.

Das Thermometer fiel unter den Gefrierpunkt. Shandon ließ angemessene Kleidung an die Mannschaft vertheilen, wollene Jacke und Hosen, flanellnes [45] Hemd, Strümpfe von Wadmel, wie die norwegischen Bauern tragen. Desgleichen wurde jeder Mann mit einem Paar völlig wasserdichten Meerstiefeln versehen.

Kapitän Hund war mit seinem natürlichen Pelz zufrieden; er schien gegen die Veränderungen der Temperatur wenig empfindlich; er mußte schon mehr wie einmal die Probe bestanden haben. Er war fast immer in den dunkeln Schiffsräumen versteckt.

Gegen Abend ließ sich durch eine Lichtung im Nebel, unter 37°2'7'' Länge die Küste Grönlands sehen; der Doctor konnte vermittelst seines Fernrohrs eine Reihe Pics mit breiten Gletschern erkennen.



Der Forward befand sich am 20. April früh im Angesicht eines hundertundfünfzig Fuß hohen Eisbergs, der seit undenklichen Zeiten an dieser Stelle festliegt; das Thauwetter hat ihn noch nie bewältigt und seine seltsamen Formen nicht angetastet. Snow hat ihn gesehen; James Roß im Jahre 1829 eine Zeichnung desselben aufgenommen, und der französische Lieutenant Bellot an Bord des Prinzen Albert hat ihn im Jahre 1851 bemerkt. Auch der Doctor entwarf eine gelungene Skizze desselben.

Solche unüberwindlich festliegenden Massen finden sich mitunter; dann haben sie gegen jeden Fuß Höhe über dem Wasser zwei unter demselben, was also bei diesem dreihundert Fuß Tiefe, also zusammen vierhundert Fuß beträgt.

Endlich, bei einer Temperatur, die Mittags zwölf Grad (– elf Grad hunderttheilig) betrug, bekam man in nebeligem Schneewetter Cap Farewell zu sehen.

»Da ist denn, sagte bei sich der Doctor, das berühmte, richtig benannte 1 Cap. Viele sind daran vorüber gefahren, und haben es nimmer wieder gesehen. So sind Frobisher, Knight, Barlow, Vaugham, Scroggs, Barentz, [46] Hudson, Blosseville, Franklin, Crozier, Bellot, nie zum heimischen Heerd zurückgekehrt, ihnen rief es ein letztes Lebewohl zu.«

Grönland wurde von isländischen Seefahrern schon um's Jahr 970 entdeckt. Sebastian Cabot drang im Jahre 1498 bis zum sechsundfünfzigsten Breitegrad, Gaspard und Michel Cotréal, 1500 bis 1502, gelangten bis zum sechzigsten Grade, und Martin Frobisher 1576 bis zu der nach ihm benannten Bai.

Jean Davis entdeckte 1585 die Straße, welche seinen Namen führt, und zwei Jahre später, bei einer dritten Reise, gelangte dieser kühne Seefahrer und Wallfischjäger bis zum 73°, noch siebenzehn Grad vom Pol. Barentz 1596, Weymuth 1602, James Hall 1605 und 1607, Hudson, nach welchem die große Bai benannt ist, die sich so tief in's Festland hineinzieht, James Poole 1611, drangen weiter in der Straße vor, um die nordwestliche Durchfahrt zu suchen, durch welche der Verkehr zwischen den beiden Welten so sehr abgekürzt worden wäre.

Bassin, 1616, fand in dem Meere seines Namens die Lancaster-Straße; ihm folgte 1619 James Munk, und 1719 Knight, Barlow, Vaugham und Scroggs, von welchen man nie wieder Nachricht bekam.

Im Jahre 1776 erreichte der Lieutenant Pickersgill, welcher dem Kapitän Cook entgegen geschickt wurde, den 68°; im folgenden Jahr drang Young bis zur Fraueninsel vor.

Nun kam James Roß, der 1818 die Küsten des Bassins-Meeres aufnahm und die hydrographischen Irrthümer seiner Vorgänger verbesserte.

Endlich, 1819 und 1820, drang der berühmte Parry durch den Lancaster-Sund inmitten unzähliger Schwierigkeiten bis zur Insel Melville und gewann den Preis von fünftausend Pfund, welcher durch eine Parlamentsacte den englischen Seefahrern versprochen war, die bei einer höhern Breite als 77° über den hundertundsiebenzigsten Meridian gelangen würden.

Im Jahre 1826 kam Beechey bis zur Insel Chamisso; James Roß überwinterte 1829–1830 in der Prinz-Regenten-Straße, und entdeckte, neben andern wichtigen Leistungen, den magnetischen Pol.

Während dieser Zeit erforschte Franklin, auf dem Landweg, die Nordküsten Amerikas vom Mackenziefluß bis zu der Umkehr-Spitze; der Kapitän Back verfolgte von 1823–1835 diese Bahn weiter, und seine Entdeckungen wurden 1839 durch Dease, Simpson und den Doctor Rae vervollständigt.

[47] Endlich fuhr Sir John Franklin, voll Eifer, die nordwestliche Durchfahrt aufzufinden, im Jahre 1845 auf dem Erebus und Terror aus England ab, drang in's Bassins-Meer hinein, und seit er bei der Insel Disco vorbeigekommen, bekam man keine Nachricht mehr von seiner Expedition.



Diese zahlreichen Entdeckungsfahrten haben zur Auffindung der Durchfahrt und zur Aufnahme der so tief ausgezackten Polar-Continente geführt; die unverzagtesten Seemänner Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten wagten sich in die schrecklichen Gegenden, und ihren Anstrengungen ist zu verdanken, daß die so schwierige Karte dieser Landschaften im Archiv der königlichen Geographischen Gesellschaft zu London nun prangen kann.

So überblickte der Doctor im Geiste die merkwürdige Entdeckungsgeschichte dieser Landschaften, während er auf die Sente gelehnt mit den Augen dem langen Kielwasser der Brigg folgte.

Fußnoten

1 »Lebewohl.«

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Die Davis-Straße.

Diesen Tag über bahnte sich der Forward einen leichten Weg zwischen den halb zerbröckelten Eisblöcken; der Wind war günstig, aber die Temperatur [48] sehr niedrig; die über die Eisfelder streichende Luft durchdrang mit frischer Kälte.

Die Nacht erforderte die strengste Achtsamkeit; die schwimmenden Berge drängten sich in der engen Straße zusammen: man zählte ihrer oft bei hundert am Horizont; sie lösten sich durch Einwirkung der benagenden Wellen und der Aprilsonne von den vorragenden Küsten ab, um zu zerschmelzen oder in die Tiefen des Oceans zu versinken. Man begegnete auch langen Flößen Treibholz, mit welchen man nicht zusammenstoßen durfte. Darum wurde auch das »Krähennest« an der Spitze eines Mastes angebracht, bestehend aus einer Tonne mit beweglichem Boden, worin der Eismeister, zum Theil gegen den Wind geschützt, das Meer überschaute, die herannahenden Eisblöcke meldete, und selbst nöthigenfalls das Manoeuvrieren des Schiffes angab.

Die Nächte waren kurz; die Sonne war in Folge der Strahlenbrechung seit dem 31. Januar wieder zum Vorschein gekommen, und hielt sich allmälig länger über dem Horizont. Aber durch den Schnee war die Aussicht gehemmt, und wenn er auch nicht Dunkelheit veranlaßte, so machte er doch die Fahrt schwierig.



Am 21. April zeigte sich mitten im Nebel das Cap Desolation; die Mannschaft war durch das Manoeuvriren erschöpft; seitdem die Brigg zwischen den Eisblöcken fuhr, hatten die Matrosen nicht einen Augenblick Ruhe gehabt; man mußte bald den Dampf zu Hilfe nehmen, um sich mitten durch aufgeschichtete Blöcke einen Weg zu bahnen.

Der Doctor und Meister Johnson plauderten auf dem Hinterverdeck mit einander, während Shandon in seiner Cabine einige Stunden Schlaf genoß. Clawbonny suchte die Unterhaltung des alten Matrosen auf, welchem seine zahlreichen Reisen eine interessante und verständige Erziehnug gegeben [49] hatten. Der Doctor gewann ihn sehr lieb, und der Rüstmeister blieb ihm nichts schuldig.

»Sehen Sie, Herr Clawbonny, sagte Johnson, dieses Land ist nicht wie alle andern; sein Name bedeutet ›Grünes Land‹, aber nur wenig Wochen im Jahre ist diese Benennung gerechtfertigt!

– Wer weiß, wackerer Johnson, erwiderte der Doctor, ob nicht im zehnten Jahrhundert dieses Land Anspruch auf eine solche Benennung haben konnte. Auf unserm Erdball ist schon manche Umänderung dieser Art vorgekommen, und Sie werden vielleicht staunen, wenn ich Ihnen sage, daß isländischen Chroniken zufolge vor acht bis neunhundert Jahren zweihundert Dorfschaften auf diesem Continent blühten.

– Diese Aeußerung, Herr Clawbonny, versetzt mich dermaßen in Staunen, daß ich ihr nicht einmal Glauben beimessen kann, denn es ist ein ödes Land!

– Gut! So öde es auch sein mag, so bietet es doch Bewohnern, und selbst civilisirten Europäern, hinreichend eine Stätte ruhiger Abgeschiedenheit.

– Allerdings! Zu Disco, zu Uppernawik werden wir Leute finden, die mit einem Leben in solchem Klima zufrieden sind; aber ich habe immer gedacht, sie hätten diesen Aufenthalt nicht mit Vorliebe, sondern nothgedrungen, gewählt.

– Ich glaube es gern; doch gewöhnt sich der Mensch an alles, und es scheint mir, diese Grönländer sind nicht ebenso zu beklagen, als die Arbeiter in unsern großen Städten; sie können unglücklich sein, aber sicherlich im Elend leben sie nicht, ferner, ich sage wohl unglücklich, aber dieses Wort drückt nicht völlig meinen Gedanken aus; in der That, leben diese Leute auch nicht so im Wohlbehagen, wie wir in der gemäßigten Zone; in diesem Klima geboren, finden sie offenbar darin Genüsse, für welche uns der Begriff abgeht!

– Das muß man wohl annehmen, Herr Clawbonny, weil der Himmel gerecht ist; aber ich bin vielfach auf Reisen an diese Küsten gekommen, und der Anblick dieser traurigen Einöden hat mir stets das Herz zusammengeschnürt; man hätte z.B. den Caps, Vorgebirgen, Baien freundlichere Namen geben sollen, denn die Bezeichnungen Farewell und Desolation sind nicht geeignet, die Seefahrer anzuziehen!

– Diese Bemerkung habe ich ebenfalls gemacht, erwiderte der Doctor; [50] aber diese Namen haben unverkennbar ein geographisches Interesse; sie bezeichnen die Erlebnisse derer, welche die Namen beigelegt haben; wenn ich neben den Namen Davis, Bassin, Hudson, Roß, Parry, Franklin das Cap Desolation (Trostlosigkeit) finde, so stoße ich bald auf die Bai der Gnade (Mercy): es ist da die ununterbrochene Reihe von Gefahren, Hindernissen, Erfolgen, Verzweifeln und Gelingen verbunden mit den großen Namen meines Vaterlandes, daß ich die ganze Geschichte dieser Meere darin lesen kann.



– Richtig geurtheilt, Herr Clawbonny, und möchten wir nur bei unserer Reise auf mehr Baien des Erfolges (Succes), als Caps der Desolation treffen!

– Das wünsch' ich, Johnson; aber, sagen Sie mir, hat sich die Mannschaft ein wenig von ihren Strapazen erholt?

– Ein wenig, mein Herr; und doch, um alles herauszusagen, seit unserer Einfahrt in die Straße hat man wieder angefangen, sich über den eingebildeten Kapitän Gedanken zu machen; mancher war darauf gespannt, daß er an der Spitze von Grönland erschiene, und bis jetzt, nichts! Sehen Sie, Herr Clawbonny, unter uns, ist das nicht etwas zum Verwundern?

– Ja wohl, Johnson.

– Glauben Sie, daß der Kapitän existirt?

– Ganz gewiß.

– Aber was konnte er für Gründe haben, so zu handeln?

– Soll ich völlig heraussagen, was ich denke, so glaube ich, dieser Mann wollte die Mannschaft erst weit genug fortziehen, daß sie nicht mehr umkehren konnte. Wäre er nun im Moment der Abfahrt an seinem Bord erschienen, so hätte jeder die Bestimmung des Schiffes haben hören wollen, wodurch er in Verlegenheit gerathen wäre.

– Und weshalb?

[51] – Wahrhaftig, wenn er eine übermenschliche Unternehmung wagen, wenn er vordringen will, wohin so viele Andere vor ihm nicht konnten, glauben Sie, daß er seine Mannschaft beisammen behalten hätte? Dagegen wenn man einmal unterwegs ist, kann man so weit gehen, daß das Vorwärtsdringen zu einer Nothwendigkeit wird.


Von Eisblöcken umgeben. (S. 53.)

Das ist möglich, Herr Clawbonny; ich habe mehr als einen unerschrockenen Abenteurer kennen gelernt, dessen bloßer Name in Schrecken setzte, und der keinen Mann gefunden hätte, um ihn bei seinen gefährlichen Unternehmungen zu begleiten ...

[52] – Mich ausgenommen, sagte der Doctor.

– Und mich nach Ihnen, erwiderte Johnson, und um mich Ihnen anzuschließen! Ich nehme also an, daß unser Kapitän ohne Zweifel zu solchen Abenteurern gehört. Wir werden es am Ende sehen; ich vermuthe, daß in der Gegend von Uppernawik oder der Bai Melville dieser tapfere Unbekannte sich im Stillen an Bord einfinden und uns zu erkennen geben wird, bis wohin seine Phantasie das Schiff fortzuziehen im Sinne hat.

– Der Meinung bin ich auch, Johnson; aber die Schwierigkeit wird darin bestehen, bis zu dieser Bai Melville zu gelangen; sehen Sie, wie auf allen Seiten diese Eisblöcke uns umgeben! Sie lassen ja dem Forward kaum einen Durchweg. Betrachten Sie nur diese unermeßliche Ebene.

– Wir Wallfischfänger, Herr Clawbonny, nennen dies ein Eisfeld, d.h. eine Fläche zusammenhängender Eisblöcke, deren Ende man nicht absieht.

– Und hier, dieses unterbrochene Feld, diese langen Stücke, welche mehr oder minder an einander anstoßen?

– Das heißen wir pack, und palch, wenn die Form rund, sowie stream, wenn sie lang ist.

– Und diese schwimmenden Blöcke?

– Das ist Treibeis; sind sie etwas höher, so nennt man sie Eisberge; ein Zusammenstoßen mit ihnen ist den Schiffen gefährlich, und man muß sie sorgfältig meiden. Sehen Sie, dort unten auf jenem Eisfeld, eine vom Druck der Eisblöcke verursachte höher emporragende Stelle, die nennen wir hummock, und wenn sie an ihrer Basis unter Wasser ist, calf; diese Benennungen gab man, um sich darüber verständlich zu machen.



– Ah! Das ist wahrhaftig ein merkwürdiger Anblick, rief der Doctor beim Betrachten dieser Wunder des Eismeeres aus, und was machen diese verschiedenen Anschauungen für einen lebhaften Eindruck auf die Phantasie!

– Allerdings, erwiderte Johnson; die Eisschollen nehmen manchmal phantastische Formen an, und unsere Leute sind nicht in Verlegenheit, sie in ihrer Weise zu deuten.

– Schauen Sie, Johnson, und staunen über dies Gesammtbild von Eisblöcken! Sieht es nicht wie eine sonderbare Stadt, eine orientalische mit [53] Minarets und Moscheen in bleichem Mondschein? Weiter dort eine lange Reihe gothischer Bogen gleich der Capelle Heinrich's VII., oder wie am Parlamentshaus.

– Wirklich, Herr Clawbonny; aber es wäre doch gefährlich, darinnen zu wohnen, und man darf ihnen nicht allzu nahe kommen. Es giebt da Minarets, die wanken auf ihrer Basis, und könnten ein Schiff wie den Forward zertrümmern.

– Und man hat sich in die Gefahr dieser Meere hineingewagt, fuhr der Doctor fort, ohne den Dampf bereit zu haben! Wie ist es möglich, daß ein Segelschiff mitten zwischen diesen schwimmenden Klippen eine Richtung verfolgen kann?

– Man hat's jedoch ausgeführt, Herr Clawbonny; wenn der Wind widrig wurde, was mir mehr wie einmal begegnete, hing man sich geduldig mit dem Anker an einen solchen Block fest, trieb mehr oder minder mit ihm, und wartete so die günstige Stunde zum Weiterfahren ab; zwar brauchte man bei dieser Art zu reisen einige Monate Zeit da, wo bei einigem Glück wir nur einige Tage darauf wenden.



– Es kommt mir vor, sagte der Doctor, als sinke die Temperatur noch mehr.

– Das wäre schlimm, erwiderte Johnson, denn es ist Thauwetter nöthig, daß diese Massen sich zertheilen und sich im Atlantischen Meere verlieren; sie sind übrigens in der Davis-Straße zahlreicher, weil zwischen dem Cap Walsingham und Holsteinborg das Land merklich näher beisammen ist; doch über den siebenundsechzigsten Grad hinaus werden wir finden, daß im Mai und Juni die Meere leichter zu befahren sind.

– Ja; aber man muß erst hinkommen.

– Ja wohl, Herr Clawbonny; im Juni und Juli hätten wir die Fahrt frei gefunden, wie die Wallfischfänger auch; aber es war uns genau anbefohlen, daß wir im April uns hier einfänden. Darum irre ich sehr, oder unser Kapitän ist ein tüchtiger Schelm, der weiß, was er will; er ist nur deshalb so frühzeitig abgefahren, um recht weit zu fahren. Schließlich werden wir es sehen.«

[54] Der Doctor hatte sich in seiner Aeußerung über das Sinken der Temperatur nicht geirrt; das Thermometer zeigte um Mittag nur sechs Grad (– vierzehn Grad hunderttheilig) und es herrschte ein Nord-West, der, obwohl er die Witterung heiter machte, doch zugleich mit der Strömung die schwimmenden Eisblöcke heftiger dem Forward entgegen beförderte. Es trieben jedoch nicht alle in derselben Richtung; nicht selten traf man solche, und zwar die höchsten, welche, an ihrer Basis von einer unterseeischen Strömung gefaßt, in entgegengesetzter Richtung trieben.

Natürlich entstanden dadurch Schwierigkeiten für die Schifffahrt; die Maschinisten hatten nicht einen Augenblick Ruhe; die Leitung der Dampfkraft wurde unmittelbar auf dem Verdeck vorgenommen vermittelst Hebel, welche sie verstärkten, hemmten, plötzlich, nach Befehl des Officiers der Wache, in umgekehrte Richtung brachten. Bald mußte man eilen, um durch eine Oeffnung im Eisfeld zu dringen, bald an Schnelligkeit einem Eisberg, der den einzigen Weg zu versperren drohte, zuvorkommen; oder auch es nöthigte ein unversehens rückwärts fallender Block zu raschem Umkehren, um nicht zerschmettert zu werden. Diese Anhäufung von Eisblöcken, welche von der Strömung aus Norden fortgetrieben und aufgeschichtet wurden, drängte sich in der Enge, und wenn der Frost sie festhielt, konnten sie dem Forward eine unüberwindliche Schranke setzen.



Es zeigte sich in diesen Gegenden eine unzählige Menge Gevögel; Sturmvögel flatterten überall mit betäubendem Geschrei, und Möven mit dickem Kopf und langen Flügeln trotzten scherzend dem vom Sturm gepeitschten Schnee. Diese Munterkeit des Geflügels belebte die Gegend.

Zahlreiche Stücke Treibholz stießen wider einander; einige Pottfische mit [55] enormen Köpfen kamen in die Nähe des Schiffes, aber zum Harpunieren war keine Zeit. Gegen Abend sah man auch einige Robben zwischen den Blöcken schwimmen.

Am 22. sank die Temperatur noch mehr; der Forward verstärkte seinen Dampf, um günstige Fahrwege zu gewinnen; der Wind war entschieden Nord-West geworden; die Segel wurden eingezogen.



Während dieses Tages, der ein Sonntag war, hatten die Matrosen wenig zu manoeuvriren. Nach dem von Shandon verrichteten Gottesdienst beschäftigte sich die Mannschaft mit der Jagd auf Weißmäntel, und fing deren viele. Diese Vögel lieferten, gehörig zubereitet, ein angenehmes Gericht für die Tafel.

Um drei Uhr Nachmittags hatte der Forward nordöstlich Kin de Sael erreicht, und das Gebirge Sukkertop lag südöstlich; die See ging sehr hohl; von Zeit zu Zeit senkte sich ein ungeheurer Nebel unvermuthet vom granen Himmel herab. Doch konnte zu Mittag eine genaue Beobachtung gemacht werden, und es zeigte sich, daß das Schiff sich unter 65°20' Breite, und 51°22' Länge befand. Man mußte noch um zwei Grad weiter vorwärts dringen, um bessere Fahrt auf freiem Meer zu bekommen.

Während der drei folgenden Tage, am 24., 25. und 26. April, hatte man beständig mit den Eisblöcken zu kämpfen; die Behandlung der Maschine wurde sehr ermüdend.

Im dichten Nebel konnte man die Annäherung der Eisberge nur am dumpfen Getöse erkennen, welches von den Lawinen herrührte; dann wendete [56] das Schiff sogleich; man kam in Gefahr, wider Eismassen aus süßem Gewässer zu stoßen, welche an der Durchsichtigkeit und einer Felsen gleichen Härte zu erkennen waren. Richard Shandon versah sich zur Ergänzung seines Trinkwassers täglich mit einigen Tonnen solchen Eises.

Der Doctor konnte sich nicht an die optischen Täuschungen gewöhnen, welche die Strahlenbrechung in diesen Gegenden erzeugte; in der That, mancher Eisberg, der zehn bis zwölf Meilen von der Brigg entfernt war, kam ihm wie eine kleine weiße Masse in nächster Nähe vor.

Endlich war die Mannschaft, theils durch das Fortziehen des Schiffes längs der Eisfelder, theils durch das Fernhalten drohender Blöcke vermittelst langer Stangen vor Ermüdung fast erschöpft, und doch war Freitags, den 27. April, der Forward noch auf der Linie des Polarkreises zurückgehalten.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Gespräche der Mannschaft.

Inzwischen gelang es dem Forward, indem er geschickt in den Fahrwassern durchglitt, einige Minuten weiter nördlich zu dringen; aber anstatt dem Feind auszuweichen, mußte man bald ihn angreifen; Eisfelder von mehreren Meilen Umfang waren im Anzuge, und da diese Massen in Bewegung oft einen Druck von mehr als zehn Millionen Tonnen darstellen, so mußte man sich sorgfältig hüten, nicht erdrückt zu werden. Es wurden daher im Innern des Schiffes Eissägen hergerichtet, dergestalt, daß sie unverzüglich in Anwendung gebracht werden konnten.

Ein Theil der Mannschaft ließ sich diese harten Arbeiten philosophisch gefallen, aber Andere beklagten sich, oder wollten gar den Gehorsam verweigern. Als man zur Herrichtung der Instrumente schritt, tauschten Garry, Bolton, Pen und Gripper ihre verschiedenen Ansichten.

»Beim Teufel! sagte munter Bolton, es kommt mir, ich weiß nicht wie, der Gedanke, daß es in Waterstreet eine hübsche Schenke giebt, wo man [57] zwischen einem Glas Gin und einer Flasche Porter nicht übel beisammen sitzt. Du siehst das von hier aus, Gripper?

– Die Wahrheit zu sagen, entgegnete der Matrose, der im Allgemeinen meist übler Laune war, ich versichere Dich, daß ich das von hier aus nicht sehe.

– Es ist nur eine Redensart, Gripper; es ist wohl klar, daß es in den Schneestädten, welche Herr Clawbonny bewundert, nicht das kleinste Wirthshaus giebt, worin ein braver Matrose sich mit einigen Gläschen Branntwein erquicken könnte.

– Darüber kannst Du wohl sicher sein, Bolton; und Du könntest wohl noch beifügen, daß man nicht einmal hier sich gehörig erquicken kann. Eine sonderbare Idee, den in den Nordmeeren Reisenden jeden geistigen Trunk zu versagen!

– Schön! erwiderte Garry, hast Du denn vergessen, Gripper, was Dir der Doctor gesagt hat? Man muß sich jedes aufregenden Getränkes enthalten, wenn man dem Scorbut widerstehen, sich gesund halten und weit fahren will.

– Aber ich begehre nicht weit zu fahren, Garry, und ich finde, daß es schon etwas Schönes ist, bis hierher gekommen zu sein, dann kann man sich weigern dahin vorzudringen, wohin der Teufel nicht leiden mag, daß man dringe.

– Ei nun, man wird es auch nicht thun, versetzte Pen. Wenn ich denke, daß ich schon vergessen habe, wie der Gin schmeckt!

– Aber, sagte Bolton, erinnere Dich doch, was der Doctor gesagt hat.

– O! entgegnete Pen mit seiner groben, brutalen Stimme, wer weiß, ob man nicht unter'm Vorwand der Gesundheit sich einfallen läßt, den Trank zu sparen?

– Dieser Teufel von Pen hat vielleicht Recht, erwiderte Gripper.

– Geht doch! versetzte Bolton, dafür ist seine Nase zu roth; und wenn Pen bei einer Fahrt unter solcher Zucht ein wenig von seiner Farbe verliert, so wird er es nicht zu beklagen haben.

– Was geht meine Nase Dich an? erwiderte barsch der Matrose, der sich an wunder Stelle getroffen fühlte. Meine Nase bedarf Deinen Rath nicht, begehrt ihn nicht; kümmere Dich doch um das, was Dich angeht!

– Nun! werde doch nicht böse, Pen, ich glaubte nicht, daß Du eine so [58] empfindliche Nase hast. O! ich bin auch kein Verächter eines Gläschens Whisky, zumal bei solcher Kälte; aber, wenn es schließlich mehr schadet als nützt, so laß ich es auch gerne.

– Du magst es lassen, sagte der Heizer Waren, der sich in das Gespräch mischte; ei, das thut wohl nicht jeder Andere!

– Was meinst Du damit, Waren? versetzte Garry, und sah ihm fest in's Gesicht.

– Ich meine damit, daß es aus diesem oder jenem Grunde Liqueur an Bord giebt, und denke mir, daß man dahinten ihn sich nicht ganz entzieht.

– Und was weißt Du davon?« fragte Garry.

Waren wußte nichts zu antworten.

»Du siehst wohl, Garry, fuhr Bolton fort, daß Waren nichts davon weiß.

– Nun, sagte Pen, wir wollen vom Commandant eine Ration Gin verlangen; wir haben es wohl verdient, und da werden wir sehen, was er antworten wird.

– Ich rathe Euch, so etwas nicht zu thun, erwiderte Garry.

– Und weshalb? schrieen Pen und Gripper.

– Weil der Commandant es Euch abschlagen wird. Ihr wußtet ja, als Ihr mit in See ginget, die Schiffsordnung; damals mußtet Ihr Euch darüber besinnen.

– Uebrigens, erwiderte Bolton, der sich gern auf Garry's Seite stellte, dessen Charakter ihm gefiel, – Richard Shandon ist ja nicht Herr an Bord; er hat zu gehorchen, wie wir.

– Und wem denn? fragte Pen.

– Dem Kapitän.

– Ah! Immer der leidige Kapitän! schrie Pen. Und seht Ihr nicht, daß es ebensowenig einen Kapitän an Bord giebt, als ein Wirthshaus auf diesen Eisbänken? Auf diese Art will man uns nur höflich verweigern, was wir zu fordern berechtigt sind.

– Ja doch, es giebt einen Kapitän, versetzte Bolton; und ich wollte um zwei Monate Sold wetten, daß wir ihn bald zu sehen bekommen werden.

– Gut, sagte Pen; dem wollte ich schon ein paar Worte in's Angesicht sagen!

– Wer redet vom Kapitän? fragte ein Anderer der Anwesenden, der Matrose, der etwas abergläubisch war.

[59] – Weiß man etwas Neues über den Kapitän? fragte er.

– Nein, war die einstimmige Antwort.

– Nun, ich versehe mich, daß wir ihn eines schönen Morgens in seiner Cabine zu Hause finden, ohne daß Jemand wüßte, wie oder woher er angekommen sei.

– Geh doch! erwiderte Bolton; Du meinst, Clifton, der Schelm sei so ein Kobold, wie sie in Hochschottland umgehen!

– Lache, so viel Du willst, Bolton; das ändert meine Meinung nicht. Tagtäglich, wenn ich vor der Cabine vorüber gehe, schaue ich durch das Schlüsselloch, und eines schönen Morgens werd' ich Euch erzählen, wem dieser Kapitän gleicht, und wie er aussieht.

– Ei! Beim Teufel, sagte Pen, Dein Kapitän wird aussehen, wie alle anderen Leute! Und wenn es ein Schelm ist, der uns anführen will, wohin wir nicht mögen, wird man ihm sagen, was sich gehört.

– Schön! sagte Bolton, der Pen will schon mit ihm zanken und kennt ihn noch nicht!

– Wer kennt ihn nicht? entgegnete Clifton wie Einer, der davon zu erzählen weiß!

– Was Teufel meinst Du damit? fragte Gripper.

– Ich verstehe mich darauf.

– Aber wir verstehen Dich nicht!

– Ah! Hat nicht Pen schon Unannehmlichkeiten mit ihm gehabt?

– Mit dem Kapitän?

– Ja, dem Kapitän Hund, denn es ist ganz das nämliche.«

Die Matrosen sahen sich einander an, ohne daß sie zu antworten wagten.

»Mensch oder Hund, brummte Pen zwischen den Zähnen, ich versichere Euch, dem Thier wird einmal widerfahren, was ihm gebührt.

– Seht doch, Clifton, fragte Bolton ernstlich, meinst Du, wie Johnson scherzend gesagt hat, dieser Hund sei der wahre Kapitän?

– Gewiß, erwiderte Clifton mit Ueberzeugung; und verständet Ihr zu beobachten wie ich, so würdet Ihr schon das seltsame Benehmen des Thieres wahrgenommen haben.

– Welches? Laß hören, rede!

– Habt Ihr nicht gesehen, wie er auf dem Hinterverdeck einher spaziert [60] mit einer Amtsmiene, und besieht das Segelwerk des Schiffes, als gehöre er zur Wache?

– Ja, so ist's, sagte Gripper; und sogar habe ich ihn eines Abends überrascht, wie er die Pfoten am Steuerruder hatte.

– Nicht möglich! sagte Bolton.

– Und jetzt, fuhr Clifton fort, verläßt er sogar Nachts das Schiff, um auf den Eisfeldern zu wandeln, ohne sich weder um Bären noch um die Kälte zu kümmern.


Kapitän Hund. (S. 61.)

– Ganz richtig, so ist's, sagte Bolton.

– Seht Ihr, wie das Thier als ein braver Hund die Gesellschaft der Menschen sucht, um die Küche herumschleicht, und blickt mit zärtlichen Augen nach Meister Strong, wenn er dem Commandanten einen guten Bissen überbringt? Hört Ihr ihn nicht, wenn er Nachts zwei bis drei Meilen vom Schiff sich entfernt und heult, daß es Einem kalt über den Rücken läuft? Endlich, habt Ihr jemals gesehen, wie das Thier seine Nahrung zu sich nimmt? Er nimmt nichts persönlich; sein Fressen ist stets unberührt; und [61] sofern nicht eine geheime Hand ihn nährt, darf ich sagen, das Thier lebe, ohne zu essen. Nun, wenn das nicht phantastisch ist, bin ich nur ein Stück Vieh.

– Meiner Treu, erwiderte der Zimmermann Bell, welcher zugehört hatte, das könnte wahrlich der Fall sein!

– Kurz, fragte Bolton, wohin fahren wir mit dem Forward?

– Ich weiß nicht, erwiderte Bell; zu einer bestimmten Zeit wird Richard Shandon die Ergänzung seiner Instructionen erhalten.

– Aber durch wen?

– Durch wen?

– Ja, wie? sagte Bolton dringend.

– Nun, Bell, eine Antwort! fielen die anderen Matrosen ein.

– Durch wen? Wie? Ja das weiß ich nicht, entgegnete der Zimmermann.

– Ei! Durch den Kapitän Hund, rief Clifton. Er hat ja schon einmal durch diesen einen Brief geschickt, so kann er es auch wieder machen. Wüßte ich nur die Hälfte von dem, was dies Thier weiß, so würde ich zum Lord-Admiral taugen.

– Also, versetzte schließlich Bolton, Du hältst fest daran, daß dieser Hund der Kapitän ist?

– Ja, wie gesagt.

– Nun, sagte Pen halblaut, wenn das Thier nicht sein Hundsfell sprengen und Mensch werden will, werde ich ihm zu schaffen machen.

– Und weshalb? fragte Garry.

– Weil mir's beliebt, erwiderte Pen brutal, ich habe keinem Menschen darüber Rechenschaft zu geben.

– Nun genug geplaudert, Kinder, rief Meister Johnson, und machte damit zu rechter Zeit einem Gespräch ein Ende, das eben eine üble Wendung nahm. An die Arbeit, und rasch die Sägen bereit gemacht, wir müssen durch die Eisdecke hindurch!

– Gut! erwiderte Clifton mit Achselzucken. Sie werden sehen, daß man so leicht nicht den Polarkreis überschreitet!«

Wie dem auch sein mag, die Anstrengungen der Mannschaft waren im Laufe dieses Tages, Freitags, ohne hinreichenden Erfolg. Obgleich der Forward [62] mit voller Dampfkraft wider die Eisberge anfuhr, gelang es ihm nicht, sie zu trennen; man mußte während der Nacht sich festankern.

Am Samstag wurde in Folge eines Ostwindes die Temperatur noch niedriger; das Wetter hellte sich auf und der Blick konnte weithin über die weißen Ebenen schweifen, welche durch den Reflex der Sonnenstrahlen blendend wurden. Um sieben Uhr Vormittags zeigte das Thermometer acht Grad unter Null (– 21° hunderttheilig).

Der Doctor war versucht, ruhig in seiner Cabine zu bleiben und Reisebeschreibungen nach dem Polar-Meer zu lesen, aber er fragte sich, seiner Gewohnheit nach, was ihm in diesem Augenblicke am unangenehmsten zu thun sein würde. Die Antwort war, bei diesem Kältegrad sich auf das Verdeck zu begeben, und der Mannschaft zu helfen, wäre nicht sehr erquicklich. Daher verließ er, treu an seiner Regel festhaltend, seine wohl geheizte Cabine, und half mit beim Fortbringen des Schiffes.



Er sah hübsch aus mit seiner grünen Brille, vermittelst welcher er seine Augen gegen den Reflex der Sonnenstrahlen schützte; und bei seinen künftigen Untersuchungen war er stets sorgfältig mit Schneebrillen versehen, um Augenkrankheiten zu vermeiden, welche unter diesen hohen Breiten sehr häufig vorkommen.

Gegen Abend war der Forward einige Meilen nördlich vorwärts gekommen, Dank der Thätigkeit der Leute und der Geschicklichkeit Shandon's, der gewandt alle günstigen Umstände zu benutzen wußte; um Mitternacht kam er über den sechsundsechzigsten Breitegrad, und da die Sonde dreiundzwanzig Ellen Tiefe ergab, erkannte Shandon, daß er sich über dem niedrigen Grunde befand, worauf die Victoria sitzen geblieben war. Dreißig Meilen östlich war man dem Lande nahe.

Nun aber spaltete sich die bisher unbewegliche Eismasse und setzte sich in Bewegung; die Eisberge schienen auf allen Seiten am Horizont aufzuwachsen; die Brigg befand sich also zwischen einer Reihe schwimmender Klippen, welche mit unwiderstehlicher Gewalt zertrümmern; die Lenkung ward sehr schwierig für Garry, den besten Steuerer, am Ruderstock; die Berge drohten sich hinter der Brigg wieder aneinander zu schließen. Durch diese Eisflotte mußte man nothwendig hindurch, und Klugheit wie Pflicht befahl, vorwärts zu dringen. Die Schwierigkeiten wuchsen noch dadurch, daß es Shandon [63] unmöglich ward, inmitten dieser wechselnden Punkte, welche die Stelle änderten und keine feste Perspective gewährten, die Richtung des Schiffes zu bestimmen.

Die Mannschaft war in zwei Reihen auf der rechten und linken Seite des Schiffes vertheilt; jeder derselben hatte eine lange Stange mit eiserner Spitze, um die allzu bedrohlichen Eisblöcke zurückzustoßen. Bald gerieth der Forward in eine so enge Gasse zwischen zwei hohen Blöcken, daß die Enden seiner Stengen an den Wänden rieben, die so hart wie Felsen waren; allmälig befand er sich mitten in einem gewundenen Thal voll wirbelndem Schneegestöber, während die schwimmenden Eisblöcke wider einander stießen und mit unheimlichem Krachen zerbröckelten.



Aber bald stellte sich's heraus, daß diese Gasse ohne Ausgang war; ein enormer Block, der in diese Enge gerathen war, trieb rasch auf den Forward zu; ihm auszuweichen schien unmöglich, und ebenso unmöglich auf einem bereits versperrten Weg rückwärts zu fahren.

Shandon und Johnson erwogen, vorn auf der Brigg stehend, ihre Lage. Der Erstere gab mit der rechten Hand dem Steuerer die Richtung an, welche zu nehmen war, und mit der Linken ließ er dem neben dem Ingenieur stehenden James Wall seine Befehle für Leitung der Maschine zugehen.

»Wie wird das enden? fragte der Doctor Johnson.

– Wie es Gott fügt«, erwiderte der Rüstmeister.

Der hundert Fuß hohe Eisblock war nur noch eine Kabellänge vom Forward entfernt und drohte ihn zu zerbröckeln.

[64] »Donner und Teufel! fluchte Pen.

– Stille!« rief eine Stimme, die man im Sturm nicht zu erkennen vermochte.

Der Block schien auf die Brigg stürzen zu wollen, und es entstand einen Augenblick unbeschreibliche Angst; die Männer ließen ihre Stangen und flüchteten trotz den Befehlen Shandon's auf's Hintertheil.

Plötzlich vernahm man ein erschreckliches Getöse; eine wirkliche Trombe fiel auf das Verdeck des Schiffes, das von einer ungeheuern Woge emporgehoben wurde. Die Mannschaft stieß einen Schrei des Entsetzens aus, während Garry am Steuer den Forward trotz seinem erschrecklichen Gieren in guter Richtung hielt.



Und als nun die erschrockenen Blicke sich auf den Eisberg richteten, war dieser verschwunden; die Fahrt war frei, und es war der Brigg über einen langen, von schiefen Sonnenstrahlen erhellten Canal hinaus weiter zu fahren gestattet.

»Nun, Herr Clawbonny, sagte Johnson, können Sie diese Erscheinung erklären?

– Es ist eine sehr einfache Sache, Freund, erwiderte der Doctor, und die oft vorkommt. Wenn zur Zeit des Thauwetters diese schwimmenden Massen sich von einander lösen, treiben sie isolirt und in völligem Gleichgewicht; aber allmälig, wenn sie südlicher in ein verhältnißmäßig wärmeres Wasser kommen, fängt ihre durch das Anstoßen an andere Blöcke bereits erschütterte Basis an zu schmelzen, schwächer zu wer den; es kommt daher ein [65] Moment, wo der Schwerpunkt dieser Massen sich ändert, dann purzeln sie zusammen. Wenn nun dieser Eisberg zwei Minuten später gestürzt wäre, so wäre er über die Brigg gefallen, und hätte sie im Fallen zerschmettert.«

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Eine Neuigkeit.

Endlich war man über den Polarkreis hinaus; der Forward fuhr am 30. April zu Mittag vor Holsteinborg vorüber; malerische Gebirge erhoben sich am östlichen Horizont. Das Meer schien, so zu sagen, frei von Eis, oder vielmehr man konnte den Eisblöcken leicht ausweichen. Der Wind schlug um in Süd-Ost und die Brigg fuhr mit vollen Segeln das Bassins-Meer hinein.

Dieser Tag war ganz besonders ruhig und die Mannschaft konnte sich ein wenig erholen; zahlreiche Vögel schwammen und flatterten um das Schiff herum.

An diesem Tag begab sich an Bord ein ganz außerordentliches Ereigniß.

Als Richard Shandon um sechs Uhr früh von seiner Wache zurück in seine Cabine kam, fand er auf seinem Tisch einen Brief mit der Aufschrift:


»An den Commandanten Richard Shandon an Bord des Forward, Bassins-Meer.«


Shandon konnte seinen Augen nicht trauen; aber bevor er von dieser auffallenden Correspondenz Kenntniß nahm, ließ er den Doctor, James Wall und den Rüstmeister rufen, und zeigte ihnen denselben.


»Das wird etwas ganz Besonderes, sagte Johnson. – Das ist reizend! dachte der Doctor.
[66] – Schließlich, rief Shandon, werden wir doch das Geheimniß erfahren ...«
Er zerriß rasch den Umschlag und las, wie folgt:

»Commandant!


Der Kapitän des Forward ist zufrieden mit der Kaltblütigkeit, Geschicklichkeit und dem Muth, welchen Sie mit Ihren Officieren und Ihrer Mannschaft unter den letzten Umständen gezeigt haben; er bittet Sie, der Mannschaft seinen Dank dafür auszusprechen.

Wenden Sie sich nun gerade nördlich zur Bai Melville, und von da aus bemühen Sie sich in die Straße Smith zu dringen.

Der Kapitän des Forward.

K. Z.


Montag, den 30. April dem Cap Walsingham gegenüber.«


»Und nichts weiter? rief der Doctor.

– Nichts weiter«, erwiderte Shandon.

Der Brief fiel ihm aus der Hand.

»Ei! sagte Wall, dieser eingebildete Kapitän spricht kein Wort mehr davon, an Bord zu kommen; ich schließe daraus, daß er nie kommen wird.

– Aber, sagte Johnson, wie ist denn dieser Brief angekommen?«

Shandon schwieg.

»Herr Wall hat Recht, erwiderte der Doctor, der den Brief aufhob und um und herum drehte; der Kapitän wird nicht mehr an Bord kommen aus trefflichem Grund ...

– Und aus welchem? fragte Shandon lebhaft.

– Weil er bereits da ist, erwiderte einfach der Doctor.

– Bereits! rief Shandon, was meinen Sie damit?

– Wie ist sonst zu erklären, daß dieser Brief kam?«

Johnson schüttelte den Kopf zum Zeichen der Beistimmung.

»Nicht möglich! versetzte Shandon nachdrücklich. Ich kenne jeden einzelnen Mann an Bord; man müßte denn annehmen, der Kapitän befinde sich seit der Abfahrt des Schiffes unter denselben? Das ist nicht möglich, sag' ich Ihnen! Es ist kein Einziger darunter, den ich nicht seit länger als zwei Jahren hundertmal zu Liverpool gesehen hätte; Ihre Vermuthung, Doctor, darf man nicht gelten lassen!

[67] – Was lassen Sie also gelten, Shandon?

– Alles, dies ausgenommen. Ich nehme an, daß der Kapitän oder ein Mann, der ihn vertritt – was weiß ich? – die Dunkelheit, den Nebel benutzen konnte, um im Stillen an Bord zu kommen; wir sind nicht weit vom Land entfernt; die Eskimos haben Kaïaks, die unbemerkt zwischen den Eisblöcken durchfahren; es war demnach möglich, daß Jemand bis zum Schiff kam, und diesen Brief einhändigte ... der Nebel war ziemlich stark, um den Plan auszuführen ...

– Und auch um zu hindern, daß man die Brigg sah, erwiderte der Doctor; haben wir nicht gesehen, wie ein Fremder sich an Bord schlich, wie hätte dieser im dichten Nebel den Forward erkennen können?

– Das ist sonnenklar, sagte Johnson.

– Ich komme also auf meine Hypothese zurück, sagte der Doctor. Was meinen Sie, Shandon?

– Alles was Sie wollen, erwiderte Shandon hitzig, nur nicht, daß dieser Mann sich an meinem Bord befinde.

– Vielleicht, fügte Wall bei, befindet sich unter der Bemannung Einer, der von ihm seine Instructionen er halten hat?

– Vielleicht, sagte der Doctor.

– Aber wer sollte das sein? fragte Shandon. Ich kenne alle meine Leute, sag' ich Ihnen, und von lange her.

– Jedenfalls, fuhr Johnson fort, wenn dieser Kapitän erscheint, Mensch oder Teufel, wird man ihn empfangen; aber man kann aus diesem Brief noch eine weitere Auskunft schöpfen.

– Und welche? fragte Shandon.

– Daß wir nämlich nicht blos in die Melville-Bai, sondern auch in den Smith-Sund fahren sollen.

– Sie haben Recht, erwiderte der Doctor.

– Den Smith-Sund, versetzte Richard Shandon mechanisch.

– Es ist also klar, fuhr Johnson fort, daß der Forward nicht die Bestimmung haben kann, die nordwestliche Durchfahrt zu suchen, denn wir sollen den einzigen Weg dahin, den Lancaster-Sund, links lassen. Daraus haben wir eine schwierige Fahrt in die unbekannten Nord-Meere abzunehmen.

– Ja, der Smith-Sund, erwiderte Shandon, ist der Weg, welchen im Jahre 1853 der Amerikaner Kane einschlug, und mit welchen Gefahren. Lange [68] hielt man ihn für verloren in dieser erschrecklichen Zone! Schließlich, weil es vorgeschrieben ist, wird man in den Sund fahren! Aber bis wohin? Etwa bis zum Pol?

– Und warum nicht?« rief der Doctor.

Der Rüstmeister zuckte die Achseln.

»Endlich, fuhr James Wall fort, um auf den Kapitän zurück zu kommen, wenn er existirt, so sehe ich an der Grönländischen Küste nur Disko oder Uppernawik, wo er uns erwarten könnte; in einigen Tagen werden wir also wissen, woran wir uns zu halten haben.

– Aber, fragte der Doctor, werden Sie nicht der Mannschaft Kenntniß von diesem Brief geben?

– Mit Erlaubniß des Commandanten, erwiderte Johnson, ich würde es nicht thun.

– Und weshalb? fragte Shandon.

– Weil all dieses Außerordentliche, Phantastische geeignet ist, die Leute einzuschüchtern. Sie sind bereits sehr in Unruhe über das Schicksal einer so auftretenden Expedition. Wenn man sie nun zum Uebernatürlichen hindrängt, so kann dies schlimme Folgen haben, und wir möchten im Moment der Gefahr nicht auf sie zählen können. Was sagen Sie dazu, Commandant?

– Und Sie, Doctor, was halten Sie davon? fragte Shandon.

– Meister Johnson, erwiderte der Doctor, scheint mir verständig zu urtheilen.

– Und Sie, James?

– Besseres vorbehalten, versetzte Wall, trete ich der Meinung dieser Herren bei.«

Shandon sann einige Augenblicke nach, las noch einmal achtsam den Brief.

»Meine Herren, sagte er, Ihre Ansicht ist gewiß gut, aber ich kann sie nicht theilen.

– Und weshalb, Shandon? fragte der Doctor.

– Weil in dem Brief förmlich vorgeschrieben ist, die Mannschaft von Seiten des Kapitäns zu beglückwünschen; nun hab' ich bisher stets blind seinen Befehlen gehorcht, in welcher Weise auch sie mir zugestellt wurden, und ich kann nicht ...

– Doch ... versetzte Johnson, der mit Recht um die Wirkung besorgt war, welche dergleichen Mittheilungen auf den Geist der Matrosen haben würden.

[69] – Wackerer Johnson, entgegnete Shandon, ich begreife, daß Sie darauf dringen, Ihre Gründe sind vortrefflich, aber lesen Sie:

›Er bittet Sie, der Mannschaft seinen Dank dafür auszusprechen.‹

– Nun so verfahren Sie demnach, fuhr Johnson fort, der übrigens sonst strenge den Gehorsam zu wahren verstand. Soll man die Mannschaft auf dem Verdeck versammeln?

– Thun Sie das«, erwiderte Shandon.

Die Neuigkeit von einer Mittheilung des Kapitäns verbreitete sich augenblicklich an Bord. Die Matrosen kamen unverzüglich an den Platz für ihre Revue und der Commandant las laut den geheimnißvollen Brief.



Man hörte mit dumpfem Schweigen dem Verlesen zu; die Leute gaben sich tausend Vermuthungen hin; Clifton konnte sich nun allen Abschweifungen seiner abergläubischen Phantasie überlassen; er schrieb dem Kapitän Hund seinen redlichen Antheil dabei zu, und verfehlte nicht ihn zu grüßen, als er zufällig ihm in den Weg kam. Ein Jeder war überzeugt, daß des Kapitän Schatten oder Geist an Bord wache; die Gescheitesten hüteten sich von nun an, ihre Vermuthungen gegen einander zu äußern.

Am 1. Mai ergab die Aufnahme zu Mittag 68° Breite und 56°32' Länge. Die Temperatur war gestiegen, und das Thermometer zeigte fünfundzwanzig Grad unter Null (– 4° hunderttheilig).

Der Doctor hatte das Vergnügen zuzuschauen, wie eine weiße Bärin am Rande eines, längs der Küste schwimmenden Eisblocks mit zwei Jungen spielte. Er machte mit Wall und Simpson einen Versuch, in dem Boot Jagd [70] auf sie zu machen; aber das eben nicht kampflustige Thier schleppte rasch seine Jungen mit sich fort, und man mußte auf ihre Verfolgung verzichten.



Vom Wind begünstigt fuhr man während der Nacht um's Cap Chidley herum, und bald sah man am Horizont die hohen Berge von Disko sich erheben; rechts ließ man die Bai Godauhn, wo der Generalgouverneur der dänischen Niederlassungen residirte. Shandon hielt nicht für angemessen, sich hier aufzuhalten, und fuhr an den Pirogen der Eskimo's, welche zu ihm zu gelangen bemüht waren, rasch vorüber.

Die Insel Disko heißt auch Wallfischinsel. Von hier aus schrieb am 12. Juli 1815 Sir John Franklin zum letztenmal an die Admiralität, und hier legte auch, am 29. August 1859, der Kapitän Mac Clintock bei seiner Rückkehr an, indem er die nur zu sicheren Beweise vom Untergang dieser Expedition mitbrachte.

Bald verschwanden die Höhen von Disko vor den Blicken.

Es befanden sich damals zahllose Eisberge an den Küsten, welche auch das stärkste Thauwetter nicht loslösen kann; diese ununterbrochene Reihe von Bergspitzen zeigte die seltsamsten Formen.

Am folgenden Morgen gegen drei Uhr gewahrte man nordöstlich Sanderson Hope; das Land blieb etwa fünfzehn Meilen links liegen; die Berge schienen röthlich rußbraun gefärbt. Am Abend sah man einige Wallfische von der Sorte, welche Flossen auf dem Rücken haben, mitten zwischen den Eisblöcken sich erlustigen.

Während der Nacht vom 3. auf 4. Mai konnte der Doctor zum erstenmal [71] die Sonne am Rande des Horizonts streifen sehen, ohne daß ihre leuchtende Scheibe untertauchte; seit 31. Januar hatten ihre Bahnkreise täglich zugenommen, und es herrschte jetzt ununterbrochene Tageshelle.

Für Zuschauer, die es nicht gewohnt sind, ist diese ununterbrochene Dauer des Tages etwas erstaunlich Merkwürdiges, das selbst beschwerlich wird; man kann kaum glauben, wie sehr die Dunkelheit der Nacht für die Gesundheit der Augen nöthig ist; es verursachte dem Doctor wirklichen Schmerz um sich an dies fortwährende Licht zu gewöhnen, welches durch den Reflex der Strahlen auf den Eisebenen noch schmerzhafter blendete.



Am 5. Mai fuhr der Forward über den zweiundsiebenzigsten Breitegrad. Zwei Monate später hätte er hier zahllose Wallfischfahrer getroffen, welche in diesen hohen Strichen dem Fischfang obliegen; aber die Straße war noch nicht frei genug, daß diese Fahrzeuge es wagen konnten, in's Bassins-Meer zu dringen.

Am folgenden Morgen kam die Brigg, nachdem sie vor der Fraueninsel vorübergefahren, vor Uppernawik an, der nördlichsten Niederlassung Dänemarks an diesen Küsten.

[72]
10. Capitel
Zehntes Capitel.
Gefährliche Fahrt.

Shandon, der Doctor Clawbonny, Johnson, Foker und der Koch Strong stiegen in das Wallfischboot und fuhren an's Ufer.

Der Gouverneur, seine Frau und fünf Kinder, sämmtlich von Eskimo-Race, kamen höflich dem Besuch entgegen.



Der Doctor verstand als Philolog ein wenig dänisch, welches zur Anknüpfung freundlicher Beziehungen hinreichte auch verstand der Eismeister Foker, zugleich Dolmetscher der Expedition, etwa zwanzig Wörter Grönländisch; und wenn man nicht ehrgeizig ist, kommt man mit zwanzig Wörtern schon weit.

Der Gouverneur, ein Eingeborener der Insel Disko, war nie aus seinem Geburtsland herausgekommen; er begrüßte im Namen seiner Stadt, die aus drei hölzernen Häusern, dem des Gouverneurs, des lutherischen Pfarrers und einem Schulhause und Magazinen besteht, welche die Güter gestrandeter Schiffe bergen. Der Rest besteht aus Schneehütten, in welche die Eskimo's durch eine einzige Oeffnung hineinkriechen.

[73] Ein großer Theil der Bewohner war dem Forward entgegengefahren, und mehr als ein Eingeborener fuhr in seinem fünfzehn Fuß langen und höchstens zwei Fuß breiten Kaïak bis in die Mitte der Bai.

Der Doctor wußte, daß das Wort Eskimo einen Menschen bezeichnet, der rohe Fische ißt; aber er wußte auch, daß diese Benennung im Lande wie ein Schimpfwort gilt; daher verfehlte er auch nicht, die Bewohner »Grönländer« zu nennen.

Und doch war an den öligen Robbenfell-Kleidern und Stiefeln, an der schmutzigen und übelriechenden Umhüllung, welche Männer von Frauen nicht unterscheiden läßt, leicht zu erkennen, womit diese Leute sich nährten; zudem waren sie, wie alle Völker, welche von Fischen leben, zum Theil vom Aussatz befallen, aber sie befanden sich darum nicht eben übler.

Der lutherische Pfarrer und seine Frau, mit welchen der Doctor besonders zu plaudern sich versprach, waren auf einem Ausflug nach Proven, südlich von Uppernawik, so daß er sich auf die Unterhaltung mit dem Gouverneur beschränkt sah. Dieser oberste Beamte schien nicht sehr gelehrt; zwar verstand er etwas mehr als ein Esel, aber des Lesens war er nicht völlig kundig.

Doch befragte er ihn über Handel, Gewohnheiten und Sitten der Eskimo's, und vernahm aus seiner Geberdensprache, daß die Robben, nach Kopenhagen geliefert, etwa vierzig Pfund galten, ein Bärenfell mit vierzig dänischen Dollars, ein blaues Fuchsfell mit vier, ein weißes mit zwei bis drei bezahlt wurde.

Der Doctor wünschte auch, um sich persönlich zu unterrichten, eine Eskimohütte zu besuchen; man kann sich kaum vorstellen, wozu sich ein Gelehrter in seinem Wissensdrang versteht; zum Glück war die Oeffnung zu enge, so daß er trotz allem Eifer nicht hinein kommen konnte. Und das war auch besser, denn es giebt nichts so Widerliches, als diese Anhäufung todter oder lebender Gegenstände, Robben- oder Eskimofleisch, fauler Fische und stinkender Kleider, womit eine Grönländerhütte ausgestattet ist; keine Fenster für Lufterneuerung, nur oben an der Spitze ein Loch, wodurch zwar der Rauch abziehen kann, nicht aber der Gestank.

Foker gab dem Doctor dies an, aber der würdige Gelehrte grollte doch seiner Beleibtheit; denn er hätte gern selbst sich ein Urtheil gebildet.

»Ich bin überzeugt, sagte er, daß man mit der Zeit sich daran gewöhnt.«

[74] Während der ethnographischen Studien dieses Letzteren war Shandon, seinen Instructionen nach, beschäftigt, sich Transportmittel über das Eis zu verschaffen; er mußte für einen Schlitten und sechs Hunde vier Pfund bezahlen, und auch dafür sie herzugeben, machten die Eingeborenen Schwierigkeiten.



Shandon hätte gerne den geschickten Hundeführer Hans Christian geworben, welcher zur Expedition des Kapitäns Mac Clintock gehört hatte, aber derselbe befand sich damals im südlichen Grönland.

Dazu nun die Hauptfrage des Tages: befand sich zu Uppernawik ein Europäer, der auf die Vorüberfahrt des Forward wartete? Hatte der Gouverneur Kenntniß davon, daß ein Fremder, wahrscheinlich Engländer, sich in diesen Gegenden aufhalte? Wann hatte er die letzten Verbindungen mit Wallfischfahrern oder andern Schiffen?

Auf diese Fragen erwiderte der Gouverneur, daß seit länger als zehn Monaten kein Fremder an dieser Gegend der Küste gelandet sei.

Shandon ließ sich die Namen der zuletzt angekommenen Wallfischfahrer angeben; er kannte keinen derselben. Das war zum Verzweifeln.

»Sie werden mir zugeben, Doctor, daß dies nicht zu begreifen ist, sagte er zu seinem Gefährten. Nichts am Cap Farewell! Nichts auf der Insel Disko! Nichts zu Uppernawik!

– Fügen Sie mir nach einigen Tagen noch dazu: Nichts in der Bai Melville, lieber Shandon, und ich werde Sie als alleinigen Kapitän des Forward begrüßen.«

Das Wallfischboot kehrte gegen Abend mit den Besuchern zum Forward [75] zurück; Strong hatte sich, zum Behuf neuer Gerichte, einige Dutzend Eier von Eider-Enten verschafft, welche zweimal so groß als Hühnereier und von grünlicher Farbe sind. So wenig das war, so erquickend war es doch für die auf gesalzenes Fleisch angewiesene Mannschaft.


Heimwesen der Eskimo. (S. 74.)

Der Wind wurde am folgenden Tag günstig, und doch gab Shandon keinen Befehl unter Segel zu gehen; er wollte noch einen Tag warten und, sein Gewissen zu beruhigen, jedem menschlichen Wesen Zeit lassen, sich zum Forward einzufinden; er ließ sogar von Stunde zu Stunde den Sechzehnpfünder [76] abfeuern, welcher inmitten der Eisberge donnernd widerhallte; doch hatte dies nichts weiter zur Folge, als daß Schwärme von Seevögeln dadurch aufgescheucht wurden. Während der Nacht wurden auch einige Raketen in die Luft gelassen, aber vergeblich. Man mußte sich zum Weiterfahren entschließen.

Am 8. Mai um sechs Uhr früh fuhr der Forward mit vollen Segeln ab und verlor bald Uppernawik mit seinen häßlichen Stangengerüsten, woran dem Ufer entlang Eingeweide von Robben und Bauchstücke von Dammhirschen hingen, aus dem Gesicht.

Der Wind wehte aus Süd-Ost, und die Temperatur stieg wieder auf zweiunddreißig Grad (– 0 hunderttheilig). Die Sonne drang durch den Nebel und die Eisblöcke wurden unter ihrer auflösenden Einwirkung etwas lockerer.

Indessen übte der Reflex dieser blendendweißen Strahlen einen nachtheiligen Einfluß auf das Gesicht einiger Leute der Mannschaft. Der Waffenschmied Wolsten, Gripper, Clifton und Bell wurdenschneeblind, eine im Frühjahr sehr verbreitete Augenkrankheit, welche bei den Eskimo's häufig Blindheit zur Folge hat. Der Doctor rieth der ganzen Mannschaft, besonders aber den Kranken, an, sich das Gesicht mit einem Schleier von grüner Gaze zu verhüllen, und befolgte zuerst seine Anordnung.

Die von Shandon zu Uppernawik gekauften Hunde waren ziemlich wilder Art; doch gewöhnten sie sich bald an das Schiff, und Kapitän Hund stand nicht übel zu seinen neuen Kameraden; er schien ihre Gewohnheiten zu kennen. Man konnte leicht erkennen, daß dieser Kapitän bereits Bekanntschaft mit seinen Stammesgenossen auf Grönland gehabt haben mußte. Da diese zu Lande bei ungenügender Nahrung stets hungrig gehalten wurden, so waren sie nun gierig, bei dieser Schiffsordnung sich zu erholen.

Am 9. Mai strich der Forward einige Kabel weit bei der westlichsten der Bassins-Inseln vorbei. Der Doctor bemerkte in der Bai zwischen den Inseln und dem Lande einige Felsen, die man Crimson-Cliffs nennt; sie waren mit einem schön karminrothen Schnee bedeckt, welchem der Doctor Kane einen rein vegetalen Ursprung giebt; Clawbonny hätte dies merkwürdige Phänomen gern näher beobachtet, aber das Eis gestattete nicht, sich der Küste mehr zu nähern; obwohl die Temperatur zu steigen anfing, konnte man klar sehen, daß die Eisberge und Eisströme im Norden des Bassins-Meeres häufiger wurden.

[77] Von Uppernawik an bot das Land einen andern Anblick, und es zeichneten sich am Horizont die Profile unermeßlicher Gletscher auf grauem Himmelsgrund. Am 10. ließ der Forward die Bai Hingston rechts nächst dem vierundsiebenzigsten Breitegrad: mehrere hundert Meilen westlich von dem Eingang des Lancaster-Sund.

Dann aber verschwand die ungeheure Wasserfläche unter ausgedehnten Eisfeldern, auf welchen regelmäßige Spitzhügel wie die Krystallisation der nämlichen Substanz sich erheben. Shandon ließ heizen, und bis zum 11. Mai schlängelte der Forward durch die gewundenen Engen, und sein schwarzer Rauch zeichnete am Himmel den Weg, welchen er nahm.

Aber bald zeigten sich neue Hindernisse; da die schwimmenden Massen beständig ihre Stelle wechselten, so schlossen sich die engen Fahrwasser; vor dem Vordertheil des Forward drohte jeden Augenblick das Wasser zu mangeln, und wenn er eingeklemmt wurde, würde es ihm schwer fallen, sich wieder heraus zu ziehen. Jeder wußte es, jeder dachte daran.

Auch zeigten sich an Bord dieses Schiffes ohne Ziel, ohne bekannte Bestimmung, das sinnlos nach Norden zu steuerte, einige Symptome schwankender Gesinnung; unter den an ein Leben voll Gefahren gewöhnten Leuten fanden sich Manche, die trotz der gebotenen Vortheile es bereuten, sich so weit gewagt zu haben. Es herrschte bereits in den Gemüthern eine gewisse Entmuthigung, welche durch die Angst Clifton's und die Reden von einigen Anstiftern, wie Pen, Gripper, Waren und Wolsten noch zunahm.

Zu der gemüthlichen Herabstimmung der Mannschaft gesellten sich dann noch erschöpfende Strapazen, denn am 12. Mai war die Brigg auf allen Seiten eingeschlossen; die Dampfkraft reichte nicht mehr aus, man mußte sich durch die Eisfelder eine Bahn machen. Bei den sechs bis sieben Fuß dicken Blöcken war die Anwendung der Sägen sehr mühevoll; wenn in einer Länge von hundert Fuß zwei Parallelschnitte gemacht waren, mußte man das zwischen denselben befindliche Eis mit Aexten und Hebebäumen zerbröckeln; dann steckte man Anker durch ein mit einem starken Bohrer gemachtes Loch; dann begann man die Winde anzuwenden, und zog das Schiff mit den Armen; eine sehr große Schwierigkeit bestand noch darin, daß man die Eisstücke unter die Blöcke bringen mußte, um dem Fahrzeug Bahn zu machen; und man mußte sie vermittelst langer Stangen mit einer eisernen Spitze hinwegstoßen.

Kurz, das Sägen, Ziehen, Winden, Stoßen, – unablässig nothwendige, [78] gefährliche Verrichtungen mitten im Nebel oder dichtem Schnee, die niedrige Temperatur, Augenleiden, Gemüthsbefangenheit, – Alles wirkte zusammen, die Mannschaft herabzustimmen und auf ihre Einbildungskraft zu wirken.

Haben es die Matrosen mit einem energischen, kühnen, überzeugten Manne zu thun, der seines Zweckes, seines Weges und Zieles sicher ist, so hält das Vertrauen sie wider Willen aufrecht; sie sind mit ihrem Haupt eines Sinnes, stark durch seine Kraft und ruhig durch seine Ruhe. Aber an Bord der Brigg wußte man, daß der Befehlshaber nicht sicher war, bei dem unbekannten Ziel und Bestimmungsort schwankte. Trotz der Energie seines Charakters gab sich durch Aenderung der Befehle, unvollständige Manoeuvres, unzeitige Bemerkungen, durch eine Menge Einzelheiten, welche der Mannschaft nicht unbemerkt bleiben konnten, seine Schwäche unwillkürlich kund.



Und dann, Shandon war doch nicht Kapitän des Schiffes, von dem nach Gott Alles abhing; Grund genug, daß man über seine Befehle disputirte, und vom Disputiren bis zur Gehorsamverweigerung ist nur ein leichter Schritt.

Die Unzufriedenen gewannen bald den ersten Maschinisten für sich, der bisher sich strenge an seine Pflicht hielt.

Am 16. Mai, sechs Tage nachdem der Forward bei der Eisdecke angelangt war, hatte Shandon noch keine zwei Meilen nordwärts zurückgelegt. Man war mit dem Schicksal bedroht, im Eise stecken zu bleiben. Das war ein bedenklicher Fall.

Gegen acht Uhr gingen Shandon und der Doctor in Begleitung des [79] Matrosen Garry aus, um auf der unermeßlichen Ebene zu recognosciren; sie waren bedacht, sich nicht allzuweit von dem Schiff zu entfernen, denn es wurde schwierig, sich in den weißen Einöden, deren Ansichten sich unaufhörlich änderten, Merkpunkte zu bilden. Die Strahlenbrechung hatte sonderbare Wirkungen, so daß der Doctor darüber staunte; wo er meinte, nur einen Fuß weit springen zu müssen, mußte man über fünf bis sechs Fuß hinaus; oder es fand der entgegengesetzte Fall statt; in beiden Fällen aber kam es auf den glasharten Eisstücken zum Niederfallen, was, wenn auch nicht gefährlich, doch immer beschwerlich war.

Shandon suchte mit seinen Begleitern fahrbare Wasserwege; in einer Entfernung von drei Meilen vom Schiff erstiegen sie mit ziemlicher Beschwerde einen Eisberg, welcher dreihundert Fuß hoch sein mochte. Von hier aus schweifte ihr Blick über diesen wüsten Haufen, gleich den Trümmern einer Riesenstadt mit umgeworfenen Obelisken, zusammengestürzten Thürmen und umgekehrten Palästen. Die Sonne zog mühsam ihre Kreise um einen mit Bergspitzen besetzten Horizont, und warf lange, schiefe Lichtstrahlen ohne Wärme, als wenn nichtwärmeleitende Stoffe zwischen sie und dies traurige Land gedrungen wären.



Das Meer schien, so weit die Blicke nur reichten, völlig festgefroren.

»Wie kommen wir weiter? fragte der Doctor.

– Ich weiß nicht, erwiderte Shandon, aber wir kommen weiter, müßten wir auch diese Berge mit Pulver sprengen; ich lasse mich gewiß nicht durch diese Eisblöcke bis zum nächsten Frühjahr hier festhalten.

[80] – Wie das jedoch, sagte der Doctor, dem Fox fast in diesen nämlichen Gegenden passirt ist. Ei doch! wir dringen durch ... mit ein wenig Philosophie. Sie werden sehen, das ist so viel werth, wie alle Maschinen!

– Man muß zugeben, daß dieses Jahr nicht eben günstige Aussicht darbietet.

– Unstreitig, Shandon, und ich bemerke, daß das Bassins-Meer die Neigung zeigt, in den Zustand vor 1817 zurückzukehren.

– Meinen Sie, Doctor, es sei nicht immer so wie jetzt gewesen?

– Nein, lieber Shandon: von Zeit zu Zeit haben ungeheure Eisgänge stattgefunden, welche die Gelehrten nicht zu erklären wußten. So ist bis zum Jahre 1817 dieses Meer beständig versperrt gewesen, als eine ungeheure Ueberschwemmung stattfand und diese Eisberge in den Ocean trieb, welche meistens an der Bank von New-Foundland zerbröckelten. Von der Zeit an ist die Bassins-Bai fast frei gewesen, und ward zum Sammelplatz der Wallfischjäger.

– Also, fragte Shandon, sind seit dieser Zeit die Nordfahrten leichter gewesen?

– Ganz außerordentlich; aber man bemerkt, daß seit einigen Jahren die Bai Neigung zeigt, wieder fest zu werden, und sich, vielleicht für lange Zeit, den Forschungsreisenden zu verschließen. Um so mehr Grund also, daß wir so weit als möglich vordringen. Und doch gleichen wir ein wenig den Leuten, welche sich in unbekannte Gänge hineinwagen, deren Thüren sich unablässig hinter ihnen wieder schließen.

– Würden Sie mir rathen zurückzuweichen? fragte Shandon, indem er tiefer in des Doctors Augen zu lesen versuchte.

– Ich! Ich habe nie verstanden einen Fuß rückwärts zu thun; und sollte man nie wieder zurückkommen, so sag' ich vorwärts! Nur müssen wir uns klar machen, daß wir, wenn wir unvorsichtig sind, genau wissen, welcher Gefahr wir uns aussetzen.

– Und Sie, Garry, was halten Sie davon? fragte Shandon den Matrosen.

– Ich, Commandant, würde grad' aus vorwärts gehen; ich schließe mich des Herrn Clawbonny's Meinung an; übrigens thun Sie, was Ihnen beliebt; commandiren Sie, wir werden gehorchen.

– Nicht Alle reden, wie Sie, Garry, fuhr Shandon fort; es haben [81] nicht Alle Lust zu gehorchen! Und wenn sie sich weigern, meine Befehle auszuführen?

– Ich habe Ihnen meine Ansicht geäußert, Commandant, erwiderte Garry mit kalter Miene, weil Sie mich um dieselbe befragt haben; aber Sie sind nicht daran gebunden.«

Shandon gab keine Antwort; er prüfte achtsam den Horizont, und begab sich wieder mit seinen beiden Gefährten auf das Eisfeld.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Der Teufels-Daumen.

Während der Abwesenheit des Commandanten hatten die Bootsleute verschiedene Arbeiten ausgeführt, so daß es nun dem Schiffe möglich war, sich dem Druck der Eisfelder zu entziehen. Pen, Clifton, Bolton, Gripper, Simpson nahmen diese mühevolle Verrichtung vor; der Heizer und die beiden Maschinisten mußten sogar dabei helfen, denn vom Augenblick an, wo ihr Dienst bei der Maschine nicht erforderlich war, wurden sie wieder Matrosen, und konnten als solche zu allen Dienstleistungen an Bord zugezogen werden.

Aber das geschah nicht ohne große Aufregung.

»Ich erkläre, daß ich jetzt satt daran habe, sagte Pen, und wenn binnen drei Tagen der Eisbruch nicht eintritt, schwöre ich zu Gott, daß ich die Hände in den Schoß lege!

– Die Hände in den Schoß legen, erwiderte Gripper; da wäre es doch besser, man brauchte sie, um rückwärts zu kommen! Meinst Du, wir hätten Lust, hier bis zum künftigen Frühjahr zu überwintern?

– Wahrhaftig, das wäre ein traurig Winterquartier, versetzte Plover, denn das Schiff ist nach allen Seiten hin schutzlos!

– Und wer weiß, sagte Brunton, ob selbst im nächsten Frühjahr das Meer freier sein wird, als heute?

– Es handelt sich gar nicht um nächstes Frühjahr, entgegnete Pen; wir [82] haben heute Donnerstag; wenn bis Sonntag früh die Bahn nicht frei ist, fahren wir rückwärts nach dem Süden.

– Bravo! rief Clifton.

– Seid Ihr damit einverstanden? fragte Pen.

– Einverstanden! erwiderten die Kameraden.

– Ganz recht, fuhr Waren fort, denn wenn wir dergestalt arbeiten und das Schiff mit den Armen fortziehen müssen, so bin ich der Meinung, daß wir rückwärts ziehen.

– Bis Sonntag wird sich das zeigen, sagte Wolsten.

– Auf Befehl, fuhr Brunton fort, sind meine Oefen bald geheizt.

– Ei! versetzte Clifton, die werden wir schon selbst heizen.

– Wenn von den Officieren einer, erwiderte Pen, sich das Vergnügen machen will, hier Winterquartier zu nehmen, steht es ihm frei; man wird ihn ruhig hier lassen; Niemand wird ihn hindern, sich eine Schneehütte zu bauen, um als echter Eskimo darin zu leben.

– Nichts von dem, Pen, entgegnete Brunton; wir dürfen Keinen im Stich lassen; versteht Ihr wohl, Ihr andern? Ich glaube übrigens, daß der Commandant nicht schwer zu bestimmen sein wird; er sieht mir schon sehr beunruhigt aus, und wenn man ihm die Sache glimpflich beibringt ...

– Wohl zu verstehen, fuhr Plover fort; Richard Shandon ist ein harter und mitunter starrköpfiger Mann; man müßte ihm geschickt beikommen.

– Wenn ich denke, versetzte Bolton mit sehnsüchtigem Seufzen, daß wir binnen einem Monat wieder in Liverpool sein können! Ueber die Linie der Eisblöcke im Süden werden wir rasch hinaus sein! Zu Anfang Juni wird die Davis-Straße frei zu passiren sein, und dann brauchen wir uns nur in's Atlantische Meer treiben zu lassen!

– Dazu kommt noch, erwiderte der kluge Clifton, daß wir, wenn wir unter der Verantwortlichkeit des Commandanten zurückkehren, unsere Antheile und Vergütungen ungeschmälert behalten; kämen wir aber allein heim, so wären wir derselben nicht ganz sicher.

– Gut ausgeklügelt, sagte Plover; dieser verteufelte Clifton spricht wie ein Finanzmann. Nehmen wir uns in Acht, daß wir nichts mit den Herren von der Admiralität auseinanderzusetzen haben; das ist sicherer, und lassen wir Niemand im Stich.

[83] – Aber wenn die Officiere sich weigern, sich uns anzuschließen?« versetzte Pen, der seine Kameraden zum Aeußersten drängen wollte.

Eine so direct gestellte Frage setzte etwas in Verlegenheit.

»Das werden wir sehen, wenn die rechte Zeit dafür sein wird, versetzte Bolton, übrigens wird es hinreichen, Shandon für unsere Sache zu gewinnen, und ich denke, das wird nicht schwer sein.

– Doch giebt es Einen, den möcht' ich hier lassen, sagte Pen fluchend, und sollte er mir auch einen Arm fressen.

– Ah! Den Hund, sagte Plover.

– Ja, den Hund, und ich werde bald mit ihm fertig sein!

– Um so lieber, versetzte Clifton mit Beziehung auf sein Lieblingsthema, als der Hund an all' unserm Unglück Schuld ist.

– Er hat uns behext, sagte Plover.

– Er hat uns in das Eis hinein geschleppt, erwiderte Gripper.

– Er hat uns, entgegnete Wolsten, mehr Eisblöcke in den Weg geschafft, als man je zu dieser Zeit gesehen hat?

– Er hat mir die Augen krank gemacht, sagte Brunton.

– Er hat uns den Gin und Branntwein entzogen, versetzte Pen.

– Er ist an Allem Schuld, riefen sie alle zusammen.

– Und dazu noch, erwiderte Clifton, ist er der Kapitän.

– Ja wohl, Unglücks-Kapitän, schrie Pen, dessen unsinniger Zorn sich durch die eigenen Worte steigerte, Du hast gerne hierher gewollt, sollst auch hier bleiben!

– Aber wie fangen wir ihn? sagte Plover.

– Ei! Nun ist gute Gelegenheit dafür, erwiderte Clifton, der Commandant ist nicht an Bord, der Lieutenant schläft in seiner Cabine; der Nebel ist dicht genug, daß Johnson uns nicht wahrnehmen kann ...

– Aber der Hund? schrie Pen.

– Der schläft oben neben der Kohlenkammer, erwiderte Clifton, und wenn man Lust hat ...

– Ich übernehme es, versetzte Pen wüthend.

– Nimm Dich in Acht, Pen; er hat Zähne, die können Eisenstangen zerbeißen!

– Rührt er sich, so steche ich ihm in den Bauch«, entgegnete Pen, und zückte sein Messer.

[84] Und er stürzte in das Zwischendeck, Waren ihm nach, um ihm dabei zu helfen.

Bald kamen sie miteinander zurück und schleppten das Thier in den Armen, die Schnauze und Pfoten geknebelt; sie hatten ihn im Schlaf überrascht, und der unglückliche Hund konnte ihnen nicht mehr entrinnen.

»Hurrah für Pen! rief Plover.

– Und jetzt, was willst Du mit ihm anfangen? fragte Clifton.

– In's Wasser werfen, und wenn er je wieder kommt ...« versetzte Pen mit wüstem Lachen der Befriedigung.



Zweihundert Schritte vom Schiff entfernt war ein Robbenloch, eine kreisrunde Oeffnung, wie sie diese Thiere mit ihren Zähnen machen und stets von innen aus nagend offen halten; durch dieselbe ist der Robbe im Stande, an der Oberfläche Luft zu schöpfen; aber er muß sorgfältig verhindern, daß dieselbe nicht oben wieder zufriert, denn die Beschaffenheit seiner Kinnlade macht ihm unmöglich, das Loch von außen nach innen zu erneuern, und im Moment der Gefahr könnte er seinen Feinden nicht entrinnen.

Pen und Waren gingen mit dem Hund zu dieser Oeffnung und warfen ihn, so arg er zappelte und dagegen wehrte, unbarmherzig in's Meer; darauf wälzten sie einen gewaltigen Eisblock über das Loch, um dem Thier den Ausgang zu schließen, daß es nimmer wieder komme.

»Gute Reise, Kapitän!« rief der brutale Matrose.

Gleich darauf kehrten Pen und Waren wieder an Bord zurück. Johnson [85] hatte gar nichts davon gemerkt; der Nebel um das Schiff herum ward dichter, und es begann wieder heftig zu schneien.

Eine Stunde nachher erschienen auch Richard Shandon, der Doctor und Garry wieder auf dem Forward.



Shandon hatte in nordöstlicher Richtung ein Fahrwasser bemerkt, welches er zu benutzen beschloß. Demnach ertheilte er seine Befehle; die Mannschaft gehorchte mit einer gewissen Rührigkeit; sie wollte Shandon die Unmöglichkeit weiter zu dringen begreiflich machen, und zudem hielt sie sich noch drei Tage zum Gehorsam verbunden.

Während eines Theiles der Nacht und des folgenden Tages wurde die Säge-Arbeit und das Ziehen des Schiffes eifrig fortgesetzt; der Forward kam ungefähr zwei Meilen weiter nordwärts. Am 18. befand er sich in der Nähe des Landes, fünf bis sechs Kabellängen von einem sonderbar gestalteten Pic, dem man seiner auffallenden Form wegen den Namen »Teufels-Daumen« gegeben hatte.

An derselben Stelle waren im Jahre 1851 der »Prinz Albert«, und 1853 Kane mit dem »Advance« mehrere Wochen lang ununterbrochen stecken geblieben.

Die seltsame Gestalt des Teufels-Daumens, die öde und verlassene Umgebung, ringsum ungeheure Eisberge, manche über dreihundert Fuß hoch, das Krachen der Eisberge, welches unheimlicher Weise im Echo widerhallte, Alles machte die Lage des Forward erschrecklich traurig. Shandon begriff, daß er [86] ihn von da wegbringen und weiter führen müsse. Vierundzwanzig Stunden nachher, seiner Schätzung nach, konnte er um etwa zwei Meilen von dieser unheimlichen Küste wegkommen. Aber das war nicht Alles. Shandon fühlte sich von Furcht befangen, und die falsche Stellung, worin er sich befand, lähmte seine Thatkraft; um seinen Instructionen nach vorwärts zu dringen, hatte er sein Schiff in eine außerordentlich gefährliche Lage versetzt; das Schiffsziehen brachte die Leute gänzlich herab; man brauchte über drei Stunden, um einen zwanzig Fuß langen Canal in ein Eis zu hauen, das vier bis fünf Fuß dick war; der Gesundheitszustand der Mannschaft drohte schon schlimmer zu werden. Shandon staunte über das Schweigen der Leute und ihre ungewöhnliche Hingebung; aber er besorgte, es möchte dies der Vorbote eines nahen Sturmes sein. Man kann sich demnach die peinliche Ueberraschung, die Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit vorstellen, welche ihn befiel, als er wahrnahm, daß in Folge einer unmerklichen Bewegung des Eisfeldes der Forward während der Nacht des 18. zum 19. wieder Alles verlor, was er durch so viele Strapazen gewonnen hatte, am Samstag Morgen befand er sich wieder im Angesicht des Teufels-Daumens, der stets drohte, und in einer noch bedenklicheren Lage; die Eisberge wurden häufiger und fuhren Phantomen gleich im Nebel vorüber.

Shandon war vollständig entmuthigt; offen gesagt, der Schrecken drang in das Gemüth dieses unverzagten Mannes und in die Herzen seiner Mannschaft. Er hatte vom Verschwinden des Hundes reden gehört, wagte aber nicht die Schuldigen zu strafen; er mußte fürchten einen Aufruhr hervorzurufen.

Das Wetter war diesen Tag über erschrecklich; dicht aufgewirbelter Schnee umhüllte die Brigg mit einem undurchdringlichen Schleier; bisweilen, unter Einwirkung des Sturmwetters, theilte sich der Nebel, und das Auge sah mit Schrecken auf der Landseite den Teufels-Daumen gespensterartig emporragen.

Der Forward ankerte sich fest an einen ungeheuren Eisblock, weiter konnte er nichts thun, nichts versuchen; die Dunkelheit nahm zu, so daß der Mann am Steuer den Wachposten am Vordertheil nicht sehen konnte.

Shandon zog sich, unablässig beängstigt, in seine Cabine zurück; der Doctor ordnete seine Reisenotizen; von der Mannschaft war die Hälfte auf dem Verdeck geblieben, die anderen befanden sich im gemeinschaftlichen [87] In einem Moment, wo der Sturm ärger tobte, schien der Teufelsdaumen mitten im zerrissenen Nebel über die Maßen hoch zu ragen.

»Großer Gott! schrie Simpson, und wich voll Schrecken zurück.

– Was giebt es«, sagte Foker.

Nun rief es auf allen Seiten:

»Er wird uns zerschmettern!

– Wir sind verloren!

– Herr Wall! Herr Wall!

– Es ist Alles aus!



– Commandant! Commandant!«

So schrieen die Leute von der Wache zusammen.

Wall stürzte auf das Hintercastell; Shandon in Begleitung des Doctors eilte auf das Verdeck und schaute.

Mitten durch die Spalten des Nebels schien der Teufels-Daumen plötzlich näher bei der Brigg; er schien phantastisch vergrößert; an seiner Spitze erhob sich ein zweiter Kegel, umgekehrt und auf seiner Spitze sich drehend; – er drohte mit seiner ungeheuern Masse das Schiff zu zertrümmern; er wankte, [88] drohte zu fallen: ein Anblick zum Entsetzen. Jeder wich unwillkürlich zurück, einige Matrosen verließen das Schiff und eilten auf das Eis.

»Keiner rühre sich vom Platz! rief der Commandant in strengem Ton. Jeder an seinen Posten!


Eine Lustspiegelung. (S. 90.)

– Meine Freunde, haben Sie doch keine Angst, sagte der Doctor; es ist keine Gefahr! Sehen Sie, Commandant, sehen Sie, Herr Wall, es ist eine Luftspiegelung, nichts weiter!

– Sie haben Recht, Herr Clawbonny, versetzte Meister Johnson; die Leute haben sich aus Unwissenheit durch ein Luftgebilde ängstigen lassen.«

[89] Auf die Worte des Doctors waren die meisten der Matrosen herbeigekommen, und ihre Furcht verwandelte sich in Bewunderung dieses merkwürdigen Phänomens, welches alsbald erlosch.

»Sie nennen das Luftspiegelung! sagte Clifton; nun, der Teufel steckt doch etwas darinnen, Ihr könnt mir's glauben.

– Ganz gewiß«, erwiderte ihm Gripper.

Aber als sich der Nebel ein wenig zerklüftete, erblickte der Commandant eine große und freie Fahrstraße, die er nicht vermuthet hatte. Er beschloß unverzüglich diesen günstigen Fall zu benutzen; die Leute wurden auf beiden Seiten des Fahrwassers aufgestellt, es wurden ihnen starke Taue gereicht, und sie begannen das Schiff in nördlicher Richtung zu ziehen.

Stunden lang wurde dieses Manoeuvre eifrig, obwohl schweigend, ausgeführt; Shandon hatte die Oefen heizen lassen, um den glücklicherweise entdeckten Canal zu benutzen.

»Es ist ein günstiger Zufall, sagte er zu Johnson, und wenn wir nur einige Meilen noch vorwärts kommen können, werden wir vielleicht am Ende unserer Mühsal sein! Herr Brunton, heizen Sie stärker, und sobald der Dampf hinreichend sein wird, lassen Sie mich es wissen. Wenn inzwischen unsere Leute wieder mehr Muth gewinnen, ist das ein eben so großer Gewinn. Sie eilen sich, vom Teufels-Daumen wegzukommen! Nun, so benutzen wir diese gute Stimmung.«

Auf einmal wurde der Zug der Brigg plötzlich gehemmt.

»Was giebt es? fragte Shandon. Wall, sind unsere Schlepptaue zerrissen?

– Nein, Commandant, erwiderte Wall, indem er sich über das Geländer neigte. Ei! Da kommen unsere Leute zurück, klettern auf das Schiff; sie scheinen von einem sonderbaren Schrecken befallen!

– Was giebt es denn? rief Shandon, auf das Vordertheil stürzend.

– An Bord! An Bord!« schrieen die Matrosen in ärgstem Schrecken.

Shandon blickte nach Norden hin, und Schaudern befiel ihn wider Willen.

Ein seltsames Thier, mit sprühender Zunge und riesenhaftem Schlund, sprang mit gräßlichen Bewegungen eine Kabellänge vom Schiff entfernt; es schien über zwanzig Fuß hoch zu sein, mit struppig starren den Haaren; es verfolgte die Matrosen und stürzte auf sie zu, während es mit furchtbarem, zehn Fuß langem Schwanz den Schnee fegte und in dichten Wirbeln aufregte.

[90] Beim Erblicken eines solchen Ungeheuers wurden auch die Unverzagtesten von eisigem Schrecken befallen.

»Es ist ein Bär! sagte der Eine.

– Es ist der Währwolf!

– Der Löwe in der Apokalypse!«

Shandon holte eiligst aus seiner Cabine einen stets geladenen Revolver; der Doctor griff rasch zu seiner Waffe, um auf das Thier zu feuern, dessen Größe an die Vierfüßler der Urzeit erinnerte.

Es kam mit ungeheuern Sprüngen näher; Shandon und der Doctor feuerten zugleich, und es zeigte sich plötzlich durch die Erschütterung der Luftschichten eine unerwartete Wirkung.

Als der Doctor genau hinsah, konnte er nicht umhin laut aufzulachen.

»Die Strahlenbrechung! sagte er.

– Die Strahlenbrechung!« rief Shandon.

Aber dazwischen fürchterliche Angstrufe aus der Mannschaft:

»Der Hund! rief Clifton.

– Der Kapitän Hund! wiederholten seine Kameraden.

– Er ist es! rief Pen, immer noch der Hund!«

Es war wirklich der Hund, dem es gelungen war, seine Bande zu zerreißen und durch eine andere Oeffnung wieder auf die Oberfläche des Eisfeldes zu gelangen. In diesem Augenblick war durch die Refraction, – eine unter diesen Breitegraden gewöhnliche Erscheinung – seine Gestalt in furchtbaren Verhältnissen angewachsen. Diese Täuschung war zwar durch die Lufterschütterung beseitigt, aber es blieb doch eine schlimme Wirkung auf die Gemüther der Matrosen, welche wenig fähig waren, die Erklärung der Thatsache aus rein physischen Gründen gelten zu lassen. Das Abenteuer des Teufels-Daumens, das Wiedererscheinen des Hundes unter so phantastischen Umständen, machten sie vollends in ihrer Haltung irre, und lautes Murren ließ sich auf allen Seiten hören.

[91]
12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Der Kapitän Hatteras.

Der Forward drang mit Dampfeskraft zwischen den Eisfeldern und Eisbergen rasch vorwärts. Johnson hielt selbst das Steuer. Shandon untersuchte mit seiner Schneebrille den Horizont; aber seine Freude dauerte nicht lange, denn er erkannte bald, daß man am Ende des Fahrpasses sich rings von Bergen umgeben fand.

Doch zog er den Schwierigkeiten einer Umkehr das Mißliche einer Fortsetzung der Fahrt vor.

Der Hund lief auf der Eisfläche hinter der Brigg her, aber in ziemlicher Entfernung. Da hörte man, wenn er zurückblieb, ein eigenthümliches Pfeifen, worauf er sogleich zurückkehrte.

Als sich dies Pfeifen zum erstenmal hören ließ, sahen sich die Matrosen um; sie waren allein auf dem Verdeck und beriethen zusammen; kein Fremder, kein Unbekannter; und doch vernahm man das Pfeifen noch einigemal.

Clifton ward zuerst unruhig.

»Hören Sie? sagte er, und sehen Sie, wie das Thier springt, wenn es pfeifen hört.

– Das ist ganz unglaublich, erwiderte Gripper.

– Jetzt sind wir fertig! rief Pen; weiter gehe ich nicht.

– Pen hat Recht, versetzte Brunton; das heißt Gott versuchen.

– Den Teufel versuchen, erwiderte Clifton. Lieber geb' ich meinen Theil an der Prämie hin, als daß ich noch einen Schritt weiter gehe.

– Wir kommen nicht wieder zurück«, sagte Bolton niedergeschlagen.

Die Mannschaft war im höchsten Grade entmuthigt.

»Nicht einen Schritt weiter! rief Wolsten; seid Ihr einverstanden?

– Ja! Ja! erwiderten die Matrosen.

– Nun denn, sagte Bolton, so gehen wir zum Commandanten; ich übernehme es mit ihm zu reden.«

Die Matrosen gingen in dichten Haufen auf's Hinterdeck zu.

Der Forward kam eben an eine große kreisrunde Stelle von etwa achthundert Fuß Durchmesser; sie war vollständig rings versperrt, mit Ausnahme des einzigen Auswegs, welchen man gekommen war.

[92] Shandon begriff, daß er sich selbst eingesperrt hatte. Aber was nun anfangen? Wie zurückkehren? Er fühlte seine ganze Verantwortlichkeit; es ballte sich ihm die Faust.

Der Doctor schaute mit gekreuzten Armen, ohne ein Wort vorzubringen. Er sah die Eiswände an, deren Höhe durchschnittlich dreihundert Fuß betragen mochte. Dichter Nebel lagerte über diesem Abgrund.

In diesem Augenblick redete Bolton den Commandanten an.

»Commandant, sprach er mit bewegter Stimme, wir können nicht weiter!

– Das sagt Ihr? erwiderte Shandon, dem der Zorn über die Verletzung seiner Autorität in's Angesicht stieg.

– Wir erklären, Commandant, fuhr Bolton fort, daß wir für den unsichtbaren Kapitän genug geleistet haben, und wir sind entschlossen, nicht weiter vorwärts zu gehen.



– Sie sind entschlossen? ... rief Shandon. So sprechen Sie, Bolton! Hüten Sie sich!

– Ihre Drohung macht nichts aus, erwiderte Pen brutal; wir gehen nicht weiter!«

Shandon ging auf die empörten Matrosen zu, als der Rüstmeister leise zu ihm sagte:

»Commandant, wenn wir wieder von hier heraus wollen, haben wir keinen Augenblick zu verlieren. Da schwimmt ein Eisberg zu dem Fahrpaß hin, der kann uns ganz absperren.«

Shandon untersuchte nochmals die Lage.

[93] »Sie werden mir später Ihr Verhalten verantworten, sagte er zu den Aufrührern. Inzwischen, das Schiff gewendet!«

Die Matrosen eilten an ihre Posten. Der Forward wendete rasch, die Oefen wurden stärker geheizt; es galt dem schwimmenden Berg zuvor zu kommen. Es war eine Wettfahrt zwischen der Brigg und dem Eisberg; die erstere eilte südlich, um hinauszukommen, der letztere trieb nordwärts, den Weg zu versperren.

»Heizen, Heizen! rief Shandon, mit vollem Dampf! Brunton, verstehen Sie?«

Der Forward glitt rasch, wie ein Vogel zwischen den zerstreuten Eisblöcken durch, welche sein Vordertheil rasch durchschnitt; die Schraube wirkte, daß der Rumpf des Schiffes zitterte, und das Manometer zeigte eine äußerste Spannung des Dampfes, der zum Betäuben laut pfiff.

»Die Klappen beschwert!« rief Shandon.

Der Maschinist gehorchte, auf die Gefahr hin, das Schiff in die Luft zu sprengen.

Doch waren diese verzweifelten Anstrengungen vergebens; der Eisberg, von einer unterseeischen Strömung getrieben, kam zuvor; die Brigg war noch drei Kabellängen entfernt, als der Eisberg wie ein Keil in den freien Paß eindrang und jeden Ausweg sperrte.

»Jetzt sind wir verloren! rief Shandon, dem das unvorsichtige Wort entschlüpfte.

– Verloren! rief die Mannschaft.

– Rette sich, wer kann! sagten die Einen:

– Die Boote in's Meer! riefen Andere.

– In die Vorrathskammer! schrien Pen und Andere seines Gelichters! sollen wir ersaufen, so wollen wir's im Gin!«

Alle Zügel rissen, die Unordnung stieg auf das höchste. Shandon fühlte sich übermeistert; er wollte commandiren, stammelte, stockte; sein Gedanke konnte nicht Worte finden. Der Doctor ging voll Unruhe auf und ab. Johnson kreuzte mit stoischem Schweigen die Arme.

Da ließ sich plötzlich eine starke, energische, gebieterische Stimme vernehmen, mit dem Ruf:

»Jeder an seinen Posten! Rasch gewendet!«

[94] Johnson gehorchte zitternd, ohne sich zu besinnen ließ er eiligst das Rad des Steuers drehen.

Es war hohe Zeit; die Brigg war im Begriff, mit aller Kraft wider die Wände prallend, zu scheitern.

Aber, während Johnson instinctmäßig Folge leistete, eilten Shandon, Clawbonny, die gesammte Mannschaft bis auf den Heizer Waren und den Neger Strong auf's Verdeck, und alle sahen aus der Cabine, dessen Schlüssel allein im Besitz des Kapitäns war, einen Mann heraustreten ...

Dieser Mann war der Matrose Garry.

»Garry! rief Shandon erbleichend – Sie ... was haben Sie für Recht hier zu commandiren? ...



– Duk!« rief Garry, und wiederholte das Pfeifen, welches der Mannschaft so sehr aufgefallen war.

Als der Hund seinen wahren Namen vernahm, sprang er mit einem Satz auf das Hinterdeck und legte sich ruhig zu den Füßen seines Herrn.

Die Mannschaft ließ keinen Laut vernehmen.


Der Kapitän enthüllt sich. (S. 96.)

Dieser Schlüssel, welchen allein der Kapitän des Forward in Händen haben konnte, dieser Hund, welchen er geschickt und der eben so zu sagen seine Persönlichkeit beurkundet hatte, dieser Befehlshaberton, den man unmöglich verkennen konnte, – alles dies machte einen mächtigen Eindruck auf die Matrosen, und genügte, Garry's Autorität festzustellen.

Uebrigens war Garry nicht mehr kenntlich; er hatte den breiten Backenbart, [95] welcher sein Gesicht umrahmte, abgelegt, und um so mehr traten seine leidenschaftslosen Züge voll Thatkraft und Befehlshaberwürde an's Licht; er trat auf in seiner Standeskleidung mit dem Abzeichen des Commandanten.

So wurde denn auch die Mannschaft des Forward wider Willen fortgerissen und rief einstimmig:

»Hurrah! Hurrah! Hurrah für den Kapitän!

– Shandon, sprach dieser zu seinem Stellvertreter, lassen Sie die Mannschaft sich aufstellen, ich will Musterung halten.«

[96] Shandon gehorchte und gab mit bewegter Stimme seine Befehle. Der Kapitän trat vor seine Officiere und Matrosen und sprach zu Jedem, was seinem bisherigen Verhalten gemäß passend war.

Hierauf stieg er auf die Campanie und sprach in ruhigem Ton die folgenden Worte:

»Officiere und Matrosen, ich bin Engländer, wie Sie auch, und mein Wahlspruch ist der des Admirals Nelson:

England erwartet von Jedem, daß er seine Pflicht erfülle.«

»Als Engländer will ich nicht, wollen wir nicht, daß kühnere Männer dahin dringen, wohin wir nicht vermocht hätten. Als Engländer will ich nicht, wollen wir nicht geschehen lassen, daß Andere den Ruhm davon tragen, weiter nach dem Norden zu dringen. Wenn jemals eines Mannes Fuß das Polarland betreten darf, so muß das der Fuß eines Engländers sein! Hier ist die Flagge Englands. Ich habe dies Schiff ausgerüstet, ich habe mein Vermögen an das Unternehmen gesetzt, und will mein Leben und das Eurige dafür einsetzen, aber diese Flagge soll am Nordpol wehen. Lassen Sie es an Zuversicht nicht fehlen. Tausend Pfund Sterling sind Euch für jeden Grad zugesagt, welchen wir von heute an weiter nördlich vordringen. Jetzt sind wir unter'm zweiundsiebenzigsten, und es sind neunzig Grad. Nun rechnet. Mein Name wird Ihnen übrigens eine Bürgschaft sein; Energie und Patriotismus sind ihm eigen. Ich bin der Kapitän Hatteras!

– Der Kapitän Hatteras!« rief Shandon.

Dieser Name war unter den englischen Seeleuten wohl bekannt. Die Mannschaft vernahm ihn mit stillem Respect.

»Jetzt, fuhr Hatteras fort, soll man die Brigg an die Eisblöcke festankern, die Feuer ausgehen lassen, und Jeder gehe an sein gewöhntes Tagewerk. Shandon, ich habe mit Ihnen über die Schiffsangelegenheiten zu reden. Kommen Sie nebst dem Doctor, Wall und dem Rüstmeister zu mir in meine Cabine. Johnson, lassen Sie die Leute auseinander gehen.«

Hatteras, kaltblütig und kühl, stieg ruhig vom Hinterdeck herab, während Shandon die Brigg festankern ließ.

Wer war denn dieser Hatteras, und weshalb machte sein Name einen so tiefen Eindruck auf die Mannschaft?

John Hatteras, der einzige Sohn eines Brauers zu London, der im Jahre 1852 im Besitze von sechs Millionen starb, widmete sich noch in jungen [97] Jahren, trotz dem glänzenden Vermögen, das er erben sollte, dem Seewesen. Nicht der Handelsberuf führte ihn dazu, sondern sein Herz war vom Trieb nach geographischen Entdeckungen durchdrungen; er sann unablässig darauf, seinen Fuß dahin zu setzen, wohin noch kein Mensch gedrungen war.

Bereits zwanzig Jahre alt, besaß er die kräftige Leibesbeschaffenheit magerer und sanguinischer Menschen: energische Gesichtszüge mit geometrisch bestimmten Linien, hohe Stirn senkrecht auf der Ebene schöner, aber kalter Augen, seine Lippen eines wortkargen Mundes, mittlere Statur, fester Gliederbau mit eisernen Muskeln – gaben das Gesammtbild eines Mannes von erprobtem Charakter. Sein Aussehen verrieth Kühnheit, sein Ton kühle Leidenschaft; unbeugsam, nie zurückzuweichen fähig, war er bereit, das Leben Anderer mit gleicher Ueberzeugung, wie das seinige auf das Spiel zu setzen. Es galt daher zweimal zu überlegen, ehe man sich zur Theilnahme an seinen Unternehmungen entschloß.

Den Stolz des Engländers besaß er im höchsten Grade. Als in seiner Gegenwart ein Franzose mit vermeintlicher Höflichkeit und selbst Liebenswürdigkeit sagte:

»Wäre ich nicht Franzose, so möcht' ich Engländer sein«, so erwiderte Hatteras:

»Wäre ich nicht Engländer, so möcht' ich Engländer sein.«

Ueber Alles ging ihm der Wunsch, den Ruhm geographischer Entdeckungen seinen Landsleuten allein zu wahren; aber zu seinem großen Mißfallen hatten diese im Laufe der früheren Jahrhunderte in Hinsicht auf Entdeckungen wenig geleistet.

Die Entdeckung Amerikas verdankte man dem Genuesen Christoph Columbus, Indiens dem Portugiesen Vasco de Gama, Chinas dem Portugiesen Fernand d'Andrada, der Feuerlande dem Portugiesen Magelhaen, Canadas dem Franzosen Jacques Cartier; die Sunda-Inseln, Labrador, Brasilien, das Cap der guten Hoffnung, die Azoren, Madeira, New-Foundland, Guinea, Congo, Mexiko, Cap Blanco, Grönland, Island, die Südsee, Californien, Japan, Cambodja, Peru, Kamtschatka, die Philippinen, Spitzbergen, das Cap Horn, die Behrings-Straße, Tasmanien, Neu-Seeland, Neu-Britannien, Neu-Holland, Louisiana, die Insel Jean-Mayen – wurden von Isländern, Skandinaviern, Russen, Portugiesen, Dänen, Spaniern, Genuesen, Holländern aufgefunden; aber kein einziger Engländer befand sich unter ihnen; für Hatteras [98] zum Verzweifeln, daß seine Landsleute nicht dieser glorreichen Schaar von Seefahrern angehörten, welchen man die großen Entdeckungen des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts verdankte:

Die neueren Zeiten konnten Hatteras ein wenig trösten; die Engländer fanden doch eine Entschädigung an ihrem Sturt, Doual Stuart, Burke, Wills, King, Gray in Australien; an Palliser in Amerika, an Cyrill Graham, Wadington, Cummingham in Indien, an Burton, Speeke, Grant, Livingstone in Afrika.

Aber dies reichte nicht hin; nach Hatteras' Ansicht waren die Leistungen dieser kühnen Reisenden vielmehr Vervollständigungen als Entdeckungen; er strebte nach Besserem.

Er hatte bemerkt, daß, obwohl die Engländer nicht unter den ältern Entdeckern die Mehrzahl bildeten, und daß man bis auf Cook zurückgehen mußte, um Neu-Caledonien (1774) und die Sandwich-Inseln (1778) zu bekommen, es doch eine entlegene Gegend des Erdballs gab, wo sie durch vereinte Bemühungen etwas geleistet hatten, nämlich die Eismeere und Nord-Länder Amerikas.

Die Entdeckungen der Polarlande übersieht man an dieser Zusammenstellung:


entdeckt vonim Jahre
Nowaja-SemliaWilloughby1553.
Die Insel WaigatzBarrough1556.
Die Westküste GrönlandsDavis1585.
Die Davis-StraßeDavis1587.
SpitzbergenWilloughby1596.
Die Hudson-BaiHudson1610.
Die Baffins-BaiBaffin1616.

Während der letzteren Jahre sind Hearne, Mackenzie, John Roß, Parry, Franklin, Richardson, Beechey, James Roß, Back, Dease, Sompson, Rae, Inglefield, Belcher, Austin, Kellet, Moore, Mac Clure, Kennedy, Mac Clintock unablässig mit der Durchforschung dieser unbekannten Gegenden beschäftigt gewesen.

Man hatte die Nordküsten Amerikas genau abgesteckt, die nordwestliche Durchfahrt fast entdeckt, aber das genügte nicht; mehr und Besseres zu leisten hatte John Hatteras bereits zweimal mit auf eigene Kosten ausgerüsteten Schiffen versucht; er wollte zum Pol selbst vordringen, und so der Reihe [99] der englischen Entdeckungen durch die glänzendste Unternehmung die Krone aufsetzen.

Nach dem Pol zu dringen, war für ihn Lebenszweck.

Nachdem Hatteras sehr schöne Reisen in die Südmeere gemacht, versuchte er zum erstenmal im Jahre 1846 durch das Bassins-Meer weiter nördlich zu gelangen, aber er kam mit der Corvette Halifax nicht über den vierundsiebenzigsten Breitegrad hinaus; seine Mannschaft hatte schrecklich zu leiden, und John Hatteras trieb seine abenteuerliche Verwegenheit so weit, daß seitdem die Seeleute wenig Lust hatten, nochmals solche Unternehmungen unter einem solchen Führer vorzunehmen.

Doch gelang es ihm im Jahre 1850 auf der Goelette Farewell zwanzig entschlossene Männer durch hohe Löhnung zu gewinnen. Bei dieser Gelegenheit hatte der Doctor Clawbonny bei Hatteras, den er nicht kannte, nachgesucht, die Reise mitzumachen; aber die Stelle des Arztes war bereits besetzt, zum Glück für Clawbonny.

Der Farewell schlug den Weg ein, welchen im Jahre 1817 der Neptun aus Aberdeen genommen hatte, und gelangte nördlich von Spitzbergen bis zum sechsundsiebenzigsten Breitegrad. Dort mußte er überwintern; aber die Leiden waren so arg, und die Kälte so grimmig, daß nicht ein einziger von der Mannschaft nach England zurückkam, nur Hatteras ausgenommen, der nach einem Weg von mehr als zweihundert Meilen über die Eisfelder, von einem dänischen Wallfischfahrer heim gebracht wurde.

Die Rückkehr dieses einzigen Mannes machte ungeheures Aufsehen. Wer sollte es von nun an wagen, sich an Hatteras bei seinen tollkühnen Unternehmungen anzuschließen? Doch gab er die Hoffnung dafür nicht auf. Sein Vater, der Brauer, starb und hinterließ ihm ein ungeheures Vermögen.

Inzwischen begab sich ein geographisches Ereigniß, das John Hatteras auf's Peinlichste traf.

Der Kaufmann Grinnel hatte eine Brigg, l'Advance, mit siebenzehn Mann unter dem Befehl des Dr. Kane ausgerüstet und zur Aufsuchung des Sir John Franklin abgeschickt, und diese drang im Jahre 1853 durch das Bassins-Meer und den Smith-Sund bis zum zweiundachtzigsten Grad nördlicher Breite näher zum Pol als irgend einer seiner Vorgänger.

Das Schiff war aber ein amerikanisches, Grinnel und Kane Amerikaner!

Natürlich ging im Herzen des Hatteras die Verachtung des Engländers [100] gegen den Yankee in Haß über; er faßte den Entschluß, um jeden Preis seinen kühnen Nebenbuhler zu übertreffen, bis an den Pol selbst zu dringen.

Er lebte seit zwei Jahren zu Liverpool incognito, indem er für einen Matrosen galt! Er erkannte in Richard Shandon den Mann, welchen er bedurfte, und machte ihm, sowie dem Doctor Clawbonny in anonymen Briefen Anträge. Der Forward wurde erbaut, ausgerüstet, bemannt. Hatteras hütete sich wohl, seinen Namen bekannt zu geben, sonst hätte er keinen einzigen Begleiter gefunden. Daher entschloß er sich, das Commando der Brigg nur unter gebieterischen Umständen und wenn seine Mannschaft so weit sich eingelassen, um nicht mehr zurückzukommen, selbst zu übernehmen. Er hatte, wie gesehen, den Rückhalt, seinen Leuten solche Geldanerbietungen zu machen, daß nicht ein einziger sich weigern würde, ihn bis an's Ende der Welt zu begleiten.

Und das Ziel, wohin er strebte, war ja auch das Ende der Welt.

Nun waren kritische Umstände eingetreten, und Hatteras gab sich unverzüglich zu erkennen.

Sein Hund, der treue Duk, der Gefährte seiner Fahrten, war der Erste, welcher ihn erkannte, und zum Glück für die Muthigen, zum Unglück für die Verzagten, wurde es gehörig festgestellt, daß John Hatteras der Kapitän des Forward war.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Des Kapitän Hatteras Pläne.

Die Erscheinung dieses kühnen Mannes machte auf die Mannschaft einen verschiedenen Eindruck; die Einen schlossen sich enge an ihn an, sei's aus Kühnheit oder Geldliebe; Andere ergaben sich drein, und behielten sich vor, später zu protestiren. Uebrigens schien es im Augenblick doch schwierig, einem solchen Manne Widerstand zu leisten. Also begab sich Jeder wieder an seinen Posten. Der 20. Mai war Sonntag, für die Mannschaft ein Ruhetag.

[101] Beim Kapitän fand eine Berathung der Officiere statt: Hatteras, Shandon, Wall, Johnson und der Doctor bildeten die Versammlung.

»Meine Herren, sagte der Kapitän in dem zugleich sanften und gebieterischen Ton, welcher ihm eigen war, mein Vorhaben, bis zum Pol zu dringen, ist Ihnen bekannt; ich wünschte Ihre Ansicht über diese Unternehmung zu hören. Was halten Sie davon, Shandon?

– Es kommt mir nicht zu, Kapitän, erwiderte Shandon kalt, darüber zu denken, sondern zu gehorchen.«

Hatteras wunderte sich nicht über die Antwort.

»Richard Shandon, versetzte er ebenso kalt, ich bitte, sich über unsere Aussichten auf Erfolg auszusprechen.



– Nun, Kapitän, erwiderte Shandon, die Thatsachen sprechen an meiner Statt; bis jetzt sind alle Versuche der Art gescheitert; ich wünsche, wir möchten besseren Erfolg haben.

– Wir werden ihn haben. Und Sie, mein Herr, was halten Sie davon?

– Ich meinestheils, sagte der Doctor, halte Ihren Plan für ausführbar, Kapitän; und da es klar am Tage liegt, daß die Seefahrer früher oder später einmal zum Nordpol gelangen werden, so sehe ich nicht ein, warum wir nicht so glücklich sein sollten.

– Und es sind Gründe vorhanden zu glauben, daß eben uns dies Glück zu Theil wird, erwiderte Hatteras, denn wir haben demnach unsere Maßregeln ergriffen und werden die Erfahrungen unserer Vorgänger benutzen.

[102] Und in dieser Hinsicht sage ich Ihnen, Shandon, meinen Dank für die Sorgfalt, womit Sie die Ausrüstung betrieben haben; es sind zwar unter der Mannschaft einige schlimme Gesellen, ich werde sie aber zur Vernunft zu bringen wissen, aber im Ganzen hab' ich Sie nur dafür zu beloben.«

Shandon machte eine kühle Verbeugung. Er war in eine falsche Stellung gekommen, da er an Bord des Forward das Commando zu führen meinte. Hatteras verstand ihn, und setzte ihm nicht weiter zu.

»Und Sie, meine Herren, sprach er darauf zu Wall und Johnson, ich hätte keine Officiere zur Mitwirkung finden können, die mehr, wie Sie, sich durch Muth und Erfahrung auszeichnen.

– Wahrhaftig! Kapitän, ich bin Ihnen mit Leib und Seele ergeben, erwiderte Johnson, und obwohl mir Ihre Unternehmung etwas kühn vorkommt, können Sie doch bis auf's Aeußerste auf mich bauen.

– Und auf mich ebenfalls, sagte James Wall.

– Ihren Werth, Herr Doctor, weiß ich zu schätzen.

– So, da wissen Sie mehr wie ich, erwiderte der Doctor lebhaft.

– Jetzt, meine Herren, fuhr Hatteras fort, sollen Sie erfahren, auf welche unbestreitbare Thatsachen sich meine Behauptung stützt, daß wir am Pol anlangen werden. Im Jahre 1817 kam der Neptun aus Aberdeen im Norden von Spitzbergen bis zum zweiundachtzigsten Grade. Im Jahre 1826 fuhr der berühmte Parry nach seiner dritten Reise in die Polar-Meere, ebenfalls vom Ende Spitzbergens aus mit Schlittenbarken bis hundertundfünfzig Meilen nordwärts. Im Jahre 1852 drang der Kapitän Inglefield, im Smith-Sund bis zu 78°35' Breite. Alle diese Schiffe waren englische und von Engländern commandirt.«

Nach einer Pause fuhr er fort.

»Hinzufügen muß ich, daß im Jahre 1854 der Amerikaner Kane, Commandant der Brigg Advance, noch höher hinauf kam, und sein Lieutenant Morton, durch die Eisfelder vordringend, die Flagge der Vereinigten Staaten noch über den zweiundachtzigsten Grad flattern ließ. Auf dies werd' ich nicht mehr zurückkommen. Das aber ist wohl zu merken, daß die Kapitäne des Neptun, der Entreprise, der Isabelle, des Advance übereinstimmend berichtet haben, daß von diesen hohen Breitegraden an ein ganz eisfreies Becken des Polar-Meeres existire.

– Eisfrei! rief Shandon unterbrechend. Unmöglich!

[103] – Merken Sie wohl, Shandon, fuhr Hatteras ruhig fort, daß ich Ihnen Thatsachen anführe, gestützt auf Namen. Ich füge weiter bei, daß, während der Commandant Parry im Jahre 1851 am Ufer des Wellington-Canals sich aufhielt, sein Lieutenant Steward ebenfalls ein freies Meer antraf, und daß dieser besondere Umstand im Jahre 1853, während des Winteraufenthalts Sir Edward Belcher's, in der Northumberland-Bai unter 76°52' Breite und 99°20' Länge bestätigt wurde. Das sind unbestreitbare Thatsachen, die man gelten lassen muß, will man nicht unredlich sein.

– Doch, Kapitän, fuhr Shandon fort, sind diese Thatsachen so sehr in Widerspruch ...

– Irrthum, Shandon, Irrthum! rief der Doctor Clawbonny; diese Thatsachen widersprechen keinem Satz der Wissenschaft; der Kapitän wird mir gestatten, es Ihnen auseinander zu setzen.

– Thun Sie das, Doctor! erwiderte Hatteras.

– Nun, so hören Sie, Shandon. Es ergiebt sich sehr klar aus den geographischen Thatsachen und dem Studium der isothermen Linien, daß der kälteste Punkt der Erde nicht am Pol selbst sich befindet; gleich dem magnetischen Punkt liegt er einige Grad vom Pol ab. So zeigen die Berechnungen Brewster's, Bergham's und einiger Physiker, daß auf unserer Hemisphäre zwei Kältepole existiren: der eine läge in Asien unter 79°30' nördlicher Breite und 120° Länge; der andere in Amerika unter 78° nördlicher Breite und 97° westlicher Länge. Dieser letztere geht uns an, und Sie sehen, Shandon, daß er mehr wie zwölf Grad unterhalb des Pols liegt. Nun frage ich Sie, warum sollte nicht am Pol das Meer ebenso eisfrei sein, als es im Sommer unter 66° Breite sein kann, d.h. südlich der Bassins-Bai?

– Das hieß vortrefflich auseinander gesetzt, erwiderte Johnson; Herr Clawbonny redet von diesen Dingen als Mann vom Fach.

– Das scheint möglich, versetzte James Wall.

– Hirngespinnste und Vermuthungen! Blos Hypothesen, erwiderte Shandon hartnäckig.

– Nein, Shandon, fuhr Hatteras fort, nehmen wir die beiden Fälle in Betracht: entweder das Meer ist eisfrei, oder nicht, und mögen wir das eine annehmen, oder das andere, so kann uns nichts hindern, zum Pol zu gelangen. Ist es frei, so wird uns der Forward leicht hinbringen; ist er von Eis umgeben, so führen wir es auf unseren Schlitten aus. Sie werden mir [104] zugeben, daß dies nicht unausführbar ist; sind wir einmal mit unserer Brigg bis zum dreiundachtzigsten Grad gedrungen, so haben wir nur noch sechshundert Meilen bis zum Pol zu machen.

– Und was wollen sechshundert Meilen bedeuten, sagte der Doctor lebhaft, wenn man weiß, daß ein Kosacke, Alexis Markoff, auf dem Eismeer längs der Nordküste Rußlands mit Schlitten von Hunden gezogen eine Strecke von achthundert Meilen binnen vierundzwanzig Tagen zurückgelegt hat.

– Hören Sie das, Shandon, erwiderte Hatteras, und sagen Sie mir, ob die Engländer weniger zu Stande bringen, als ein Kosack?

– Nein, gewiß nicht! rief hitzig der Doctor aus.

– Nein, gewiß nicht! stimmte der Rüstmeister ein.

– Nun, Shandon? fragte der Kapitän.

– Kapitän, erwiderte Shandon kalt, ich kann nur wiederholen, was ich vorhin gesagt habe: ich werde Gehorsam leisten.

– Gut. Jetzt, fuhr Hatteras fort, denken wir an unsere gegenwärtige Lage; wir stecken im Eise fest, und es scheint mir unmöglich, daß wir noch dieses Jahr bis zum Smith-Sund dringen können. Sehen Sie nun, was am besten zu thun ist.«

Hatteras breitete auf dem Tische eine der trefflichen Karten aus, welche im Jahre 1859 auf Befehl der Admiralität herausgegeben wurden.

»Wollen Sie mir gefälligst folgen. Wenn uns der Smith-Sund versperrt ist, so ist es an der Westseite des Bassins-Meeres mit dem Lancaster-Sund nicht ebenso; meiner Ansicht nach müssen wir diesen bis zur Barrow-Straße hinausfahren, und von da bis zur Insel Beechey; Segelschiffe haben diesen Weg hundertmal gemacht; mit einer Schraubenbrigg werden wir keine Schwierigkeiten haben. Sind wir einmal bei der Beechey-Insel, so fahren wir den Wellington-Canal so weit als möglich hinauf nordwärts bis zum Ausfluß des Fahrwassers, welches die Verbindung des Wellington-Canals mit dem Canal der Königin bildet, an eben der Stelle, wo man das freie Meer gewahrte. Nun sind wir jetzt erst am 20. Mai; in einem Monat, wenn es gut geht, werden wir diesen Punkt erreicht haben, und von da aus dringen wir weiter nach dem Pol zu. Was halten Sie davon, meine Herren?

– Offenbar, erwiderte Johnson, ist dies der einzige Weg, den wir zu nehmen haben.

[105] – Nun, so wollen wir ihn einschlagen, und gleich morgen. Dieser Sonntag sei der Ruhe gewidmet; Sie werden dafür sorgen, Shandon, daß der Gottesdienst regelmäßig stattfindet; die Religion wirkt wohlthätig auf den Geist, ein Seemann darf das Vertrauen auf Gott nicht verlieren.

– Sie haben Recht, Kapitän, erwiderte Shandon, und ging mit dem Lieutenant und dem Rüstmeister hinaus.

– Doctor, sagte John Hatteras, und wies auf Shandon, das ist ein gedrückter Mann, den der Hochmuth verdorben hat; ich kann nicht mehr auf ihn rechnen.«

Am folgenden Morgen ließ der Kapitän in aller Frühe das Boot in's Meer bringen, und untersuchte die Eisberge des Beckens, welche nicht über zweihundert Yard dick waren. Er nahm sogar wahr, daß in Folge eines allmäligen Druckes der Eisblöcke das Becken enger zu werden drohte; es wurde daher dringend nöthig, eine Bresche zu schaffen, damit das Schiff nicht zwischen diesen Bergen, wie in einem Schraubstock zertrümmert werde. Aus den von John Hatteras angewendeten Mitteln sah man wohl, daß es ein energischer Mann war.



Er ließ für's Erste Stufen in die Eiswand hauen, und erstieg auf denselben den Gipfel eines Eisberges; von da aus erkannte er, daß nach Südwesten leicht ein Ausgang zu bahnen sein würde. Auf seinen Befehl wurde fast in der Mitte des Berges eine Sprenggrube gemacht, eine Arbeit, die rasch vorgenommen, im Verlauf des Montags fertig wurde.

Hatteras konnte von seinen Sprengcylindern zu acht und zehn Pfund Pulver keinen Gebrauch machen, weil bei solchen Massen ihre Wirkung unbedeutend gewesen wäre; sie waren nur zum Zersprengen der Eisfelder tauglich. Er ließ daher tausend Pfund Pulver in die Grube schaffen, und die Richtung der Explosion sorgfältig berechnen. Eine lange, mit Guttapercha umgebene Lunte führte aus dieser Mine nach außen. Der zu der Grube führende Gang wurde mit Schnee und Eisstücken ausgefüllt, welche in der folgenden Nacht so hart wie Granit zusammenfroren. In der That sank die Temperatur unter Einwirkung des Ostwinds auf zwölf Grad (– 11° hunderttheilig).

[106] Am folgenden Morgen um sieben Uhr hielt sich der Forward mit geheizter Maschine bereit, den geringsten Ausweg zu benutzen. Johnson erhielt Auftrag, die Mine anzuzünden; die Lunte war so berechnet, daß sie eine halbe Stunde zu brennen hatte, bevor das Feuer zum Pulver gelangte. Johnson hatte daher hinreichend Zeit, wieder an Bord zu kommen, und er war auch schon zehn Minuten nach Ausführung seines Auftrags wieder an seinem Posten.

Die Mannschaft befand sich auf dem Verdeck; das Wetter war, nachdem es aufgehört hatte zu schneien, trocken und ziemlich hell; Hatteras stand mit Shandon auf der Campanie, und der Doctor zählte die Minuten auf seinem Chronometer.



Um acht Uhr fünfunddreißig Minuten hörte man eine dumpfe Explosion, die weit weniger laut war, als man vorausgesetzt hatte. Die äußere Gestalt der Berge änderte sich, wie bei einem Erdbeben, plötzlich; dicker, weißer Rauch drang in beträchtlicher Höhe in die Lüfte; die Seiten des Eisberges zerspalteten sich in langen Rissen, und sein oberer Theil wurde weit fortge schleudert, so daß seine Trümmer um den Forward umher niederfielen.

Aber der Weg war noch nicht frei; ungeheure Eisstücke blieben auf die benachbarten Berge gelagert in der Luft schweben, und ließen befürchten, sie möchten herabfallend die Oeffnung wieder schließen.

Hatteras erkannte mit einem Blick, was noth that.

»Wolsten!« rief er.

Der Waffenschmied erschien.

[107] »Kapitän!

– Laden Sie das Geschütz auf dem Vordertheil dreifach, sagte Hatteras, und stoßen Sie die Ladung möglichst stark.

– Also wollen wir das Gebirge mit Kanonenkugeln angreifen, fragte der Doctor.

– Nein, erwiderte Hatteras, das ist unnöthig. Keine Kugel, Wolsten, sondern dreifache Ladung Pulver. Aber rasch!«

Nach einigen Minuten war die Ladung vollzogen.

»Was will er ohne Kugeln ausrichten? brummte Shandon.

– Das wird sich zeigen, erwiderte der Doctor.

– Wir sind fertig, Kapitän, rief Wolsten.

– Gut, erwiderte Hatteras. Brunton! rief er dem Maschinisten zu, Achtung! Einige Schritte voran.«

Brunton öffnete die Schieber, und die Schraube setzte sich in Bewegung; der Forward fuhr nahe zu dem gesprengten Berg heran.

»Richten Sie wohl auf den Fahrpaß!« rief der Kapitän zum Waffenschmied.

Derselbe gehorchte; als die Brigg nur noch eine halbe Kabellänge entfernt war, rief Hatteras:

»Feuer!«

Es erfolgte ein furchtbarer Knall, und durch die Luftbewegung erschüttert, wurden die Blöcke mit einem Mal in's Meer gestürzt. Die lebhafte Erregung der Luftschichten war schon hinreichend gewesen.

»Jetzt mit vollem Dampf, Brunton! rief Hatteras. Gerade in den Fahrpaß hinein, Johnson!«

Johnson hielt das Steuer; die Brigg, vom Dampf getrieben, drang mitten durch die nun offene Bahn. Es war hohe Zeit. Kaum war der Forward hindurchgefahren, so schloß sich die Oeffnung wieder.

Es war ein ängstlicher Moment, und es befand sich an Bord nur ein einziges ruhiges und festes Herz, – der Kapitän. Darum brach auch die Mannschaft, in freudigem Staunen über das Gelingen, in den einstimmigen Ruf aus:


»Hurrah für John Hatteras!« [108]

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Zur Auffindung Franklin's.

Mittwochs, den 23. Mai, setzte der Forward seine abenteuerliche Fahrt fort, indem er mitten zwischen den Eisblöcken und Eisbergen geschickt lavirte, Dank der fügsamen Dampfkraft, welche so vielen Polarmeer-Fahrern abging; es schien für ihn ein Spiel inmitten der schwimmenden Klippen; es war, als erkenne er die Hand des erfahrenen Herrn, und gleich einem Roß unter einem geschickten Reiter, war er dem Gedanken seines Kapitäns dienstbar.



Die Temperatur war wieder im Steigen. Das Thermometer zeigte um sechs Uhr früh sechsundzwanzig Grad (– 3° hunderttheilig), um sechs Uhr Abends neunundzwanzig (– 2° hunderttheilig) und um Mitternacht fünfundzwanzig (– 4° hunderttheilig); es wehte ein leichter Südwest.

Donnerstags um drei Uhr Morgens kam der Forward gegenüber der Bai Possession an der Küste Amerikas beim Anfang des Lancaster-Sunds; bald sah man Cap Burney. Es fuhren einige Eskimos auf das Schiff zu, aber Hatteras nahm sich nicht die Zeit auf sie zu warten.

Die das Cap Liverpool beherrschenden Spitzen Byam-Martin, welche man links ließ, verloren sich im Abendnebel; dieser hinderte auch das Cap Hay aufzunehmen, dessen übrigens sehr niedrige Spitze sich unter den Eisblöcken [109] der Küste verlor, ein Umstand, welcher die hydrographische Bestimmung der Polar-Meere oft sehr schwierig macht.

Die Sturmvögel, Enten, weißen Möven zeigten sich in sehr großer Zahl. Die Breite betrug 74°01', die Länge 77°15'.

Die beiden Berge Katharine und Elisabeth ragten mit ihren Schneekappen über dem Gewölk empor.

Freitags um sechs Uhr fuhr man Cap Warender auf der rechten Küste der Meerenge vorüber, auf der linken vor Admiralty-Inlet, einer von den Seefahrern, die westwärts eilten, noch wenig untersuchten Bai. Das Meer wogte stark, so daß oft das Verdeck der Brigg von den Wellen bespült und mit Eisstücken besprengt wurde. Das Land der Nordküste bot den Blicken merkwürdige Ansichten dar mit fast wagerechten Hochflächen, welche die Sonnenstrahlen zurückwarfen.



Hatteras wäre gern längs den Nord-Ländern gefahren, um desto eher zur Beechey-Insel und der Einfahrt des Wellington-Canals zu gelangen; aber eine zusammenhängende Eisdecke nöthigte ihn, zu großem Bedauern, sich südlicher zu halten.

Aus diesem Grunde befand sich am 26. Mai, mitten im Nebel mit Schneegestöber, der Forward dem Cap York gegenüber; ein großes und steiles Gebirge machte es kenntlich, da das Wetter ein wenig heller geworden; es zeigte sich gegen Mittag eine Weile die Sonne, so daß man ziemlich gute Beobachtung anstellen konnte: 74°4' Breite und 84°3' Länge. Der Forward befand sich demnach am Ende des Lancaster-Sundes.

Hatteras zeigte dem Doctor auf den Karten den Weg, welchen er einschlug und verfolgen wollte. Die Lage der Brigg war in dem Augenblick interessant.

»Es wäre mir lieber, sagte er, wir befänden uns weiter nördlich; aber nach dem Unmöglichen muß man nicht streben. Sehen Sie genau unsere Lage.« Es war nicht weit vom Cap York.

»Wir befinden uns mitten in dem nach allen Richtungen hin offenen [110] Kreuzungspunkt, welcher durch die Mündungen des Lancaster-Sunds, der Barrow-Straße, des Wellington-Canals und der Regenten-Durchfahrt gebildet wird. An diesen Punkt müssen nothwendig alle Befahrer dieser Meere kommen.

– Nun, erwiderte der Doctor, da mußten sie aber in Verlegenheit kommen; denn es ist wirklich ein Kreuzpunkt, wie Sie sagen, wo vier Hauptstraßen zusammenlaufen, und es sind da keine Wegweiser! Wie haben es da die Parry, Roß und Franklin gemacht?

– Sie haben gar nichts gemacht, Doctor, sie haben gewähren lassen; sie hatten sicherlich keine Wahl; bald verschloß sich dem Einen die Barrow-Straße, welche im folgenden Jahr einem Anderen offen war; bald wurde das Schiff unausweichlich in die Regenten-Durchfahrt hingeführt. Aus alle dem ergab sich durch die Gewalt der Dinge zuletzt eine genauere Kenntniß der hier so verwickelten Meere.

– Was für ein sonderbares Land, sagte der Doctor mit einem Blick auf die Karte. Wie ist da Alles ausgezackt, zerrissen, zersetzt, ohne alle Ordnung und Gedankeneinheit. Es hat den Anschein, als seien die Länder in der Nähe des Nordpols nur deshalb so zerstückelt, um die Annäherung schwieriger zu machen, während auf der andern Hemisphäre sie in milden und glatten Spitzen auslaufen, wie das Cap Horn, das der guten Hoffnung, und der Indischen Halbinsel! Liegt der Grund dieser Gestaltungen etwa in der raschen Rotationsbewegung unter'm Aequator, während das Land in der Umgebung der Pole, als es in der Urepoche noch flüssig war, sich nicht so verdichten, aneinander anschichten konnte, wegen geringerer Rotationskraft?

– Das muß wohl der Grund sein, denn Alles in der Welt hat seine gesetzmäßige Regel, und es ist nichts ohne hinreichende Gründe entstanden, welche Gott bisweilen den Gelehrten zu erforschen gestattet; also, Doctor, machen Sie Gebrauch von dieser Gewährung.

– Ich werde leider darin bescheiden sein, Kapitän. Aber was herrscht für ein entsetzlicher Wind in dieser Straße? fügte der Doctor bei, indem er sich so viel als möglich einwickelte.

– Ja, der Nordwind tobt da zumeist, und treibt uns aus unserer Bahn.

– Er sollte jedoch zwar die Eisblöcke südwärts treiben, aber sonst nicht die Bahn stören.

– Er sollte wohl, Doctor, aber der Wind thut nicht immer seine [111] Schuldigkeit. Sehen Sie! Diese Eisdecke scheint undurchdringlich. Kurz, wir wollen versuchen, bis zur Insel Griffith zu kommen, dann um die Insel Cornwallis fahren, um den Canal der Königin zu erreichen, ohne durch den Wellington-Canal zu fahren. Und inzwischen will ich durchaus an der Insel Beechey landen, um meinen Kohlenvorrath zu ergänzen.

– Wie so? erwiderte der Doctor erstaunt.

– Allerdings; auf Befehl der Admiralität sind dort große Vorräthe gelagert, um künftige Expeditionen damit zu versehen; und obwohl der Kapitän [112] Mac Clintock im August 1859 davon mitgenommen hat, so versichere ich Sie, daß noch welche für uns vorhanden sind.


Weiße Füchse mit gezeichneten Halsbändern als Sendboten. (S. 113)

– In der That, sagte der Doctor, sind diese Gegenden während fünfzehn Jahren untersucht worden, und bis zu dem Tag, wo man den unzweideutigen Beweis vom Untergang Franklin's erhielt, hat die Admiralität stets fünf bis sechs Schiffe in diesen Meeren unterhalten. Irre ich nicht, so ist selbst die Insel Griffith, welche ich da auf der Karte sehe, fast mitten auf der Kreuzung, zu einem allgemeinen Rendezvous der Seefahrer geworden.

– So ist es in Wahrheit, Doctor, und die unglückliche Expedition Franklin's hatte zum Resultat, daß wir mit diesen fernen Gegenden näher bekannt wurden.

– Sie haben Recht, Kapitän, denn seit 1845 haben zahlreiche Unternehmungen stattgefunden. Seit 1848 ward man über das Verschwinden des Erebus und Terror, der beiden Schiffe Franklin's, unruhig. Man sah damals den alten Freund des Admirals, Doctor Richardson, der schon im siebenzigsten Jahre stand, nach Canada eilen und dem Kupferminenfluß entlang bis zum Polar-Meer dringen. Sodann ist James Roß, Commandant der Entreprise und des Investigator, im Jahre 1848 zu Uppernawik unter Segel gegangen und bis zum Cap York, wo wir uns eben befinden, gekommen. Er warf tagtäglich eine Tonne mit Papieren in's Meer, welche den Zweck hatten, seinen Aufenthalt bekannt zu geben; während des Nebels löste er Kanonen; bei der Nacht ließ er Raketen werfen und bengalische Feuer anzünden, und fuhr dabei immer mit wenig Segeln; zuletzt überwinterte er 1848 auf 1849 im Hafen Leopold; hier ließ er eine große Zahl weißer Füchse einfangen und ihnen kupferne Halsbänder anschmieden, worauf die Angabe vom Aufenthaltsort der Schiffe, und der Niederlage von Lebensmitteln eingegraben war – und ließ diese Füchse nach allen Richtungen laufen. Nachher im Frühling fing er an, die Küste von North-Sommerset auf Schlitten zu untersuchen, inmitten von Gefahren und Entbehrungen, wodurch fast seine gesammte Mannschaft krank oder verstümmelt wurde, errichtete kleine Steinpyramiden, worin er kupferne Röhren barg mit den erforderlichen Notizen, um die Leute der verlorenen Expedition wieder zu sammeln; während seiner Abwesenheit durchforschte sein Lieutenant Mac Clure erfolglos die Nordküsten der Barrow-Straße. Bemerkenswerth ist, Kapitän, daß James Roß unter seinem Befehl zwei Officiere hatte, welchen später berühmt zu werden beschieden war, Mac [113] Clure, welcher die nordwestliche Durchfahrt entdeckte, und Mac Clintock, welcher die Reste Franklin's auffand.

– Jetzt zwei tüchtige, wackere Kapitäne, zwei brave Engländer. Verfolgen Sie weiter, Doctor, die Entdeckungsgeschichte dieser Meere, worin Sie so bewandert sind; man kann bei der Erzählung dieser kühnen Unternehmungen stets etwas lernen.

– Also, um mit James Roß fertig zu werden, habe ich noch hinzuzufügen, daß er noch weiter westlich die Insel Melville zu erreichen trachtete; aber er war nahe daran, seine Schiffe zu verlieren, blieb zwischen den Eisblöcken stecken und wurde wider Willen in's Bassins-Meer getrieben.

– Zurückgetrieben, sagte Hatteras mit Stirnrunzeln, wider Willen zurückgetrieben!

– Er hatte nichts aufgefunden, fuhr der Doctor fort. Seit diesem Jahr 1850 wurden jene Meere unablässig von englischen Schiffen befahren, und es wurde eine Prämie von zwanzigtausend Pfund einem Jeden zugesagt, welcher die Mannschaften des Erebus und Terror auffände. Bereits im Jahre 1848 versuchten die Kapitäne Kellet und Moore, Commandanten des Herald und Plover, durch die Behrings-Straße zu dringen. Ich habe weiter beizufügen, daß der Kapitän Austin während 1850 bis 1851 auf der Insel Cornwallis überwinterte, der Kapitän Penny auf der Assistance und Resolute den Wellington-Canal erforschte, der alte John Roß, der Held des magnetischen Pols, auf seiner Yacht Felix nochmals zur Auffindung seines Freundes ausfuhr, die Brigg Prinz Albert eine erste Fahrt auf Kosten der Lady Franklin machte, und endlich zwei von Grinnel ausgerüstete amerikanische Schiffe unter dem Kapitän Haven, aus dem Wellington-Canal heraus in den Lancaster-Sund zurückgeworfen wurden. Während dieses Jahres drang Mac Clintock, damals Austin's Lieutenant, bis zur Insel Melville und dem Cap Dundas, jener äußersten von Parry im Jahre 1819 erreichten Punkte vor, und fand auf der Insel Beechey Spuren der Ueberwinterung Franklin's im Jahre 1845.

– Ja, erwiderte Hatteras, drei seiner Matrosen waren dort beerdigt worden, und diese drei Mann waren glücklicher daran als die Anderen!

– Von 1851 bis 1852, fuhr der Doctor, der Bemerkung des Kapitän Hatteras zustimmend, fort, sehen wir den ›Prinz Albert‹ eine zweite Fahrt mit dem französischen Lieutenant Bellot vornehmen; er überwinterte in der Batty-Bay in der Prinz-Regenten-Straße, erforschte den Südwesten von [114] Sommerset und untersuchte ihre Küste bis zum Cap Walker. Während dessen wurde die Entreprise und der Investigator, als sie nach England zurückkamen, unter den Befehl Collinson's und Mac Clure's gestellt und vereinigten sich mit Kellet und Moore in der Behrings-Straße. Collinson kehrte zur Ueberwinterung nach Hongkong zurück, indeß Mac Clure vorwärts drang, und nach dreimaligem Winteraufenthalt, 1850 bis 1851,1851 bis 1852 und 1852 bis 1853 die nordwestliche Durchfahrt entdeckte, ohne über Franklin's Schicksal etwas erfahren zu können. Von 1852 bis 1853 wurde eine neue Expedition, aus drei Segelschiffen, Assistance, Resolute und North-Star, nebst zwei Dampfbooten, Pionnier und Intrepide bestehend, unter dem Obercommandanten Sir Edward Belcher, und dem Kapitän Kellet als Unterbefehlshaber ausgesendet; Sir Edward besuchte den Wellington-Canal, überwinterte in der Bai Northumberland und befuhr die Küste, während Kellet, bis Bridport auf der Insel Melville weiter dringend, diesen Theil der Nordländer ohne Erfolg durchforschte. Damals aber verbreitete sich in England das Gerücht, es seien zwei, mitten zwischen den Eisblöcken verlassene Schiffe unweit der Küsten Neu-Schottlands gesehen worden. Sogleich rüstete Lady Franklin den kleinen Schraubendampfer Isabelle aus, und der Kapitän Inglefield fuhr die Bassins-Bai hinauf bis zur Spitze Victoria unter'm achtzigsten Breitegrad, und kam ohne weiteren Erfolg zur Insel Beechey zurück. Zu Anfang 1855 wendete der Amerikaner Grinnel die Kosten für eine neue Expedition auf, und der Doctor Kane suchte bis zum Pol vorzudringen ...

– Aber er hat es nicht dahin gebracht, rief Hatteras heftig, und Gott Lob! Was er nicht fertig brachte, werden wir zu Stande bringen!

– Ich weiß es, Kapitän, und ich rede nur deshalb von dieser Expedition, weil sie nothwendig an die Bestrebungen, Franklin aufzusuchen, sich anschließt. Uebrigens führte sie auch zu keinem Resultat. Ich hätte beinahe vergessen anzuführen, daß die Admiralität, indem sie die Insel Beechey als die allgemeine Versammlungsstätte der Expeditionen ansah, im Jahre 1853 den Dampfer Phönix, Kapitän Inglefield, beauftragte, Vorräthe dahin zu schaffen; dieser Seemann begab sich nebst dem Lieutenant Bellot dahin, und verlor diesen wackeren Officier, welcher zum zweitenmal England seine eifrigen Dienste widmete; wir können über diese Katastrophe um so genauer die Umstände erfahren, als unser Rüstmeister Johnson Zeuge dieses Unglücks war.

[115] – Der Lieutenant Bellot war ein wackerer Franzose, sagte Hatteras, und sein Andenken ist in England geehrt.

– Darauf, fuhr der Doctor fort, singen die Schiffe des Geschwaders Belcher an allmälig zurückzukehren; nicht alle, denn Sir Edward mußte 1854 die Assistance ebenso zurücklassen, wie Mac Clure 1853 den Investigator. Unterdessen meldete der Doctor Rae in einem Schreiben vom 29. Juli 1854, aus der Repulse-Bai, wohin er durch Amerika gekommen war, datirt, die Eskimos des König-Wilhelmlandes besäßen verschiedene Gegenstände, welche vom Erebus und Terror herrührten. Nun war kein Zweifel über das Schicksal der Expedition mehr möglich; der Phönix, North-Star und Collinson's Schiff kehrten heim nach England; in den Nordpolar-Meeren befand sich kein englisches Schiff mehr. Aber schien die Regierung auch alle Hoffnung aufgegeben zu haben, so hielt Lady Franklin noch an der Hoffnung fest und rüstete mit den Resten ihres Vermögens den Fox aus unter dem Commando Mac Clintock's; er fuhr 1857 ab, überwinterte in den Gegenden, wo Sie sich uns zu erkennen gaben, Kapitän, gelangte am 11. August 1858 zur Insel Beechey, überwinterte zum zweitenmal in der Straße Bellot, setzte sein Forschen im Februar 1859 fort, entdeckte am 6. Mai das Document, welches über das Schicksal des Erebus und Terror keinen Zweifel mehr ließ, und kam zu Ende desselben Jahres nach England zurück.

– Dieses Alles ist während fünfzehn Jahren in diesen unheilvollen Gegenden vorgegangen, und seit der Rückkehr des Fox hat kein englisches Schiff mehr es unternommen, inmitten dieser gefahrvollen Meere das Schicksal zu versuchen!

– Nun, so wollen wir es versuchen«, erwiderte Hatteras.

15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Der Forward südwärts zurück getrieben.

Gegen Abend hellte sich die Witterung auf und man konnte klar das Land zwischen dem Cap Sepping und Cap Clarence unterscheiden, welches [116] ostwärts, dann südlich hinausläuft, und durch eine ziemlich niedere Landzunge mit der Westküste in Verbindung steht. Das Meer war bei der Mündung der Regenten-Straße frei von Eis; aber als wolle es dem Forward die Fahrt nach Norden versperren, bildete es über dem Hafen Leopold hinaus eine undurchdringliche Eisdecke.



Hatteras, dem dies sehr unlieb war, ließ es jedoch nicht merken und nahm seine Zuflucht zu Petarden, um die Einfahrt zum Hafen Leopold mit Gewalt zu bahnen; er lief zu Mittag am Sonntag den 27. Mai in denselben ein; die Brigg wurde auf großen Eisbergen, welche so hart und fest wie Felsen waren, geankert.

Sogleich sprangen der Kapitän, nebst dem Doctor, Johnson und dem Hund Duk auf das Eis und begaben sich von da unverzüglich an's Land. Duk machte vor Freude lustige Sprünge; übrigens war er, seit der Kapitän sich zu erkennen gegeben, sehr gesellig und sanft geworden und grollte nur einigen von der Mannschaft, welche sein Herr eben so wenig, wie er, leiden mochte.

Der Hafen war von den Eisblöcken frei, welche die Ostwinde gewöhnlich davor aufschichten; das steil abschüssige Land hatte eine Schneedecke mit zierlich wellenförmigen Gipfeln. Das von James Roß errichtete Gebäude mit einem Fanal war noch ziemlich wohl erhalten; aber die Vorräthe schienen von den Füchsen und selbst Bären, deren frische Spuren man noch sah, geplündert worden zu sein; auch Menschenhände mußten bei der Zerstörung sich [117] betheiligt haben, denn es waren am Ufer der Bai einige Reste von Eskimo-Hütten zu sehen.

Die sechs Gräber mit Seeleuten der Entreprise und des Investigator waren an einer leichten Erhöhung des Bodens zu erkennen; sie waren von Menschen und Thieren unbeschädigt gelassen worden.

Als der Doctor zum erstenmal den nordländischen Boden betrat, war er wahrhaft gerührt.

»Sehen Sie hier, sprach er zu seinen Gefährten, James Roß nannte diesen Ort selbst eine Zufluchtsstätte! Wäre Franklin's Expedition bis dahin gekommen, so wäre sie geborgen gewesen.


(S. 119.)

Dort ist die hier zurückgelassene Maschine, und der auf der Plateform errichtete Ofen, woran die Mannschaft des ›Prinz Albert‹ im Jahre 1851 sich wärmte; es ist Alles in dem nämlichen Zustand geblieben, daß man glauben könnte, sein Kapitän Kennedy habe diesen gastlichen Hafen erst gestern verlassen. Da ist die Schaluppe, welche ihm und den Seinigen einige Tage Schutz gewährte, denn dieser Kennedy verdankte, als er von seinem Schiff getrennt war, dem Lieutenant Bellot, welcher, um ihn aufzufinden, der Octoberkälte trotzte, wahrhaft seine Rettung.

– Ein wackerer, verdienter Officier, den ich gekannt habe«, sagte Johnson.

Während der Doctor mit dem Eifer eines Alterthumsforschers die Spuren der vorhergehenden Ueberwinterung aufsuchte, war Hatteras bemüht, die Lebensmittel und das Brennmaterial zu sammeln, welches sich nur in sehr [118] kleinem Betrag vorfand. Am folgenden Tage brachte man sie an Bord. Der Doctor streifte umher, ohne sich weit vom Schiff zu entfernen, und zeichnete die merkwürdigsten Ansichten. Allmälig stieg die Temperatur, der aufgehäufte Schnee fing an zu schmelzen. Der Doctor machte eine vollständige Sammlung des nordischen Gevögels, als Möven, Taucher, Eider-Enten, von denen einige bereits sich am Bauch der Eiderdaunen beraubt hatten, um ihr Nest damit auszufüttern. Der Doctor gewahrte auch große Robben, welche zum Luftschöpfen an die Oberfläche des Eises kamen, aber herausbekommen konnte er keine derselben.

Bei seinen Ausflügen entdeckte er den Ebbe- und Fluthstein mit den eingegrabenen Zeichen



welche das Vorbeifahren der Entreprise und des Investigator bezeichnen; er drang vor bis zum Cap Clarence, der nämlichen Stelle, wo John und James Roß im Jahre 1833 so ungeduldig das Aufgehen des Eises erwartet hatten. Der Boden war mit Gebeinen und Schädeln von Thieren bedeckt, und man konnte noch die Spuren von Eskimo-Wohnungen erkennen.

Der Doctor hatte im Sinne gehabt, im Hafen Leopold ein Steindenkmal zu errichten mit einer Notiz von der Fahrt des Forward und dem Zweck der Expedition. Aber Hatteras war dem förmlich entgegen; er wollte nicht Spuren hinter sich lassen, welche ein Concurrent hätte benutzen können. Ungeachtet seiner guten Gründe mußte der Doctor dem Willen des Kapitäns sich fügen.

Shandon tadelte zumeist diesen Eigensinn; denn im Fall eines Unglücks hätte kein Fahrzeug dem Forward zu Hilfe kommen können.

Hatteras wollte diesen Gründen nicht Rechnung tragen. Da seine Ladung am Montag Abend fertig war, machte er noch einmal den Versuch, nach Sprengung der Eisdecke nordwärts zu dringen; aber nach gefährlichen Versuchen mußte er sich entschließen, den Regenten-Canal wieder hinabzufahren; um keinen Preis wollte er im Hafen Leopold bleiben, da er heute offen, morgen durch eine unerwartete Verschiebung der Eisfelder eingeschlossen sein konnte.

Wenn Hatteras seine Besorgnisse nicht merken ließ, so empfand er sie doch innerlich sehr stark. Er wollte nordwärts dringen, und sah sich gezwungen[119] südwärts zurückzuweichen! Wohin sollte er dergestalt kommen? Sollte er bis zu Victoria-Harbour im Golf Boothia weichen, wo Sir John Roß 1833 überwinterte? Sollte er die Bellot-Straße dann frei finden, und um Nord-Sommerset herum durch die Peel-Straße wieder nordwärts fahren? Oder würde er, gleich seinen Vorgängern mehrere Winter hier in Gefangenschaft stecken, genöthigt seine Kräfte und Vorräthe da aufzuzehren?

Diese Besorgnisse peinigten ihn; aber er mußte einen Entschluß fassen. Er wendete sein Schiff und fuhr südwärts.

Der Prinz-Regent-Canal ist vom Hafen Leopold an bis zur Bai Adelaide fast gleichmäßig breit. Der Forward fuhr rasch zwischen Eisblöcken mitten hindurch, und war besser daran, als die vorherigen Schiffe, welche meistens einen vollen Monat brauchten, um diesen Canal herabzufahren, selbst in besserer Jahreszeit. Allerdings hatten diese Fahrzeuge, Fox ausgenommen, nicht den Dampf zur Verfügung, so daß sie den Launen eines ungewissen und oft widrigen Windes ausgesetzt waren.


(S. 119.)

Die Mannschaft zeigte sich im Allgemeinen hoch erfreut, aus den nördlichen Regionen herauszukommen; der Plan, nach dem Pol zu dringen, schien wenig nach ihrem Geschmack; sie erschraken leicht über Hatteras' Entschließungen, denn der Ruf seiner Kühnheit konnte sie wenig beruhigen. Hatteras suchte alle Gelegenheiten, vorwärts zu kommen, ohne alle Rücksicht auf die Folgen, sie zu benützen. Und doch ist's in den Nord-Meeren zwar gut vorwärts zu [120] dringen, aber man muß auch seine Lage behaupten, und sich nicht in Gefahr bringen, sie wieder aufgeben zu müssen.

Der Forward fuhr mit vollem Dampf, und sein schwarzer Rauch wirbelte spiralförmig über den glänzenden Spitzen der Eisberge; das Wetter wechselte unaufhörlich in raschem Uebergang aus trockener Kälte zu schneeigem Nebel. Die Brigg, von schwacher Wassertiefe, streifte nächst der Westküste; Hatteras wollte die Einfahrt der Bellot-Straße nicht verfehlen, denn der Golf Boothia hat im Süden sonst keine Ausfahrt, als die wenig gekannte Fury- und Hecla-Straße, so daß dieser Golf zur Sackgasse wurde, wenn die Bellot-Straße verfehlt wurde oder unfahrbar war.



Am Abend befand sich der Forward gegenüber der Bai Elwin, welche man an ihren hohen senkrechten Felsen erkannte; am Dienstag früh gewahrte man die Bai Batty, wo sich am 10. September 1851 der »Prinz Albert« für eine lange Ueberwinterung festankerte. Der Doctor beobachtete mit seinem Fernrohr die Küste lange mit Interesse. Von diesem Punkt gingen ringsher die Ausflüge aus, welche die geographische Gestalt von Nord-Sommerset feststellten. Die Witterung war klar, so daß man die tiefen Schluchten, wovon die Bai umgeben ist, unterscheiden konnte.

Der Doctor und Johnson waren vielleicht die Einzigen, welche an diesen öden Gegenden Interesse hatten. Hatteras, stets über seine Karten gebeugt, sprach wenig; seine Schweigsamkeit wuchs, je weiter die Brigg nach Süden kam; er stieg oft auf die Campanie, wo er, die Arme gekreuzt, den Blick im weiten Raum verloren, ganze Stunden lang den Horizont betrachtend verweilte. [121] Seine Befehle, wenn er welche gab, waren kurz und barsch. Shandon beobachtete kaltes Schweigen, und indem er sich allmälig in sich selbst zurückzog, sprach er mit Hatteras nur noch, was der Dienst verlangte. James Wall blieb Shandon ergeben, und richtete sein Verhalten nach dessen Beispiel. Der übrige Theil der Mannschaft wartete die Ereignisse ab, bereit, sie in eigenem Interesse zu benutzen. Es fand an Bord nicht mehr jene Einheit der Gedanken, jene Gemeinsamkeit der Ideen statt, welche für die Ausführung großer Dinge so nöthig ist. Hatteras wußte es wohl.

Man sah im Laufe dieses Tages zwei Wallfische rasch südwärts treiben; desgleichen gewahrte man einen weißen Bären, der mit einigen Flintenschüssen begrüßt wurde, ohne Erfolg, schien es. Dem Kapitän war unter diesen Umständen eine Stunde Zeit viel zu kostbar, als daß er die Verfolgung dieses Thieres gestattete.

Am Mittwoch früh war man über das Ende des Regenten-Canals hinaus; an die Ecke der Westküste schloß sich eine tiefe Krümmung des Landes. Der Doctor erkannte mittelst der Karte die Spitze Sommerset-House oder die Fury-Spitze.

»Hier an dieser Stelle, sagte er zu seinem Genossen, ist das erste englische Schiff, welches sie 1815 bei Parry's dritter Nordpolfahrt in diese Meere schickten, zu Grunde gegangen; die Fury hatte bei ihrem zweiten Winteraufenthalt dermaßen von den Eisblöcken gelitten, daß die Mannschaft sie zurücklassen, und auf dem Geleitschiff Hecla nach England zurückkehren mußte.

– So ein Geleitschiff ist doch offenbar ein großer Vortheil, sagte Johnson; eine solche Vorsicht sollten die Nordpolfahrer nicht versäumen, aber der Kapitän Hatteras wollte sich nicht mit einem Gesellschafter befassen!

– Halten Sie ihn für unvorsichtig, Johnson? fragte der Doctor.

– Ich? Es steht mir darin kein Urtheil zu, Herr Clawbonny. Sehen Sie da an der Küste die Pfosten, worauf noch einige Fetzen eines halb verfaulten Zeltdaches hängen.

– Ja, Johnson; hier lud Parry alle Vorräthe seines Schiffes aus, und wenn ich mich recht entsinne, so bestand das Dach des Gebäudes, welches er errichtete, aus einem mit dem laufenden Takelwerk der Fury befestigten Marssegel.

– Das mußte seit 1825 wohl anders werden.

– Nicht sehr, Johnson. Im Jahre 1829 fand John Roß in dieser [122] gebrechlichen Stätte ein Obdach für seine Mannschaft, worunter sie ihre Gesundheit wiederfand und gerettet wurde. Im Jahre 1851, als vom Prinz Albert aus ein Ausflug dahin gemacht wurde, bestand das Gebäude noch; der Kapitän Kennedy ließ es vor neun Jahren wieder ausbessern. Es wäre interessant, einen Besuch da zu machen. Aber der Kapitän Hatteras hat nicht Lust sich aufzuhalten.

– Und er hat unstreitig Recht, Herr Clawbonny; sagt man in England, ›Zeit ist Geld‹, so heißt es hier, Zeit ist Rettung, und um einen Tag, selbst eine Stunde Verspätung setzt man sich der Gefahr aus, seinen Reisezweck zu verfehlen. So lassen wir ihn denn nach seiner Weise verfahren.«

Im Verlaufe des 1. Juni, Donnerstags, wurde vom Forward die Bai Creswell diagonal durchschnitten; von der Fury-Spitze an zog sich die Küste nordwärts mit dreihundert Fuß hohen senkrechten Felsen, südwärts ward sie niedriger; einige Gipfel ließen scharf geschnittene Hochflächen erkennen, während andere wunderlich geformt als spitze Pyramiden in den Nebel emporragten.

Das Wetter wurde diesen Tag über milder, aber auch trüber; man verlor die Küste aus den Augen; das Thermometer stieg bis auf zweiunddreißig Grad (– 0 hundertheilig); einiges Gevögel flatterte hier und da, und Schaaren wilder Gänse zogen nordwärts; die Mannschaft mußte sich eines Theiles ihrer Kleider entledigen; man spürte die Wirkung der Sonne in den Polargegenden.

Gegen Abend fuhr der Forward, eine Viertelmeile von dem Ufer entfernt bei einer Tiefe von zehn bis zwölf Ellen um das Cap Garry herum, und von da an dicht längs der Küste bis zur Bai Brentford. Unter dieser Breite mußte sich die Bellot-Straße finden, welche James Roß 1828 nicht wahrgenommen zu haben scheint. Seine Karten zeigen in der That eine nicht unterbrochene Küstenstrecke, deren geringste Einzelheiten er sonst sorgfältig angiebt; man muß also annehmen, daß zur Zeit seiner Untersuchung die Bai mit einer festen Eisdecke versperrt und von dem Lande durchaus nicht zu unterscheiden war.

Diese Straße wurde nun wirklich von Kennedy im April 1852 bei einem Ausflug entdeckt, und ihr der Name des Lieutenants Bellot gegeben, als Tribut der Anerkennung der ausgezeichneten Dienste dieses Franzosen.

[123]
16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Der magnetische Pol.

Je näher Hatteras dieser Straße kam, desto unruhiger ward er; in der That, es sollte sich das Schicksal seiner Fahrt entscheiden; bis hierher hatte er mehr als seine Vorgänger geleistet, von welchen der glücklichste, Mac Clintock, fünfzehn Monate gebraucht hatte, um in diesen Theil des Polarmeeres zu gelangen; aber, gelang ihm nicht durch diese Straße zu fahren, so war damit wenig, ja nichts gewonnen; konnte er nicht denselben Weg zurück, so sah er sich eingeschlossen bis zum folgenden Jahre.

Daher wollte er auch die Mühe, die Küste zu untersuchen, Niemand sonst überlassen; er stieg hinauf in's Elsternest, und blieb da mehrere Stunden.

Die Mannschaft wußte genau, wie es mit dem Schiffe stand, und es herrschte an Bord tiefes Schweigen; die Maschine bewegte sich langsamer, und der Forward hielt sich dem Lande möglichst nahe; die Küste war dicht besät mit Eisblöcken, welche auch die heißesten Sommer nicht hatten zum Schmelzen bringen können; es gehörte ein geschicktes Auge dazu, um hier eine Einfahrt zu entdecken.

Hatteras verglich seine Karte mit dem Land. Da um Mittag die Sonne ein wenig zum Vorschein kam, so ließ er durch Shandon und Wall eine recht genaue Aufnahme machen, die ihm laut zugerufen wurde.

Das war ein halber Tag voll Angst für alle Gemüther. Doch plötzlich um zwei Uhr erschallte es laut vom Mast herab:

»Westwärts das Cap! Den Dampf verstärken!«

Die Brigg leistete unverzüglich Folge, sie richtete ihr Vordertheil nach der bezeichneten Stelle, das Meer schäumte unter dem Wellenschlage der Schraube und der Forward schoß mit äußerster Schnelligkeit zwischen zwei reißenden Eisströmen.

Der Weg war gefunden; Hatteras kam bald auf die Campanie herab und der Eismeister begab sich wieder auf seinen Posten.

»Nun, Kapitän, sagte der Doctor, so sind wir doch endlich in die berühmte Straße eingelaufen?

[124] – Ja, erwiderte Hatteras mit gedämpfter Stimme, aber es ist nicht genug damit, einzulaufen, man muß auch wieder heraus.«

Hierauf begab er sich wieder in seine Cabine.

»Er hat Recht, sagte sich der Doctor; wir sind da wie in einer Mausefalle, ohne viel Raum uns zu bewegen, und wenn man in dieser Enge überwintern müßte! ... Gut! Wir wären dann nicht die Ersten, welche ein solches Loos träfe, und wo andere sich aus der Verlegenheit zu ziehen wußten, würden auch wir uns zu helfen wissen!«

Der Doctor irrte sich nicht. An derselben Stelle, in einem kleinen geschützten Hafen, den Mac Clintock selbst Kennedy-Hafen benannte, brachte der Fox den Winter 1858 zu.


(S. 126.)

Die Bellot-Straße, eine Meile breit bei siebenzehn Meilen Länge, mit einer Strömung von sechs bis sieben Knoten, zieht sich zwischen Gebirgsreihen, deren Höhe auf sechzehnhundert Fuß geschätzt wird. Sie scheidet Nord-Sommerset vom Lande Boothia; die Schiffe haben nicht viel freien Bewegungsraum. Der Forward fuhr darin weiter, vorsichtig, doch kam er vorwärts; an dieser engen Stelle giebt es häufig Stürme, und die Brigg hatte [125] ihre gewöhnliche Heftigkeit zu spüren; auf des Kapitäns Befehl wurden die Segelstangen herabgelassen, die Maste herausgenommen; trotzdem hatte das Schiff außerordentlich unter den Windstößen und Wellenschlägen zu leiden; man fuhr zwischen den schwimmenden Eismassen ziemlich auf's Geradewohl; das Barometer fiel auf neunundzwanzig Zoll; auf dem Verdeck war es schwer sich aufrecht zu halten, und es blieben daher die Matrosen meistens in ihrem Versammlungsraum, um nicht unnöthig zu leiden.

Hatteras, Johnson, Shandon blieben trotz des Regens und Schneegestöbers auf der Campanie, und auch der Doctor kam trotz des widerlichen Aufenthalts unverzüglich zu ihnen heraus. Man konnte sich nicht verstehen, kaum sehen.

Hatteras war bemüht, mit seinem Blick den dichten Nebelvorhang zu durchdringen, denn seiner Schätzung nach mußte er sich gegen sechs Uhr am Ausgang der Straße befinden; damals schien jeder Ausgang versperrt; Hatteras sah sich daher genöthigt Halt zu machen, und ankerte sich an einem Eisberg fest; aber er blieb die ganze Nacht in Spannung.

Das Wetter war fürchterlich. Der Forward drohte jeden Augenblick seine Ketten zu zerreißen; es war zu befürchten, der Eisberg möge, durch die Gewalt der Weststürme von seiner Basis gerissen, sammt der Brigg forttreiben. Die Officiere waren in ängstlicher Spannung, beständig auf's äußerste wachsam; zu den Schneewirbeln kam ein wahrer Hagel, den der Sturm von der aufgethauten Oberfläche der Eisbank wegfegte.

Die Temperatur stieg während dieser schrecklichen Nacht erheblich; das Thermometer zeigte siebenundfünfzig Grad (– 14° hunderttheilig) und der Doctor glaubte zu seinem großen Befremden im Süden einige Blitze wahrzunehmen, mit sehr fernem Donnern. Dadurch schien sich die Angabe des Wallfischfahrers Scoresby zu bestätigen, der über dem fünfundsechzigsten Breitegrad hinaus die gleiche Erscheinung beobachtete. Ebenso war der Kapitän Parry im Jahre 1821 Zeuge dieser meteorologischen Sonderbarkeit.

Gegen fünf Uhr früh änderte sich die Witterung auffallend rasch; die Temperatur stellte sich plötzlich auf den Gefrierpunkt, der Wind schlug um zu Nord und ward ruhiger. Jetzt konnte man die westliche Mündung der Straße wahrnehmen, aber sie war völlig versperrt. Hatteras blickte begierig nach der Küste, im Zweifel, ob es wirklich die Durchfahrt sei.

Inzwischen ging die Brigg wieder unter Segel, und glitt langsam zwischen [126] den Eisströmen, während die Eisblöcke mit Getöse an seinen Seitenwänden zertrümmerten; die »Pack« waren noch sechs bis sieben Fuß dick; man mußte ihrem Druck sorgfältig ausweichen, denn wollte das Schiff Widerstand leisten, so gerieth es in Gefahr, emporgehoben und auf die Seite geworfen zu werden.



Um Mittag, und zum erstenmal, konnte man ein prachtvolles Sonnenphänomen bewundern, einen Sonnenring mit zwei Nebensonnen; der Doctor beobachtete es, und nahm genaue Maße von demselben. Der äußere Bogen war nur auf einer Strecke von dreißig Grad des Horizont-Durchmessers sichtbar; die beiden Sonnenbilder unterschieden sich merklich; die Farben, welche man bei den Lichtringen wahrnahm, waren von innen nach außen: roth, gelb, grün, schwach bläulich, endlich das weiße Licht ohne merkbare Begrenzung nach außen.

Der Doctor erinnerte sich an die sinnreiche Theorie Th. Young's über diese Meteore. Dieser Physiker nimmt an, es befänden sich gewisse Wolken aus Glasprismen in der Atmosphäre schwebend; die Sonnenstrahlen, welche auf die Prismen fallen, brechen sich unter Winkeln von sechzig und neunzig Graden. Die Sonnenringe können sich also nur bei heiterem Himmel bilden. Dem Doctor kam diese Erklärung recht sinnreich vor.

Die Seeleute, welche häufig die Polarmeer-Fahrten machen, sehen dieses Phänomen als Vorboten reichlichen Schnees an. Wenn dieses sich bewährte, so wurde die Lage des Forward sehr bedenklich. Hatteras entschloß sich daher, weiterzufahren; während des übrigen Verlaufs dieses Tages und der [127] folgenden Nacht gönnte er sich keinen Augenblick Ruhe, schaute am Horizont, lief die Strickleiter hinauf, ließ keine Gelegenheit außer Acht, der Ausfahrt der Enge nahe zu kommen.

Doch am frühen Morgen mußte er vor der undurchdringlichen Eisdecke Halt machen. Der Doctor kam auf der Campanie zu ihm. Hatteras nahm ihn mit sich auf's Hintertheil, wo sie ohne Besorgniß um Ohrenzeugen plaudern konnten.

»Wir stecken fest, sagte Hatteras; unmöglich können wir weiter.

– Unmöglich? fragte der Doctor.

– Unmöglich! Mit allem Pulver des Forward gewännen wir nicht eine Viertelmeile!

– Was fangen wir also an? fragte der Doctor.

– Was weiß ich? verwünscht sei dies heillose Jahr, welches so schlimm beginnt!

– Nun, Kapitän, wenn man überwintern muß, thun wir's hier! Die Stelle ist so gut wie eine andere!

– Allerdings, sagte Hatteras leise; aber man sollte ein Winterquartier vermeiden, zumal im Juni. Der Winteraufenthalt ist voll moralischer und physischer Gefahren. Der Geist einer Mannschaft wird durch die lange Ruhe inmitten wirklicher Leiden leicht herabgestimmt. Darum rechnete ich auch darauf, nur unter einem höhern Breitegrad näher dem Pol meinen Aufenthalt zu nehmen.

– Ja, aber das Verhängniß hat gewollt, daß die Bassins-Bai versperrt war.

– Sie war aber doch für einen Andern offen, rief Hatteras voll Entrüstung, für den Amerikaner, den ...

– Sehen Sie, Hatteras, sagte absichtlich unterbrechend der Doctor, wir sind noch nicht am 5. Juni; lassen wir nicht den Muth fallen; es kann sich uns noch plötzlich eine Durchfahrt öffnen; Sie wissen, daß das Eis geneigt ist, sich in mehrere Blöcke zu zertheilen, selbst bei ruhiger Witterung; wir können demnach noch stündlich eine Durchfahrt zum freien Meer finden.

– Nun denn, wenn eine sich darbietet, wollen wir sie einschlagen! Es ist leicht möglich, daß wir über der Bellot-Straße hinaus eine Bahn finden, wieder nach Norden zu steuern, durch die Peel-Straße, oder den Canal Mac Clintock, und dann ...

[128] – Kapitän, sagte James Wall, der in dem Augenblick herbeikam, wir laufen Gefahr, unser Steuerruder durch die Eisblöcke zu verlieren.

– Nun, erwiderte Hatteras, so wollen wir die Gefahr laufen. Ich lasse es nicht wegnehmen, will vielmehr zu jeder Stunde bei Tag und Nacht bereit sein. Sorgen Sie, Wall, daß man es so viel wie möglich schützt, und den Eisblöcken ausweicht; aber an seiner Stelle soll es bleiben, verstehen Sie mich?

– Aber doch, fuhr Wall fort ...

– Man hat mir keine Bemerkungen zu machen, mein Herr, sagte Hatteras mit strengem Ernst. Gehen Sie.«

Wall begab sich wieder auf seinen Posten.

»Ach! sagte Hatteras in einer Zorneswallung, ich gäbe fünf Jahre meines Lebens darum, wenn ich mich im Norden befände! Es ist mir keine Durchfahrt bekannt, die gefahrvoller wäre. Zum Uebermaß der Schwierigkeit ist in dieser Nähe des magnetischen Pols der Compaß nicht zu gebrauchen, die Nadel wird entweder säumig oder irrig, und ändert beständig ihre Richtung!

– Ich gestehe, erwiderte der Doctor, es ist eine gefahrvolle Fahrt; aber am Ende haben doch die, welche sie unternehmen, sich darauf gefaßt gemacht, so daß ihnen nichts dabei überraschend vorkommen kann.

– Ach! Doctor! Meine Mannschaft ist sehr verändert, und wie Sie eben gesehen haben, sind bereits die Officiere im Stande Einwendungen zu machen. Die hohe Löhnung war zwar geeignet, für ihre Anwerbung die Entscheidung zu geben; aber das hat auch seine schlimme Seite, denn nach der Abfahrt sind sie um so mehr auf die Rückkehr versessen! Doctor, ich finde bei meiner Unternehmung nicht die nöthige Stütze, und wenn sie scheitert, ist nicht dieser oder jener Matrose daran schuld, sondern der Mangel an Wille bei einigen Officieren ... Ah! Das werden sie schwer zu büßen haben!

– Sie übertreiben, Hatteras.

– Ich übertreibe nichts! Meinen Sie, die Leute seien mißgestimmt über die Hindernisse, welche sich mir entgegen stellen? Im Gegentheil! Man hofft, sie würden mich von meinen Plänen abbringen. Darum murren sie auch nicht, und so lange der Schnabel des Forward südwärts gerichtet ist, wird es so bleiben. Die Thoren bilden sich ein, sie kämen damit England näher! Aber wenn es mir gelingt, wieder nordwärts zu steuern, werden Sie sehen, wie es dann anders lautet! Doch ich schwöre, kein lebendes Geschöpf [129] soll mich von der Linie meines Verhaltens abbringen! Eine Durchfahrt, eine Oeffnung, durch welche meine Brigg hindurchgleiten kann, und ich werde Meister sein!«

Die Wünsche des Kapitäns sollten einigermaßen befriedigt werden. Wie der Doctor vorausgesagt, trat im Laufe des Abends eine plötzliche Veränderung ein; durch irgend eine Einwirkung des Windes, der Strömung oder der Temperatur kamen die Eisfelder zum Bruch und der Forward drang kühn in die Oeffnung und zertrümmerte mit seinem stählernen Schnabel die schwimmenden Eisblöcke. Er fuhr die ganze Nacht hindurch und kam am Dienstag gegen sechs Uhr aus der Bellot-Straße hinaus.

Aber wie mußte Hatteras in stillem Zorn ergrimmen, als er den Weg nach Norden sich hartnäckig versperrt sah! Doch besaß er Seelenstärke genug, um seine Verzweiflung nicht zu erkennen zu geben, und als habe er die einzige Bahn, welche offen war, selbst vorgezogen, ließ er den Forward die Franklin-Straße hinabfahren; da er nicht die Peel-Straße hinauf konnte, entschloß er sich, um das Prinz-Wales-Land herumzusegeln, um den Canal Mac Clintock zu erreichen. Aber es war ihm ein Schmerz, daß Shandon und Wall sich nicht irren konnten, und wußten, wie es um seine getäuschte Hoffnung stand.

Am 6. Juni ergab sich kein Zwischenfall; es trat Schneewetter ein.

Während sechsunddreißig Stunden fuhr der Forward längs der buchtenreichen Küste Boothias, ohne daß es ihm möglich ward, dem Prinz-Wales-Land nahe zu kommen; Hatteras verstärkte den Dampf mit Kohlenverschwendung; er zählte stets darauf, seinen Vorrath auf der Insel Beechey zu ergänzen; am Donnerstag kam er an's Ende der Franklin-Straße, und fand immer noch den Weg nach dem Norden versperrt.

Das war zum Verzweifeln; es war ihm nicht einmal mehr möglich, denselben Weg zurück zu machen; die Eisblöcke trieben vorwärts, und er sah unablässig den Weg hinter sich wieder sich schließen, als wenn da, wo er eine Stunde zuvor noch gefahren war, das Meer niemals frei gewesen wäre.

So konnte der Forward nicht nur nicht nordwärts vorankommen, sondern durfte sich nicht einen Augenblick aufhalten, wollte er nicht stecken bleiben, und er floh vor den Eisblöcken, wie ein Schiff vor dem Sturm.

Am Freitag, den 8. Juni, kam er nächst der Küste von Boothia an die Einfahrt der James-Roß-Straße, welche er um jeden Preis zu vermeiden [130] hatte, denn sie hatte nur eine westliche Ausmündung und endigt unmittelbar am festen Lande Amerikas.

Die um Mittag angestellten Beobachtungen ergaben 70°5'17'' für die Breite und 96°46'45'' für die Länge. Der Doctor notirte diese Ziffern auf seiner Karte, und sah, daß er sich endlich am magnetischen Pol befand, gerade an der Stelle, wo James Roß, Neffe des Sir John, unlängst diesen merkwürdigen Punkt festgestellt hatte.

Das Land war in der Nähe der Küste niedrig, und stieg nur um etwa sechzig Fuß in der Entfernung einer Meile von dem Meere ab.

Da der Kessel des Forward gereinigt werden mußte, so ankerte der Kapitän sein Schiff an einem Eisfelde fest, und gestattete dem Doctor, in Gesellschaft des Rüstmeisters an's Land zu gehen. Er selbst, unempfänglich für Alles, was nicht mit seinen Plänen in unmittelbarer Verbindung stand, schloß sich in seine Cabine ein, und vertiefte sich im Anblick der Karte des Pols.

Der Doctor kam mit seinem Gefährten leicht an's Land; der Erstere trug einen zu seinen Experimenten bestimmten Compaß; er wollte des James Roß Arbeiten controliren, und entdeckte leicht den von letzterem errichteten Hügel von Kalkstein, er eilte hin und vermochte durch eine Oeffnung darinnen die zinnerne Lade zu gewahren, worin James Roß das Protokoll seiner Entdeckung niedergelegt hatte. Kein lebendes Wesen schien seit dreißig Jahren diese einsame Küste besucht zu haben.

An dieser Stelle nahm eine so leicht wie möglich in Schwebe gebrachte Magnetnadel in Folge magnetischer Anziehung sogleich eine beinahe senkrechte Lage an; das Centrum der Anziehung befand sich demnach in nächster Nähe, wo nicht unmittelbar unter der Nadel.

Der Doctor machte sein Experiment sorgfältig.

Aber wenn James Roß wegen Mangelhaftigkeit seiner Instrumente für seine verticale Nadel nur eine Neigung von 89°59'' fand, so lag der Grund darin, daß der wahre magnetische Punkt sich wirklich nur eine Minute weit von diesem Ort entfernt befand. Der Doctor Clawbonny war glücklicher, und hatte nicht weit von da die große Befriedigung, ihre Neigung um 90° zu sehen.

»Hier also ist genau der magnetische Pol des Erdballs! rief er aus, und stampfte mit dem Fuß.

– Eben hier? fragte Meister Johnson.

[131] – Gerade hier, mein Freund.

– Also, fuhr der Rüstmeister fort, muß man jede Annahme eines Magnetbergs oder einer magnetisirten Masse aufgeben!

– Ja wohl, mein wackerer Johnson, erwiderte der Doctor mit Lachen, das sind die Hypothesen der Leichtgläubigkeit! Wie Sie sehen, ist hier keine Spur von einem Berg, der im Stande wäre die Schiffe anzuziehen, ihnen ihr Eisen zu entziehen, Anker bei Anker, Nagel bei Nagel, und Ihre Schuhe sind so frei, wie an jedem andern Punkt des Erdballs.

– Also wie erklärt man's ...

– Man erklärt es gar nicht, Johnson; soweit sind wir noch nicht mit unserm Wissen. Aber das steht richtig, mathematisch genau, daß der magnetische Pol sich gerade hier, an dieser Stelle befindet.



– Ach! Herr Clawbonny, wie glücklich wäre der Kapitän, wenn er ebenso vom Nordpol sagen könnte!

– Das wird er, Johnson, er wird es sagen.

– Das wolle Gott!« erwiderte Letzterer.

Der Doctor nebst seinem Genossen errichtete ein Malzeichen gerade an der Stelle, wo das Experiment stattgefunden hatte, und da ihnen das Signal zur Rückkehr gegeben wurde, begaben sie sich um fünf Uhr Abends wieder an Bord.

[132]
17. Capitel
Siebenzehntes Capitel.
Katastrophe des Sir John Franklin.

Es gelang dem Forward, die James-Roß-Straße direct zu durchschneiden, doch nicht ohne Beschwerden; es mußten Säge und Petarden angewendet werden, und die Mannschaft hatte große Strapazen auszustehen. Die Temperatur war zum Glück recht leidlich, um dreißig Grad höher, als James Roß zu derselben Jahreszeit hatte. Das Thermometer wies vierunddreißig Grad (+2° hunderttheilig).

Am Samstag umsegelte man das Cap Felix am Nordende des König-Wilhelm's-Landes, einer der mittleren Inseln dieser Nord-Meere.

Die Küste dieser Insel, an welcher man herfuhr, bot einen traurigen Anblick, welcher auf die Mannschaft einen tiefen und schmerzlichen Eindruck machte.

In der That war dieses König-Wilhelm's-Land der Schauplatz des fürchterlichsten Dramas! Einige Meilen westwärts gingen der Erebus und Terror zu Grunde.

Den Matrosen waren wohl die verschiedenen Versuche zur Auffindung des Admirals Franklin und das Resultat derselben bekannt, aber von den traurigen Details dieser Katastrophe wußten sie nichts. Als nun der Doctor den Lauf des Schiffes auf der Karte verfolgte, kamen einige derselben, Bell, Bolton, Simpson zu ihm heran und knüpften eine Unterredung mit ihm an.

Bald schlossen sich ihre Kameraden, von besonderer Neugierde getrieben, ihnen an; während dessen fuhr die Brigg mit äußerster Schnelligkeit, und die Küste mit ihren Buchten, Caps, Spitzen flog wie ein riesenhaftes Panorama vor ihren Blicken vorüber.

Hatteras ging mit raschem Schritt auf dem Hinterverdeck hin und her. Der Doctor saß auf dem Verdeck und sah sich von dem größten Theil der Mannschaft umgeben; er verstand ihr Interesse an dieser Lage, und den mächtigen Eindruck, welchen eine Erzählung über die Ereignisse unter ähnlichen Verhältnissen machen mußte; er setzte also das mit Johnson begonnene Gespräch mit folgenden Worten fort:

»Sie kennen, meine Freunde, die frühere Laufbahn Franklin's; er diente [133] gleich Cook und Nelson vom Schiffsjungen auf; nachdem er in seinen jungen Jahren an großen Seeunternehmungen theilgenommen, entschloß er sich im Jahre 1845, zur Aufsuchung der nordwestlichen Durchfahrt auszufahren; unter seinem Commando standen der Erebus und Terror, zwei bewährte Schiffe, welche bereits im Jahre 1840 mit James Roß an einer Nordpolfahrt theilgenommen hatten. Die Mannschaft des Erebus, worauf sich Franklin befand, bestand aus siebenzig Personen, Officieren und Matrosen, Kapitän war Fitz-James, Lieutenants Gore und Le Vesconte, Rüstmeister Des Voeux, Sargent, Couch, und Stanley Arzt. Auf dem Terror befanden sich siebenzig Mann, Kapitän Crozier, die Lieutenants Little Hogdson und Irving, Rüstmeister Horesby und Thomas, Peddie Arzt. An den Baien, Caps, Meerengen, Spitzen, Canälen, den Inseln dieser Gegenden sind die Namen der meisten dieser Unglücklichen zu lesen, von denen keiner mehr heimgekehrt ist, hundertachtunddreißig Mann zusammen!



Wir wissen, daß die letzten Briefe Franklin's von Disko sind und das Datum des 12. Juli 1845 tragen. ›Ich hoffe, sagte er, diese Nacht nach dem Lancaster-Sund unter Segel zu gehen.‹ Was ist seit seiner Abfahrt aus der Bai von Disko vorgefallen? Die Kapitäne der Wallfischfahrer Prinz von Wales und Entreprise bemerkten zum letztenmal die beiden Schiffe in der Melville-Bai, und seit diesem Tage hörte man nichts mehr von ihnen. Doch können wir Franklin in seiner Fahrt westwärts verfolgen; er fuhr durch den Lancaster-Sund und die Barrow-Straße und kam bis zur Insel Beechey, wo er den Winter 1845–1846 zubrachte.

[134] – Aber wie hat man Kenntniß von diesen Einzelheiten bekommen? fragte der Zimmermann Bell.

Durch drei im Jahre 1850 von der Expedition Austin auf der Insel entdeckte Gräber, worin drei Matrosen Franklin's bestattet waren; sodann mit Hilfe des von Hobson, Schiffslieutenant des Fox, aufgefundenen Documents, welches vom 25. April 1848 datirt ist. Daher wissen wir nun, daß der Erebus und Terror nach ihrem Winteraufenthalt die Wellington-Straße wieder bis zum 70° Breite hinausfuhren; aber anstatt weiter nordwärts zu fahren, ohne Zweifel weil dieser Weg nicht fahrbar war, wendeten sie sich wieder südwärts ...

– Und das zu ihrem Verderben! sagte eine ernste Stimme. Ihre Rettung lag nordwärts.«

Jeder wendete sich um. Hatteras, auf das Geländer des Hinterdecks gelehnt, hatte seiner Mannschaft diese schreckliche Mahnung zugerufen.

»Ohne Zweifel, fuhr der Doctor fort, war Franklin's Absicht, wieder an die amerikanische Küste zu kommen; aber auf dieser unseligen Fahrt wurden sie von Stürmen überfallen, und am 12. September 1846 blieben die beiden Schiffe einige Meilen von hier, nordwestlich vom Cap Felix zwischen den Eisblöcken stecken; sie wurden noch bis nord-nordwestlich der Spitze Victoria fortgerissen; aber hier, sagte der Doctor, und bezeichnete die Stelle des Meeres. Nun aber, fuhr er fort, sind die Schiffe erst am 22. April 1848 verlassen worden. Was ging während dieser neunzehn Monate vor? Was haben die Unglücklichen getrieben? Vermuthlich haben sie die Lande der Umgegend durchforscht, für ihre Rettung nichts unversucht gelassen, denn der Admiral war ein energischer Mann! Daß es ohne Erfolg war ...

– Kommt vielleicht vom Verrath seiner Mannschaft«, sagte Hatteras halblaut.

Die Matrosen wagten nicht die Augen aufzuheben; diese Worte lasteten schwer auf ihnen.

»Kurz, das unselige Document meldet uns weiter, Sir John Franklin erlag seinen Mühsalen am 11. Juni 1847. Ehre seinem Andenken!« sprach der Doctor, und zog den Hut ab.

Seine Zuhörer folgten schweigend seinem Beispiel.

»Was ist aus den Unglücklichen, nachdem sie ihren Anführer verloren, geworden? Sie blieben an Bord ihrer Schiffe, und entschlossen sich erst im [135] April 1848, dieselben zu verlassen; von den hundertachtunddreißig waren es noch hundertundfünf. Dreiunddreißig waren todt! Darauf errichteten die Kapitäne Crozier und Fitz-James an der Spitze Victoria einen Steinhaufen zum Denkmal, und legten ihr letztes Document darin nieder. Sehen Sie, meine Freunde, wir fahren bei dieser Spitze vorüber! Sie können die Reste dieses Steindenkmals noch sehen, welches so zu sagen an dem äußersten Punkt, wohin John Roß 1831 drang, sich befindet. Hier ist das Cap Jane Franklin! Hier die Spitze Franklin! Hier die Spitze Le Vesconte! Hier die Bai des Erebus, wo man die aus den Trümmern des einen dieser Schiffe gefertigte und auf einen Schlitten gelegte Schaluppe fand! Dort wurden silberne Löffel gefunden, Munition in Menge, Chocolade, Thee, religiöse Bücher! Denn die hundertundfünf Ueberlebenden schlugen unter Anführung des Kapitäns Crozier den Weg nach Great-Fish-River ein! Bis wohin vermochten sie zu gelangen? Glückte es ihnen die Hudsons-Bai zu erreichen? Sind noch welche bei Leben? Was ist seit dieser letzten Abfahrt aus ihnen geworden? ...

– Was aus ihnen geworden ist, will ich Ihnen sagen! sagte John Hatteras mit starker Stimme. Ja, sie haben sich bemüht, die Hudsons-Bai zu erreichen, und haben sich in mehrere Trupp zertheilt! Ja, sie haben sich nach dem Süden gewendet! Ja, im Jahre 1851 meldete ein Brief des Doctor Rae, daß im Jahre 1850 die Eskimos auf diesem König-Wilhelm's-Land eine Abtheilung von vierzig Mann getroffen hätten, welche auf Seekälber Jagd machten, ihren Weg über das Eis nahmen mit einem Boot, das sie fortzogen, abgemagert, elend, von Strapazen und Schmerzen erschöpft. Und später entdeckten sie dreißig Leichen auf dem Festland, und fünf auf einer nahen Insel, die halb bestattet, andere unbeerdigt, die unter einem umgestürzten Boot, jene unter den Trümmern eines Zeltes, hier einen Officier mit seinem Teleskop auf der Schulter, neben ihm sein geladenes Gewehr, weiter hinaus Kessel mit Resten einer gräßlichen Mahlzeit! Auf diese Nachrichten ersuchte die Admiralität die Hudson-Bai-Compagnie, ihre geschicktesten Agenten auf den Schauplatz des Ereignisses zu schicken. Sie begaben sich den Backfluß hinab bis zu seiner Mündung. Sie untersuchten die Inseln Montreal, Maconochia, die Spitze Ogle. Vergeblich! Alle diese Unglücklichen waren elendiglich gestorben, dem Jammer, dem Hunger erliegend, indem sie ihr Dasein durch gräßlichen Cannibalismus zu fristen suchten! Das [136] ist aus ihnen geworden, indem sie den Weg südwärts nahmen, den sie dann mit ihren verstümmelten Leichen bedeckten! Nun! Haben Sie noch Lust, denselben Weg einzuschlagen?«

Die zitternd bewegte Stimme, die leidenschaftlichen Geberden, die glühenden Gesichtszüge des Kapitän Hatteras brachten eine unbeschreibliche Wirkung hervor. Die Mannschaft, im Angesicht dieser unheilvollen Lande von tiefster Rührung ergriffen, rief einstimmig:


Die Verräther finden ihren Lohn. (S. 136.)

»Nordwärts! Nordwärts!

[137] – Wohlan denn, nordwärts! Im Norden ist unsere Rettung und unser Ruhm! Dort ist der Himmel auf unserer Seite! Der Wind schlägt um! Die Fahrt ist frei! Fertig zum Umkehren!«

Die Matrosen begaben sich flugs auf ihre Posten; die Eisströme wurden allmälig locker; der Forward bewegte sich reißend schnell mit verstärktem Dampf in der Richtung des Canals Mac Clintock.

Hatteras irrte nicht, indem er auf ein mehr freies Meer rechnete; er schlug den Canal aufwärts, den muthmaßlichen Weg Franklin's ein, der östlichen Küste des Prinz-Wales-Landes entlang, welche damals hinreichend bestimmt war, während das gegenüber liegende Ufer noch unbekannt ist. Offenbar waren die Eisgänge nach dem Süden hin durch die östlichen Engen getrieben, denn diese Straße schien völlig frei zu sein. Daher war der Forward auch im Stande, die verlorene Zeit wieder beizubringen; mit verstärktem Dampf fuhr er am 14. Juni über die Bai Osborne und die äußersten bei den Fahrten 1851 erreichten Punkte hinaus. Es befanden sich zwar noch zahlreiche Eisblöcke in der Straße, aber es war keine Gefahr mehr, daß dem Kiel des Forward das Wasser mangeln werde.

18. Capitel
Achtzehntes Capitel.
Nordwärts.

Die Mannschaft schien zu ihrer gewohnten Zucht und Folgsamkeit zurückgekehrt zu sein. Die spärlichen, nicht sehr ermüdenden Manoeuvres ließen ihr reichlich Muße. Die Temperatur hielt sich über dem Gefrierpunkt, und das Thauwetter mußte die größten Schwierigkeiten dieser Fahrt überwinden.

Duk, vertraulich und gesellig, hatte aufrichtige Freundschaft mit dem Doctor Clawbonny angeknüpft, und sie standen auf dem besten Fuß mit einander. Aber wie stets ein Freund dem Andern sich hingiebt, so muß man eingestehen, daß der Doctor nicht der Andere war. Duk machte mit ihm Alles, was er wollte, und der Doctor folgte ihm, wie ein Hund seinem[138] Herrn. Duk zeigte sich übrigens liebenswürdig gegen die meisten Matrosen und Officiere an Bord; nur mied er, aus Instinct ohne Zweifel, die Gesellschaft Shandon's; auch hatte er einen Groll, und was für einen! gegen Pen und Foker; sein Haß sprach sich in ihrer Nähe durch kaum verhaltenes Knurren aus. Diese wagten übrigens nicht mehr, mit dem Hund des Kapitäns anzubinden.

Kurz, die Mannschaft hatte wieder Vertrauen gefaßt, und hielt sich gut.

»Es kommt mir vor, sagte einst James Wall zu Richard Shandon, als hätten unsere Leute die Anrede des Kapitäns im Ernst genommen; sie sehen aus, als zweifelten sie nicht am Erfolg.



– Da sind Sie im Irrthum, erwiderte Shandon; wenn sie nachdächten, wenn sie die Lage prüften, so begriffen sie, daß wir aus einer Unvorsichtigkeit in die andere gerathen.

– Doch, fuhr Wall fort, sind wir ja hier in freierem Meer; wir kommen wieder auf schon bekannte Wege; Sie übertreiben wohl, Shandon?

– Ich übertreibe nicht, Wall; der Groll, die Eifersucht, wenn Sie wollen, welche Hatteras mir einflößt, machen mich nicht blind. Antworten Sie mir, haben Sie die Kohlenkammern angesehen?

– Nein, erwiderte Wall.

– Nun, gehen Sie hinab, und Sie werden sehen, wie reißend schnell unsere Vorräthe schwinden. Grundsätzlich hätte man die Fahrt vorzugsweise mit dem Segel machen, und die Schraube vorbehalten sollen, um Strömungen [139] oder widrigen Winden entgegen zu fahren, so daß unser Brennmaterial nur mit größter Sparsamkeit verwendet würde, denn, wer kann sagen, an welcher Stelle diese Meere, und ob nicht auf die Dauer von Jahren wir festgehalten werden können? Aber Hatteras, den nur der Wahnsinn treibt, vorwärts zu kommen, bis zu dem unzugänglichen Pol zu dringen, macht sich über ein solches Detail keine Gedanken mehr. Mag der Wind entgegen sein, oder nicht, er fährt mit vollem Dampf, und wenn das so fortgeht, gerathen wir in große Verlegenheit, wo nicht in's Verderben.

– Ist das wahr, was Sie sagen, Shandon? Dann ist's eine bedenkliche Sache!

– Ja, Wall, bedenklich, nicht allein in Rücksicht auf die Maschine, die ohne Heizung in einer kritischen Lage uns wenig nützen würde, sondern auch in Hinsicht auf eine Ueberwinterung, worauf wir früher oder später gefaßt sein müssen. Man muß aber in einem Lande, wo häufig das Quecksilber im Thermometer gefriert 1, ein wenig Rücksicht auf die Kälte nehmen.

– Aber, irre ich nicht, Shandon, so rechnet der Kapitän darauf, seinen Vorrath auf der Insel Beechey zu ergänzen; dort muß eine große Menge Kohlen gelagert sein.

– Kann man denn in diesen Meeren fahren, wohin man will, Wall? Kann man sich darauf verlassen, daß man diesen oder jenen Ort eisfrei finde? Und wenn uns die Insel Beechey abgeht, wenn man nicht zu ihr gelangen kann, was soll aus uns werden?

– Sie haben Recht, Shandon; Hatteras scheint mir unvorsichtig, aber warum machen Sie ihm nicht darüber einige Bemerkungen?

– Nein, Wall, erwiderte Shandon mit kaum verhüllter Bitterkeit; ich habe mir vorgenommen, zu schweigen; ich habe keine Verantwortlichkeit mehr für das Schiff; ich lasse die Ereignisse herankommen; ich gehorche dem Befehl, und habe keine Ansicht zu äußern.

– Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie so nicht recht handeln, Shandon, weil sich's um ein gemeinsames Interesse handelt, und solche Unvorsichtigkeiten des Kapitäns uns alle sehr theuer zu stehen kommen können.

– Und wenn ich mit ihm spräche, Wall, würde er mir Gehör geben?«

Wall getraute sich nicht, Ja zu sagen.

[140] »Aber, fügte er bei, vielleicht gäbe er den Vorstellungen der Mannschaft Gehör.

– Die Mannschaft! sagte Shandon mit Achselzucken; aber, mein armer Wall, haben Sie dieselbe noch nicht beobachtet? Sie ist von einem ganz andern Gefühl beseelt, als dem ihrer Rettung! Sie weiß, daß es dem zweiundsiebenzigsten Breitegrad zugeht, und daß für jeden Grad weiter hinaus ihr eine Summe von tausend Pfund zugesagt ist.

– Sie haben Recht, Shandon, erwiderte Wall, und der Kapitän hat damit das beste Mittel ergriffen, seine Leute festzuhalten.

– Allerdings, erwiderte Shandon, für jetzt wenigstens.

– Was meinen Sie damit?

– Ich meine, daß, wenn man keine Gefahren oder Beschwerden zu bestehen hat, im freien Meer sich befindet, das schon ganz gut geht; Hatteras hat sie mit Geld gewonnen; aber was man um des Geldes willen thut, thut man schlecht. Kommen wir einmal in schwierige Verhältnisse, Gefahren, Elend, Krankheit, Entmuthigung, Kälte, der wir uns unsinniger Weise über Hals und Kopf aussetzen, da werden Sie sehen, ob diese Leute noch Sinn für eine ausgesetzte Prämie haben!

– Also, Ihrer Ansicht nach, Shandon, wird Hatteras seinen Zweck nicht erreichen?

– Nein, Wall, es wird ihm nicht gelingen; bei einer solchen Unternehmung müssen die Männer an der Spitze vollkommene Einigkeit des Sinnes haben, die aber hier nicht besteht. Ich füge bei, Hatteras ist ein Narr, wie seine ganze Vergangenheit beweist! Kurz, wir werden schon sehen! Es können Ereignisse der Art eintreten, daß man genöthigt ist, das Commando des Schiffes einem nicht so wagehalsigen Kapitän anzuvertrauen ...

– Doch, sagte Wall mit zweifelnder Miene den Kopf schüttelnd, wird Hatteras immer auf seiner Seite haben ...

– Er wird, unterbrach Shandon, den Doctor Clawbonny haben, das ist ein Gelehrter, der nur Gedanken für sein Wissen hat; Johnson, der ein Seemann ist, Sklave der Disciplin, und sich nicht einmal die Mühe nimmt zu urtheilen; vielleicht noch zwei bis drei Mann weiter, wie den Zimmermann Bell, höchstens vier zusammen, und es sind unser achtzehn an Bord! Nein, Wall, Hatteras besitzt nicht das Vertrauen der Mannschaft, das weiß er wohl, und ködert sie mit Geld; er hat von der Katastrophe Franklin's einen [141] geschickten Gebrauch gemacht, um in den wankelmüthigen Geistern eine Wendung herbeizuführen; aber das hält nicht an, sag' ich Ihnen, und wenn es ihm nicht gelingt, auf der Insel Beechey zu landen, ist er verloren!

– Wenn die Mannschaft vermuthen könnte ...

– Ich bitte Sie ernstlich, erwiderte Shandon lebhaft, ihr diese Bemerkungen nicht mitzutheilen; sie wird schon selbst darauf kommen. In diesem Augenblick übrigens ist's nützlich, in der Richtung nach Norden zu bleiben. Aber wer weiß, ob nicht das, was Hatteras für eine Fahrt nach dem Pol hält, zu einer Rückkehr wird? Am Ende des Mac-Clintock-Canals befindet sich die Bai Melville, wo die vielen Straßen zusammenlaufen, welche in die Bassins-Bai zurückführen. Hatteras mag sich in Acht nehmen! Der Weg ostwärts ist leichter, als der nordwärts.«

Aus diesen Worten ist Shandon's Stimmung zu erkennen, und man sieht, wie der Kapitän Grund hatte, einen Verräther in demselben zu ahnen.

Shandon urtheilte übrigens in dem Punkt richtig, daß er annahm, die gegenwärtige Befriedigung der Mannschaft rühre von der Aussicht her, bald über den zweiundsiebenzigsten Breitegrad hinauszukommen. Dieser Hunger nach Geld übermannt auch die Verzagteren an Bord.

Nimmt man den Kapitän und den Doctor aus, welche an der Prämie keinen Theil haben konnten, so belief sich die übrige Mannschaft des Forward auf sechzehn Mann. Da die Prämie tausend Pfund betrug, so machte dies zweiundsechzig und ein halb Pfund dem Mann für jeden Grad. Gelang es je, an den Pol zu kommen, so brachten die achtzehn Grad bis dahin jedem eine Summe von elfhundertundfünfundzwanzig Pfund, d.h. ein Vermögen. Diese Lieblingsidee kostete demnach dem Kapitän achtzehntausend Pfund, aber er war reich genug, damit eine Spazierfahrt nach dem Pol zu bezahlen.

Diese Berechnungen entflammten, wie leicht begreiflich ist, die Geldgier der Mannschaft in hohem Grad, und Mancher, der vierzehn Tage zuvor gerne südwärts gesteuert wäre, trachtete jetzt, über diese mit Gold belegte Breite hinauszukommen.

Am 16. Juni fuhr der Forward beim Cap Aworth vorüber. Der Berg Rawlinson ragte mit weißen Spitzen zum Himmel; Schnee und Nebel ließen ihn kolossal erscheinen, indem man seine Entfernung überschätzte; die Temperatur hielt sich einige Grad über dem Gefrierpunkt; es kamen improvisirte Cascaden an den Abhängen des Berges zum Vorschein, und Lawinen stürzten [142] mit einem Donnergeroll herab, das mit fortwährendem Abfeuern schweren Geschützes zu vergleichen war. Die in langen weißen Streifen zu Tage liegenden Gletscher verbreiteten weithin einen ungeheuern Widerschein. Die nordische Natur im Kampf mit dem Thauwetter bot den Augen einen glänzenden Anblick. Die Brigg fuhr ziemlich nahe an der Küste vorüber; man gewahrte auf einigen geschützten Felsen hier und da Haidekraut, dessen röthliche Blüthen schüchtern zwischen dem Schnee sich herauswagten, und magere Flechten von röthlicher Farbe, so wie auf dem Boden kriechende Sprossen einer Art Zwergweide.

Endlich, am 19. Juni, kam man unter dem berufenen zweiundsiebenzigsten Grad bei der Spitze Minto vorüber, welche die Bai Ommaney auf der einen Seite abschließt, und lief in die Bai Melville ein.

Trotz eines starken Nordwindes hatte der Forward ziemlich leichte Fahrt, so daß er am 23. Juni über den vierundsiebenzigsten Breitegrad hinauskam. Er befand sich in der Mitte des Melville-Beckens, welches eins der ansehnlichsten Meere dieser Gegenden bildet. Es wurde zum erstenmal vom Kapitän Parry bei seiner großen Expedition im Jahre 1819 befahren, und seine Mannschaft gewann dadurch die von der Regierung ausgesetzte Prämie von fünftausend Pfund.

Clifton machte die Bemerkung, daß man jetzt schon zwei Grade gewonnen, und dabei bereits hundertfünfundzwanzig Pfund auf seinem Conto habe. Man entgegnete jedoch, in diesen Gegenden habe Vermögen wenig Werth, und es sei wohl gerathen, zu warten, bis man in einer Schenke zu Liverpool sich die Hände reiben könne.

Fußnoten

1 Das ist bei 42° hunderttheilig unter Null der Fall.

19. Capitel
Neunzehntes Capitel.
Ein Wallfisch in Sicht.

Das Melville-Becken, obwohl es eine leichte Fahrt gestattete, war doch nicht frei von Eis; man sah ungeheure Eisfelder, die sich bis an die Grenzen des Horizonts erstreckten; hier und da zeigten sich einige Eisberge, aber [143] unbeweglich und wie festgeankert inmitten der Eisfelder. Der Forward schlug mit vollem Dampf die weiten Fahrwege ein, wo seine Bewegungen leicht wurden. Der Wind schlug häufig um, von einem Punkt der Windrose zum andern rasch überspringend.

Die Veränderlichkeit des Windes in den Polar-Meeren ist eine beachtenswerthe Thatsache, und häufig folgt auf vollständige Windstille in wenig Minuten ein regelloser Sturm. Dieses mußte Hatteras am 23. Juni, selbst mitten in der ungeheuern Bai erfahren.

[144] Die beständigsten Winde wehen im Allgemeinen von der Eisdecke zum freien Meer, und sind sehr kalt. An diesem Tage fiel das Thermometer um einige Grad; der Wind schlug nach Süd um, und ungeheure Windstöße, welche über die Eisfelder strichen, entledigten sich ihrer Feuchtigkeit unter der Form dichten Schnees. Hatteras ließ augenblicklich die Segel, welche die Schraube unterstützten, aufgeien, was jedoch nicht so schnell geschehen konnte, daß nicht in einem Augenblick sein kleines Bramsegel fortgerissen wurde.


Im Wirbelsturm. (S. 145.)

Hatteras ordnete seine Manoeuvres mit der kaltblütigsten Ruhe an, und verließ während des Sturmes das Verdeck nicht; er war genöthigt, vor dem Wetter wie der ostwärts zu flüchten. Der Wind regte ungeheure Wellen auf, in deren Mitte Eisblöcke aller Formen schaukelten, die von den umgebenden Eisfeldern losgerissen wurden; die Brigg wurde gleich einem Spielball hin- und hergeworfen, und Trümmer von Eisblöcken stürzten über ihren Rumpf; zu Zeiten wurde das Schiff senkrecht auf die Spitze eines Wasserberges gehoben und sein stählernes Vordertheil funkelte wie schmelzendes Metall, dann stürzte es wieder in einen Abgrund mitten in seine eigenen Rauchwirbel, während seine Schraube außerhalb des Wassers ihre Schläge in die Luft machte. Regen mit Schnee vermischt fiel in Strömen.

Der Doctor ließ sich eine solche Gelegenheit, bis auf's Hemd durchnäßt zu werden, nicht entgehen; er blieb unausgesetzt auf dem Verdeck, um die tiefe Bewunderung eines solchen Schauspiels ungeschmälert zu genießen. Man konnte seinen nächsten Nachbar nicht hören, daher schaute er schweigend. Dabei beobachtete er eine sonderbare, den Nordregionen eigenthümliche Erscheinung.

Das Unwetter beschränkte sich auf einen engen Raum, erstreckte sich nicht über drei bis vier Meilen weit; in der That verliert der über die Eisfelder streifende Wind viel von seiner Kraft und kann seine verheerende Gewalt nicht weit ausdehnen. Der Doctor gewahrte von Zeit zu Zeit, wenn das Unwetter etwas nachließ, jenseits der Eisfelder heitern Himmel und ruhiges Meer; also brauchte der Forward nur durch die Fahrwasser zu dringen, um eine ruhige Fahrt zu bekommen; nur lief er dabei Gefahr, auf die beweglichen Bänke geworfen zu werden, welche dem Wogendrang unterworfen waren. Doch gelang es Hatteras, sein Schiff nach Verlauf einiger Stunden in ein ruhiges Meer zu bringen, während die Heftigkeit des am Horizont wüthenden Orkans einige Kabellängen weit vom Forward sich legte.

[145] Das Melville-Becken bot damals nicht mehr den nämlichen Anblick dar; durch Einwirken der Wogen und Winde wurde eine große Zahl Eisberge von den Küsten losgerissen und trieben in allen Richtungen sich durchkreuzend und wider aneinanderstoßend, nordwärts. Man konnte deren mehrere hundert zählen; aber die Bai ist sehr breit, und die Brigg wich ihnen leicht aus. Es war ein prachtvolles Schauspiel, wie diese schwimmenden Massen mit ungleicher Geschwindigkeit auf dieser ungeheuern Rennbahn um die Wette zu treiben schienen.

Der Doctor war davon ganz entzückt, als der Harpunier Simpson zu ihm trat, und ihn auf die wechselnden Farben des Meeres aufmerksam machte; dieselben änderten ihren Ton vom tiefen Blau bis zum Olivengrün; lange Streifen zogen von Norden südwärts mit so grell abstechenden Rändern, daß man, soweit das Auge reichte, ihre Scheidelinien verfolgen konnte. Mitunter auch zogen durchsichtige Streifen neben andern, die völlig dunkel waren.

»Nun, Herr Clawbonny, was halten Sie von dieser eigenthümlichen Erscheinung? sagte Simpson.



– Ich bin der Meinung, erwiderte der Doctor, welche einst der Walfischfahrer Scoresby über die Natur dieser verschieden gefärbten Wasser aussprach: nämlich die blauen sind ohne jene Milliarden kleiner Thierchen und Medusen, wovon die grünen Wasser durchdrungen und angefüllt sind; er hat darüber verschiedene Experimente angestellt, und ich schenke ihm gerne Glauben.

– Ei, mein Herr, man kann aus der Meeresfärbung noch eine andere Belehrung schöpfen.

– Wirklich?

– Ja, Herr Clawbonny, und wahrhaftig, wenn der Forward nichts als ein Wallfischfahrer wäre, so hätten wir, glaub' ich, gewonnen Spiel.

– Aber ich sehe doch, erwiderte der Doctor, von einem Wallfisch nicht die geringste Spur.

– Richtig! Aber es wird nicht lange dauern, so werden wir einen sehen, ich sag's Ihnen voraus. Es ist ein merkwürdig gutes Vorzeichen für einen Wallfischjäger, wenn er unter diesem Breitegrad solche grüne Streifen antrifft.

[146] – Und weshalb? fragte der Doctor, welchen solche von Leuten des Faches gemachte Bemerkungen lebhaft interessirten.

– Weil man in diesen grünen Wassern, erwiderte Simpson, weit mehr Wallfische zu fischen bekommt.

– Und aus welchem Grunde, Simpson?

– Weil sie darin reichlichere Nahrung finden.

– Sind Sie dieser Thatsache gewiß?

– O! Hundertmal, Herr Clawbonny, habe ich die Erfahrung im Bassins-Meer gemacht; und ich sehe nicht ein, warum es nicht in der Melville-Bai ebenso sein sollte.

– Sie sollen Recht haben, Simpson.



– Und sehen Sie, erwiderte dieser, indem er sich über das Geländer beugte, schauen Sie her, Herr Clawbonny.

– Nun, versetzte der Doctor, man könnte es für das Kielwasser eines Schiffes halten!

– Das ist ja, erwiderte Simpson, eine fette Substanz, welche der Wallfisch hinter sich läßt. Glauben Sie mir, das Thier, von welchem dieselbe herrührt, muß nicht weit davon entfernt sein!«

Wirklich, die Atmosphäre war von einem starken Laichgeruch durchdrungen. Der Doctor betrachtete nun aufmerksam den Meeresspiegel, und es dauerte nicht lange, so fand die Voraussagung des Harpuniers seine Bestätigung. Foker's Stimme ließ sich vom Mast herab vernehmen.

»Ein Wallfisch, rief er, unter'm Wind zu uns!«

Alle schauten in der angegebenen Richtung; eine Meile von der Brigg entfernt sah man einen Wasserstrahl ein wenig aus dem Meere heraussprudeln.

[147] »Da ist er ja! Da ist er! schrie Simpson, dessen Erfahrung unmöglich irren konnte.

– Er ist wieder verschwunden, erwiderte der Doctor.

– Man würde ihn wohl zu finden wissen, wenn es nothwendig wäre«, sagte Simpson bedauernd.

Aber, zu seinem großen Erstaunen, und obwohl kein Mensch die Bitte gewagt hätte, gab Hatteras Befehl, das Wallfischboot fertig zu machen; es war ihm ganz recht, seiner Mannschaft diese Zerstreuung zu gewähren, und selbst auch einige Tonnen Oel zu bekommen.

Vier Matrosen verfügten sich in das Boot; Johnson, am hintersten Platz, hatte es zu leiten; Simpson, die Harpune in der Hand, stand vorn. Der Doctor ließ sich nicht abhalten, die Expedition mitzumachen. Das Meer war ziemlich ruhig. Das Boot fuhr rasch ab und befand sich nach zehn Minuten eine Meile weit von der Brigg.

Der Wallfisch, nachdem er abermals Luft geschöpft, war von Neuem untergetaucht; aber er kam bald wieder an die Oberfläche und spritzte fünfzehn Fuß weit die Mischung von Dünsten und Schleim, welche aus seinen Luftlöchern entweicht.

»Dort, dort!« rief Simpson, und wies auf einen Punkt achthundert Yards von der Schaluppe.

Diese fuhr rasch auf das Thier los, und die Brigg, welche es ebenfalls bemerkt hatte, kam mit schwachem Dampf heran.

Das ungeheure Thier verschwand und kam wieder zum Vorschein, wie die Wellen es trieben, so daß man seinen schwärzlichen Rücken sah; ein Wallfisch schwimmt nicht schnell, wenn er nicht verfolgt wird, und dieser wiegte sich in gleichgiltiger Ruhe.

Die Schaluppe fuhr still heran, dem Strome der grünen Wasser folgend, deren dunkle Beschaffenheit das Thier hindert, seinen Feind zu sehen. Es ist immer ein ängstlicher Anblick, wenn man eine schwache Barke den Kampf mit solchen Ungeheuern unternehmen sieht: dieses mochte etwa hundertunddreißig Fuß messen, und man trifft nicht selten zwischen dem zweiundsiebenzigsten und achtzigsten Breitegrad Wallfische, die über hundertundachtzig Fuß groß sind. Die Berichte alter Schriftsteller von siebenhundert Fuß großen Thieren gehören in's Reich der Fabeln.


Die Eisberge fahren zusammen. (S. 150.)

Nicht lange, so war die Schaluppe nahe bei dem Wallfisch. Simpson [148] winkte mit der Hand, die Ruder hielten inne, der gewandte Harpunier schwang und schleuderte seine Harpune mit kräftiger Hand. Die mit widerhakiger Spitze versehene Waffe drang in die dichte Fettschichte. Das verwundete Thier warf seinen Schwanz rückwärts und tauchte unter. Augenblicklich wurden die vier Ruder senkrecht emporgehoben; das an die Harpune befestigte Seil, welches auf dem Vordertheil lag, rollte sich äußerst schnell ab, und die Schaluppe wurde fortgezogen, während Johnson sie geschickt leitete.

Der Wallfisch entfernte sich von der Brigg und schwamm in der Richtung [149] der treibenden Eisberge; während einer halben Stunde trieb er so. Als die Schnelligkeit des Thieres abzunehmen schien, wurde das Seil allmälig beigezogen und sorgfältig aufgerollt; der Wallfisch erschien bald wieder auf der Meeresoberfläche, schlug diese mit seinem fürchterlichen Schwanz, und das von ihm ausgespritzte Wasser fiel als Platzregen auf die Schaluppe nieder. Diese kam rasch heran; Simpson ergriff eine lange Lanze und hielt sich bereit, dem Thiere zu Leibe zu gehen.

Dieses aber schlüpfte mit größter Schnelligkeit in eine enge Fahrt zwischen zwei Eisbergen. Dahin es zu verfolgen, ward nun äußerst gefährlich.

»Teufel! rief Johnson.

– Vorwärts! Vorwärts! Fest, meine Freunde, rief Simpson in unsinnigem Jagdeifer, der Wallfisch ist unser!

– Aber zwischen die Eisberge können wir ihm nicht folgen, erwiderte Johnson, und hielt die Schaluppe an.

– Ja! ja! schrie Simpson.

– Nein! nein!« riefen einige Matrosen.

Während dessen war der Wallfisch zwischen zwei Eisberge gerathen, welche von den Wellen und dem Wind getrieben, zusammenzufahren strebten.

Die bugsirte Schaluppe drohte in diese gefährliche Enge hineingezogen zu werden; da sprang Johnson mit einem Beil in der Hand auf's Vordertheil, und hieb den Strick entzwei.

Es war hohe Zeit. Die beiden Berge fuhren mit unwiderstehlicher Gewalt zusammen und zerdrückten das Thier.

»Verloren! rief Simpson.

– Gerettet! erwiderte Johnson.

– Wahrhaftig! rief der Doctor, der keine Miene verändert hatte, das verlohnte der Mühe zu sehen!«

Die zertrümmernde Gewalt dieser Berge ist enorm.

Wie es hier erging, geschieht es häufig in jenen Meeren. Scoresby erzählt, es seien im Laufe eines einzigen Sommers in der Bassins-Bai dreißig Wallfische auf diese Art umgekommen; er sah, wie ein Dreimaster binnen einer Minute plattgedrückt wurde.

[150] Nach einer kleinen Weile kam die Schaluppe wieder zu der Brigg, und an ihren gewöhnlichen Platz auf dem Verdeck.

»Das ist eine Warnung, sagte Shandon laut, für die Unvorsichtigen, welche sich in die engen Fahrwasser hineinwagen!«

20. Capitel
Zwanzigstes Capitel.
Die Insel Beechey.

Am 25. Juni kam der Forward gegenüber dem Cap Dundas, am nordwestlichen Ende des Prinz-Wales-Landes. Hier nahmen die Schwierigkeiten zu zwischen den zahlreichen Eisblöcken. Das Meer wird hier enger, und die Linie der Inseln Crozier, Young, Day, Lowther, Garret, die wie Befestigungswerke vor einer Rhede liegen, nöthigen die Eisströme, in der Meerenge sich anzuhäufen. Was die Brigg unter andern Umständen an einem Tag geleistet hätte, hielt sie vom 25. bis 30. Juni auf; sie hielt an, fuhr wieder zurück, wartete die günstige Gelegenheit ab, um die Insel Beechey nicht zu verfehlen, verbrauchte viel Kohlen, indem sie während des Anhaltens nur ihr Feuer mäßigte, ohne es je ganz ausgehen zu lassen, um zu jeder Stunde bei Tag und Nacht mit Dampf versehen zu sein.

Hatteras kannte ebensowohl, wie Shandon, den Bestand der Vorräthe; aber da er sicher darauf rechnete, auf der Insel Beechey Brennmaterial zu treffen, so wollte er nicht aus Sparsamkeit eine Minute verlieren; er war in Folge seiner Abschweifung in den Süden sehr verspätet, und obwohl er die Vorsorge gehabt, aus England seit Anfang April abzufahren, so war er doch jetzt nicht weiter voran, als die vorausgehenden Expeditionen zu derselben Zeit.

Am 30. gewahrte man das Cap Walker, an der nordöstlichen Spitze des Prinz-Wales-Landes; es ist der äußerste Punkt, welchen Kennedy und Bellot nach einem Ausflug durch ganz Nord-Sommerset am 3. Mai 1852 wahrnahmen. Bereits im Jahre 1851 war der Kapitän Ommaney bei der [151] Expedition Austin so glücklich, daselbst seine Mannschaft mit Proviant versehen zu können.



Dieses sehr hohe Cap ist durch seine rothbraune Farbe merkwürdig; man kann bei hellem Wetter von hier aus bis an den Eingang der Wellington-Straße sehen. Gegen Abend erblickte man das Cap Bellot, welches durch die Bai Mac Leon vom Cap Walker getrennt ist. An dieser Stelle besteht die Küste aus gelblichem Kalkstein von sehr runzeligem Aussehen; sie ist durch enorme Eisblöcke geschützt, welche die Nordwinde auf die imposanteste Weise hier aufschichten. Der Forward verlor sie bald aus dem Gesicht, und bahnte sich zwischen locker verbundenen Eisstücken quer über die Barrow-Straße einen Weg zur Insel Beechey.

Hatteras, entschlossen gradaus zu fahren, um nicht über die Insel hinaus fortgezogen zu werden, verließ an den folgenden Tagen nicht einen Augenblick seinen Posten; er stieg häufig auf die Querstangen des Obermastes, um die vortheilhaften Fahrpässe aufzusuchen. Er bot bei dieser Fahrt durch die Enge Alles auf, was Geschick und Geistesruhe, Kühnheit, selbst seemännisches Genie zu leisten vermögen. Das Glück war ihm zwar nicht ganz hold, denn zu dieser Jahreszeit hätte er das Meer fast eisfrei finden sollen. Endlich aber, indem er weder seinen Dampf, noch seine Mannschaft, noch sich selbst schonte, erreichte er doch sein Ziel.

Am 3. Juli um elf Uhr Vormittags signalisirte der Eismeister nördlich ein Land; nachdem Hatteras die Beobachtung angestellt, erkannte er die Insel [152] Beechey, diesen allgemeinen Sammelplatz der Befahrer der Nordmeere. Fast alle Schiffe, welche sich in diese Meere wagten, haben dieselbe berührt. Hier hielt Franklin sein erstes Winterquartier, bevor er in die Wellington-Straße eindrang. Das letzte Schiff, welches zugleich mit dem Forward bei der Insel Beechey anlegte, war der Fox; Mac Clintock versah sich hier am 11. August 1855 mit Vorräthen, und besserte vor nicht ganz zwei Jahren die Wohnungen und Magazine aus: Hatteras wußte dies Alles sehr genau.

Dem Rüstmeister schlug beim Anblick dieser Insel gewaltig das Herz; er hatte sie als Quartiermeister an Bord des Phönix besucht. Hatteras befragte ihn, wie die Küste beschaffen, wo am besten zu ankern, die Landung möglich sei; die Witterung wurde prachtvoll, die Temperatur hielt sich auf siebenundfünfzig Grad (+ 14° hunderttheilig).

»Nun, Johnson, fragte der Kapitän, Sie kennen sich wohl hier aus?

– Ja, Kapitän, es ist richtig die Insel Beechey! Nur müssen wir noch ein wenig weiter nordwärts fahren; da ist die Küste zugänglicher.

– Aber die Wohnungen, die Magazine? sagte Hatteras.

– Die können Sie erst nach der Landung sehen; sie liegen im Schutz hinter diesen kleinen Bergen, welche Sie dort unten sehen.

– Und Sie haben beträchtliche Vorräthe hingeschafft?

– Beträchtliche, Kapitän. Die Admiralität hat uns im Jahre 1853 mit dem Dampfer Phönix unter dem Commando des Kapitän Inglefield und dem Breadalbane mit Proviant hierher geschickt; wir brachten Lebensmittel für eine ganze Expedition.

– Aber der Commandant des Fox hat im Jahre 1855 reichlich aus diesen Vorräthen geschöpft, sagte Hatteras.

– Seien Sie ruhig, Kapitän, entgegnete Johnson, es wird noch genug für Sie übrig sein; die Kälte bewahrt alles merkwürdig, und wir werden es noch frisch finden, wie am ersten Tag.

– Um Lebensmittel ist mir's nicht zu thun, erwiderte Hatteras; ich habe für mehrere Jahre, aber Kohlen bedarf ich.

– Nun, Kapitän, wir haben deren über tausend Tonnen hier gelassen; darum können Sie ruhig sei.

– So wollen wir anfahren, fuhr Hatteras fort, der, das Fernrohr in der Hand, unablässig die Küste beobachtete.

– Sie sehen diese Spitze, versetzte Johnson; sind wir um diese herum, [153] so befinden wir uns ganz nahe bei unserm Ankerplatz. Ja wohl, von dieser Stelle aus sind wir mit dem Lieutenant Creswell und den zwölf Kranken des Investigator nach England abgefahren. Aber sind wir so glücklich gewesen, den Lieutenant des Kapitän Mac Clure wieder heimzubringen; so hat der Officier Bellot, welcher auf dem Phönix mitfuhr, seine Heimat nie wieder gesehen! Ach! Eine traurige Erinnerung. Aber, Kapitän, ich denke, wir müssen an dieser Stelle die Anker werfen.

– Gut«, erwiderte Hatteras.

Und er ertheilte demnach seine Befehle.


(S. 155.)

Der Forward befand sich in einer kleinen, von der Natur gegen die Nord-, Ost- und Südwinde geschützten Bucht, etwa eine Kabellänge von der Küste entfernt.

»Herr Wall, sagte Hatteras, lassen Sie die Schaluppe bereit machen, und schicken dieselbe mit sechs Mann ab, um die Kohlen an Bord zu schaffen.

– Ja, Kapitän, erwiderte Wall.

– Ich will mich mit dem Doctor und dem Rüstmeister in der Piroge an's Land begeben. Herr Shandon, Sie haben wohl die Güte uns zu begleiten?

– Zu Ihrem Befehl«, erwiderte Shandon.

Nach einigen Augenblicken saß der Doctor, mit seinem Jagdgeräthe und gelehrten Apparat versehen, nebst seinen Genossen in der Pitoge; zehn Minuten darauf stiegen sie an einer ziemlich niedrigen und felsigen Küste an's Land.

[154] »Führen Sie uns, Johnson, sagte Hatteras. Sie finden sich hier zu Hause?

– Vollständig, Kapitän; doch sehe ich ein Monument, welches ich an dieser Stelle nicht zu treffen vermuthete!

– Dies! rief der Doctor aus, ich weiß, was es ist. Treten wir näher; dieser Stein wird uns selbst sagen, was er bisher hier zu thun hatte.«

Die vier Mann schritten voran, und der Doctor sprach, indem er den Hut zog:

»Dies, meine Herren, ist ein zum Ehrengedächtniß Franklin's und seiner Gefährten errichtetes Monument.«

In der That hatte Lady Franklin, welche bereits 1855 dem Doctor Kane eine schwarze Marmortafel zugestellt, eine zweite im Jahre 1858 Mac Clintock anvertraut, um sie auf der Insel Beechey aufzustellen. Mac Clintock entledigte sich gewissenhaft dieser Pflicht, und stellte diese Tafel nicht weit von einem bereits zum Andenken Bellot's durch Sir John Barrow errichteten Leichendenkstein auf.

Die Tafel hatte folgende Inschrift:


Zum Angedenken an


Franklin, Crozier, Fitz-James


und all' ihrer tapferen Brüder.

Officiere und treue Kameraden, welche für die Wissenschaft und den Ruhm ihres Vaterlandes gelitten haben und gestorben sind, ist dieser Stein errichtet nahe der Stelle, wo sie ihren ersten Winter im Norden zugebracht, und von wo aus sie abfuhren, und über die Hindernisse zu triumphiren oder zu sterben. Er bezeugt die Erinnerung und Bewunderung ihrer Landsleute und Freunde, und den im Glauben versöhnten Schmerz der Frau, die in dem Haupt der Unternehmung den liebevollsten Gemahl verloren hat.


Also hat ER sie zum letzten Hafen geleitet, wo Alle die Ruhe finden.

1855


[155] Dieser Stein, auf einer entlegenen Küste dieser fernen Regionen, sprach schmerzvoll zum Gemüth; dem Doctor traten bei dieser rührenden Leidbezeugung Thränen in die Augen. Und trotz dieser düstern Warnung des Verhängnisses war der Forward im Begriff, den Weg des Erebus und Terror zu verfolgen.

Dieser gefährlichen Betrachtung entzog sich zuerst Hatteras, und erstieg rasch einen ziemlich hohen, fast ganz schneefreien Hügel.

»Kapitän, sagte Johnson, der ihm folgte, von da herab werden wir die Magazine sehen.«

Shandon und der Doctor holten sie in dem Augenblick ein, als sie auf dem Gipfel ankamen.

Aber von hier aus verloren sich ihre Blicke über ungeheure Ebenen, welche keine Spur einer Wohnung zeigten.

»Das ist aber doch sonderbar, sagte der Rüstmeister.

– Nun! und jene Magazine? sagte Hatteras lebhaft.

– Ich weiß nicht ... Ich sehe nicht ... stotterte Johnson.

– Sie werden sich im Weg geirrt haben, sagte der Doctor.

– Es scheint mir aber doch, versetzte Johnson nachdenklich, an eben dieser Stelle ...

– Kurz, sagte Hatteras ungeduldig, wohin sollen wir gehen?

– Hinab, sprach der Rüstmeister, denn es wäre möglich, daß ich mich irre; seit sieben Jahren habe ich die Erinnerung an diese Oertlichkeiten verloren.

– Besonders, erwiderte der Doctor, wenn das Land so einförmig und monoton ist.

– Und dennoch ...« murmelte Johnson.

Shandon hatte keine Bemerkung geäußert.

Nachdem sie einige Minuten gegangen, blieb Johnson stehen.

»Aber nein, rief er aus, nein, ich irre mich nicht!

– Nun denn? sagte Hatteras, und blickte umher.

– Was hat Sie zu dieser Aeußerung veranlaßt, Johnson? fragte der Doctor.

– Sie sehen diese Erhöhung des Bodens? sagte der Rüstmeister, und deutete zu seinen Füßen auf eine Bodenerhebung, worauf drei Stellen etwas erhöht vortraten.

[156] – Was schließen Sie daraus? fragte der Doctor.

– Hier befinden sich, erwiderte Johnson, die drei Gräber der französischen Bootsleute! Jetzt bin ich sicher, ich irre nicht, und hundert Schritte von uns sollten sich die Wohnungen befinden, und wenn sie nicht da sind ... so ist ...«

Er wagte nicht, seinen Gedanken völlig auszusprechen; Hatteras war voran geeilt, und ein Sturm der Verzweiflung erfaßte ihn. Hier hätten in der That die so sehnlich erstrebten Magazine mit den Vorräthen aller Art, worauf er rechnete, sich befinden müssen; aber Verderben, Plünderung, Zerstörung, Verwüstung waren darüber hergegangen, wo civilisirte Hände reiche Hilfsquellen für die erschöpften Seefahrer geschaffen hatten. Wer hatte solche Plünderung verübt? Die reißenden Thiere, Wölfe, Füchse, Bären? Nein, denn sie hätten nur die Lebensmittel vernichtet, und es war kein Fetzen von einem Zeltobdach geblieben, kein Stückchen Holz, Eisen oder anderes Metall, und, das Erschrecklichste für den Forward, kein Bröcklein Brennmaterial!

Offenbar haben die Eskimos, die oft mit europäischen Schiffen in Berührung kamen, am Ende den Werth dieser Gegenstände, welche ihnen völlig mangeln, schätzen gelernt; seitdem Fox des Weges gekommen, hatten sie öfters diesen Ort des Ueberflusses besucht, und unablässig weggenommen und geplündert, mit der wohlüberdachten Absicht, keine Spur von dem, was hier gewesen war, zurückzulassen; und nun lag eine weitreichende Schneedecke über dem Boden.

Hatteras war voll Bestürzung. Der Doctor schaute mit Kopfschütteln. Shandon schwieg stets, und ein achtsamer Beobachter hätte ein boshaftes Lächeln wahrnehmen können.

In diesem Augenblicke kamen die vom Lieutenant Wall geschickten Leute an. Sie verstanden Alles. Shandon trat zu dem Kapitän, und sprach:

»Herr Hatteras, es scheint mir unnütz in Verzweiflung zu gerathen; wir befinden uns zum Glück am Anfang der Barrow-Straße, welche uns in's Bassins-Meer zurückführen wird!

– Herr Shandon, erwiderte Hatteras, wir befinden uns glücklicherweise am Anfang der Wellington-Straße, und sie wird uns dem Norden zuführen!

– Und wie werden wir fahren, Kapitän?

– Mit Segeln, mein Herr! Wir haben noch für zwei Monat Brennmaterial, [157] und das ist mehr, als wir während unseres bevorstehenden Winteraufenthaltes bedürfen.



– Sie wollen mir gestatten zu sagen, fuhr Shandon fort ...

– Ich gestatte Ihnen, mir an Bord zu folgen, mein Herr«, erwiderte Hatteras.

Und er kehrte seinem Unterbefehlshaber den Rücken zu, begab sich auf die Brigg, und schloß sich in seine Cabine ein.

Zwei Tage lang war widriger Wind; der Kapitän erschien nicht wieder auf dem Verdeck. Der Doctor benutzte diesen gezwungenen Aufenthalt auf der Insel Beechey; er sammelte die wenigen Pflanzen, welche eine verhältnißmäßig hohe Temperatur auf den schneefreien Felsen wachsen ließ, etliches Haidekraut, einige Flechtensorten, eine Art gelber Ranunkeln, eine dem Sauerampfer ähnliche Pflanze und kräftiges Steinbrech.



Die Fauna dieser Gegend war reicher als die so beschränkte Flora; der Doctor gewahrte lange Reihen Gänse und Kraniche, welche nordwärts zogen; die Rebhühner, blau-schwarze Eider-Enten, die Ritter, eine Art Strandläufer, Polartaucher, Feldhühner, dreizehige Möven und Taucher-Enten repräsentirten das Thierreich. Der Doctor war so glücklich, einige graue Hasen zu erlegen, die im Winter weißen Pelz tragen, und einen blauen Fuchs. Einige Bären, die offenbar vor den Menschen scheuten, ließen sich nicht nahe kommen, und die Robben waren aus gleichem Grunde sehr scheu. In der Bai fanden sich reichlich eine Art Trompetenschnecken, die recht [158] schmackhaft waren; von Insecten gelang es dem Doctor, einen Moskito, der ihn gestochen, zu erhaschen. Von Schalthieren sammelte er eine Art Muscheln, und einige zweischalige Schnecken.

21. Capitel
Einundzwanzigstes Capitel.
Bellot's Tod.

Die Temperatur hielt sich während des 3. und 4. Juli auf siebenundfünfzig Grad (+ 14° hunderttheilig); dies war der höchste in diesem Jahr beobachtete Thermometerstand. Aber am 5. schlug der Wind um zu Süd-Ost, und war von heftigem Schneegestöber begleitet. Hatteras ertheilte, ohne sich um die üble Stimmung der Mannschaft zu kümmern, Befehl, unter Segel zu gehen.

Seit dreizehn Tagen, nämlich seit dem Cap Dundas, war der Forward nicht einen Grad weiter nördlich gekommen; daher war auch der von Clifton vertretene Theil der Mannschaft nicht befriedigt; doch stimmten in diesem Augenblick ihre Wünsche mit der Entschließung des Kapitäns überein, im Canal Wellington weiter hinauszufahren, und sie machten keine Schwierigkeiten im Dienst.

Es gelang nicht ohne Mühe, die Brigg segelfertig zu machen; aber, nachdem sie während der Nacht ihre Maste aufgesteckt, fuhr Hatteras kühn mitten durch die Eisblöcke, welche die Strömung südwärts trieb. Die Mannschaft hatte bei dieser gewundenen Fahrt viel Beschwerde, da sie oft genöthigt war, die Segel anders zu brassen.

Der Canal Wellington ist nicht sehr breit; er zieht sich schmal zwischen der Küste von Nord-Devon im Osten und der Insel Cornwallis im Westen. Diese galt lange für eine Halbinsel; Franklin fuhr im Jahre 1846 von Westen her um sie herum.


Nach dem freien Meere. (S. 160.)

Der Canal Wellington wurde 1851 vom Kapitän Penny auf den Wallfischfahrern Lady Franklin und Sophie erforscht; einer seiner Lieutenants, [159] Stewart, der bis zum Cap Beecher, unter 76°20' kam, entdeckte das freie Meer. Das freie Meer! Darauf stand Hatteras' Hoffnung.

»Was Stewart gefunden hat, will ich auch finden, sagte er zu dem Doctor, und dann kann ich mit Segeln dem Pol zu fahren.

– Aber, versetzte der Doctor, fürchten Sie nicht Ihre Mannschaft? ... – Meine Mannschaft!« sagte Hatteras barsch.

Dann fuhr er leise fort:

»Die armen Leute«, zum großen Staunen des Doctor.

[160] Es war dies die erste Spur eines Gefühls der Art, welche er im Herzen des Kapitäns wahrnahm.

»Doch nein! fuhr dieser mit Energie fort, sie müssen mir folgen! Sie werden mir folgen!«

Indessen hatte der Forward auch nichts vom Zusammenstoßen mit Eisströmen, die in Zwischenräumen von einander trieben, zu fürchten, so kam er doch wenig nordwärts voran, weil widrige Winde oft zum Haltmachen nöthigten. Er fuhr mit Mühe an den Caps Spencer und Innis vorüber, und am 10., Dienstags, kam er endlich, zu großer Freude Clifton's über den 75. Breitegrad hinaus.

Der Forward befand sich an der nämlichen Stelle, wo die amerikanischen Schiffe Rescue und Advance unter dem Kapitän Haven so fürchterliche Gefahren zu bestehen hatten. Der Doctor Kane gehörte zu dieser Expedition; gegen Ende Septembers 1850 wurden diese, von einer Eisdecke umgeben, mit unwiderstehlicher Gewalt in den Lancaster-Sund zurückgetrieben.

Shandon erzählte die Katastrophe dem James Wall in Gegenwart einiger Bootsleute von der Brigg.

»Advance und Rescue, sagte er, wurden dermaßen von den Eisblöcken erschüttert, emporgehoben, hin-und hergeworfen, daß man die Feuer auf dem Schiff mußte ausgehen lassen; und doch sank die Temperatur bis zu achtzehn Grad unter Null! Während des ganzen Winters wurden die unglücklichen Mannschaften zwischen der Eisdecke festgehalten, stets bereit, ihr Schiff zu verlassen, und drei Wochen lang wechselten sie nicht einmal die Kleider! In dieser fürchterlichen Lage wurden sie, nachdem sie tausend Meilen weit getrieben, von ihrer Fahrt ab bis in's Bassins-Meer zurückverschlagen!«

Man denke, welche Wirkung diese Erzählungen auf die moralische Haltung einer bereits übel gesinnten Mannschaft haben mußte.

Während dieser Unterhaltung sprach Johnson mit dem Doctor von einem Ereigniß, welches in dieser Gegend vorgefallen war; der Doctor gab ihm auf seine Bitte genau den Moment an, wo sich die Brigg unter 75°30' befand.

»Hier ist's! Eben hier! rief Johnson. Das ist die unheilvolle Stelle!«

Und bei diesen Worten traten dem wackeren Rüstmeister die Thränen in die Augen.

[161] »Sie wollen vom Tod des Lieutenant Bellot erzählen, sagte zu ihm der Doctor.

– Ja, Herr Clawbonny, von dem tapferen Officier, der so viel Herz und Muth hatte!

– Und hier also, sagten Sie, fand die Katastrophe statt?

– Gerade hier, an dieser Stelle der Küste von Nord-Devon! O! es ist bei alledem ein großes Verhängniß, und das Unglück wäre nicht passirt, wenn der Kapitän Pullen früher an sein Bord zurückgekommen wäre!

– Was meinen Sie damit, Johnson?

– Hören Sie, Herr Clawbonny, und Sie werden sehen, an welchen Fäden oft das Dasein hängt. Sie wissen, daß der Lieutenant Bellot im Jahre 1850 eine erste Fahrt zur Aufsuchung Franklin's mitmachte?

– Ja, Johnson, auf dem Prinz Albert.

– Als er nach Frankreich zurückkam, erhielt er im Jahre 1853 die Erlaubniß, auf dem Phönix, an dessen Bord ich mich als Matrose befand, unter dem Kapitän Inglefield, in See zu gehen. Wir brachten nebst dem Breadalbane Vorräthe nach der Insel Beechey.

– Dieselben, die wir leider nicht mehr vorfanden!

– Die nämlichen, Herr Clawbonny. Wir trafen zu Anfang August auf der Insel Beechey ein; am 10. desselben Monats verließ der Kapitän Inglefield den Phönix, um den Kapitän Pullen, der seit einem Monat von seinem Schiff, dem Nordstern, getrennt war, aufzusuchen. Nach seiner Rückkehr hatte er im Sinne, die Depeschen der Admiralität dem Sir Edward Belcher, welcher im Canal Wellington überwinterte, zu übersenden. Nun kam kurz nach der Abfahrt unseres Kapitäns der Kapitän Pullen an Bord seines Schiffes zurück. Daß er nicht vor Abfahrt des Kapitäns Inglefield zurückkam! Da der Lieutenant Bellot besorgte, die Abwesenheit unseres Kapitäns möge sich hinausziehen, und da er wußte, daß die Depeschen der Admiralität pressirten, so erbot er sich, sie selbst zu überbringen. Er ließ das Commando der beiden Schiffe dem Kapitän Pullen, und reiste am 12. August mit einem Schlitten und einem Kautschukboot ab. Er nahm mit sich den Quartiermeister des Nordstern, drei Matrosen, Madden, David Hook und mich. Wir vermutheten, Sir Edward Belcher möchte sich in der Nähe des Cap Beecher im Norden des Canals befinden. Wir fuhren also in unserm Schlitten in dieser Richtung, und hielten uns dabei nahe am östlichen Ufer. Am ersten [162] Tag campirten wir drei Meilen vom Cap Innis; am folgenden Tag machten wir Halt auf einem Eisblock, etwa drei Meilen vom Cap Bowden. Während der Nacht, die übrigens taghell war, entschloß sich der Lieutenant Bellot, da das Land nur drei Meilen entfernt war, dort sein Lager zu nehmen. Er versuchte zweimal in dem Kautschukboot hinüber zu setzen, aber beidemal trieb ihn ein heftiger Südostwind zurück; Harvey und Madden waren glücklicher, sie hatten sich mit einem Seil versehen, um den Schlitten in Verbindung mit der Küste zu halten. Mit Hilfe dieses Seils wurden drei Gegenstände hinübergeschafft; aber bei einem vierten Versuch fühlten wir, daß unser Block sich in Bewegung setzte. Herr Bellot rief seinen Gefährten zu, das Seil loszulassen, und so wurden wir, der Lieutenant, David Hook und ich, weit von der Küste abgetrieben.



In dem Augenblick wehte der Wind heftig aus Südost, und es schneite. Aber wir liefen noch nicht große Gefahr.

– Nachdem wir unsere Gefährten aus dem Gesicht verloren, suchten wir zuerst Schutz unter dem Zelt unseres Schlittens, aber vergebens; darauf begannen wir mit unseren Messern uns ein Obdach in das Eis zu schneiden. Herr Bellot setzte sich eine halbe Stunde und sprach mit uns über die Gefahr unserer Lage; ich sagte ihm, daß mir nicht bange sei. ›Unter Gottes Schutz, sprach er, wird kein Haar von unserem Kopfe fallen.‹ Es war sechs Uhr und ein Viertel Vormittags am 18. August. Herr Bellot packte seine Schriften zusammen, und sagte, er wolle nachsehen, wie das Eis schwimme. Kaum war er vier Minuten weg, als ich, ihn zu suchen, um den Eisblock ging, worauf [163] wir uns geborgen hatten; aber ich konnte ihn nicht sehen, und als ich zu unserem Obdach zurückkehrte, gewahrte ich seinen Stock auf der anderen Seite einer etwa fünf Klafter breiten Spalte, wo das Eis völlig gebrochen war. Ich rief ihn, erhielt aber keine Antwort. In dem Augenblick wehte der Wind sehr stark. Ich suchte weiter rings um den ganzen Block, konnte aber von dem armen Lieutenant keine Spur entdecken.

– Und was vermuthen Sie? fragte der Doctor gerührt.

– Ich denke mir, daß, als Herr Bellot unser Obdach verließ, der Wind ihn in diese Spalte trieb, und da sein Paletot zugeknöpft war, konnte er nicht schwimmen, um wieder an die Oberfläche zu kommen! Ach! Herr Clawbonny, das ist der ärgste Schmerz, den ich erlebt habe! Ich wollte es nicht glauben!



Dieser brave Officier ein Opfer seines Diensteifers! Denn, wissen Sie, um den Instructionen des Kapitäns Pullen zu folgen, wollte er noch vor dem Eisgang an's Land setzen! Ein wackerer Mann, von Jedermann an Bord geliebt, dienstwillig, muthig! Ganz England hat ihn beweint, und selbst die Eskimos, als sie vom Kapitän Inglefield seinen Tod vernahmen, riefen mit Thränen wie ich: armer Bellot!

– Aber Sie, Johnson, mit Ihren Kameraden, fragte der Doctor gerührt, wie sind Sie wieder an's Land gekommen?

– Wir, mein Herr, das hatte wenig auf sich; wir blieben noch vierundzwanzig Stunden auf dem Eisblock, ohne Nahrung und Feuer; aber endlich trafen wir auf ein Eisfeld, das auf einer Untiefe festsaß.


Vorwärtsbewegung durch Rudern. (S. 166.)

Darauf sprangen [164] wir, und mit Hilfe eines Ruders, das wir noch hatten, zogen wir einen Eisblock bei, der uns zu tragen fähig war, und sich wie ein Floß lenken ließ. So haben wir das Ufer erreicht, aber leider allein!«

Inzwischen war der Forward an dieser unheimlichen Küste vorüber gekommen, und Johnson verlor die Stelle der Katastrophe aus dem Gesicht. Am folgenden Tag ließ man rechts die Bai Griffin, und zwei Tage nachher die Caps Grinnel und Helpmann; endlich, am 14. Juli fuhr man um die Spitze Osborn herum, und am 15. ankerte die Brigg in der Bai Baring am Ende des Canals. Die Fahrt war nicht sehr schwierig; Hatteras fand das [165] Meer fast ebenso eisfrei, wie einst Belcher, als er mit dem Pionnier und L'Assistance bis zum siebenundsiebenzigsten Grade fuhr und da sein Winterlager nahm. Dies war bei seinem ersten Winteraufenthalt von 1852 bis 1853, dann im folgenden Jahre, nahm er von 1853 bis 1854 sein Quartier in dieser Bai Baring, wo der Forward eben ankerte.

In Folge der Prüfungen und härtesten Gefahren, mußte er sein Schiff Assistance mitten zwischen dem ewigen Eis zurücklassen.

Von dieser Katastrophe machte Shandon, der ebenfalls den entmuthigten Matrosen etwas vorerzählen wollte, eine Schilderung. Hatte Hatteras Kenntniß von diesem Verrath seines ersten Officiers? Man kann es nicht sagen: jedenfalls schwieg er stille dazu.

Auf der Höhe der Bai Baring befindet sich ein enges Fahrwasser, welches eine Verbindung des Canals Wellington mit dem Canal der Königin bildet. Hier fanden sich die treibenden Eisblöcke sehr enge gedrängt. Hatteras bemühte sich vergebens durch die Fahrwasser im Norden der Insel Hamilton zu dringen; der Wind gestattete es nicht; man mußte daher zwischen der Insel Hamilton und der Insel Cornwallis durchzukommen suchen und verlor darüber fünf kostbare Tage mit vergeblichen Anstrengungen. Die Temperatur neigte zum Sinken, ja sank am 19. Juli auf sechsundzwanzig Grad (– 4° hunderttheilig); am folgenden Tag stieg sie wieder; aber dieses verfrühte Drohen des Polar-Winters mußte Hatteras veranlassen, nicht länger zu warten. Der Wind hatte eine Neigung, sich westlich zu halten, und hemmte die Fahrt seines Schiffes. Und doch mußte er eilen an den Punkt zu gelangen, wo Stewart ein freies Meer antraf. Am 19. entschloß er sich, um jeden Preis in dem Fahrwasser vorzudringen; aber der Wind war durchaus entgegen. Zwar hätte die Brigg mit ihrer Schraube gegen die heftigen Windstöße ankämpfen können; aber Hatteras mußte vor allen Dingen sein Brennmaterial sparen; anderentheils war doch das Fahrwasser zu breit, so daß man die Brigg nicht ziehen konnte. Hatteras, ohne die Strapazen der Mannschaft zu berücksichtigten, nahm seine Zuflucht zu einem Mittel, welches die Wallfischfahrer manchmal unter ähnlichen Umständen anwenden. Er ließ die Boote zum Wasserspiegel hinabbringen, und dabei mit ihrem Takelwerk an den Seiten des Schiffes in der Schwebe halten; diese Boote waren am Vorder- und Hintertheil mit Tauen fest angebunden, und die Ruder wurden auf dem einen rechts, auf dem andern links angebracht; die Bootsleute nahmen der [166] Reihe nach auf den Ruderbänken Platz und mußten kräftig rudern, so daß sie die Brigg dem Wind entgegen vorwärts brachten.

Der Forward kam dergestalt in dem Fahrwasser langsam voran; natürlich verursachten solche Arbeiten den Bootsleuten große Strapazen, und man hörte sie murren. Vier Tage lang ruderte man in dieser Weise, bis zum 23. Juni, wo man glücklich die Insel Baring im Canal der Königin erreichte.

Der Wind war fortwährend entgegen, und die Mannschaft hielt es nicht mehr aus. Der Doctor hielt die Gesundheit der Leute für sehr erschüttert, und glaubte bei einigen derselben die ersten Symptome des Scorbuts zu erkennen; er versäumte nichts, um dies schreckliche Uebel zu bekämpfen, da er reichlichen Vorrath von Citronensaft und Kalkpastillen zur Verfügung hatte.

Hatteras wußte wohl, daß er sich nicht mehr auf seine Mannschaft verlassen konnte; Milde, Ueberzeugung würden fruchtlos gewesen sein; er beschloß daher mit Strenge dagegen anzukämpfen und bei Gelegenheit unerbittlich zu verfahren; ganz besonders mißtraute er Richard Shandon und selbst James Wall, der jedoch nicht gar laut zu reden wagte. Hatteras hatte auf seiner Seite den Doctor, Johnson, Bell, Simpson, welche ihm mit Leib und Seele ergeben waren; unter den Schwankenden waren Foker, Bolton, der Waffenschmied Wolsten, der erste Maschinist Brunton, welche sich unter Umständen gegen ihn zu wenden fähig waren; die übrigen, Pen, Gripper, Clifton, Waren, spannen unverhohlen Aufruhrpläne; sie wollten ihre Kameraden mit sich fortreißen, den Forward zur Rückkehr nach England zu nöthigen.

Hatteras sah wohl, daß er von dieser übel gesinnten und zumal von Strapazen erschöpften Mannschaft die Fortsetzung der bisherigen Manoeuvres nicht mehr erlangen könnte. Er blieb vierundzwanzig Stunden der Insel Baring gegenüber, ohne einen Schritt vorwärts zu thun. Inzwischen sank die Temperatur, und unter diesen hohen Breitegraden spürte man schon den Einfluß des bevorstehenden Winters. Am 24. fiel das Thermometer auf zweiundzwanzig Grad (– 6° hunderttheilig). Während der Nacht bildete sich neues Eis und ward sechs bis acht Linien dick; wenn dazu noch Schnee fiel, konnte es bald stark genug werden, um einen Mann zu tragen. Das Meer bekam bereits die unreine Färbung, welche die erste Krystallbildung ankündigt.

Hatteras verhehlte sich nicht diese beunruhigenden Symptome; wenn die [167] Fahrpässe sich demnächst verstopften, würde er genöthigt sein, an dieser Stelle zu überwintern, weit vom Ziel seiner Reise, und ohne das freie Meer, welchem er den Berichten seiner Vorgänger zufolge so nahe sein mußte, auch nur gesehen zu haben. Er beschloß daher um jeden Preis vorwärts zu dringen, und einige Grade weiter im Norden zu gewinnen; und da er sah, daß er nicht eine Mannschaft mit Gewalt zum Rudern verwenden, noch bei stets widrigem Wind die Segel gebrauchen konnte, so ertheilte er Befehl, die Oefen zu heizen.

22. Capitel
Zweiundzwanzigstes Capitel.
Anfang des Unfruhrs.

Dieser unerwartete Befehl erregte große Ueberraschung an Bord des Forward.

»Die Oefen heizen! sagten die Einen.

– Und womit? fragten die Andern.

– Da wir nur noch für zwei Monate Kohlen im Bauch haben! schrie Pen.

– Und womit wollen wir im Winter heizen? fragte Clifton.

– Dann werden wir, versetzte Gripper, das Schiff bis zum Wasserspiegel verbrennen müssen?

– Und die Maste in den Ofen stecken?«

Shandon blickte Wall starr an. Bestürzt zauderten die Maschinisten in die Maschinenkammer zu gehen.

»Haben Sie mich verstanden?« rief der Kapitän aufgebracht.

Brunton ging auf die Lucke zu; aber im Begriff hinabzusteigen, blieb er stehen.

»Geh nicht hin, Brunton, sagte eine Stimme.

– Wer hat gesprochen? rief Hatteras.

– Ich, sagte Pen, und trat dem Kapitän entgegen.

– Und Sie sagten? ... fragte dieser.

[168] – Ich sagte ..., ich sagte, erwiderte Pen fluchend, ich sage, daß wir nun daran satt haben, daß wir nicht weiter wollen, daß wir nicht im Winter vor Kälte und Mühsal crepiren wollen, und daß man die Feuer nicht anzünden soll!

– Herr Shandon, erwiderte Hatteras kalt, lassen Sie diesen Menschen in Ketten legen.

– Aber Kapitän, erwiderte Shandon, was dieser Mann gesagt hat ...

– Was dieser Mann gesagt hat, entgegnete Hatteras, wenn Sie es ihm nachsprechen, lasse ich Sie in Ihre Cabine einschließen! – Ergreifet den Mann! Verstanden?«



Johnson, Bell, Simpson gingen auf den Matrosen zu, der vor Zorn außer sich war.

»Der Erste, der mich anrührt!« ... schrie er, ergriff einen Hebebaum, und schwang ihn über seinem Kopf.

Hatteras trat ihm entgegen.

»Pen, sagte er in ruhigem Ton, rührst Du Dich noch, so schieß ich Dir eine Kugel vor den Kopf!« Bei diesen Worten lud er einen Revolver und zielte auf den Matrosen.

Es erhob sich ein Murren.

»Kein Wort Ihr anderen, sagte Hatteras, oder der Mann ist des Todes!«

Johnson und Bell entrissen augenblicklich Pen seine Waffe, und er ließ sich ohne Widerstand in den untern Schiffsraum führen.

[169] »Jetzt Marsch, Brunton!« sagte Hatteras.

Der Maschinist begab sich in Begleitung von Plover und Waren an seinen Posten. Hatteras kam wieder auf's Hinterdeck.

»Dieser Pen ist ein elender Kerl, sagte zu ihm der Doctor.

– Beinahe wär's um sein Leben geschehen«, erwiderte einfach der Kapitän.

Bald hatte der Dampf hinreichende Kraft, die Anker wurden gelichtet, der Forward fuhr ostwärts auf die Spitze Beecher zu, und durchschnitt die bereits gebildeten frischen Eisblöcke.

Zwischen der Insel Baring und der Spitze Beecher trifft man eine ziemlich große Anzahl Inseln, als seien sie mitten in den Eisfeldern stecken geblieben; in den schmalen Engen, welche in dieser Gegend das Meer zertheilen, drängten sich zahlreiche Eisströme, die unter Einwirkung einer verhältnißmäßig niederen Temperatur sich aneinander zu schichten trachteten; hier und da bildeten sich Spitzberge, und man merkte, daß diese bereits festeren und dichteren Blöcke beim ersten Thauwetter eine undurchdringliche Masse bilden würden.



Der Forward suchte also mitten im Schneegestöber mit größter Mühe sein Fahrwasser. Doch kam, bei der diesen Gegenden eigenthümlichen Veränderlichkeit der Atmosphäre, von Zeit zu Zeit die Sonne wieder zum Vorschein; die Temperatur stieg wieder um einige Grad; die Hindernisse schwanden wie durch einen Zauberschlag, und ein schöner Wasserstreifen – eine Lust zum Anschauen – zog da, wo kürzlich noch alle Pässe von Eisblöcken starrten. Den Horizont schmückte prachtvolle Orangefärbung, eine Wohlthat für's Auge, das vom ewigen Schnee geblendet darauf ausruhen konnte.

Donnerstag den 26. Juli bestrich der Forward die Insel Dundas, und schlug dann mehr nördliche Richtung ein; aber bald stieß er auf eine acht bis neun Fuß hohe, aus kleinen von der Küste losgerissenen Eisbergen gebildete Eisdecke; lange Zeit mußte er längs dem krummen Rande derselben westwärts fahren. Ununterbrochen krachten die Eisblöcke, und in düsterem Zusammenklang vernahm man das Dröhnen des Schiffes. Endlich stieß die Brigg auf einen Fahrpaß, worin sie mühsam vorwärts kam; oft [170] war sie stundenlang durch einen enormen Eisblock gehemmt; der Nebel hinderte den Piloten zu schauen. So lange man eine Meile weit Aussicht hat, kann man Hindernissen leicht ausweichen; aber mitten in diesem nebeligen Gestöber reichte der Blick oft kaum eine Kabellänge. Die Wogen gingen hoch und sehr stark.

Es gab dort noch zahlreiches Gevögel, dessen Geschrei zum Betäuben war; behaglich auf den treibenden Eisblöcken gelagerte Robben hoben ihre Köpfe gar nicht schüchtern und reckten beim Vorüberfahren des Schiffes ihre langen Hälse.

Endlich, sechs Tage nach dieser langsamen Fahrt, am 1. August, gewahrte man nördlich die Spitze Beecher; Hatteras brachte diese letzten Stunden auf den Stangen des höchsten Mastes zu; das von Stuart am 30. Mai 1851 unter 76°20' Breite gesehene freie Meer konnte nicht mehr weit entfernt sein, und doch, soweit Hatteras seine Blicke schweifen ließ, gewahrte er nirgends eine Spur eines eisfreien Polarbeckens. Er stieg schweigend wieder herab.



»Glauben Sie an dies freie Meer? fragte Shandon den Lieutenant.

– Ich fange an daran zu zweifeln, erwiderte James Wall.

– Hatte ich also nicht Recht, daß ich diese angebliche Entdeckung als ein Hirngespinst ansah? Und man hat mir nicht glauben wollen, und selbst Sie, Wall, haben sich gegen mich erklärt!

[171] – Von nun an wird man Ihnen glauben beimessen, Shandon.

– Ja, erwiderte dieser, wenn's zu spät ist.«

Und er begab sich wieder in seine Cabine, wo er sich seit seinem Streit mit dem Kapitän fast immer eingeschlossen hielt.

Gegen Abend schlug der Wind um zu Süd. Nun ließ Hatteras seine Segel aufhissen und die Feuer ausgehen. Einige Tage lang hatte die Mannschaft wieder die mühevollsten Verrichtungen vorzunehmen; man brauchte über eine Woche, um die Barrowspitze zu erreichen. In zehn Tagen war der Forward keine dreißig Meilen voran gekommen.

Nun sprang der Wind abermals um zu Nord, und die Schraube wurde wieder in Bewegung gesetzt. Hatteras hoffte noch über dem siebenundsiebenzigsten Grad Breite ein eisfreies Meer zu finden, wie Edward Belcher es sah.

Und doch, wollte er Penny's Berichten glauben, so mußte dies Meer, welches er eben durchfuhr, frei sein; denn als Penny an der Eisgrenze angekommen war, untersuchte er im Canot die Ufer des Canals der Königin bis zum siebenundsiebenzigsten Grad.

Sollte er diese Berichte für unecht ansehen? oder hatte sich ein vorzeitiger Winter auf diese Polargegenden gelagert?

Am 15. August ragte der Berg Percy mit seinen schneebedeckten Spitzen im Nebel empor; der Sturmwind trieb einen Hagel von prasselnden Schloßen vor sich her. Den folgenden Tag ging die Sonne zum ersten Male unter und es endigte die lange Reihe der vierundzwanzigstündigen Tage. Die Menschen hatten sich endlich an diese ununterbrochene Tageshelle gewöhnt; die Thiere aber ließen sich dadurch nicht stören: die Hunde legten sich jeden Abend um dieselbe Stunde regelmäßig zum Schlaf.

Doch war in den auf den 15. August folgenden Nächten die Dunkelheit niemals vollständig; die Sonne spendete auch nach ihrem Untergang noch hinreichend Licht durch die Strahlenbrechung.

Am 19. August gewahrte man nach genauer Beobachtung das Cap Franklin auf der Ostküste, und auf der westlichen Seite das Cap Lady Franklin.

Der Doctor gewöhnte sich, dem Rathe Johnson's folgend, bereits an die niederen Witterungsgrade, indem er fast unaufhörlich auf dem Verdeck blieb, der Kälte, dem Wind und Schnee trotzend. Obwohl er etwas mager geworden war, so hatte er doch von der Strenge dieses Klimas nicht zu leiden.

[172] Uebrigens hielt er sich auf weitere Gefahren gefaßt, und scherzte mitunter über die Vorboten des Winters.

»Sehen Sie, sagte er einst zu Johnson, diese Züge Vögel, welche südwärts wandern! Wie fliehen sie, und rufen Lebewohl!

– Ja, Herr Clawbonny, erwiderte Johnson; sie hatten eine Ahnung, die trieb sie fort, und sie machten sich auf den Weg.

– Mancher von unseren Leuten, Johnson, hätte, glaube ich, Lust, es ihnen nachzumachen!

– Das sind schwachmüthige Leute, Herr Clawbonny; was Teufel! diese Thiere führen keinen Proviant bei sich, da müssen sie wohl anderswohin ziehen, um ihr Dasein zu fristen! Aber Seeleute auf einem guten Schiff müssen bis an's Ende der Welt dringen.



– Sie erwarten also, daß Hatteras mit seinem Vorhaben Glück haben wird?

– Es wird ihm glücken, Herr Clawbonny.

– Ich denke wie Sie, Johnson, und sollte ihm auch nur noch ein Gefährte treu bleiben ....

– Wir wären unser zwei!

– Ja, Johnson«, erwiderte der Doctor, und drückte dem wackeren Matrosen die Hand.

Das Prinz-Albert-Land, an welchem der Forward soeben vorüber fuhr, heißt auch Grinnel-Land, und dieser Name ist der allgemein verbreitete.

Die Brigg hatte, als sie bald mit Segel, bald mit Dampf um das Land herumfuhr, eine Reihe unerhörter Schwierigkeiten zu bestehen. Am 18. August [173] gewahrte man den im Nebel kaum sichtbaren Britannia-Berg, und der Forward ankerte am folgenden Tag in der Northumberland-Bai. Er war auf allen Seiten abgeschnitten.

23. Capitel
Dreiundzwanzigstes Capitel.
Erstürmung der Eisblöcke.

Nachdem Hatteras das Ankern des Schiffes besorgt hatte, begab er sich wieder in seine Cabine, nahm die Karte zur Hand und bezeichnete sie genau; er befand sich unter 76°57' Breite und 99°20' Länge, d.h. drei Minuten nur vom siebenundsechzigsten Grad ab.



An eben dieser Stelle brachte Sir Edward Belcher seinen ersten Winter mit dem Pionnier und der Assistance zu. Von diesem Punkt aus veranstaltete er seine Ausflüge im Schlitten und im Boot; er entdeckte die Tafelinsel, das nördliche Cornwallis, den Archipel Victoria und den Canal Belcher. Als er über den achtundsiebenzigsten Grad, hinausgekommen war, sah er die Küste sich südwärts ziehen. Es schien, als müsse sie sich an die Jonesstraße anschließen, welche in die Bassins-Bai führt. Aber im Nordwesten dagegen erstreckte sich, sagt sein Bericht, das freie Meer in unabsehbare Ferne.

[174] Hatteras betrachtete mit Herzklopfen den Theil der Seekarten, wo ein weiter weißer Raum diese unbekannten Gegenden bezeichnete, und seine Augen kamen stets wieder auf das eisfreie polare Bassin zurück.

»Nach so vielen Zeugnissen, sagte er sich, nach den Berichten von Steward, Penny, Belcher darf man nicht zweifeln, es muß der Fall sein! Diese kühnen Seeleute haben mit eigenen Augen gesehen! Kann man ihre Behauptung in Zweifel ziehen? Nein! – Aber, wenn inzwischen dieses damals freie Meer in Folge eines frühzeitigen Winters ... doch nein, diese Entdeckungen sind nach einer Zwischenzeit von mehreren Jahren gemacht worden; dieses Becken existirt, ich werde es auffinden! werde es sehen!«

Hatteras begab sich wieder auf's Hinterdeck. Dichter Nebel umhüllte den Forward; vom Verdeck aus konnte man kaum den oberen Theil der Maste sehen. Doch ließ Hatteras den Eismeister aus seinem Elsternest herabkommen, und nahm seinen Platz ein; er wollte die geringste Lichtung des Himmels benutzen, um den nordwestlichen Horizont zu beobachten.

Shandon hatte nicht verfehlt, zum Lieutenant zu sagen:

»Nun, Wall! und dies freie Meer!

– Sie haben Recht, Shandon, erwiderte Wall, und wir haben nur noch für sechs Wochen Kohlen vorräthig.

– Der Doctor wird ein wissenschaftliches Verfahren erfinden, erwiderte Shandon, um uns ohne Brennmaterial zu heizen. Ich habe sagen hören, man könne mit Feuer Eis bereiten; vielleicht wird er aus Eis Feuer schaffen.«

Shandon ging mit Achselzucken wieder in seine Cabine.

Am folgenden Tag, den 20. August, zertheilte sich der Nebel auf einige Augenblicke. Man sah, wie Hatteras von seinem hohen Posten aus lebhaft am ganzen Horizont spähte; darauf stieg er schweigend herab, und gab Befehl zum Weiterfahren; aber man konnte leicht wahrnehmen, daß seine Hoffnung abermals getäuscht worden war.

Der Forward lichtete die Anker und setzte seinen unbestimmten Weg nach Norden fort. Da man sich nicht mehr auf den veränderlichen Wind verlassen konnte, der zudem wegen der Krümmungen der Fahrpässe wenig zu benutzen war, so nahm man die nur hinderlichen Stangen nebst dem Takelwerk herab und zog die Maste heraus. Es bildeten sich hie und da auf dem Meer große weißliche Flecken; sie waren Vorzeichen eines bevorstehenden allgemeinen [175] Gefrierens; sobald der Wind sich legte, gefror das Meer augenblicklich, aber wenn der Wind sich wieder erhob, zerbrach und zerstob das frische Eis. Gegen Abend fiel das Thermometer auf siebenzehn Grad (– 7° hunderttheilig).

Wenn die Brigg sich in einem Fahrpaß versperrt sah, schoß sie gleich einem Sturmbock mit voller Dampfkraft wider das Hinderniß und bohrte es in den Grund. Manchmal hielt man sie für unausweichlich festgefahren, aber eine unerwartete Bewegung der Eisströme öffnete ihr neue Bahn, und sie fuhr kühn weiter; wann zur Zeit eines Aufenthaltes der Dampf aus den Klappen wich, verdichtete er sich in der kalten Luft und fiel als Schnee wieder auf's Verdeck. Noch eine andere Ursache hemmte die Fahrt der Brigg. Mitunter geriethen zwischen die Schaufeln der Schraube Eisstücke von solcher Härte, daß die Maschine sie nicht zermalmen konnte; dann mußte man diese umkehren und rückwärts fahren, indeß Bootsleute mit Hebeln und Hebebäumen die Schraube frei machten. Daraus entstanden denn Strapazen und Verzögerungen.

Dreizehn Tage lang ging es so; der Forward schleppte sich mühsam längs der Pennystraße. Die Mannschaft murrte zwar, doch leistete sie noch Gehorsam; sie sah ein, daß man jetzt unmöglich zurückfahren konnte. Die Fahrt nach Norden bot weniger Gefahren als der Rückzug nach dem Süden; man mußte auf Ueberwinterung denken.

Die Matrosen sprachen unter einander über diese neue Lage, und eines Tages plauderten sie darüber selbst mit Richard Shandon, von dem sie wußten, daß er auf ihrer Seite war. Dieser, uneingedenk seiner Officierspflicht, scheute sich nicht, in seiner Gegenwart die Autorität seines Kapitäns bestreiten zu lassen.

»Sie sagten also, Herr Shandon, fragte Gripper, wir könnten nicht mehr rückwärts fahren?

– Jetzt ist's zu spät, erwiderte Shandon.

– Dann, fuhr ein anderer Matrose fort, haben wir nur noch an ein Winterquartier zu denken?

– Das ist jetzt unsere einzige Zuflucht! Man hat mir nicht glauben wollen ...

– Ein andermal, erwiderte Pen, der wieder in seinen gewohnten Dienst eingetreten war, wird man Ihnen glauben.

– Da ich nicht der Herr sein werde ... entgegnete Shandon.

[176] – Wer weiß? versetzte Pen. John Hatteras mag gehen, so weit als es ihm belieben mag, aber man braucht ihm nicht zu folgen.

– Man braucht nur, fuhr Gripper fort, an seine erste Fahrt in's Bassins-Meer zu denken, und wie es da ergangen ist!


Die Katastrophe. (S. 180.)

– Und an die Reise des Farewell, sagte Clifton, welcher unter seinem Commando in den Meeren von Spitzbergen zu Grunde ging.

– Und er ist allein heim gekommen, erwiderte Gripper.

– Allein mit seinem Hund, versetzte Clifton.

[177] – Wir haben nicht Lust, uns dem Belieben dieses Mannes zu opfern, fügte Pen bei.

– Noch die wohlverdiente Prämie zu verlieren!«

Man erkennt an dieser Bemerkung, daß Clifton sie machte.

»Wenn wir den achtundsiebenzigsten Grad hinter uns haben, setzte er hinzu, und wir sind nicht mehr weit davon entfernt, so macht das gerade dreihundertfünfundsiebenzig Pfund für Jeden.

– Aber, erwiderte Gripper, werden wir sie nicht verlieren, wenn wir ohne den Kapitän heim kommen?

– Nein, versetzte Clifton, wann bewiesen wird, daß die Rückkehr unabweislich nothwendig geworden.

– Aber der Kapitän ... doch ...

– Sei ruhig, Gripper, erwiderte Pen, wir werden schon einen Kapitän bekommen, und einen tüchtigen, den Herr Shandon kennt. Wenn ein Commandant ein Narr wird, setzt man ihn ab, und ernennt einen anderen. Nicht wahr? Herr Shandon?

– Meine Freunde, erwiderte Shandon ausweichend, Sie werden stets in mir ein Herz voll Hingebung finden. Doch warten wir ab, was kommen wird.«

Wir sehen, es zog sich über dem Haupte Hatteras' ein Sturm zusammen; dieser aber, fest, unerschütterlich, energisch, stets zuversichtlich, schritt kühn voran. Ueberhaupt, war er auch nicht der Richtung seines Schiffes Meister, so hatte er doch Tüchtiges geleistet: andere Seefahrer hatten zwei bis drei Jahre gebraucht, um die Fahrt zu machen, welche er in fünf Monaten erzielte. Jetzt befand er sich in der Lage überwintern zu müssen, aber dies konnte für starke und entschlossene Gemüther, bewährte und an Gefahren gewöhnte Seelen, unverzagte und gestählte Geister nichts zum Erschrecken sein. Haben nicht Sir John Roß und Mac Clure drei Winter hinter einander in den Nordmeer-Gegenden zugebracht? Was diesen möglich war, konnte man's nicht ebenso machen?

»Ganz gewiß ja, sagte sich Hatteras wiederholt, und mehr noch, wenn's Noth thut! Ach! sagte er mit Bedauern zum Doctor, hätte ich doch durch den Smith-Sund, nördlich vom Bassins-Meer dringen können, so wäre ich jetzt bereits am Pol!

– Gut! erwiderte mit unveränderlichem Vertrauen der Doctor, wir [178] werden hinkommen, Kapitän, auf dem neunundneunzigsten Meridian zwar; aber gleichviel, wenn alle Wege nach Rom führen, so ist's noch sicherer, daß jeder Meridian zum Pol führt.«

Am 31. August zeigte das Thermometer dreizehn Grad (– 10° hunderttheilig). Das Ende der zur Fahrt geeigneten Zeit kam heran. Der Forward ließ die Insel Exmouth rechts, und drei Tage hernach fuhr er an der Tafelinsel vorüber, welche mitten im Canal Beecher liegt. In einer weniger vorgerückten Jahreszeit wäre es vielleicht möglich gewesen, durch diesen Canal wieder in's Bassins-Meer zu kommen, aber damals durfte man nicht daran denken. Dieser Meeresarm war von Eisblöcken gänzlich versperrt, und hätte dem Forward nicht einen Zoll Wasser zur Fahrt geboten; acht Monate noch konnte der Blick nur über unendliche und unbeweglich feste Eisfelder schweifen.

Zum Glück konnte man noch einige Minuten weiter nach dem Norden dringen, aber man mußte das frische Eis zersprengen. Bei diesen niedrigen Temperaturen war besonders windstilles Wetter zu fürchten, weil dann die Fahrwasser rasch gefrieren, und es waren damals selbst widrige Winde angenehm. In einer einzigen Nacht war alles gefroren.

Nun konnte der Forward in seiner gegenwärtigen Lage nicht überwintern, weil sie den Winden, den Eisbergen, dem Treiben des Canals ausgesetzt war; es mußte vor Allem eine geschützte Stelle aufgesucht werden; Hatteras hoffte die Küste von Neu-Cornwallis zu erreichen und jenseits der Spitze Albert eine Bai zu finden, welche hinreichend sichere Zuflucht darbot. Darum verfolgte er mit Ausdauer die Fahrt nach Norden.

Aber am 8. September stieß er auf eine zusammenhängende, undurchbrechliche Eisdecke; die Temperatur sank auf 10 Grad (– 12° hunderttheilig). Hatteras suchte, von Unruhe getrieben, vergeblich eine Durchfahrt, brachte hundertmal sein Schiff in Gefahr, und zog sich durch wunderhafte Geschicklichkeit aus gefährlichen Engen. Mochte man ihn der Unvorsichtigkeit, Unüberlegtheit, Verblendung beschuldigen, aber als Seemann war er der Tüchtigsten Einer!

Die Lage des Forward wurde wahrhaft gefährlich; und wirklich, das Meer schloß sich hinter ihm, und im Umkreis einiger Stunden bekam das Eis eine solche Härte, daß die Männer darauf liefen und in aller Sicherheit das Schiff fortzogen.

[179] Da Hatteras das Hinderniß nicht umgehen konnte, beschloß er es direct anzugreifen durch Anwendung seiner stärksten Sprengcylinder von acht bis zehn Pfund Pulver. Man grub zuerst in das Eis, so dick es war, ein Loch und, nachdem man den Cylinder sorgsam in horizontale Lage gebracht, damit die Explosion eine weiter reichende Wirkung habe, füllte man es mit Schnee; dann zündete man, gesichert durch eine Guttapercharöhre, die Lunte an.

Man war also bemüht, die Eisdecke zu sprengen, weil man die Säge nicht anwenden konnte, da die Sägeschnitte augenblicklich wieder zusammenfroren. Doch konnte Hatteras die Hoffnung fassen, den folgenden Tag seine Durchfahrt zu haben.

Aber während der Nacht tobte der Wind; das Meer hob sich unter der Eiskruste, als sei es von einer unterseeischen Kraft in Bewegung gesetzt, und der Pilot rief mit Schrecken:

»Achtung hinten! Achtung hinten!«

Hatteras blickte in die angegebene Richtung, und was er in der Dämmerung sehen konnte, war wirklich zum Erschrecken.

Ein hoch aufgethürmtes Stück Eisdecke, nordwärts zurückgeworfen, stürzte so schnell wie eine Lawine auf das Schiff heran.

»Jeder auf's Verdeck!« rief der Kapitän.

Der heranwälzende Berg war kaum noch eine halbe Meile entfernt; die Eisblöcke hoben sich, schoben sich über einander, purzelten, wie ungeheure Sandkörner von einem fürchterlichen Orkan geschleudert; ein entsetzliches Getöse erfüllte die Luft.

»Sehen Sie, Herr Clawbonny, sagte Johnson zum Doctor, das ist eine der größten Gefahren, die uns treffen konnte.

– Ja, erwiderte ruhig der Doctor, es ist etwas erschrecklich.

– Es ist gerade, als müßten wir eine Bestürmung abwehren, fuhr der Rüstmeister fort.

– Man könnte es wirklich für eine ungeheure Truppe der urweltlichen Thiere halten, von denen man meint, sie hätten am Pol gehaust! Wie drängen sie sich, eilen um die Wette heran! Ja wohl, ein Sturm, den wir abzuschlagen haben.«

Auf dem Hintertheil war die ganze Mannschaft mit Stangen, Eisenstäben, Hebebäumen bewehrt, zum Abschlagen des Sturmes bereit.

[180] Die Lawine kam heran, stets an Höhe wachsend, indem sie durch die umgebenden Eisstücke, welche sie im Wirbel mit sich fortriß, anwuchs. Hatteras hatte Befehl ertheilt, die Kanone, welche am Vordertheil war, solle mit Kugeln die drohende Masse zertrümmern; aber schon war sie da und stürzte auf die Brigg; man vernahm ein Krachen, und da sie das Schiff an der rechten Seite berührte, ging ein Theil des Geländers in Trümmern.

»Keiner rühre sich vom Platz! rief Hatteras. Achtung auf die Eisblöcke!«

Diese stürmten mit unwiderstehlicher Gewalt; Stücke von mehreren Centnern stießen wider die Schiffswände, die kleineren, bis zur Höhe der Mastkörbe geschleudert, zerrissen die Taue, zerschnitten das Takelwerk. Die Mannschaft wurde von der Menge Feinde überflügelt, deren Masse hundert Schiffe gleich dem Forward hätte zertrümmern können. Jeder that sein Mögliches, die Stürmenden abzuwehren; das Getöse ward erschrecklich; Duk bellte wüthend; die Dunkelheit vermehrte das Schreckliche der Lage.

Hatteras rief, inmitten dieses fremdartigen, übernatürlichen Kampfes der Menschen mit den Eisblöcken, beständig seine Befehle zu. Das Schiff, dem enormen Druck nachgebend, neigte auf die linke Seite, und es kam in Gefahr, seinen Hauptmast zertrümmert zu sehen.

Hatteras begriff die Gefahr; es war ein schrecklicher Moment; die Brigg drohte sich völlig umzulegen, das Mastwerk zu verlieren.

Nun erschien ein ungeheurer Block von der Größe des Schiffes, an dessen Seite mit unwiderstehlicher Gewalt sich erhebend; schon ragte er über das Hinterdeck; wenn er über den Forward stürzte, war Alles verloren. Bald erreichte er die Höhe der Maststangen, und wankte auf seiner Basis.

Da schrieen Alle vor Entsetzen auf; jeder eilte auf die rechte Seite.

Aber in dem Moment wurde das ganze Schiff emporgehoben, schwebte eine Weile in der Luft, dann fiel es wieder auf die Eisblöcke. Worin bestand das Ereigniß?

Emporgehoben von der steigenden Fluth, zurückgeworfen von den Blöcken, die es hinten faßten, zerbrach es die unzerbrechliche Eisdecke. Nach einer Minute fiel es hinter dem Hinderniß auf ein Eisfeld nieder, zertrümmerte dieses mit seinem Gewicht, und befand sich wieder in seinem Element.

»Die Eisdecke zertrümmert! rief Johnson.

– Gott Lob und Dank!« erwiderte Hatteras.

[181] In der That befand sich die Brigg mitten in einem Eisbecken; ihr Kiel tauchte völlig im Wasser, aber auf allen Seiten von Eis umgeben konnte sie sich doch nicht rühren, das ganze Eisfeld trieb mit ihr fort.

»Wir treiben, Kapitän! schrie Johnson.

– Lassen wir gewähren«, erwiderte Hatteras.

Wie wäre es auch möglich gewesen, diesem Zug zu widerstehen?



Es ward Tag und es stellte sich heraus, daß die Eisbank durch Einwirkung einer unterseeischen Strömung reißend eilig nordwärts trieb. Diese treibende Masse führte also den Forward, der mitten in dem unabsehbaren Eisfeld eingeklemmt war, mit sich; für den möglichen Fall einer Katastrophe, wenn die Brigg auf die Seite geworfen, oder vom Druck der Eisblöcke zertrümmert werden sollte, ließ Hatteras eine große Menge Proviant, Lagereffecten, Kleidung und Decken für die Mannschaft auf's Verdeck bringen. Aehnlich verfuhr einmal Mac Clure. Er ließ sein Schiff rings mit Hängematten umgeben, die mit Luft gefüllt waren, so daß sie gegen starke Beschädigungen zum Schutz dienen konnten; da nun das Eis bei einer Temperatur von sieben Grad (– 14° hunderttheilig) sich anhäufte, so war das Schiff bald von einer Mauer umgeben, aus welcher nur seine Masten hervorragten.

Sieben Tage lang dauerte diese Fahrt; die Spitze Albert, welche das Westende von Neu-Cornwallis bildet, kam am 10. September zu Sicht, und verschwand bald wieder; man bemerkte, daß das treibende Eisfeld von dem [182] Augenblick an sich ostwärts wendete. Wohin trieb es dergestalt? Wo würde man anhalten? Wer mochte das voraussehen.

Die Mannschaft wartete ab, die Hände im Schooß. Am 15. September gegen drei Uhr Nachmittags hielt das Eisfeld, welches ohne Zweifel auf ein anderes gestoßen war, plötzlich stille; das Schiff erlitt eine starke Erschütterung. Hatteras sah auf die Karte; er befand sich, ohne irgend ein Land in Sicht, nordwärts unter 78°15' Breite und 95°35' Länge, mitten in der Region, wohin die Geographen den Kältepol gelegt haben!

24. Capitel
Vierundzwanzigstes Capitel.
Vorbereitungen für Ueberwinterung.

Die südliche Halbkugel ist kälter im Verhältniß zu gleicher Breite der nördlichen; aber die Temperatur des Neuen Continents ist noch um fünfzehn Grad niedriger, als die der anderen Welttheile; und in Amerika sind die Gegenden, welche unter der Benennung Kältepol bekannt sind, die fürchterlichsten.

Die mittlere Temperatur des ganzen Jahres ist nur zwei Grad unter Null (– 19° hunderttheilig). Die Gelehrten, deren Ansicht der Doctor Clawbonny in dieser Hinsicht theilte, haben dies folgendermaßen erklärt.

Ihnen zufolge kommen die Winde, welche in Nordamerika standhaft herrschen, aus Südwest, vom Stillen Ocean her mit einer gleichmäßigen und erträglichen Temperatur; aber bis sie zu den Polar-Meeren gelangen, müssen sie über das unermeßliche schneebedeckte Gebiet Amerikas streichen; dadurch werden sie kalt, und breiten dann ihre eisige Strenge über die Nordpolgegenden.

Hatteras befand sich am Kältepol, noch über den von seinen Vorgängern gesehenen Gegenden hinaus; demnach war er auf einen fürchterlichen Winter gefaßt, auf einem mitten im Eis steckenden Schiff mit einer zum Aufruhr [183] geneigten Bemannung. Er entschloß sich, diesen Gefahren mit gewohnter Energie Trotz zu bieten.

Vor allen Dingen ergriff er mit Johnson's erfahrenem Beistand alle für die Ueberwinterung nothwendigen Maßregeln. Seiner Berechnung nach war der Forward zweihundertundfünfzig Meilen weiter, als das letzte bekannte Land liegt, nämlich Neu-Cornwallis, fortgetrieben worden; er steckte in einem Eisfeld, wie in einem Granitbett, und keine menschliche Macht vermochte ihn da herauszureißen.



In diesen weiten Meeren, auf welchen der Polarwinter lastete, war kein Tropfen Wasser mehr frei. Die Eisfelder erstreckten sich in unabsehbarer Ausdehnung, aber ohne gleichförmige Oberfläche; im Gegentheil, zahlreiche Eisberge starrten auf der Eisfläche empor, und der Forward befand sich an einer Stelle, die auf drei Seiten von den höchsten derselben geschirmt war, nur dem Südost offen stand. Aber es waren nicht Felsen, die eine hübsche Bai schirmten, keine Wiesen und Waldesgrün, kein fließendes Wasser. Vielmehr welche Verödung! Welche düstere Natur! Welch' kläglicher Anblick!

So fest das Schiff steckte, mußte es doch mit Ankern tüchtig gesichert werden; man mußte sich auf Eisbrüche oder unterseeische Wogenbewegungen gefaßt machen. Als Johnson diese Lage des Forward unter'm Kältepol erkannte, beobachtete er noch strenger seine Ueberwinterungsmaßregeln.

»Wir werden strenge Tage bekommen! sagte er zum Doctor; da sehen wir, was der Kapitän für Glück hat! Am widerwärtigsten Punkt des Erdballs [184] sich einklemmen zu lassen! Bah! Wir werden sehen, wie wir aus dieser Noth herauskommen.«

Der Doctor war in seinem Innern ganz vergnügt über diese Lage. Er hätte sie gar nicht mit einer anderen tauschen mögen! Am Kältepol überwintern! Welches Glück!

Zuerst befaßten sich die Leute mit äußeren Arbeiten. Die Segel blieben an den Stangen befestigt, wurden nur in ihre Schutzhüllegeschlagen; man zog die Masten nicht heraus, und das Elsternest blieb an seiner Stelle, es war eine natürliche Warte; nur das laufende Takelwerk wurde abgenommen.

Es wurde nothwendig, das Eis um das Schiff herum aufzuhauen, da der Druck ihm schadete, welchen die auf beiden Seiten gehäuften Eisblöcke in hohem Grade ausübten. Nach einigen Tagen war die mühevolle Arbeit gethan, und man untersuchte den Kiel; er hatte keinen Schaden gelitten, nur seinen Kupferbeschlag fast ganz verloren. Als das Schiff frei war, hob es sich fast um neun Zoll.

Der Doctor betheiligte sich bei diesen Arbeiten; er handhabte geschickt das Schneemesser, und erhielt die Matrosen bei guter Laune; er belehrte und lernte. Er billigte sehr die Anordnungen in Beziehung auf das Eis um das Schiff herum.

»Nun können wir auch, fuhr Johnson fort, ohne Sorgen eine Schneemauer bis zur Höhe des Platt-Bord aufführen, wenn wir wollen, zehn Fuß dick.

– Ein vortrefflicher Gedanke, versetzte der Doctor; denn Schnee ist ein schlechter Wärmeleiter, und die innere Wärme wird nicht so leicht entweichen.

– Sie haben Recht, erwiderte Johnson, wir errichten eine Schutzwand gegen die Kälte, aber auch gegen reißende Thiere, wenn sie Lust bekommen sollten, uns zu besuchen; wenn die Arbeit fertig ist, schneiden wir in die Schneemasse zwei Treppen, die zu dem Vorder- und Hintertheil des Schiffes führen, und begießen sie mit Wasser, wodurch dieselben steinhart werden.

– Vortrefflich, erwiderte der Doctor, und man muß gestehen, es ist doch ein Glück, daß die Kälte Schnee und Eis erzeugt, d.h. ein Schutzmittel gegen dieselbe: Sonst würde man sehr in Verlegenheit gerathen.«

In der That sollte das Schiff unter einer dichten Eisdecke verschwinden, welcher es die Erhaltung seiner inneren Wärme verdanken wollte. Es wurde [185] aus dicker betheerter Leinwand ein Dach über das Verdeck in der ganzen Länge des Schiffes gefertigt, und mit Schnee bedeckt; auch reichte diese Leinwand zur Deckung der Seiten des Schiffes ziemlich weit herab. Da das Verdeck gegen jede äußere Einwirkung geschützt war, wurde es ein wahrer Spazierplatz; es wurde mit einer Schneelage von zwei und einem halben Fuß bedeckt, und dieser Schnee wurde festgestampft, daß er sehr hart wurde, und so das Ausströmen der Wärme des Innern hemmte. Ueber denselben breitete man eine Lage Sand, der verhärtet eine Kruste bildete.

In der Nähe der Brigg machte man eine Feuerstätte, ein kreisrundes, in das Eisfeld gegrabenes Loch, einen Schacht, den man stets zugänglich halten mußte, indem man jeden Morgen das an seiner Mündung gebildete Eis zerbrach. Sie mußte dazu dienen, Wasser vorräthig zu halten, sei es für den Fall eines Brandes oder zum Baden, welches als Gesundheitsmaßregel für die Mannschaft angeordnet war; man war selbst darauf besorgt, um Brennmaterial zu sparen, das Wasser aus tieferen Schichten, wo es weniger kalt ist, zu schöpfen, und bediente sich dafür eines von dem gelehrten Arago angegebenen Apparats.



Gewöhnlich entfernt man während der Wintermonate alle den Raum einengenden Gegenstände aus dem Schiff, um über größere Räume zu verfügen, und hebt sie am Lande in Magazinen auf. Aber was in der Nähe einer Küste ausführbar ist, wird bei einem Schiff, das auf einem Eisfeld ankert, unmöglich.

[186] Im Innern des Schiffs war Vorsorge getroffen, um die Hauptnachtheile dieser hohen Breiten, Kälte und Feuchtigkeit, zu entfernen; die letztere ist noch mehr zu fürchten, als die erstere; denn dieser widersteht, jener erliegt man.

Da der Forward zu einer Fahrt in die Polar-Meere bestimmt war, so hatte er die beste Einrichtung für ein Winterquartier. Das große Zimmer der Mannschaft war verständig eingerichtet; man hatte Winkel, wohin sich zuerst Feuchtigkeit zieht, vermieden; denn bei niederer Temperatur bildet sich, zumal in den Ecken, über den Scheidewänden eine Eisschichte, die, wenn sie schmilzt, eine beständige Feuchtigkeit erzeugt. Kreisrund wäre der Saal noch zweckmäßiger gewesen; aber doch mußte er, durch einen geräumigen Ofen geheizt und gehörig gelüstet, ganz wohnlich sein. Die Wände waren mit Damhirschfellen, nicht mit Wollstoffen tapeziert, denn in der Wolle verdichten sich die Dünste, wodurch die Luft mit Feuchtigkeit erfüllt wird.

In dem Hinterdeck wurden die Zwischenwände weggeräumt, so daß die Officiere einen gemeinsamen Saal bekamen, der größer und lustiger war, und mit einem Ofen geheizt wurde. Vor diesem Saal, sowie vor dem der Mannschaft, befand sich eine Art Vorzimmer, wodurch ihm aller unmittelbarer Verkehr nach außen entzogen wurde, so daß die Wärme sich nicht verlor und man allmälig aus einer Temperatur in die andere überging. In den Vorzimmern ließ man die beschneiten Kleider; und für die Füße zu reinigen waren außen Kratzeisen angebracht, damit nicht irgend gesundheitschädliche Elemente hineingebracht würden.

Leinene Schläuche dienten, Luft einzuführen, um den Oefen Zug zu geben; andere führten die Wasserdämpfe hinaus. Außerdem waren in den beiden Sälen Condensatoren angebracht, welche die Dämpfe einsogen, anstatt sie in Wasser sich auflösen zu lassen; man leerte sie zweimal wöchentlich, und sie enthielten manchmal einige Scheffel Eis.

Vermittelst dieser Luftschläuche regelte man das Feuer leicht und vollständig; eine kleine Quantität Kohlen reichte hin, um in den Sälen eine Temperatur von fünfzehn Grad (+ 10° hunderttheilig) zu erhalten. Doch sah Hatteras, nachdem er seinen Kohlenvorrath hatte ausmessen lassen, daß er bei größter Sparsamkeit nicht für zwei Monate mehr Brennmaterial hatte.

Es wurde ein Trockenraum eingerichtet für die Kleidung, welche oft gewaschen [187] werden mußte; denn an der freien Luft konnte man sie nicht trocknen, weil sie sonst hart und zerbrechlich wurde.

Ferner wurden die feineren Theite der Maschine sorgfältig herausgenommen und in einer hermetisch geschlossenen Kammer verwahrt.

Die Lebensweise an Bord wurde ernstlicher Ueberlegung unterzogen, von Hatteras sorgfältig geregelt und das Reglement in dem gemeinschaftlichen Saal angeheftet.

Die Männer standen um sechs Uhr früh auf; die Hängematten wurden dreimal wöchentlich an die Luft gebracht; der Fußboden beider Zimmer wurde jeden Vormittag mit warmem Sand gerieben; bei jeder Mahlzeit wurde heißer Thee gegeben, und die Speisen wechselten möglichst nach den Wochentagen; sie bestand aus Brod, Mehl, Rindschmalz und Rosinen für Puddings, Zucker, Cacao, Thee, Reis, Citronensaft, gepökeltes Rind- und Schweinefleisch, Kohl und Gemüse in Essig; die Küche lag außerhalb der gemeinschaftlichen Säle. Damit entzog man sich zwar ihre Wärme, aber das Kochen erzeugt auch fortwährend Dünste und Feuchtigkeit.

Die Gesundheit der Menschen hängt sehr viel von der Art ihrer Nahrung ab; unter so hohen Breitegraden muß man so viel wie möglich thierische Stoffe verzehren. Der Doctor hatte bei Abfassung des Programms die erste Stimme.

»Man muß sich an den Eskimos, welche ihre Unterweisung von der Natur bekamen, ein Beispiel nehmen; wenn die Araber, die Afrikaner sich mit einigen Datteln und einer Handvoll Reis begnügen können, so muß man hier essen und viel. Die Eskimos verzehren bis zu zehn und fünfzehn Pfund Oel täglich. Wenn diese Nahrung Ihnen nicht behagt, so müssen wir zu Stoffen greifen, welche reich an Zucker und Fett sind. Mit einem Wort, wir bedürfen Kohlenstoff, also machen wir Kohlenstoff. Wie es zuträglich ist, Kohlen in den Ofen zu schieben, so dürfen wir auch nicht versäumen, den kostbaren Ofen in unserm Leibe mit diesem Stoff zu versehen!«

Neben dieser Speiseregel wurde der Mannschaft die strengste Reinlichkeit auferlegt; jeder mußte alle zwei Tage ein laues Bad nehmen, ein vortreffliches Mittel, die natürliche Wärme zu bewahren. Der Doctor ging mit seinem Beispiel voran; Anfangs that er es, obwohl es ihm sehr widerlich war; aber er gab dieses Vorurtheil bald auf, denn es ward ihm die Gesundheitsmaßregel sehr behaglich.

[188] Wenn die Leute bei großer Kälte an der Arbeit oder auf der Jagd auswärts waren, mußten sie sich besonders hüten, daß einzelne Glieder vom Frost litten. Trat ein solcher Fall ein, so beeilte man sich, durch Reiben mit Schnee die Blutcirculation wieder herzustellen. Außerdem trugen die Leute sorgfältig wollene Kleidung über den ganzen Körper, Capotröcke von Damhirschfell und Hosen von Robbenfell, welches gegen den Wind vollständig schützt.

Die verschiedenen Einrichtungen und Herstellungen an Bord nahmen etwa drei Wochen in Anspruch, und man kam ohne besonderen Zwischenfall zum 10. October.

25. Capitel
Fünfundzwanzigstes Capitel.
Ein alter Fuchs von James Roß.

An diesem Tage fiel das Thermometer bis auf drei Grad unter Null (– 16° hunderttheilig). Das Wetter war ziemlich ruhig; bei der Windstille war die Kälte leicht erträglich. Die helle Atmosphäre zu benutzen, ging Hatteras aus, um die Ebenen der Umgebung zu untersuchen; er klimmte auf einen der höchsten Eisberge, umfaßte aber mit dem Feld seines Fernrohres nur eine Reihe von Eisbergen und Eisfeldern. Nicht ein einziges Land in Sicht, wohl aber ein höchst trauriges Bild von Chaos. Als er zurückkam, versuchte er die muthmaßliche Dauer seiner Gefangenschaft zu berechnen.

Die Jäger, unter ihnen der Doctor, James Wall, Simpson, Johnson, Bell, versäumten nicht, das Schiff mit frischem Fleisch zu versehen. Die Vögel waren verschwunden, im Süden milderes Klima suchend. Nur die Ptarmigan, eine dieser Breite eigenthümliche Art Felsrebhühner, waren nicht vor der Kälte entflohen; sie ließen sich leicht erlegen und ihre große Zahl versprach reichlichen Vorrath an Wildpret.

An Hasen, Füchsen, Wölfen, Hermelinen, Bären war kein Mangel; ein französischer, englischer, norwegischer Jäger hätte sich nicht zu beklagen gehabt;[189] aber man kann diesen scheuen Thieren nicht leicht nahe kommen; auch waren sie ihrer weißen Farbe wegen auf den weißen Ebenen schwer zu erkennen, denn ehe die große Kälte eintritt, wechseln sie den Pelz.

Häufig traf man Seekälber, Meerhunde, die unter der allgemeinen Benennung Robben begriffen sind; ihre Jagd empfahl sich ganz besonders, sowohl um ihrer Felle willen, als ihres Fettes, welches in hohem Grade als Brennmaterial dienlich ist. Zudem wurde die Leber dieser Thiere nöthigenfalls ein treffliches Nahrungsmittel; man konnte sie zu Hunderten zählen, und einige Meilen nordwärts vom Schiff war das Feld bei Tage von den Lustschöpslöchern dieser Amphibien buchstäblich durchbohrt; nur witterten sie den Jäger mit merkwürdigem Instinct, und es wurden viele angeschossen, die durch Untertauchen leicht entrannen.



Doch gelang es Simpson am 19., sich eines derselben, vierhundert Yards vom Schiff entfernt, zu bemächtigen; er war so vorsichtig gewesen, sein Zufluchtsloch zu verstopfen, so daß das Thier dem Jäger preisgegeben war. Es wehrte sich lange und wurde erst nach einigen Schüssen erlegt. Es war neun Fuß lang; an seinem Kopf, der dem eines Bullenbeißers glich, den sechzehn Zähnen seiner Kiefern, seinen großen Brustflossen in Form von Schaufeln, seinem kleinen mit noch einem Paar Flossen versehenen Schwanz erkannte man ein prachtvolles Exemplar aus der Familie der Meerhunde. Da der Doctor dessen Kopf für seine naturhistorische Sammlung aufzubewahren wünschte, und seine Haut für künftige Bedürfnisse, so ließ er beides durch ein rasches und wenig kostspieliges Verfahren dazu vorbereiten.

Sobald das Herbstäquinóctium vorüber ist, d.h. der 23. September, kann man sagen, daß der Winter in den Polargegenden beginnt. Nachdem dies wohlthuende Gestirn allmälig unter den Horizont gewichen, verschwand es am 23. October ganz, und bestrich nur noch mit schiefen Strahlen den Kamm [190] der eisbedeckten Berge. Vor dem Februar sollte man es nicht wieder zu Gesicht bekommen.

Doch muß man nicht glauben, während der langen Abwesenheit der Sonne herrsche völlige Dunkelheit; der Mond ersetzt sie allmonatlich bestens; dazu kommt ferner das sehr helle Funkeln der Sterne, der Glanz der Planeten, häufiges Nordlicht und eigenthümliche Strahlenbrechungen am schneeweißen Horizont; übrigens ist die Sonne zur Zeit ihrer größten südlichen Entfernung noch um dreizehn Grad dem polaren Horizont nahe, so daß täglich eine Dämmerung von einigen Stunden herrscht. Nur Nebel und Schneegestöber versenken oft diese Regionen in vollständiges Dunkel.



Doch war bis zu diesem Zeitpunkt das Wetter ziemlich günstig; nur die Feldhühner und Hasen hatten sich darüber zu beklagen, denn die Jäger ließen ihnen nicht einen Moment Ruhe; man stellte einige Fuchsfallen; aber diese argwöhnischen Thiere ließen sich nicht fangen; manchmal sogar kratzten sie den Schnee unter der Falle auf, so daß sie den Köder ohne Gefahr erhaschen konnten.

Am 25. October zeigte das Thermometer nur vier Grad unter Null (– 20° hunderttheilig). Es brach ein äußerst heftiger Sturm los, und die mit dichtem Schnee gefüllte Luft ließ keinen Lichtstrahl zum Forward gelangen.



Einige Stunden lang war man unruhig über Bell's und Simpson's Schicksal, welche sich auf der Jagd zu weit entfernt hatten; sie kamen erst im folgenden Morgen wieder an Bord, nachdem sie einen ganzen Tag lang[191] in ihr Hirschfell gehüllt gelegen, während der Sturm den Luftraum über ihnen fegte und sie unter einer fünf Fuß dicken Schneedecke begrub. Sie wären fast erfroren, und der Doctor konnte nur mit viel Mühe die Blutcirculation wieder herstellen.

Das Unwetter dauerte acht Tage lang ohne Unterbrechung. Man konnte keinen Schritt hinausgehen. Nur einen einzigen Tag fand eine Abwechselung der Temperatur um fünfzehn und zwanzig Grad statt.

Während dieser nothgedrungenen Unthätigkeit lebte jeder für sich besonders, [192] die Einen schlafend, die Anderen rauchend; gewisse Leute unterhielten sich leise und brachen ab, wenn Johnson oder der Doctor nahe kam; es bestand zwischen den Leuten der Bemannung kein moralisches Band mehr; sie kamen nur noch zu dem gemeinsam verrichteten Abendgebet zusammen, und Sonntags für den Gottesdienst und das Bibellesen.


Mondglanz in unvergleichlicher Reinheit. (S. 193.)

Clifton hatte sich genau ausgerechnet, daß, nachdem sie über den achtundsiebenzigsten Grad hinausgedrungen, sein Antheil an der Prämie sich auf dreihundertfünfundsiebenzig Pfund belaufe; ihm war die Summe schon rund genug, und sein Trachten ging nicht eben weiter. Man theilte gerne seine Meinung, und sann darauf, dies mit so viel Strapazen erworbene Vermögen zu genießen.

Hatteras war fortwährend fast unsichtbar; er nahm weder an der Jagd, noch am Spaziergang Theil; die meteorologischen Erscheinungen, welche die Bewunderung des Doctors erregten, interessirten ihn nicht im Mindesten. Seine Seele war nur von einem einzigen Gedanken erfüllt, der sich in dem Wort aussprach: Der Nordpol. Er dachte nur an den Moment, da der Forward endlich frei seine abenteuerliche Fahrt fortsetzen würde.

Kurz, die allgemeine Stimmung an Bord war eine düstere.

Während dieser unbeschäftigten Stunden ordnete der Doctor seine Reisenotizen; er war nie ohne Thätigkeit, und seine gute Laune unveränderlich. Doch war er froh, als das Unwetter ein Ende hatte, um seine gewohnten Jagdausflüge zu machen.

Am 3. November, um 6 Uhr Vormittags, bei einer Temperatur von fünf Grad unter Null (– 21° hunderttheilig) zog er wieder aus in Gesellschaft von Johnson und Bell; auf dem in den letzten Tagen reichlich gefallenen und festgefrorenen Schnee war es leicht zu gehen; die Kälte war trocken und empfindlich; der Mond glänzte in unvergleichlicher Reinheit, so daß die Jäger lange Schatten auf die Fläche hinwarfen.

Der Doctor hatte seinen Freund Duk bei sich, der witternd des Weges lief und oft bei einer noch frischen Spur stehen blieb. Doch trotzdem waren die Jäger nach zwei Stunden nicht einmal auf einen Hasen gestoßen.

»Hat denn auch das Wild Lust bekommen, südwärts zu wandern? sagte der Doctor.

– Man sollte es meinen, Herr Clawbonny, erwiderte der Zimmermann.

[193] – Ich meinestheils glaube es nicht, versetzte Johnson; Hasen, Füchse, Bären sind hier in ihrem Klima; meiner Ansicht nach hat der letzte Sturm ihr Verschwinden verursacht; aber mit den Südwinden werden sie bald wieder kommen. Ja, wenn Sie von Rennthieren und Bisamochsen sprächen, wäre es anders.

– Und doch finden sich diese Thiere auf der Insel Melville häufig truppweise, fuhr der Doctor fort; sie liegt doch südlicher, und Parry hat bei seinen Winteraufenthalten von diesem prächtigen Wildpret stets soviel gehabt, als er nur wollte.

– Wir sind nicht so gut daran, erwiderte Bell; könnten wir nur Bärenfleisch genug haben, so hätten wir uns nicht zu beklagen.

– Darin liegt eben die Schwierigkeit, entgegnete der Doctor; die Bären scheinen mir sehr selten und wild.

– Bell spricht von Bärenfleisch, fuhr Johnson fort; aber das Fett dieses Thieres wäre uns jetzt noch wünschenswerther, als sein Fleisch und Pelz.

– Du hast Recht, Johnson, erwiderte Bell, daß Deine Gedanken auf Brennmaterial stehen?

– Darauf muß man wohl denken, selbst bei größter Sparsamkeit haben wir für keine drei Wochen mehr!

– Ja, versetzte der Doctor, darin liegt eine wirkliche Gefahr, denn wir sind erst im Anfang des Novembers, und der Februar ist in den Eisregionen der kälteste Monat im Jahre; doch können wir in Ermangelung von Bärenfett auf Robbenfett rechnen.

– Nicht lange mehr, Herr Clawbonny, erwiderte Johnson, es wird nicht lange dauern, so werden uns diese Thiere meiden; mag Kälte oder Schrecken die Ursache sein, wir werden sie bald nicht mehr auf den Eisblöcken zu sehen bekommen.

– Dann, fuhr der Doctor fort, müssen wir uns, sehe ich wohl, durchaus auf die Bären beschränken; das ist offenbar das nützlichste Thier dieser Gegenden, denn es kann für sich allein dem Menschen seine nothwendigsten Bedürfnisse, Nahrung, Kleidung, Licht und Brennstoff, liefern. Hörst Du, Duk, sprach der Doctor liebkosend zu dem Hunde, Bären brauchen wir; also, mein Freund, such'! spür' auf!«

Duk, der eben die Eisfläche auswitterte, folgte dem schmeichelnden Auftrag [194] des Doctors, und rannte pfeilschnell davon. Er bellte so lebhaft, daß es trotz seiner Entfernung von den Jägern deutlich vernommen wurde.

Es ist zum Erstaunen, wie weit in den niederen Temperaturen der Ton reicht; es ist gerade wie mit dem Sternenlicht am Polar-Himmel; die Lichtstrahlen und die Tonwellen pflanzen sich auf beträchtliche Entfernung fort, zumal bei der trockenen Kälte bei Nacht.


Ein Fuchs, statt eines Bären!

Die Jäger eilten, diesem fernen Bellen folgend, dem Duk nach; sie hatten eine Meile zurückzulegen, und kamen athemlos an, denn in solcher Atmosphäre verliert man leicht den Athem. Duk stand kaum fünfzig Schritte von einer enormen Gestalt, die auf dem Gipfel eines Hügels sich hin und her bewegte.

»Da haben wir es ja nach Wunsch! rief der Doctor, und lud sein Gewehr.

– Ein Bär, meiner Treu', ein hübscher Bär, sagte Bell.

– Ein ausgezeichneter Bär«, sagte Johnson, und behielt sich vor, seine beiden Gefährten zuerst schießen zu lassen.

Duk bellte wüthend. Bell ging zwanzig Schritte vor, und feuerte; aber er schien nicht getroffen zu haben, denn das Thier fuhr fort, seinen Kopf plump hin und her zu wiegen.

Nun trat auch Johnson vor, und schoß nach sorgfältigem Zielen.

»Schön! rief der Doctor; abermals nichts! Ei! Die verdammte Strahlenbrechung! Wir sind noch nicht in Schußweite; daran gewöhnt man sich nicht leicht! Dieser Bär ist noch über tausend Schritte entfernt!

– Vorwärts!« erwiderte Bell.

[195] Die drei Kameraden stürzten nun flugs auf das Thier zu, welches durch die Schüsse gar nicht scheu geworden war; es schien von stattlicher Größe zu sein, und die Jäger freuten sich schon ihrer Beute. Als sie in gehörige Schußweite kamen, feuerten sie, und der Bär, ohne Zweifel tödtlich getroffen, stürzte mit einem gewaltigen Satz zum Fuß des Hügels herab.

Duk rannte hin.

»Den Bär zu erlegen, sagte der Doctor, wird nicht schwer gewesen sein.

– Nur drei Schüsse, erwiderte Bell verächtlich, und er liegt schon auf dem Boden.

– Es ist sogar auffallend, sagte Johnson.

– Sofern wir nicht gerade im Momente kamen, da er Alters halber im Sterben war, versetzte lachend der Doctor.

– Wahrhaftig, alt oder jung, entgegnete Bell, ist es immer gute Beute.«



Während dieses Gespräches kamen die Jäger zu dem Hügel, und fanden zum großen Erstaunen Duk hitzig über dem Leichnam eines weißen Fuchses!

»Ei! Potz tausend, rief Bell, das ist ein starkes Stück!

– Wahrhaftig sagte der Doctor, wir erlegen einen Bären, und ein Fuchs fällt!«

Johnson wußte nickt recht, was er sagen sollte.

»Schön! rief der Doctor mit hellem Lachen und einigem Aerger dabei; abermals die Strahlenbrechung!

– Wie verstehen Sie das, Herr Clawbonny? fragte der Zimmermann.

– Ei! mein Freund, die Strahlenbrechung hat uns, wie über die Entfernung, so auch über die Größe getäuscht, so daß wir unter der Haut eines Fuchses einen Bären zu sehen meinten! So versehen sich oft die Jäger im gleichen Falle! Nun, das haben wir unserer Phantasie zu verdanken.

[196] – Meiner Treu', erwiderte Johnson, Bär oder Fuchs, man wird ihn gleichwohl verzehren. Nehmen wir ihn mit.«

Aber, als der Rüstmeister das Thier auf seine Schultern laden wollte, rief er:

»Das ist aber noch ein stärkeres Stück!

– Was ist denn? fragte der Doctor.

– Schauen Sie, Herr Clawbonny, hier, dieses Thier trägt ein Halsband!

– Ein Halsband?« versetzte der Doctor, und beugte sich über das Thier.

Wirklich, es war da ein kupfernes Halsband mitten im weißen Pelz zu sehen; der Doctor glaubte eine Inschrift zu bemerken; mit einem Griff machte er es von dem Halse los, woran es seit langer Zeit geschmiedet schien.


(S. 198.)

»Was hat das zu bedeuten? fragte Johnson.

– Das bedeutet, erwiderte der Doctor, daß wir einen Fuchs erlegt haben, der über zwölf Jahre alt ist, meine Freunde, einen Fuchs, den James Roß 1818 gefangen hatte.

– Ist es möglich! rief Bell.

– Ohne allen Zweifel; es ist mir leid, daß wir das arme Thier erlegt haben! James Roß kam während seines Winteraufenthaltes auf den Gedanken, eine Menge weißer Füchse in Schlingen zu fangen; diesen ließ er ein kupfernes Halsband anlegen, mit einer Aufschrift, welche die Namen seiner Schiffe Entreprise und Investigator bezeichnete, und eine Niederlage von Lebensmitteln [197] angab. Diese Thiere streifen, wenn sie ihre Nahrung suchen, über weit ausgedehnte Landstrecken, und James Roß hoffte, es möchte eins von den Thieren einigen Leuten von Franklin's Expedition in die Hände gerathen. Das erklärt Alles.

– Wahrhaftig, wir wollen es nicht verzehren, sagte Johnson; zudem, ein zwölf Jahre alter Fuchs! Jedenfalls wollen wir sein Fell zum Zeugniß des merkwürdigen Ereignisses aufbewahren.«

Johnson lud das Thier auf seine Schultern. Die Jäger kehrten nach dem Schiff zurück, indem sie sich durch die Sterne orientirten. Ihr Ausflug war doch nicht ganz ohne Ergebniß, sie konnten noch einige Paar Ptarmigans erlegen.

Eine Stunde bevor sie wieder zum Forward kamen, trat ein Naturereigniß ein, das den Doctor im höchsten Grad in Erstaunen setzte: ein wahrer Regen von Sternschnuppen. Man konnte sie auf Tausende schätzen, wie die Raketen bei einem Kunstfeuerwerk, blendend weiß; das Mondlicht war dagegen bleich. Man konnte sich an dem Phänomen nicht satt sehen, das einige Stunden lang dauerte. Als der Doctor sich wieder an Bord befand, brachte er die ganze Nacht damit zu, den Lauf des Meteorzugs zu verfolgen, der erst gegen sieben Uhr früh, inmitten tiefer Stille der Atmosphäre verschwand.

26. Capitel
Sechsundzwanzigstes Capitel.
Das letzte Bröcklein Kohle.

Bären zu erjagen, schien durchaus nicht möglich; man erlegte während des 4., 5. und 6. November einige Robben, darauf, als der Wind umschlug, stieg die Temperatur um einige Grade; aber die Schneegestöber begannen von Neuem mit einer Heftigkeit ohne Gleichen. Das Schiff zu verlassen, ward unmöglich, und man hatte große Noth, um die Feuchtigkeit zu beseitigen.

Am 15. November änderte sich die Witterung abermals, und unter Einwirkung gewisser atmosphärischer Einflüsse sank das Thermometer auf [198] vierundzwanzig Grad unter Null (– 31° hunderttheilig). Dies war die niedrigste bis jetzt beobachtete Temperatur. Diese Kälte wäre bei ruhiger Luft erträglich gewesen; aber der Wind wehte schneidend scharf.

Bei einer solchen Kälte bringt jede heftige Bewegung leicht außer Athem. Ein Mann kann dann kaum den vierten Theil seiner gewöhnlichen Arbeit leisten; es wird unmöglich, eiserne Geräthschaften anzufassen; nimmt man solche unvorsichtig in die Hand, so empfindet diese einen Schmerz, wie bei einer Brandwunde, und Fetzen der Haut bleiben an dem unvorsichtig angefaßten Gegenstande hängen.

Da also die Mannschaft auf das Schiff beschränkt war, mußte sie täglich einige Stunden lang auf dem überdachten Verdeck zubringen, wo ihr auch das Rauchen gestattet war, denn im gemeinschaftlichen Saal war es untersagt.

Hier wurden, sobald das Feuer ein wenig nachließ, die Wände und Fugen des Fußbodens sogleich mit Eis überzogen; es war kein Bolzen oder Nagel von Eisen, keine metallene Platte, die nicht sogleich damit bedeckt ward. Der Athem der Menschen verdichtete sich in der Luft, und fiel sogleich wieder als Schnee nieder. Nur einige Fuß vom Ofen ab bekam die Kälte wieder volle Kraft, und die Leute hielten sich dicht gedrängt nächst dem Feuer.

Doch rieth ihnen der Doctor, sich abzuhärten, und an diese Temperatur, mit welcher man gewiß noch länger zu kämpfen haben werde, zu gewöhnen. Er rieth ihnen, ihre Oberhaut allmälig an diese starke Kälte zu gewöhnen, und ging mit gutem Beispiel voran; aber die Meisten blieben aus Trägheit an ihrer Stelle, wollten nicht wanken noch weichen, und schliefen lieber in dieser nachtheiligen Wärme ein.

Indessen war es, nach des Doctors Ansicht, durchaus nicht gefährlich, vom erwärmten Saal heraus sich einer großen Kälte auszusetzen; solch schroffer Uebergang ist nur dann nachtheilig, wann man feucht von Schweiß ist; der Doctor stützte seinen Rath auf Beispiele, aber er predigte tauben Ohren.

John Hatteras schien die Wirkung dieser Temperatur nicht zu spüren; er ging schweigend auf und ab, weder schneller noch langsamer. War seine Constitution so besonders kräftig? Besaß er in höherm Grade das natürliche Wärmeprincip, worauf er bei der Wahl seiner Matrosen bedacht war? Wirkte seine fixe Idee stählend den äußeren Einwirkungen entgegen? Seine Leute sahen nur mit Staunen, wie er diesen vierundzwanzig Grad unter Null Trotz [199] bot; er verließ Stunden lang das Schiff, und wann er zurückkam, sah man keine Spuren der Kälte in seinem Angesicht.

»Ein seltsamer Mann, sagte der Doctor zu Johnson; er setzt mich selbst in Staunen! Er ist eine der kräftigsten Naturen, die ich in meinem Leben studirt habe!

– Die Hauptsache ist, erwiderte Johnson, daß er in freier Luft ab und zu und umher geht, ohne wärmere Bekleidung als im Juni.

– O! Die Bekleidung macht wenig aus, erwiderte der Doctor; wozu nützt warme Bekleidung, wenn man nicht den Wärmequell in sich selbst hat? Durch Einwickeln in eine wollene Decke kann man nicht ein Stück Eis warm machen! Hatteras bedarf dessen nicht, es liegt in seiner Constitution.«

Johnson, der den Auftrag hatte, jeden Morgen die Feuerstätte zugänglich zu machen, bemerkte, daß das Eis mehr als zehn Fuß dick war.

Fast jede Nacht konnte der Doctor ein prachtvolles Nordlicht beobachten; von vier bis acht Uhr Abends war der Himmel im Norden leicht gefärbt; nachher nahm die Färbung die regelmäßige Form eines blaßgelben Saumes an, dessen Enden sich wie ein Bogen auf das Eisfeld stützten. Allmälig hob sich der glänzende Gürtel am Himmel in Gemäßheit des magnetischen Meridians, und erschien schwärzlich gestreift; Strahlen eines leuchtenden Stoffs liefen von da aus, verlängerten sich mit bald stärkerm, bald schwächerm Glanz; war das Meteor bis zu seinem Zenith gekommen, so bestand es oft aus mehreren Bogen, die sich in rothen, gelben oder grünen Lichtwogen badeten: ein unvergleichliches Schauspiel zum Verblenden. Bald neigten sich die verschiedenen krummen Linien in einem einzigen Punkt und bildeten Kronen vonhimmlischer Pracht. Endlich drängten sich die Bogen zusammen, das glänzende Nordlicht erbleichte, die hellleuchtenden Strahlen zerflossen in blassem, unstetem, unbestimmtem Scheine, und das wundervolle Phänomen, abgeschwächt und fast erloschen, verschwand unmerklich in dem düstern Gewölk des Südens.

Das Zauberhafte eines solchen Schauspiels unter den hohen Breitegraden, mindestens acht Grad vom Pol, ist kaum zu begreifen; die in den gemäßigten Zonen sichtbaren Nordlichter geben auch nicht eine schwache Idee davon.

Ebenso erschienen zur Zeit des Mondscheins häufig Nebenmonde, indem sich am Himmel mehrere Bilder des Trabanten zeigten und seinen Glanz vermehrten; auch sah man oft einfache Mondringe um das Nachtgestirn herum, welches im Mittelpunkt eines Lichtkreises in starkem Glanze leuchtete.


Das Nordlicht nahe dem Pole. (S. 200.)

[200]

Am 26. November trat eine starke Fluth ein, und das Wasser drang mit Heftigkeit aus der Feuergrube; die dichte Eisdecke ward durch das Steigen des Meeres gleichsam erschüttert, und unheimliches Krachen verkündigte den unterseeischen Kampf; zum Glück hielt das Schiff in seinem Lager fest, und nur seine Ketten rasselten; übrigens hatte sie Hatteras vorsichtig festmachen lassen.

Die folgenden Tage waren noch kälter; der Himmel war mit durchdringendem Nebel bedeckt; der Wind wirbelte den Schnee bis zum Himmel empor.

[201] Die Mannschaft beschäftigte sich innen mit verschiedenen Arbeiten, hauptsächlich mit Zubereitung des Fettes und Oeles der Robben; sie wurden Eisblöcke, die man mit dem Beil bearbeitete zu Stücken die hart wie Marmor waren, und zehn Tonnen füllten. Dasselbe flüssig in die Gefäße zu füllen wäre unthunlich gewesen, weil diese beim Gefrieren zersprungen wären.

Am 28. fiel das Thermometer auf zweiunddreißig Grad unter Null (– 36° hunderttheilig); es waren nur noch für zehn Tage Kohlen vorhanden, und jeder sah mit Schrecken dem Zeitpunkt entgegen, wo das Brennmaterial ausgehen würde.

Hatteras ließ aus Sparsamkeit den Ofen des Hinterdecks nicht mehr heizen, und von nun an mußten Shandon, der Doctor nebst ihm selbst sich im gemeinschaftlichen Saal der Mannschaft aufhalten. Dadurch war Hatteras in beständiger Berührung mit seinen Leuten, welche stumpfe und erbitterte Blicke auf ihn warfen.


Nebenmonde und Mondringe. (S. 200.)

Er bekam ihre Beschuldigungen und Vorwürfe, selbst Drohungen zu hören, und konnte nicht strafend dagegen einschreiten. Uebrigens schien er taub gegen alle Bemerkungen. Den nächsten Platz am Feuer begehrte er nicht, und saß in einer Ecke, die Hände im Schooß, ohne ein Wort zu reden.

Trotz aller Mahnungen des Doctors weigerten sich Pen und seine Freunde, die geringste Uebung vorzunehmen; sie brachten ganze Tage neben dem Ofen auf ihre Ellenbogen gestützt hin, oder unter den Decken ihrer Hängematten. [202] Daher veränderte sich auch bald ihr Gesundheitszustand; sie konnten dem verderblichen Einfluß des Klimas nicht widerstehen, und es zeigte sich an Bord das fürchterliche Leiden des Scorbut.

Der Doctor hatte indessen seit langer Zeit angefangen, jeden Morgen Citronensaft und Kalkpastillen auszutheilen; aber diese Präservativmittel, so wohlthätig sie gewöhnlich sind, wirkten kaum merklich auf die Kranken, das Uebel hatte seinen Verlauf und zeigte bald die schrecklichsten Symptome.



Wie jämmerlich der Anblick der vor Schmerz zuckenden Nerven und Muskeln! Die Beine schwollen den Kranken außerordentlich und waren mit großen blauschwarzen Flecken bedeckt; das blutende Zahnfleisch, die geschwollenen Lippen ließen nur unarticulirte Töne vernehmen; bei dem verdorbenen Blut drang das Leben nicht mehr zu den äußersten Körpertheilen.

Clifton wurde zuerst von der fürchterlichen Krankheit befallen; bald auch konnten Gripper, Brunton, Strong ihre Hängematte nicht mehr verlassen. Die, welche verschont blieben, konnten sich dem Anblick dieser Leiden nicht entziehen; es gab kein anderes Obdach, als den einen gemeinsamen Saal; da mußte man sich aufhalten. Daher verwandelte er sich rasch in ein Spital; denn von den achtzehn Mann des Forward wurden bald dreizehn vom Scorbut heimgesucht. Pen schien durch seine starke Natur der Ansteckung zu widerstehen; bei Shandon zeigten sich die ersten Symptome des Leidens; aber es schritt nicht weiter voran, und seine Arbeit hielt seinen Gesundheitszustand aufrecht.

[203] Der Doctor pflegte die Kranken mit der größten Hingebung, und das Herz wollte ihm brechen beim Anblick der Leiden, welche er nicht zu lindern vermochte. Dennoch regte er so viel wie möglich heitern Sinn bei der Mannschaft an; seine Worte, Tröstungen, Bemerkungen und guten Einfälle unterbrachen die Einförmigkeit dieser langen Schmerzenstage; er las laut vor, und wußte heitere Geschichten zu erzählen, während die noch gesunden Leute dicht um den Ofen herum saßen; aber manchmal ward er durch das Jammern, das verzweifelnde Schreien der Kranken unterbrochen; da brach er seine Geschichte ab und ward wieder der achtsame, liebevolle Arzt.

Uebrigens dauerte seine Gesundheit aus; er ward nicht mager, seine Wohlbeleibtheit war ihm die beste Kleidung, und er sagte, es bekomme ihm recht gut, daß die Natur ihn gleich einem Robben oder Wallfisch ausgestattet habe, welche ihrem dicken Fett verdanken, daß sie die Strenge des Polarklimas leicht ertragen.

Hatteras hatte weder physisch noch moralisch zu leiden; es schienen ihn nicht einmal die Leiden seiner Mannschaft zu rühren. Vielleicht hielt er nur seine Gemüthsbewegungen zurück; und ein achtsamer Beobachter hätte wohl bisweilen bemerkt, daß unter der eisernen Umhüllung ein Menschenherz schlug.

Das Thermometer sank noch mehr; der Spazierplatz des Verdecks blieb leer; nur die Eskimo-Hunde liefen mit kläglichem Bellen darauf herum.

Unter solchen unsäglichen Qualen kam der 8. December heran. An diesem Morgen, als der Doctor, wie gewöhnlich, nach dem außen befindlichen Thermometer sah, fand er das Quecksilber in der Kugel festgefroren.

»Vierundvierzig Grad unter Null!« sagte er mit Schrecken.

Und an diesem Tage schob man das letzte Stücklein Kohle in den Ofen.

27. Capitel
Siebenundzwanzigstes Capitel.
Die große Weihnachtskälte.

Das war ein Moment zum Verzweifeln. Sterben, vor Kälte zu sterben, der Gedanke trat schauerlich vor die Seele; das letzte Stück Kohle brannte [204] mit unheimlichem Knistern; bereits drohte das Feuer auszugehen, und die Temperatur des Saales fiel merklich. Aber Johnson holte nun einige Stücke des neuen Brennmaterials, das ihm die Seethiere geliefert hatten, und füllte damit den Ofen; er fügte Werg zu dem gefrorenen Oel, und bekam bald hinreichende Wärme. Der Geruch dieses Fettes war zwar unausstehlich; aber wie konnte man ihn los werden? Man mußte sich darein ergeben. Johnson gab selbst zu, daß sein Hilfsmittel etwas zu wünschen übrig lasse, und in den Bürgerhäusern Liverpools gar nicht anwendbar wäre.

»Und doch, fügte er bei, führt dieser widerliche Geruch vielleicht noch anderes Gute herbei.

– Und was denn? fragte der Zimmermann.

– Ohne Zweifel wird er die Bären dieser Küste herbeilocken, denn sie sind auf diese Dünste erpicht.

– Gut, entgegnete Bell, und muß man denn Bären haben?

– Freund Bell, erwiderte Johnson, auf die Robben dürfen wir nicht mehr rechnen; sie sind für lange Zeit verschwunden; wenn die Bären nicht ihrerseits zu dem Brennstoff ihren Beitrag liefern, weiß ich nicht, was aus uns werden soll.

– Du hast Recht, Johnson; unser Schicksal ist noch lange nicht gesichert; diese Lage ist zum Erschrecken. Und wenn diese Gattung Brennmaterial uns abgeht, seh' ich kein Mittel weiter ...

– Es gäbe noch eins! ...

– Noch eins? erwiderte Bell.

– Ja, Bell! Wenn es zum Verzweifeln ist ... aber nie wird der Kapitän ... Und doch, er muß vielleicht darauf kommen.«

Der alte Johnson schüttelte traurig den Kopf, und verfiel in stille Gedanken, woraus Bell ihn nicht reißen wollte. Er wußte, daß diese so mühsam erworbenen Stücke Fett trotz strengster Sparsamkeit nicht für acht Tage reichen würden.

Der Rüstmeister hatte sich nicht geirrt. Die stinkenden Dünste zogen einige Bären herbei; die noch gesunden Männer machten Jagd auf sie; aber diese Thiere sind mit einer merkwürdigen Schnelligkeit begabt, und mit einem Scharfsinn, woran alle Listen scheitern. Man konnte ihnen nicht mehr nahe kommen, und die geschicktesten Kugeln konnten sie nicht erreichen.

Die Mannschaft der Brigg war ernstlich in Gefahr, vor Kälte zu sterben.

[205] Es war unmöglich, achtundvierzig Stunden bei einer solchen Temperatur auszuhalten. Jeder sah mit Schrecken den Zeitpunkt herankommen, da man mit dem letzten Stück Fett zu Ende sein werde.

Das war nun am 20. December, um drei Uhr Nachmittags, der Fall; das Feuer erlosch; die Matrosen um den Ofen herum sahen sich starr an. Hatteras rührte sich nicht in seiner Ecke; der Doctor ging, wie gewöhnlich, lebhaft hin und her; er wußte nicht mehr, worauf er sinnen sollte.

Die Temperatur fiel im Saal plötzlich auf sieben Grad unter Null (– 22° hunderttheilig).

Aber wußte der Doctor nicht mehr, was anzufangen, so wußten es Andere. Shandon, kalt und entschlossen, Pen mit zornigem Blick, und einige ihrer Kameraden, die sich noch fortschleppen konnten, traten zu Hatteras.

»Kapitän«, sagte Shandon.

Hatteras, in tiefe Gedanken verloren, hörte ihn nicht.

»Kapitän«, wiederholte Shandon, und rührte ihn mit der Hand an.

Hatteras richtete sich auf.

»Mein Herr, sagte er.

– Kapitän, wir haben kein Feuer mehr.

– Nun? erwiderte Hatteras.

– Ist Ihre Absicht, daß wir vor Kälte umkommen, fuhr Shandon ironisch fort, so setzen Sie uns gefälligst davon in Kenntniß.

– Meine Absicht, erwiderte Hatteras, geht dahin, daß Jeder seine Schuldigkeit thue bis an's Ende.

– Es giebt etwas, was noch über die Schuldigkeit geht, Kapitän, nämlich das Recht der Selbsterhaltung. Ich wiederhole Ihnen, daß wir kein Feuer mehr haben, und wenn das so fortgeht, ist in zwei Tagen keiner von uns mehr am Leben!

– Ich habe kein Holz, erwiderte Hatteras dumpf.

– Ei nun! rief Pen mit Nachdruck, wenn man kein Holz mehr hat, holt man sich's, wo man es findet.«

Hatteras erblaßte vor Zorn.

»Wo meint Ihr? sagte er.

– An Bord, erwiderte unverschämt der Matrose.

– An Bord! wiederholte der Kapitän, mit geballter Faust und funkelnden Augen.

[206] – Allerdings, erwiderte Pen, wenn das Schiff nicht mehr taugt, seine Mannschaft zu tragen, verbrennt man's.«

Als Pen diesen Satz anfing, ergriff Hatteras ein Beil und schwang es Pen über den Kopf.

»Elender!« rief er.

Der Doctor stürzte dazwischen und drängte Pen zurück; das Beil fiel zu Boden. Johnson, Bell, Simpson umgaben ihn und schienen zu seinem Beistand entschlossen.

Aber kläglich jammernde Stimmen hörte man von den Krankenlagern.

»Feuer! Feuer!« riefen die unglücklichen Kranken, denen die Kälte unter ihre Decken drang.



Hatteras sprach, nach einer kleinen Pause, mit ruhigem Ton:

»Wenn wir unser Schiff zerstören, wie kommen wir wieder nach England?

– Mein Herr, erwiderte Johnson, man könnte vielleicht ohne Nachtheil die weniger nutzbaren Theile verbrennen, das Plattbord, die Geländer ...

– Es blieben uns immer noch die Schaluppen, fuhr Shandon fort; und dann, wer hinderte uns, ein anderes kleineres aus den Trümmern des alten zu zimmern? ...

– Niemals! erwiderte Hatteras.

– Aber ... riefen mehrere Matrosen laut ...

– Wir haben Weingeist in großer Menge, erwiderte Hatteras, den verbrennt bis zum letzten Tropfen.

[207] – Nun, Weingeist geht an!« erwiderte Johnson, mit geheucheltem Vertrauen.

Und mit breiten Dochten, die man mit dieser Flüssigkeit tränkte und in den Ofen steckte, vermochte man die Temperatur des Saales um einige Grad zu erhöhen.


(S. 207.)

Während der folgenden Tage schlug der Wind um, das Thermometer stieg wieder; der Schnee wirbelte in minder strenger Luft. Einige der Leute konnten in den nicht so feuchten Tagesstunden das Schiff verlassen; aber Augenleiden und Scorbut hielten die meisten derselben an Bord; zudem waren weder Jagd noch Fischfang möglich.

Uebrigens war es nur eine Unterbrechung der argen Kälte, und als am 25. der Wind unversehens wieder umschlug, gefror das Quecksilber abermals; man griff zum Weingeistthermometer, da die Flüssigkeit in diesem auch bei ärgster Kälte nicht gefriert.

Der Doctor fand mit Schrecken siebenzig Grad unter Null (– 52° hunderttheilig), eine Kälte, die kaum jemals Menschen zu bestehen hatten.

Das Eis verbreitete sich in langen trüben Spiegeln auf dem Fußboden; dichter Nebel durchdrang den Saal; die Feuchtigkeit sank als dichter Schnee nieder; man konnte sich nicht mehr sehen; im menschlichen Körper zog sich die Wärme von den äußeren Theilen zurück; Füße und Hände wurden blau; der Kopf war wie mit eisernem Reif umspannt, und der verwirrte Gedanke nahte dem Wahnsinn. Erschreckliches Symptom: die Zunge vermochte nicht mehr ein Wort deutlich hervorzubringen.

Seit dem Tage, da man Hatteras drohte sein Schiff zu verbrennen, trieb [208] er sich Stunden lang auf dem Verdeck herum, dasselbe zu überwachen, zu hüten. Dies Holz war ihm so werth wie sein eigen Fleisch; hieb man ein Stück davon ab, so schnitt man ihm ein Glied vom Leibe. Mit der Waffe in der Hand hielt er Wache, unempfindlich gegen Kälte, Schnee, Eis; seine Kleider wurden steif, als stecke er in einem Panzer von Granit. Duk verstand ihn, und leistete ihm Gesellschaft mit Bellen und Heulen.


Hatteras hütet sein Schiff. (S. 209.)

Doch am 25. December, als er in den gemeinschaftlichen Saal hinab kam, nahm der Doctor den Rest seiner Energie zusammen und ging stracks auf ihn zu.

[209] »Hatteras, sprach er, wir kommen um aus Mangel an Feuer.

– Niemals! sagte Hatteras, der wohl wußte, worauf er abzielte.

– Es ist dringend nöthig, fuhr der Doctor leise fort.

– Niemals, fuhr Hatteras mit Nachdruck fort, ich gebe nie meine Einwilligung dazu! Thu man's wider meinen Willen, wenn man will!«

Damit war Freiheit zu handeln gegeben. Johnson und Bell stürzten auf's Verdeck. Hatteras hörte das Holz seiner Brigg unter Beilhieben krachen; es traten ihm Thränen in die Augen.

Es war eben Weihnachten, das Familienfest, in England die Kinderfreude um den grünen Baum herum. Hier aber Schmerz, Verzweiflung, Jammer im höchsten Grad, und zum Weihnachtsscheit diese Stücke Holz von dem in eisiger Zone verlorenen Schiffe.

Inzwischen kam in Folge des Feuers den Matrosen Empfindung und Geisteskraft wieder; heißer Thee oder Kaffee bewirkten augenblickliches Wohlbehagen, und die Hoffnung haftet so fest im Geist, daß man wieder Hoffnung faßte. Mit solchen Gegensätzen schloß dieses unselige Jahr 1860, dessen vorzeitiger Winter die kühnen Pläne Hatteras' vereitelte.

Gerade der 1. Januar 1861 sollte sich durch eine unerwartete Entdeckung auszeichnen. Es war etwas weniger kalt; der Doctor hatte seine Studien wieder aufgenommen und las die Berichte Sir Edward Belcher's über seine Expedition in die Polarmeere. Plötzlich traf er mit Erstaunen auf eine bisher nicht bemerkte Stelle; er las sie wiederholt; sie war nicht mißzuverstehen.

Sir Edward Belcher erzählte, er habe am Ende des Canals der Königin wichtige Spuren eines Aufenthalts von Menschen entdeckt.

»Es sind, sagte er, Reste von Wohnungen, die weit besser sind, als Alles, was man den herumstreifenden Eskimostämmen zuschreiben kann. Ihre Wände stehen fest im tief aufgegrabenen Boden; der mit schönem Kies bedeckte Fußboden im Innern war gepflastert. Gebeine von Rennthieren, Seekühen, Robben sieht man da in Menge. Wir trafen auch Kohlen an.«

Bei diesen letzten Worten kam dem Doctor ein Gedanke; er nahm sein Buch und theilte es Hatteras mit.

»Kohlen! rief dieser aus.

– Ja, Hatteras, Kohlen; das will heißen unsere Rettung.

– Kohlen! an dieser unbewohnten Küste! fuhr Hatteras fort. Nein, das ist nicht möglich!

[210] – Weshalb daran zweifeln, Hatteras? Belcher hätte von so einer Thatsache nicht gesprochen, ohne mit eigenen Augen gesehen zu haben.

– Nun, demnach, Doctor?

– Wir sind keine hundert Meilen von der Küste entfernt, wo Belcher die Kohlen sah! Was will ein Ausflug von hundert Meilen bedeuten? Nichts. Man hat oft über's Eis hin weit größere Untersuchungsfahrten, und bei ebenso hoher Kälte gemacht. Also wollen wir uns auf den Weg machen, Kapitän!

– Wir wollen hin!« rief Hatteras, der sich schnell entschloß, und mit seiner beweglichen Phantasie darin Aussicht auf Rettung erblickte.

Johnson wurde sogleich von diesem Entschluß in Kenntniß gesetzt, und billigte ganz das Vorhaben; er theilte es seinen Kameraden mit; die einen nahmen es beifällig auf, die anderen mit Gleichgiltigkeit.

»Kohlen an jenen Küsten! sagte Wall aus seinem Schmerzenslager heraus.

– Lassen wir sie nur gewähren«, erwiderte Shandon geheimnißvoll.

Aber ehe noch die Vorbereitungen zur Reise gemacht wurden, fand Hatteras für gut, die Lage des Forward auf's Genaueste festzustellen. Die Wichtigkeit dieser Berechnung ist leicht erklärlich, und weshalb man diese Lage mathematisch genau kennen mußte. War man einmal vom Schiff entfernt, so konnte man es ohne sehr genaue Angaben nicht wieder finden.

Hatteras begab sich also auf's Verdeck, und nahm zu verschiedenen Malen mehrere Mond-Abstände und die Meridianhöhe der hauptsächlichen Sterne auf.

Diese Beobachtungen boten ernstliche Schwierigkeiten dar, denn bei dieser niederen Temperatur wurden die Spiegel der Instrumente von Hatteras' Athem mit einer Eisschichte bedeckt.

Doch gelang es ihm, sehr genaue Grundlagen für seine Berechnungen zu gewinnen und er kam in den Saal zurück, seine Rechnung anzustellen. Als er damit fertig war, richtete er mit Staunen den Kopf auf, nahm seine Karte, notirte sein Ergebniß und sah den Doctor an.

»Nun? fragte dieser.

– Unter welcher Breite befanden wir uns beim Anfang unsers Winterlagers?

– Unter achtundsiebenzig Grad fünfzig Minuten Breite, und fünfundneunzig Grad fünfunddreißig Minuten Länge, gerade am Kältepol.

– Dann, fügte Hatteras leise bei, treibt unser Eisfeld! Wir befinden [211] uns eben zwei Grad weiter nördlich und weit nach Westen, wenigstens dreihundert Meilen von Ihrer Kohlenniederlage entfernt!

– Und diese Unglücklichen wissen's nicht! ... rief der Doctor.

– Stille!« sagte Hatteras und hielt den Finger auf seine Lippen.

28. Capitel
Achtundzwanzigstes Capitel.
Vorbereitungen zur Abreise.

Hatteras wollte seine Schiffsmannschaft nicht mit der neuen Situation bekannt machen. Er hatte Recht. Wahrscheinlich hätten diese Leute, wenn sie inne wurden, daß eine unwiderstehliche Gewalt sie weiter nach Norden trieb, aus Verzweiflung irgend welche Thorheiten begangen. Der Doctor verstand den Kapitän und billigte sein Schweigen vollkommen.

Die Empfindungen, welche diese neue Entdeckung in ihm hervorrief, verschloß der Letztere in seinem Innern. Er hatte den ersten glücklichen Augenblick nach den langen gegen die Mißgunst der Elemente durchkämpften Monaten. Er war ja 150 Meilen weiter gen Norden getrieben – kaum noch 8 Breitegrade vom Pol entfernt! Doch verbarg er seine Freude darüber so tief, daß selbst der Doctor keine Ahnung davon hatte; er bemerkte wohl, daß Hatteras' Augen in so ungewöhnlichem Glanze strahlten, doch das war auch Alles, und die naheliegende Erklärung dafür kam ihm gar nicht in den Sinn.

Mit der Annäherung an den Nordpol hatte sich der Forward nicht wenig von dem durch Sir Edward Belcher entdeckten Kohlenlager entfernt; statt hundert waren jetzt, um dasselbe aufzusuchen, zweihundertfünfzig Meilen bis dahin rückwärts nach dem Süden zurückzulegen. Dennoch wurde nach kurzer Berathung zwischen Hatteras und Clawbonny die Fahrt beschlossen.

Hatte Belcher die Wahrheit gesagt und man hatte ja keinen Grund, es zu bezweifeln, so mußte sich Alles in dem Zustande, wie er es zurückgelassen hatte, wieder finden. Seit 1853 war keine neue Expedition nach jenen nördlichsten [212] Ländern abgegangen; nur selten, ja fast nie traf man noch einen Eskimo in jenen hohen Breitegraden. Der auf der Insel Beechey vorgekommene Unfall konnte sich an der Küste von Neu-Cornwallis nicht wiederholen; die dort zurückgelassenen Gegenstände mußten sich bei der niederen Temperatur dieser Gegend voraussichtlich auf unbestimmte Zeit conserviren. So vereinigten sich alle Umstände zu Gunsten der Excursion über die Eisfelder.

Man veranschlagte die Reise auf eine Dauer von höchstens vierzehn Tagen, und Johnson traf demnach die nöthigen Vorbereitungen.

Seine erste Sorge betraf den Schlitten. Er war von grönländischer Form und hatte bei fünfunddreißig Zoll Breite eine Länge von vierundzwanzig Fuß. Die Eskimos bauen dergleichen öfters über fünfzig Fuß lang. Derselbe bestand aus langen, vorn und hinten aufgebogenen Brettern, die durch zwei starke Seile, ähnlich der Sehne eines Bogens, in dieser Lage erhalten wurden. Diese Construction verlieh ihm eine gewisse natürliche Elasticität, wodurch die Stöße weniger gefährlich wurden. Leicht über das Eis gleitend war er doch für die Benutzung bei frisch gefallenem Schnee, dem noch die nöthige Festigkeit mangelte, an den Seiten mit lothrecht stehenden Rahmen versehen, zwischen denen er höher gestellt werden konnte, um auch unter solchen Verhältnissen leicht beweglich zu sein. Zudem wurde er noch, wie es auch die Eskimos zu thun pflegen, mit einer Mischung von Schwefel und Schnee abgerieben, und glitt so mit der größten Leichtigkeit dahin.



Die Bespannung desselben bildeten sechs Hunde; stark, trotz ihrer Magerkeit, schienen sie von dem rauhen Winter nicht besonders zu leiden; ihr Geschirr von Damhirschleder war in bestem Zustande und man konnte sich auf eine solche, von den Grönländern zu Uppernawik gewissenhaft gelieferte [213] Bespannung verlassen. Sechs Hunde reichen übrigens für eine Last von zweitausend Pfund aus, wobei sie sich nicht übermäßig anzustrengen brauchen.

An Lagergeräthschaften wurde ein Zelt mitgenommen, für den Fall, daß es einmal unmöglich wäre, ein »Schneehaus« zu errichten; ferner ein großes Stück sogenannten Makintosh, bestimmt, über den Schnee gebreitet zu werden, um beim Daraufliegen das Schmelzen desselben zu verhindern, und endlich eine hinreichende Anzahl Decken von Wolle und Büffelfellen. Auch das Halkett-Boot nahm man mit.

An Provision wurden verpackt: gegen vierhundertundfünfzig Pfund Pemmikan, von denen man als Ration je ein Pfund auf den Mann und auf den Hund rechnete. Letztere waren, Duk mitgezählt, sieben Stück; Menschen sollten nur vier mitgehen. Ferner zwölf Gallonen, d.h. etwa hundertundfünfzig Pfund Weingeist; Thee, Bisquit in hinreichender Menge, eine kleine tragbare Küche; beträchtliche Quantitäten Lunte und Werg; endlich Pulver, Munition und vier Doppelflinten. Die Theilnehmer an der Expedition trugen, nach Kapitän Parry's Angabe, eine Art Gürtel aus Kautschuk, in welchem sich durch die Körperwärme und die Bewegung beim Gehen Kaffee, Thee oder Wasser wenigstens flüssig erhalten sollten.

Der sorgsame Johnson betrieb auch die Anfertigung von Schneeschuhen, bestehend aus breiten Holzsohlen, welche mit Riemen zur Befestigung am Fuße versehen waren und so als Schlittschuhe dienten; für übereistes und festes Terrain wurden sie mit Vortheil durch Mocassins aus Damhirschleder ersetzt; jeder Theilnehmer wurde mit zwei Paaren von jeder Art ausgerüstet.

Diese Vorbereitungen, welche man nicht für unwichtig halten möge, da die geringste übersehene Einzelheit das Fehlschlagen der ganzen Expedition herbeiführen konnte, nahmen vier Tage in Anspruch. Jeden Mittag beobachtete Hatteras sorgfältig die Lage des Fahrzeugs, welches nun keine Abweichung mehr zeigte. Ohne dessen sicher zu sein, hätte man es ja auf dem Rückwege nie wieder auffinden können.

Es galt nur noch, die Auswahl der Begleiter zu treffen, und es war die Entscheidung dabei nicht so leicht. Einige aus der Schiffsmannschaft waren nicht gut mitzunehmen, aber es war auch bedenklich, sie an Bord zurückzulassen. Doch da das Wohlergehen Aller von dem Erfolge der Reise abhing, entschied sich der Kapitän dahin, die sichersten und geprüftesten Begleiter auszuwählen.

[214] Shandon wurde zunächst ausgeschlossen, und schien das auch nicht besonders zu bedauern. James Wall, der vollkommen bettlägerig war, konnte schon aus diesem Grunde nicht theilnehmen.

Der Zustand der Kranken verschlimmerte sich übrigens nicht; da ihre ganze Behandlung in täglichen Abreibungen und der Verabreichung einer tüchtigen Dosis Citronensaft bestand, so war diese, auch in Abwesenheit des Doctors, ja leicht fortzusetzen. Dieser schloß sich also, ohne Reclamation von irgend einer Seite, der Reisegesellschaft an.

Johnson hätte den Kapitän gern bei dem immerhin gefahrvollen Unternehmen begleitet, doch dieser nahm ihn bei Seite und sprach mit liebevoller, fast bewegter Stimme:

»Johnson, mein ganzes Vertrauen setze ich auf Sie; Sie sind der einzige Officier, dem ich mein Schiff überlassen kann, und Sie muß ich an Bord wissen, um Shandon und die Anderen zu überwachen. Sie sind zwar für den Winter hierher festgebannt, aber wer weiß, welche Schlechtigkeiten sie auszuführen fähig wären! Ich werde Sie mit klaren Instructionen versehen, welche Ihnen für den Nothfall das Commando über das Schiff in die Hand geben. Sie werden mein zweites Ich sein. Vier bis fünf Wochen dürfte unsere Abwesenheit dauern, und ich werde nur dann ruhig sein, wenn ich Sie hier weiß. Sie brauchen Holz, Johnson; ich weiß es, aber verschonen Sie, so weit es angeht, mein armes Schiff. Sie verstehen mich, Johnson?

– Ich verstehe Sie, Kapitän, erwiderte der alte Seemann, und ich werde zurückbleiben, da es Ihnen so paßt.

– Ich danke Ihnen, sagte Hatteras, indem er seinem Schiffer die Hand drückte, und hinzufügte:

›Wenn wir nicht zurückkehrten, Johnson, so warten Sie bis zum nächsten Eisgang, und suchen zur Nachforschung gegen den Pol zu aufzubrechen. Lehnen sich die Anderen dagegen auf, so nehmen Sie nicht weiter auf uns Rücksicht, und führen den Forward nach England zurück.‹

– Das ist Ihr Wille, Kapitän?

– Mein unabänderlicher Wille, erwiderte Hatteras.

– Ihre Befehle sollen ausgeführt werden«, war die einfache Antwort Johnson's.

Der Doctor bedauerte die Entscheidung bezüglich seines würdigen Freundes, aber er mußte die Berechtigung von Hatteras' Handlungsweise anerkennen.

[215] Die beiden andern Reisegenossen waren der Zimmermann Bell und Simpson. Der Erstere, ein kerngesunder, braver und anhänglicher Mensch, sollte zum Behuf der Lagerung auf dem Schnee wichtige Dienste leisten; der Zweite, obgleich weniger entschlossen zu dem Wagniß, nahm doch an der Expedition Theil, der er als geübter Jäger und Fischer gewiß nützlich sein konnte.

Die kleine Gesellschaft bestand also aus Hatteras, Clawbonny, Bell, Simpson und dem stets fröhlichen Duk; es waren demnach vier Menschen und sieben Hunde zu ernähren, und auf Grund dessen waren die Proviantvorräthe berechnet.

Während der ersten Tage des Januar hielt sich die Temperatur im Mittel stets auf dreiunddreißig Grad unter Null (– 37° hunderttheilig). Hatteras wartete voll Ungeduld auf einen Umschlag der Witterung; häufig beobachtete er das Barometer, aber dessen Angaben erwiesen sich als nicht verläßlich; er scheint in diesen hohen Breiten an der gewöhnlichen Treue seiner Anzeigen einzubüßen; in diesen Klimaten vollziehen sich merkwürdige Ausnahmen der sonst allgemein giltigen Witterungsgesetze: so ist die Reinheit des Himmels keineswegs immer von besonderer Kälte begleitet, und Schneefall veranlaßte ebensowenig immer ein Steigen der Temperatur; das Barometer blieb eben unzuverlässig, wie es auch schon viele Polarmeerfahrer beobachtet hatten: es stieg nicht selten bei Nord- oder Ostwinden; bei niedrigem Stande war oft schönes, heiteres Wetter, bei hohem, Schnee oder seiner Regen, kurz, man konnte aus seinen Angaben keine Schlußfolgerungen ziehen.

Am 5. Januar endlich trat eine Wendung ein; die Quecksilbersäule stieg bis auf achtzehn Grad unter Null (– 27° hunderttheilig) und Hatteras entschloß sich für den nächsten Morgen zur Abreise. Er ertrug es nicht mehr, sein Schiff mit eigenen Augen zerstückeln zu sehen, und schon war das ganze Oberdeck in den Ofen gewandert. –


Im Schneefall über das Eisfeld. (S. 218.)

Am 6. Januar wurde also trotz Schneestürmen der Befehl zur Abreise gegeben; der Doctor hinterließ den Kranken seine letzten Verordnungen; Bell und Simpson wechselten noch schweigend einen Händedruck mit ihren Genossen. Hatteras wollte noch mit einigen Worten Abschied nehmen, aber er traf rings nur auf böse Blicke. Um die Lippen Shandon's glaubte er ein ironisches Lächeln spielen zu sehen. Er schwieg also. Einen Augenblick schien er auch, als er seine Blicke auf den Forward richtete, unentschlossen zur Abreise.

Doch – die Entscheidung war gefallen; beladen und bespannt wartete der [216] Schlitten auf dem Eisfelde. Bell schritt voran; die Anderen folgten. Johnson begleitete die Reisenden noch eine Viertelmeile; dann bat ihn Hatteras, an Bord zurückzukehren, was der alte Seemann erst nach langem Abschiedwinken that.

Eben wandte sich Hatteras noch einmal um nach seiner Brigg und sah die Mastspitzen in dem Schneegewölke verschwinden.

[217]
29. Capitel
Neunundzwanzigstes Capitel.
Ueber das Eisfeld.

Die kleine Truppe wandte sich gegen Südosten. Simpson lenkte den Schlitten, Duk unterstützte ihn eifrig und schien über die Thätigkeit seiner eingespannten Kameraden gar nicht besonders erstaunt. Hatteras und der Doctor machten den Schluß, indeß Bell, der vorausging, Bahn machte und mit der Eisenspitze seines Stockes den gefrorenen Boden untersuchte.

Der hohe Stand des Thermometers verkündete einen nahen Schneefall, der denn auch nicht lange auf sich warten ließ. Die dichten Flockenwirbel erhöhten die Schwierigkeiten der Reise; man wich von der geraden Linie ab und kam nicht schnell vorwärts, doch legte man im Mittel noch drei Meilen per Stunde zurück.

Das Eisfeld zeigte in Folge wechselnden Frosteinflusses eine ungleiche, höckerige Oberfläche; oft stieß der Schlitten heftig auf und neigte sich, je nach dem Wege, wohl bis zu bedrohlichem Winkel; doch ging noch Alles ohne Unfall ab.

Hatteras und seine Genossen waren dicht verhüllt in ihre nach Grönländer-Muster gefertigte Bekleidung, die sich durch ihre Form keineswegs vortheilhaft auszeichnete; dagegen war sie dem Klima angepaßt. Das Gesicht der Reisenden war von einer für Wind und Schnee undurchdringlichen Caputze umrahmt; nur Mund, Nase und Augen kamen in Berührung mit der Luft, und es wäre auch nicht gut gethan gewesen, diese Theile davor zu schützen. Es giebt nichts Unbequemeres, als hohe Kragen und Cache-Nez, welche in solcher Kälte sogleich steif gefrieren; im Gegentheil muß man für den Athem einen freien Ausweg lassen, der sonst, wenn er auf ein Hinderniß trifft, sogleich gefriert.

Die unermeßliche Ebene zeigte eine ermüdende Eintönigkeit; aufgethürmte Eisschollen, die immer den gleichen Anblick boten, Spitzhügel, deren Unregelmäßigkeit sich regelmäßig wiederholte, und Eisberge, zwischen denen sich gewundene Thäler hinschlängelten. Den Compaß in der Hand ging es vorwärts; die Reisenden sprachen wenig. In dieser kalten Luft war schon das Oeffnen des Mundes nicht ohne Beschwerden; spitze Eiskrystalle schossen [218] sogleich zwischen den Lippen an, welche die Wärme des Athems kaum wieder zu schmelzen vermochte. Schweigend ging es weiter, und Jeder untersuchte erst mit dem Stocke den unbekannten Boden. Bell's Schritte drückten sich in der weichen Schneelage ein; man folgte ihnen aufmerksam, und da, wo er gegangen war, konnten es auch die Nachfolgenden ohne Sorge wagen.

Nach allen Richtungen hin zeigten sich zahlreiche Spuren von Bären und Füchsen, doch sah man den ganzen Tag über kein solches Thier; auch wäre eine Jagd sowohl gefährlich, als auch deshalb unnütz gewesen, weil man den ohnehin schweren Schlitten nicht wohl noch mehr belasten konnte.



Bei Expeditionen dieser Art pflegen die Reisenden gewöhnlich kleinere Lebensmitteldepots auf dem Wege anzulegen, die sie zum Schutz gegen wilde Thiere in Schneehöhlen verstecken. Auf diese Weise verringern sie um ebensoviel die mitzuführende Last, und nehmen erst auf dem Rückwege jene Provisionen wieder auf, deren Hin- und Hertransport sie sich erspart haben.

Leider konnte sich Hatteras auf einem vielleicht noch beweglichen Eisfelde dieses Mittels nicht bedienen; auf dem festen Lande erwiesen sich derartige Depots sehr vortheilhaft, aber nicht für eine Reise quer über Eisfelder weg, bei welcher es sehr zweifelhaft blieb, ob der Rückweg über dieselben Punkte führen werde.

Zu Mittag hielt die kleine Gesellschaft unter dem Schutze einer Eismauer und es ward ein Imbiß aus Pemmican und heißem Thee eingenommen; die belebenden Eigenschaften dieses Getränkes erzeugten den Reisenden ein behagliches Gefühl von Wohlsein, dem sie sich auch nach Möglichkeit hingaben.

Nach einstündiger Ruhe brach man wieder auf; den ganzen Tag über wurden zwanzig Meilen zurückgelegt, aber obgleich am Abend Menschen und Thiere gleichmäßig erschöpft waren, mußte man doch noch ein Schneehaus [219] errichten, da das mitgenommene Zelt offenbar nicht genug Schutz bot. Nach anderthalb Stunden war das Werk vollbracht. Bell zeigte sich hierbei so nützlich wie geschickt; schnell stiegen die wie mit dem Messer geschnittenen Eisblöcke über einander und bildeten ein Gewölbe, dem ein genau passender Block als Schlußstein eingefügt wurde; der weiche Schnee diente als Mörtel; er füllte die Fugen und da er bald erhärtete, erschien das ganze wie ein hohler Block aus einem einzigen Eisstücke. – Nur eine enge, niedrige Oeffnung, durch welche man kriechend gelangte, bildete den Zugang zu dieser improvisirten Grotte. Nicht ohne Mühe kroch der Doctor hinein, und die Uebrigen folgten ihm. Schnell wurde nun auf der Küche mittelst Spiritus die Nachtmahlzeit hergerichtet. Die innere Temperatur dieses Schneehauses wurde dabei ganz erträglich; draußen pfiff der Wind, aber nirgends fand er einen Eingang zum Innern desselben.

»Zu Tische!« rief bald der Doctor mit freudiger Stimme.

Gemeinschaftlich wurde die Mahlzeit, die zwar immer fast dieselbe blieb, aber doch kräftigend war, eingenommen. Nach ihrer Beendigung dachte Jeder nur noch an den Schlaf. Gegen jede Feuchtigkeit schützten die über den Schnee gebreiteten Makintosh-Decken. Strümpfe und Schuhwerk wurden inzwischen an der Heerdflamme getrocknet; dann streckten sich je drei der Reisenden eingewickelt in dicke wollene Decken nieder und schliefen, indeß der Vierte wachte, der für die Sicherheit Aller zu sorgen hatte und auch den Zugang zum Hause offen erhielt, ohne welche Vorsicht man leicht andern Tages lebendig begraben gewesen wäre.

Duk theilte den allgemeinen Schlafraum; die anderen Hunde blieben draußen und verkrochen sich, nachdem sie genügend gefüttert waren, unter dem Schnee, der sie bald undurchdringlich einhüllte.

Tief ruhten die müden Schläfer nach den Strapazen des Tages. Um drei Uhr früh trat der Doctor seinen Theil der Nachtwache an; draußen in der finstern Nacht tobte der Orkan sich aus. –


Die Eisberge bei Vollmond. (S. 223.)

Welch' seltsame Lage, diese wenigen Leute, wie verloren im Schnee, verborgen in einem Eisgrabe, dessen Wände jeder Windstoß verdickte!

Früh sechs Uhr am andern Morgen ward die einförmige Reise wieder aufgenommen; immer zeigten sich dieselben Thäler, dieselben Eisberge, so daß die Auswahl gewisser Merkpunkte ziemlich schwer war. Da aber die Temperatur um einige Grade sank, kamen die Reisenden schneller voran, indem [220] die Schneelage sich mit einer Eiskruste überzog. Ost stieß man auf gewisse kleine Hügel, welche den Cairns oder Höhlen der Eskimos glichen. Um sich zu überzeugen, ließ der Doctor auch einen zerstören, fand aber nur einen einfachen Eisblock.

»Was meinen Sie, Clawbonny, sagte Hatteras, sind wir nicht die ersten Menschen, welche über diesen Theil der Erdkugel wandern?

– Das ist wohl möglich, versetzte der Doctor, doch wer kann das wissen?

[221] – Jedenfalls wollen wir die Zeit nicht mit fruchtlosen Forschungen darüber verlieren, erwiderte der Kapitän; mich drängt es, mein Schiff wieder in Stand zu setzen, selbst wenn dieses so gewünschte Brennmaterial uns auch mangeln sollte.

– Darüber bin ich ganz ruhig, meinte der Doctor.

– Ich that Unrecht, sagte Hatteras nicht selten, den Forward zu verlassen. Ein Kapitän gehört an Bord seines Fahrzeugs und nicht anders wohin.

– Johnson ist ja dort.

– Ja wohl! Aber doch, eilen wir! Eilen wir!«

Das Gefährt bewegte sich rasch, immer hörte man Simpson die Hunde antreiben; in Folge einer wunderbaren Phosphorescenz liefen diese wie auf brennendem Boden und die Kufen des Schlittens wirbelten einen Staub leuchtender Funken auf. Den Doctor trieb es, den Grund dieser Erscheinung am Schnee zu untersuchen, doch plötzlich, als er einen Spitzberg ersteigen wollte, verschwand er den Blicken der Anderen. Bell, der ihm am nächsten war, eilte sogleich zur Hilfe herbei.

»Hollah, Herr Clawbonny, wo stecken Sie? rief er ängstlich, während Hatteras und Simpson dazu kamen.

– Doctor! wiederholte auch der Kapitän.

– Hier unten, in einem Loche, tönte beruhigend seine Stimme zurück, laßt mir ein Seil herab, und ich steige wieder auf die Erdoberfläche empor.«

Man ließ dem Doctor, der in einem zehn Fuß tiefen hohlen Trichter verschwunden war, ein Seil hinab, das Jener sich mitten um den Leib befestigte, und so wurde er von den Anderen nicht ohne Mühe emporgezogen.

»Sind Sie verwundet? fragte Hatteras.

– Behüte Gott! Es hatte keine Gefahr für mich, antwortete der Doctor, der von seiner freundlichen Gestalt den Schnee abschüttelte.

– Aber wie kam das überhaupt?

– Die Strahlenbrechung war daran Schuld! erwiderte er lachend, immer die verwünschte Strahlenbrechung! Ich glaubte einen Raum von einem Fuß Breite zu überschreiten und rutschte in ein Loch von zehn Fuß Tiefe! O, über die Illusionen des Sehvermögens! Das sind die einzigen Illusionen, die mir blieben, Ihr Freunde, und die werd' ich schwerlich los werden. Laßt es Euch zur Lehre dienen und thut keinen Schritt, ohne den Boden geprüft [222] zu haben, denn auf seine Sinne allein darf man sich nicht verlassen; hier hören die Ohren verkehrt und die Augen sehen falsch!

– Können wir den Weg fortsetzen? fragte der Kapitän.

– Gewiß, Hatteras, nur vorwärts! Der kleine Unfall hat mir mehr genützt, als geschadet.«

Wieder wurde die Richtung nach Süd-Ost aufgenommen, und erst am Abend, nachdem sie im ganzen fünfundzwanzig Meilen zurückgelegt hatten, machten die Reisenden Halt; Alle waren tüchtig müde, den Doctor aber hinderte das nicht, während das Eishaus gebaut wurde, noch einen Eisberg zu erklettern.

Es war fast Vollmond. In wunderbarem Scheine glänzte er an dem klaren Himmel; leuchtende Strahlen schossen die Sterne herab; vom Gipfel des Eisberges schweifte der Blick über eine ungeheure Ebene, die mit kleinen Hügeln von fremdartiger Form übersäet war. Wenn man sie so zerstreut liegen sah, wie sie im Mondschein erglänzten, und sich ihre scharfen Formen von den benachbarten Schatten abhoben, einmal emporstrebenden Säulen, das anderemal darniederliegenden Säulenschäften, dann wieder Grabsteinen nicht unähnlich, dann hätte man einen ungeheuren, baumlosen Kirchhof vor sich zu haben geglaubt, der traurig, schweigend und endlos wohl zwanzig Generationen, die den ewigen Schlaf schlummerten, umschloß.

Trotz Kälte und Müdigkeit gab sich der Doctor lange seinen stummen Betrachtungen hin, von denen ihn seine Genossen nur mit Mühe abbringen konnten, aber man mußte an die Nachtruhe denken; die Schneehütte war fertig; bald verkrochen sich die Reisenden wie Maulwürfe darin und überließen sich dem nothwendigen Schlafe.

Der nächste und die folgenden Tage gingen ohne ein bemerkenswerthes Ereigniß vorüber; leicht oder schwierig, schnell oder langsam ging die Reise vorwärts je nach den Launen der Witterung, die manchmal rauh und kalt, manchmal feucht und dann desto empfindlicher war. Je nach der Natur des Bodens mußte man sich einmal der Mocassins, ein andermal der Stiefeln bedienen.

So erreichte man den 15. Januar; der Mond, der jetzt im letzten Viertel stand, war nur kurze Zeit sichtbar; dagegen verbreitete die Sonne, obwohl sie noch immer unter dem Horizonte blieb, doch während sechs Stunden eine gewisse Dämmerung, die indeß noch nicht hinreichte, den Weg genügend zu erhellen,[223] so daß man denselben nach der vom Compaß angezeigten Richtung mit Merkzeichen versehen mußte. Zu dem Ende ging Bell voraus, Hatteras folgte ihm in gerader Linie, und Simpson nebst dem Doctor Letzterem, so daß Hatteras den Erstgenannten verdeckte, wobei sie sich zwar fortwährend gegenseitig die Richtungslinie bezeichneten, und trotzdem manchmal um dreißig bis vierzig Grad von derselben abwichen.



Natürlich mußte nun die Bezeichnung des Weges von vorn angefangen werden.

Am 15. Januar, einem Sonntage, schätzte Hatteras den nach Süden zurückgelegten Weg auf hundert Meilen; der Vormittag wurde zur nöthigen Reparatur an Kleidungsstücken und Lagergeräthen verwendet, doch auch ein kurzer Gottesdienst nicht vergessen.

Zu Mittag nahm man die Reise wieder auf; die Temperatur war sehr niedrig, das Thermometer zeigte zweiunddreißig Grad unter Null (– 36° hunderttheilig) bei ganz hellem Himmel.

Plötzlich stieg aus dem Boden, ohne irgend erklärlichen Grund, ein vollkommen gefrorener Nebel; er stieg bis auf eine Höhe von vierundzwanzig Fuß; man konnte dabei kaum die Hand vor den Augen sehen; mit spitzen Eisnadeln überzog dieser gefrorene Dampf die Kleider der Reisenden.

Erstaunt über diese unerwartete Erscheinung von Rauchfrost suchten Jene sich sogleich aneinander zu schließen, und die Rufe:

»Heda! Simpson!

– Bell! Hierher!

– Herr Clawbonny!

– Doctor!

– Kapitän! Wo stecken Sie?« erschollen durcheinander.

[224] Mit ausgestreckten Armen suchten sich die vier Reisegenossen in dem dichten Nebel, der für die Augen vollkommen undurchdringlich war. Aber leider kam keine Antwort mehr zurück, es schien, als ob jener Dampf unfähig sei, die Schallwellen fortzupflanzen.

Jedem kam unwillkürlich der Gedanke, durch Flintenschüsse ein Signal abzugeben. Wenn aber der Schall der menschlichen Stimme vorhin zu schwach erschienen war, so waren nun die Detonationen der Feuerwaffen zu stark, denn sie riefen ein Echo wach, das in allen Richtungen wiedertönte und dadurch ein so wirres Geräusch erzeugte, daß man eine bestimmte Richtung nicht herauszuhören vermochte.


(S. 226.)

Jeder war also nur auf sich allein angewiesen. Hatteras blieb mit gekreuzten Armen ruhig stehen, das Weitere abzuwarten. Simpson begnügte sich, seinen Schlitten anzuhalten. Bell suchte, mit den Händen nach seinen Fußspuren tastend, wieder zurückzukehren. Der Doctor, sich an Eisstücken stoßend, fiel nieder, erhob sich wieder, ging nach rechts und nach links, kreuzte den Weg mehrfach, und verirrte sich immer mehr und mehr.

»Das kann doch nicht so fortgehen! sagte er sich nach einigen Minuten. Wahrlich, ein sonderbares Klima das, und mit etwas zuviel Ueberraschungen! Auf nichts kann man sich hier verlassen, – und von den spitzen Eiskrystallen, die einem das Gesicht zerreißen, noch ganz abgesehen! Halloh! Kapitän!« rief er von Neuem aus Leibeskräften.

[225] Aber keine Antwort wurde hörbar; für jeden Fall lud er sein Gewehr von Neuem, aber trotz der dicken Handschuhe starrte ihm von der brennenden Kälte des Laufs die Hand. Noch damit beschäftigt, erblickte er unklar eine formlose Masse, die sich einige Schritte vor ihm bewegte.

»Endlich! rief er erfreut, Hatteras! Bell! Simpson! Seid Ihr's? Gebt Antwort?«

Statt derselben ließ sich nur ein tiefes Brummen hören.

»Hoho! Was wird denn das?« dachte der gute Doctor.

Die Masse näherte sich langsam; ihre ersten scheinbaren Umrisse schrumpften zusammen und wurden deutlicher. Ein erschreckender Gedanke stieg im Doctor auf.

»Ein Bär!« sagte er zu sich selbst.

In der That, es war ein Bär von enormer Größe; auch er schien im Nebel verirrt, tappte hin und her, vor- und rückwärts, immer nahe daran, auf die Reisenden zu stoßen, deren Anwesenheit er sicher nicht vermuthete.

»Das wird hübsch!« dachte der Doctor, der sich unbeweglich still verhielt.

Bald fühlte er fast den Athem des Thieres, das sich gleich darauf auch wieder im Rauchfrost verlor; bald sah er dessen ungeheure Tatzen die Luft peitschen, wobei es ihm sogar so nahe kam, daß seine Kleidung mehrfach von den scharfen Krallen zerrissen wurde; da zog er sich vorsichtig zurück und sogleich zerfloß die sich bewegende Masse in dem Nebel gleich einer Phantasmagorie.

Als er sich aber zurückzog, bemerkte der Doctor, wie der Boden unter seinen Füßen aufstieg; mit den Händen nachhelfend, indem er sich an hervorstehende Eiszacken anklammerte, erklomm er einen Block, noch einen, spähend tastete er mit dem Stocke umher, und:

»Ein Eisberg! rief er freudig, wenn ich dahinauf komme, bin ich außer Gefahr!«

Mit erstaunlicher Gewandtheit klomm er etwa vierundzwanzig Fuß hoch empor, damit aber kam er über die Rauchfrostschicht hinaus, die sich nach oben scharf abgrenzte.

»Gut, gut!« sprach er zu sich, und hatte gar, als er sich umschaute, die Freude, seine Reisegefährten ebenso aus dem dichten Nebel aufgetaucht zu sehen.

»Hatteras!

[226] – Herr Clawbonny!

– Bell!

– Simpson!«

Fast gleichzeitig erschollen die vier Zurufe; der Himmel, durch einen herrlichen Mondhof erleuchtet, sandte blasse Lichtstrahlen hernieder, die den Rauchfrost einer Wolke ähnlich färbten, so daß die Spitzen der Eisberge wie aus flüssigem Silber hervorschauten. In einem Umkreise von kaum hundert Fuß sahen sich die Reisegenossen alle. Dank der großen Reinheit der oberen Luftschichten und der erstaunlichen Kälte vermochten sie von den Spitzen ihrer Eisthrone aus leicht mit einander zu sprechen. Als nach dem ersten Gewehrknallen keiner eine weitere Antwort hörte, hatten sie nichts Besseres zu thun gewußt, als möglichst nach oben hin aus dem dichten Nebel herauszukommen.

»Aber wo ist der Schlitten? fragte der Kapitän.

– Achtzig Fuß unter uns, erwiderte Simpson.

– In gutem Zustande?

– In ganz gutem.

– Und der Bär? fragte noch der Doctor.

– Der Bär? Was für ein Bär? forschte Bell.

– Nun, der Bär, der mir in den Weg kam und nicht übel Lust hatte, mir den Schädel zu zerbrechen.

– Ein Bär?! rief Hatteras, schnell, da müssen wir hinunter.

– Nein, nein, entgegnete der Doctor, da verirren wir uns wieder und fangen das Suchen von vorn an.

– Und wenn das Thier aber unsere Hunde anfällt?! ...« sagte Hatteras.

In dem Augenblicke schlug Duk schon an und man hörte leicht aus dem Nebel herausschallendes Bellen.

»Das ist Duk, rief der Kapitän, da ist etwas vorgefallen. Ich steige hinunter.«

Da hörte man plötzlich das verschiedenartigste Geheul aus der Dunstschicht herauf; Duk und die anderen Hunde bellten wüthend; dennoch war nur ein verworrenes und dumpfes Getöse zu vernehmen. Man merkte es heraus, daß dasselbe von einem unsichtbaren Kampfe herrührte, denn der schwere Nebel bewegte sich hin und her, wie wenn unter der Meeresoberfläche große Seeungeheuer gegen einander wüthen.

[227] »Duk! Duk! schrie der Kapitän, der sich anschickte, in den Rauchfrost hinunter zu klettern.

– Noch warten, Hatteras, noch warten! rief der Doctor, mir scheint, der Nebel zerstreut sich.«


Hungrige Gäste. (S. 229.)

Aber er zerstreute sich nicht, sondern sank nur, wie das Wasser eines Teiches, welcher ausläuft; er schien vom Boden, aus dem er aufgestiegen war, wieder aufgesaugt zu werden. Die glänzenden Gipfel der Eisberge wuchsen unter ihnen; andere, die überdeckt gewesen waren, tauchten auf wie neue Inseln. Vermöge einer leicht erklärlichen optischen Täuschung glaubten [228] die Reisenden, welche sich an den Eisspitzen angeklammert hielten, sich in die Luft zu erheben, während nur die Oberfläche des Nebels unter ihnen herabsank.

Bald wurde nun etwas vom Schlitten sichtbar, dann die Hundebespannung, dann aber auch etwa dreißig andere Thiere, die sich wild durch einander bewegten, dabei der umherspringende Duk, dessen Kopf noch abwechselnd aus der Dunstschicht auftauchte und wieder darin verschwand.

»Das sind Füchse! rief Bell aus.

– Und Bären! setzte der Doctor hinzu, da, eins, zwei, drei, fünf Stück!

– Unsere Hunde! Unsere Vorräthe!« klagte Simpson.

Eine Heerde Füchse und Bären war wirklich über den Schlitten hergefallen und hatte in die Reisevorräthe schon eine gewaltige Bresche gelegt. Der Raubgier folgten sie einig nebeneinander. Wüthend bellten zwar die Hunde, aber die Räuber kümmerten sich gar nicht darum und trieben ihr Zerstörungswerk gierig weiter.

»Feuer!« rief der Kapitän, und schoß sein Gewehr ab.

Die Anderen thaten desgleichen. Auf diesen vierfachen Knall hin hoben die Bären die zottigen Köpfe, und mit fast komischem Grunzen rissen sie aus; sie setzten sich, gefolgt von den Füchsen, in einen kurzen Trab, dem ein Pferd im Galop kaum nachgekommen wäre und verschwanden bald unter den Eisgebilden des hohen Nordens.

30. Capitel
Dreißigstes Capitel.
Ein Cairn.

Fast dreiviertel Stunde hatte jenes dem Polarklima eigene Phänomen gedauert; die Bären und die Füchse hatten Zeit gehabt, sich damit etwas zu Gute zu thun; gewiß kamen diese Vorräthe den im rauhen Winter ausgehungerten Bestien sehr gelegen. Zerrissen waren die Schlittendecken, offen und eingeschlagen die Pemmicanbehälter, die Säcke mit Zwieback geplündert, die [229] Theevorräthe auf dem Schnee umhergestreut, an einem Fäßchen mit Weingeist die Dauben herausgerissen und der Inhalt natürlich ausgeflossen; die Lagergeräthschaften lagen umher – Alles trug die Spuren der Raubgier dieser wilden Thiere, ihres wüthenden Hungers und ihrer unersättlichen Gefräßigkeit.

»Das ist ein schönes Unheil! sagte Bell, als er die Scene der Verwüstung betrachtete.

– Und wahrscheinlich ein nicht wieder gut zu machendes, meinte Simpson.

– Erst wollen wir den Schaden aufnehmen, sagte der Doctor, von dem Andern sprechen wir später.«

Schweigend sammelte Hatteras schon die umherliegenden Kisten und Säcke; man suchte den Pemmican und den noch eßbaren Zwieback zusammen; der Verlust eines Theiles des Spiritusvorraths war besonders empfindlich; mangelte dieser, so gab's ja auch kein warmes Getränk, keinen Thee, keinen Kaffee mehr. Als sie nun ihren Gesammtverlust überschauten, schätzte der Doctor, daß gegen zweihundert Pfund Pemmican und einhundertundfünfzig Pfund Zwieback verloren gegangen waren; sollte die Reise fortgesetzt werden, so mußten sich die Reisenden mit halben Rationen begnügen.

Eine Weile lang überlegte man, was zu thun sei. Sollte man zum Schiffe zurückkehren und die ganze Expedition wiederholen? Aber sollte man die schon zurückgelegten einhundertundfünfzig Meilen umsonst gemacht haben? Und dann, wenn sie ohne Brennmaterial zurückkehrten, welch' verderblichen Einfluß würde das auf den Geist der ganzen Mannschaft äußern? Würde man nochmals Leute gewinnen, welche sich zu diesem Zuge über die Eisfelder entschlössen?

Es lag auf der Hand, daß nur in der Fortsetzung des Weges, selbst auf die Gefahr der herbsten Entbehrungen hin, ihr Heil zu suchen sei.

Der Doctor, Hatteras und Bell waren bald dafür entschieden; nur Simpson war für die Umkehr; die Strapazen der Reise hatten seine Gesundheit angegriffen; er war sichtlich schwächer geworden; doch da er mit seiner Ansicht allein blieb, unterzog er sich wieder der Leitung des Schlittens und die kleine Karawane setzte ihren Weg nach Süden weiter fort.

Vom 15. bis 17. Januar ging die Reise in gewohnter Eintönigkeit weiter, doch kam man nur langsamer vorwärts. Die Reisenden ermatteten; sie waren wie zerschlagen in den Füßen; auch die Hunde zogen nur noch mit Mühe. Die jetzt ungenügende Nahrung vermochte weder Menschen noch Thiere wieder [230] zu stärken. Dabei wechselte das Wetter wie gewöhnlich zwischen strenger Kälte und feuchten, durchdringenden Nebeln.

Am 18. Januar zeigten die Eisfelder plötzlich ein wesentlich anderes Aussehen; eine große Menge Pics, geformt wie scharf zugespitzte Pyramiden, von bedeutender Höhe zeichneten sich am Horizonte ab. An manchen Stellen durchbrach der Boden die Schneelage; er schien aus Gneis, Schiefer und Quarz, untermischt mit Kalkgebirge zu bestehen. Endlich hatten also die Wanderer festes Land unter sich, und aller Wahrscheinlichkeit nach konnte dasselbe nur zu Neu-Cornwallis gehören.

Der Doctor konnte sich nicht enthalten, einmal mit gewisser Befriedigung auf die solide Unterlage fest aufzutreten; nur einhundert Meilen trennten die Reisenden noch vom Cap Belcher; aber auf diesem unebenen Boden, der so reich an spitzen Steinen, gefährlichen Vorsprüngen, Spalten und Schluchten war, nahmen ihre Kräfte reißend ab. Bald mußte man in tiefe Bodenhöhlungen hinein, bald wieder die steile Küste emporklimmen oder schmale Schluchten übersteigen, in denen der Schnee wohl dreißig bis vierzig Fuß hoch lag.



Die Reisenden dachten bald mit Sehnsucht an den zurückgelegten, gleichmäßigeren Weg zurück, an die Eisfelder, über die der Schlitten so köstlich hinglitt; jetzt bedurfte es anderer Kraftanstrengung, ihn fortzubewegen. Die kreuzlahmen Hunde reichten nicht mehr aus, die Menschen mußten sich noch mit vorspannen und ermüdeten sich so desto mehr. Dann und wann war man [231] genöthigt, Alles vom Schlitten abzuladen, wenn es gar zu steile Anhöhen zu ersteigen galt, deren Oberfläche keine festen Anhaltepunkte bot. So verlangte die Entfernung von zehn Schritt oft die Arbeit ganzer Stunden. Den ersten Tag legte man auf diese Weise über diesen Cornwalliser Boden ganze fünf Meilen zurück, in einem Lande, das seinen Namen mit Recht trägt, denn es zeigt ganz ebenso die rauhen Berge, die scharfen Spitzen und Kanten und die wildzerklüfteten Felsen wie die Südwestspitze von Alt-England. Am andern Morgen erreichte der Schlitten die Höhe der Küste; ganz von Kräften, waren die Reisenden außer Stande, sich ein Schneehaus zu bauen, und mußten die Nacht, in ihre Büffeldecken gewickelt, unter dem Zelte zubringen, wobei sie die naß gewordenen Strümpfe auf der Brust zu trocknen suchten. Die Folgen eines solchen Verhaltens liegen auf der Hand; das Thermometer fiel dazu diese Nacht auf vierundvierzig Grad (– 42° hunderttheilig) und das Quecksilber gefror.

Der Zustand Simpson's ward allmälig beunruhigend; ein hartnäckiger Lungenkatarrh, heftiges Reißen mit unerträglichen Schmerzen nöthigten ihn, sich auf dem Schlitten niederzulegen, statt diesen zu leiten. Bell trat an seine Stelle; auch dieser war leidend; aber doch nicht bettlägerig. Auch der Doctor entging dem Einflusse dieses mörderischen Klimas nicht gänzlich, doch keine Klage ging über seine Lippen, und standhaft marschirte er, auf den Stock gestützt, voraus; er sondirte den Weg, er half überall. Hatteras, kaltblütig, unerschütterlich, fast gefühllos, wie er war, blieb bei seiner Eisennatur gesund, wie am ersten Tage, und folgte schweigend dem Schlitten.

Am 20. Januar war die Kälte so schneidend, daß schon die geringste Anstrengung eine vollkommene Erschlaffung zur Folge hatte. Inzwischen wurden die Schwierigkeiten des Bodens der Art, daß Hatteras, Bell und der Doctor den Schlitten mit ziehen helfen mußten; scharfe Stöße hatten dessen Vordertheil zerbrochen, so daß man ihn repariren mußte, und solcherlei Hemmnisse wiederholten sich mehrmals täglich.

Mit halbem Leibe im Schnee und trotz der Kälte schwitzend, verfolgte die Gesellschaft einen tiefen Hohlweg. Niemand sprach ein Wort. Auf einmal sah Bell den neben ihm gehenden Doctor erstaunt und erschrocken an, und gleich, ohne eine Silbe zu sprechen, rafft er eine Hand voll Schnee auf und verreibt ihn mit aller Kraft auf dem Gesichte des Gefährten.

[232] »Zum Teufel! Bell! rief der Doctor abwehrend, Bell aber frottirte ihn nach besten Kräften weiter.

– Aber, Bell, begann der Doctor wieder, Mund, Augen und Nase voller Schnee, – sind Sie toll geworden? – Was soll das heißen?

– Das heißt, erwiderte Bell, daß, wenn Sie noch eine Nase besitzen, Sie dieselbe mir verdanken.

– Eine Nase! erwiderte bestürzt der Doctor, indem er mit der Hand darnach fühlte.

– Ja wohl, Herr Clawbonny; Sie waren im Begriff, das Gesicht zu erfrieren, und Ihre Nase sah vorhin vollkommen weiß aus. Ohne meine energische Behandlung dürften Sie jetzt wohl dieses Schmuckes, der, wenn auch für die Reise lästig, doch im Allgemeinen nöthig erscheint, beraubt sein.«



Wirklich hätte der Doctor nur wenig später die Nase total erfroren gehabt; jetzt war in Folge der kräftigen Abreibungen Bell's der Blutkreislauf in ihr wieder hergestellt und jede Gefahr vorüber.

»Ich danke, Bell, sagte der Doctor, und hoffe, mich revanchiren zu können.

– Dessen bin ich sicher, Herr Clawbonny, und gebe der Himmel, daß wir nie ein größeres Unglück zu beklagen haben!

– Sie spielen auf Simpson an, antwortete der Doctor; der arme Bursche muß viel ausstehen!

– Fürchten Sie für ihn? fragte lebhaft Hatteras.

– Ja, Kapitän, sagte der Doctor.

– Und was fürchten Sie?

– Einen heftigen Ausbruch von Scorbut; seine Beine sind schon angeschwollen und das Zahnfleisch wird dick; der Bedauernswerthe liegt halb erfroren auf dem Schlitten und jeden Augenblick erneuern die Stöße seine [233] Schmerzen. Ich bedauere ihn herzlich, Hatteras, aber ich vermag Nichts zu seiner Erleichterung zu thun!



– Armer Simpson! murmelte Bell.

– Vielleicht könnten wir ein bis zwei Tage Halt machen, meinte der Doctor.

– Halt machen! versetzte Hatteras, wo das Leben von achtzehn Menschen von unserer rechtzeitigen Rückkehr abhängt!

– Indessen ... fiel der Doctor ein.

– Clawbonny, Bell, erwiderte Hatteras, hören Sie mich an. Nicht mehr für zwanzig Tage haben wir Lebensmittel. Können wir unter diesen Umständen einen Augenblick verlieren?«

Weder der Doctor, noch Bell vermochten ein Wort zu erwidern, und so setzte der Schlitten nach nur kurzer Unterbrechung seinen Weg fort.

Am Abend hielt man am Fuße eines kleinen Eishügels Rast, aus welchem Bell schnell eine Höhlung herausarbeitete, in welcher die Reisenden sich bargen. Der Doctor wachte die Nacht über bei Simpson. Der Scorbut ergriff den Unglücklichen mit voller Heftigkeit, und seine Leiden preßten ihm fortwährende Klagelaute durch die geschwollenen Lippen.

»Ach, Herr Clawbonny!

– Muth, Muth, mein Junge! sagte der Doctor.

– Ich komme nicht wieder mit zurück; ich fühle es, denn ich ertrage das nicht länger. Ich möchte lieber sterben!«

[234] Seinen verzweifelten Klagen begegnete der Doctor mit verdoppelter Sorge; obgleich selbst angegriffen von den Mühsalen des Tages, bereitete er dem Kranken doch in der Nacht mehrere beruhigende Getränke; aber auch der Citronensaft war ohne alle Wirkung und trotz aller Einreibung breiteten sich die scorbutischen Erscheinungen mehr und mehr aus.

Den folgenden Morgen mußte der Arme wieder auf den Schlitten gebracht werden, trotz seiner Bitten, ihn allein zurück und in Frieden sterben zu lassen. – Dann nahm man den abscheulichen Weg mitten durch immer wachsende Hemmnisse wieder auf.

Die eisigen Nebel durchkälteten die drei Männer bis auf die Knochen; Schnee und Graupeln schlugen ihnen in's Gesicht; sie dienten mit als Saumthiere und hatten nicht einmal ausreichende Nahrung.

Duk, der seinem Herrn ähnlich, kam und ging, aller Ermüdung spottend, immer munter, und suchte schon von selbst den besten Weg auszuspüren, so daß man sich auf seinen wunderbaren Instinct völlig verließ.

Am Morgen des 23. Januar, bei fast völliger Finsterniß, denn es war Neumond, war Duk wie gewöhnlich voraus. Aber Stunden vergingen, bevor er wieder sichtbar wurde. Hatteras wurde darüber desto unruhiger, da der Boden zahlreiche Spuren von Bären zeigte; schon war er unschlüssig, welchen Weg er nehmen sollte, als sich ein lautes Bellen vernehmen ließ. Hatteras beschleunigte den Gang des Schlittens und bald fand man auch das treue Thier in der Tiefe eines Hohlwegs.

Duk stand wie versteinert und bellte vor einer Art Cairn, der aus einigen jetzt mit Eis überzogenen kalkigen Steinen errichtet war.

»Dieses Mal ist es aber ein Cairn, sagte der Doctor, während er schon seinen Zugriemen löste, das ist keine Täuschung.

– Und was nützt er uns? fragte Hatteras.

– Wenn es ein Cairn ist, Kapitän, so kann er für uns sehr kostbare Documente bergen; vielleicht enthält er Nahrungsmittel, und das lohnte schon allein die Mühe der Untersuchung.

– Und welcher Europäer könnte bis hier hinauf gekommen sein? fragte Hatteras mit Achselzucken.

– Wenn es keine Europäer waren, können es nicht Eskimos gewesen sein, die diese Zuflucht errichteten und darin von der Beute ihres Jagd- oder Fischzugs niederlegten? Sie pflegen es ja, so viel ich weiß, gewöhnlich zu thun.

[235] – Nun gut, überzeugen Sie sich, Clawbonny, sprach Hatteras, aber ich fürchte sehr, Sie werden sich eine vergebliche Mühe machen.«

Clawbonny und Bell begaben sich mit Aexten bewaffnet nach dem Cairn.

Duk bellte wüthend weiter. Die Kalksteine waren zwar fest durch Eis verbunden, aber einige Schläge genügten doch, sie loszulösen.

»Da ist sicher Etwas drinnen, sagte der Doctor.

– Ich glaube es nun auch«, war Bell's Antwort.


Hatteras findet Spuren von Vorläufern. (S. 236.)

Schnell zerstörten sie das kunstlose Bauwerk. Bald fanden sie eine [236] Höhlung; in dieser lag ein ganz feuchtes Papier. Klopfenden Herzens ergriff es der Doctor. Hatteras kam nun auch hinzu, nahm es und las:

»Altam ..., Porpoise, 13. December 1860. 12° Länge, 8..°35' Breite ...

– Der ›Porpoise!‹ sagte der Doctor.

– Der ›Porpoise!‹ wiederholte Hatteras. Ich kenne kein Schiff dieses Namens, das diese Meere beführe.

– Es ist klar, erwiderte der Doctor, daß Seefahrer, vielleicht Schiffbrüchige, vor weniger als zwei Monaten hier gewesen sind.

– Ganz ohne Zweifel, meinte Bell.

– Was sollen wir thun? fragte der Doctor.

– Unsern Weg fortsetzen, erwiderte kaltblütig Hatteras; ich kenne kein Schiff Namens Porpoise, aber ich weiß, daß die Brigg Forward unsere Rückkehr schmerzlich erwartet.«

31. Capitel
Einunddreißigstes Capitel.
Simpson's Tod.

Die Reise wurde wieder aufgenommen; neue, ungewohnte Gedanken ergriffen Alle, denn ein Zusammentreffen mit Anderen ist in jenen Polargegenden ein hochwichtiges Ereigniß. Hatteras runzelte voll Unruhe die Stirn.

»Der Porpoise! sprach er zu sich selbst, was ist das für ein Schiff, und was führt es hierher, so nahe zum Pole?«

Bei diesen Gedanken überlief ihn ein Schaudern. Der Doctor und Bell ihrerseits überdachten nur die möglichen Folgen der Entdeckung jenes Fragmentes: ob sie Mitleidende retten oder von jenen gerettet werden sollten.

Bald aber waren sie wieder eine Beute der Hindernisse, Schwierigkeiten und der Ermattung, und hatten nur noch ihre eigene, doch so gefahrvolle Lage vor Augen.

Simpson's Zustand ward immer schlechter; dem Doctor konnten die Vorzeichen [237] des nahenden Todes nicht entgehen; er vermochte nichts mehr zu thun, zumal da er selbst an einer schmerzhaften Augenentzündung litt, die ihn, wenn er sie vernachlässigte, mit Blindheit bedrohte. Die Dämmerung verbreitete doch eine ziemliche Lichtmenge, die, von dem Schnee zurückgeworfen, die Augen reizte. Nur mit Mühe vermochte man sich gegen jene Rückstrahlung zu schützen; denn farbige Brillengläser, welche man sonst verwendet, überzogen sich bald mit einer Eisschicht und wurden undurchsichtig. Dabei mußte man immer sorgfältig auf den Weg achten und auf möglichste Entfernungen hin die Richtung des Weges zu bestimmen suchen, und so wurde es wirklich schwierig, der Gefahr einer Augenentzündung zu entgehen.



Der Doctor und Bell halfen sich in der Art, daß sie abwefeind die Augen bedeckt hielten und abwechselnd die Leitung des Schlittcus übernahmen.

Nur mühsam glitt dieser noch auf seinen abgenutzten Kufen und war ebenso schwer fort zu bewegen; dagegen nahmen die Schwierigkeiten des Weges täglich nur zu, da man über einen vulkanischen, tief gerissenen, gefurchten und mit scharfen Kanten reich versehenen Boden reiste. Bis auf eine Höhe von fünfzehnhundert Fuß war die Gesellschaft nach und nach gekommen; die Temperatur war dabei so rauh als möglich; Windstöße und Wirbelstürme traten mit ungewohnter Heftigkeit auf und ein trauriges Bild boten die Unglücklichen, die sich über diese verlassenen Höhen hinschleppten.

Daneben waren sie noch von Schneeblindheit befallen; dieser gleichmäßige Glanz griff sie an; sie waren schwindlich, wie betrunken; der Boden schwand [238] unter ihren Füßen und schien auf der ganzen ungeheuren weißen Decke keinen festen Stützpunkt mehr zu bieten; es war ihnen ein Gefühl, wie beim Schwanken des Schiffes, wobei das Verdeck dem Fuße zu entschwinden scheint; die Reisenden vermochten sich nicht daran zu gewöhnen, und die Fortdauer dieser Empfindung nahm ihnen den Kopf ein. Ihre Glieder wurden schwer beweglich, ihr Geist war gleichsam schlaftrunken, und so zogen sie auch wirklich, wie im Halbschlaf weiter. Nur eine entstehende Verwirrung, ein unerwarteter Stoß oder Fall brachte sie einigermaßen zum Bewußtsein, welches sie aber doch schon nach kurzer Zeit wieder verließ.

Vom 25. Januar ab stiegen sie dann über steile Abhänge niederwärts, doch nahm ihre Abspannung auf diesen übereisten schiefen Flächen nur zu, ein Fehltritt, der ja nur schwer zu vermeiden war, reichte wohl hin, sie in tiefe Abgründe zu stürzen, in welchen sie rettungslos verloren gewesen wären.

Gegen Abend peitschte ein wüthender Sturm die schneeigen Gipfel; kaum vermochte man der Gewalt des Orkans Widerstand zu leisten, so daß die Reisenden gezwungen waren, sich platt auf die Erde niederzulegen, was sie aber wieder der Gefahr aussetzte, auf der Stelle anzufrieren.

Bell errichtete mit Hatteras' Hilfe wieder ein Schneehaus, in welchen die Elenden Schutz suchten; dort stärkte man sich durch etwas Pemmican und warmen Thee. Nur vier Gallonen Weingeist waren noch übrig, und von diesen brauchte man immer, nur um den Durst zu löschen, denn man darf nicht glauben, daß der Schnee als solcher hierzu brauchbar gewesen wäre; im Gegentheil mußte dieser immer erst geschmolzen werden. In gemäßigten Klimaten, wo die Temperatur nicht viel unter den Gefrierpunkt sinkt, würde der Genuß des Schnees keine besonders üble Wirkung haben, aber in den Polargegenden ist das ganz anders; er nimmt dort eine derartige Kälte an, daß man ihn oft ebenso wenig wie glühendes Eisen mit bloßer Hand anzufassen vermag, obwohl er ein so schlechter Wärmeleiter ist. Zwischen ihm und dem Magen ist also eine so bedeutende Temperaturdifferenz, daß sein Genuß vollkommene Erstickungsanfälle erzeugen würde. Die Eskimos ertragen lieber die härtesten Entbehrungen, als daß sie sich solchen Schnees bedienen, der das Wasser keineswegs ersetzt und den Durst nur steigert. Die Reisenden konnten also nur unter der Bedingung von jenem Gebrauch machen, daß sie ihn mittels Spiritus zerschmelzen ließen.

Um drei Uhr Morgens, als der Sturm am heftigsten wüthete, begann [239] der Doctor seinen Theil der Nachtwache; in einer Ecke des kleinen Raumes stützte er sich auf den Ellenbogen, als schwere Klagen Simpson's ihn aufmerksam machten. Er erhob sich, diesem beizustehen, stieß sich dabei aber unsanft an die Eisdecke des Gemachs; ohne darauf besonders zu achten, beugte er sich über den Leidenden, um dessen angeschwollene und blau angelaufene Glieder zu frottiren. Als er sich davon nach einer Viertelstunde erheben wollte, stieß er sich nochmals so heftig, obwohl er damals auf den Knieen lag.

»Das ist doch sonderbar«, sprach er zu sich.

Forschend hob er die Hand über den Kopf, die Decke senkte sich merklich.

»Großer Gott! rief er, schnell auf, Ihr Freunde!«

Hatteras und Bell sprangen rasch empor und stießen sich ebenfalls gegen den Kopf; es herrschte die tiefste Finsterniß.



»Wir werden hier erdrückt! sagte der Doctor, hinaus! Schnell hinaus!«

Alle verließen, Simpson durch den Eingang fortschleppend, den gefährlichen Ort. Es war höchste Zeit; krachend stürzten bald die Eisblöcke, welche nicht gut aufeinander lagen, zusammen.

So waren die Bedauernswerthen, ohne Schutz vor der heftigen Kälte, auf's Neue der Wuth des Sturmes preisgegeben. Hatteras versuchte das Zelt aufzuschlagen, doch vermochte es der Gewalt des Windes nicht zu widerstehen, und so blieb Nichts übrig, als sich noch selbst unter die Leinenstücken zu flüchten, wel che bald von einer dicken Schneelage überweht waren. Doch verhinderte dieser Schnee, durch den ihre Eigenwärme nicht ausstrahlen konnte, mindestens, daß sie selbst zu Eis erstarrten.

Erst am Morgen ließen die Windstöße nach; als sie die jetzt nur knapp gefütterten Hunde wieder einspannten, sah Bell, daß drei von ihnen schon [240] ihr Riemenzeug angenagt hatten; zwei schienen ernstlich krank und konnten nicht weiter fort.

Trotz alledem mußte die Karawane wohl oder übel ihren Weg wieder aufnehmen; noch sechzig Meilen waren bis zu dem in's Auge gefaßten Punkte zurückzulegen.

Am 26. rief Bell, der voranschritt, plötzlich die Anderen herbei; zu nicht geringem Erstaunen sahen sie ein Gewehr an eine Eiszacke gelehnt.

»Eine Flinte!« rief der Doctor aus.

Hatteras prüfte sie; sie war in gutem Zustande und noch geladen.

»Die Mannschaft des Porpoise muß hier in der Nähe sein«, meinte der Doctor.

Hatteras erkannte, daß die Waffe amerikanischen Ursprungs sei; seine Hand erfaßte krampfhaft den beeisten Lauf.

»Vorwärts! Vorwärts!« sprach er mit dumpfer Stimme.

Weiter ging es die Bergabhänge hinunter. Simpson schien alles Gefühles beraubt; kein Klagelaut ertönte von ihm; er war schon zu schwach dazu.



Der Sturm dauerte fort; aber immer langsamer kam der Schlitten voran; nur wenige Meilen legte man in vierundzwanzig Stunden zurück, und trotz der strengsten Eintheilung gingen die Nahrungsmittel erschreckend zu Ende; aber so lange noch etwas über die für die Rückreise berechnete Menge übrig war, trieb Hatteras vorwärts.

Am 27. fand man, fast verweht vom Schnee, einen Sextanten und später eine Kürbisflasche; diese enthielt Branntwein, oder vielmehr ein Eisstück, in dessen Mitte der Alkohol des Getränkes sich in einem Schneeballe concentrirt hatte; der Fund erschien werthlos.

Offenbar folgte Hatteras unwillkürlich den Spuren einer traurigen [241] Katastrophe; er schlug eben den einzigen überhaupt gangbaren Weg ein und traf so auf Trümmer eines schrecklichen Schiffbruchs.

Der Doctor spähte nach Kräften, ob er nicht wieder einen Cairn gewahren könne; aber vergeblich.

Trübe Gedanken peinigten den Kapitän; wenn er die Hilflosen, welche hier gewesen waren, entdeckte, welche Hilfe konnte er ihnen leisten? Ihm selbst und seinen Begleitern begann es schon an Allem zu fehlen; ihre Kleidung ging in Stücken, ihre Nahrung zu Ende. Waren jene Schiffbrüchigen zahlreich, so kamen sie Alle durch Hunger um. Hatteras wünschte sie offenbar lieber zu vermeiden. Hatte er nicht ein Recht dazu, er, von dem das Wohl aller seiner Begleiter abhing? Durste er, wenn er noch Fremde mit an Bord brachte, die Sicherheit Aller auf's Spiel setzen?

Aber diese Fremden waren ja auch Menschen, waren Ihresgleichen, vielleicht gar Landsleute! So schwach auch die Hoffnung auf ihre Rettung war, durfte man sich ganz darüber wegsetzen? Der Doctor suchte Bell's Meinung darüber zu erfahren; aber dieser schwieg; seine eigenen Leiden schnürten ihm das Herz zu. Clawbonny wagte gar nicht, Hatteras zu fragen, und so ergab er sich ruhig dem Beschlusse der Vorsehung.

Am Abend des 27. Januar schien es mit Simpson zu Ende zu gehen. Seine Gliedmaßen waren eisig kalt; sein keuchender Athem bildete einen Nebel um seinen Kopf, und krampfhaftes Zucken verkündete seine letzte Stunde. Sein Gesichtsausdruck, seine Blicke ohnmächtigen Zorns, die er noch auf den Kapitän schoß, waren schrecklich, verzweifelt. Er verrieth eine schwere Anklage, er schleuderte auf Jenen zwar stumme, aber doch deutliche und wohl nicht ganz unverdiente Vorwürfe.

Hatteras näherte sich dem Sterbenden nicht. Er mied ihn, er floh ihn; er wurde schweigsamer und in sich gekehrt, mehr als je.

Die folgende Nacht war furchtbar; mit doppelter Macht brach der Sturm los; dreimal wurde das Zelt weggerissen und der Schneeschauer peitschte den Bedauernswerthen in's Gesicht, machte sie blind und übereiste sie. Simpson war dem fürchterlichen Wetter preisgegeben. Es gelang zwar Bell, das armselige Obdach des Zeltes wieder herzustellen; aber ein noch heftigerer Windstoß riß es zum vierten Male weg und entführte es wirbelnd unter grausigem Pfeifen.

»Ah! Das ist zu arg! rief Bell.

[242] – Muth! Nur Muth!« sprach ihm der Doctor zu, der in seine Nähe kroch, um nicht in eine Schlucht mit fortgerissen zu werden.

Simpson stöhnte. Plötzlich richtete er sich noch einmal mit den letzten Kräften halb auf, streckte die geballte Faust gegen Hatteras, der ihn unbeugsamen Blicks ansah, aus, stieß noch einen herzzerreißenden Schrei aus und fiel todt zurück, ohne seine Drohung vollenden zu können.


Das erste Opfer. (S. 243.)

»Er ist todt! rief der Doctor.

– Todt!« wiederholte Bell.

[243] Hatteras, der auf die Leiche zuging, ward vom Sturme zurückgestoßen.

Das war das erste Opfer, welches das mörderische Klima aus der Gesellschaft riß, der Erste, der nie einen Hafen wiedersehen sollte, der Erste, der nach unendlichen Leiden den Starrsinn des Kapitäns mit seinem Leben zu büßen hatte. Dieser Todte hatte ihn als Mörder angeklagt, und Hatteras nicht den Kopf dabei verwandt. Doch glitt heimlich eine Thräne aus seinem Auge, die auf der blassen Wange gefror.



Der Doctor und Bell betrachteten ihn fast mit Grauen. Auf seinen langen Stock gestützt, stand er da wie der Geist dieser erstarrten Regionen, gerade aufgerichtet trotz der wüthenden Windstöße, wie unheilverkündend bei seiner erschreckenden Ruhe.

Ohne von der Stelle zu weichen, blieb er stehen bis zum Grauen der Dämmerung, zähe, kühn, unbezwingbar und schien dem Sturm, der rings um ihn tobte, zu trotzen.

[244]
32. Capitel
Zweiunddreißigstes Capitel.
Rückkehr zum Forward.

Gegen sechs Uhr Morgens legte sich der Wind und fegte, nach Norden umspringend, die Wolken vom Himmel. Das Thermometer zeigte dreiunddreißig Grad unter Null (– 37° hunderttheilig). Die ersten Strahlen der Dämmerung versilberten nur erst den Horizont, den sie bald vergolden sollten.

Hatteras näherte sich seinen beiden niedergeschlagenen Gefährten und sagte mit schwacher, trauriger Stimme:


(S. 246.)

»Meine Freunde; mehr als sechzig Meilen trennen uns noch von dem durch Sir Edward Belcher bestimmten Punkte. An Nahrungsmitteln haben wir nur noch das unbedingt Nothwendige, um bis zu unserm Schiffe zurückzugelangen. Jetzt noch weiter gehen hieße uns dem gewissen Tode ausliefern, ohne irgend Jemand Anderm zu nützen. Wir kehren unseren Weg zurück.

– Das ist der rechte Entschluß, Hatteras, sagte darauf der Doctor; wahrlich, ich wäre Ihnen gefolgt, wohin es nur wäre, aber unsere Gesundheit schwindet von Tag zu Tag. Kaum können wir noch einen Fuß vor den andern setzen; ich billige also den Entschluß zur Rückkehr vollkommen.

[245] – Und ist das auch Ihre Ansicht, Bell?

– Ja, Kapitän! erwiderte der Zimmermann.

– Wohlan denn, entschied nun Hatteras, so wollen wir zwei Tage rasten. Das wird nicht zu lange sein. Der Schlitten bedarf umfänglicher Reparaturen; ich bin auch dafür, gleich noch ein Schneehaus zu errichten, um darin unsere Kräfte erst wieder zu sammeln.«

Als man darüber im Reinen war, gingen die Drei hurtig an's Werk; Bell verwandte alle Sorge auf die Festigkeit des Baues, und bald erhob sich eine entsprechende Zuflucht in dem Hohlwege, wo sie den letzten Halt gemacht hatten.

Wie sehr hatte sich Hatteras Zwang anthun müssen, um diese Reise abzubrechen! So viele Mühe, so viele Anstrengung verloren! Ein unnützer Zug, auch noch mit einem Menschenleben erkauft! Und nun die Rückkehr zum Schiffe ohne ein Stückchen Kohle! Was würde aus der Mannschaft werden? Was würde sie ausführen unter Richard Shandon's Einflüsterungen?

Eifrig betrieb nun Hatteras das Nöthige für die Rückkehr; der Schlitten wurde wieder in Stand gebracht; seine Ladung hatte sich wesentlich vermindert und betrug keine zweihundert Pfund mehr. Man restaurirte nach Kräften die abgenutzte und zerfetzte Kleidung, die vom Schnee durchzogen und von Eis gestärkt war. Neue Moccassins und Schneeschuhe ersetzten die abgelaufenen. Diese Arbeiten nahmen den ganzen 29., bis zum Morgen des 30. Januar in Anspruch; nachher ruhten die Reisenden, so gut es eben ging, und stärkten sich für das Kommende.

Während dieser theils in dem Schneehaufe, theils auf dem Eise der Schlucht verbrachten sechsunddreißig Stunden beobachtete der Doctor aufmerksam Duk, der ihm ganz ungewöhnlich erschien; immer lief der Hund herum und schweifte unzählige Male in einem Raum umher, der einen bestimmten Mittelpunkt zu haben schien; diesen bildete eine kleine Erhöhung des Erdbodens, so als wenn dort mehrere Eisschollen übereinander lägen. Duk, der immer diesen Punkt umkreiste, bellte verhalten, wedelte unruhig mit dem Schweife und schien seinen Herrn fragend anzusehen.

Erst wollte der Doctor diese Unruhe von der Anwesenheit der Leiche Simpson's herleiten, die sie zu begraben noch nicht Zeit gefunden hatten.

Diese traurige Pflicht sollte noch desselben Tages erfüllt werden, da man mit der nächsten Dämmerung aufzubrechen Willens war.

[246] Bell und der Doctor versahen sich mit Hacken und gingen im Grunde des Hohlwegs nach jener durch Duks Benehmen auffallend gewordenen Erhöhung, welche so passend schien, die Leiche darin zu bestatten.

Beide entfernten erst die lose Ueberlage von Schnee und bearbeiteten dann die härteren, eisigen Schichten. Beim dritten Schlage schon stieß der Doctor auf einen spröden Körper, der in Stücke sprang. Er suchte etwas davon auf und brachte Scherben von einer Glasflasche an's Licht.

Bell seinerseits zog einen hart gewordenen Sack hervor, der noch ganz gut erhaltenen Zwieback enthielt.

»Nun? sagte der Doctor erstaunt.

– Was soll das bedeuten?« fragte Bell, der seine Arbeit unterbrach.

Der Doctor rief Hatteras, welcher sogleich hinzukam.

Duk bellte lebhaft und wühlte mit den Pfoten den weichen Schnee weg.

»Sollten wir auf eine Niederlage von Nahrungsmitteln gestoßen sein? sagte der Doctor.

– Das scheint fast so, meinte Bell.

– Fortfahren!« rief Hatteras.

Noch einige Reste von Speisen wurden aufgefunden, und dann ein Gefäß, das noch zu einem Viertel mit Pemmican gefüllt war.

»Das ist hier ein Versteck, sagte Hatteras, dem aber vor uns schon Bären ihren Besuch gemacht haben. Die Vorräthe sind nicht mehr unangetastet.

– Das fürchte ich auch, erwiderte der Doctor, denn ...«

Er brachte den Satz nicht zu Ende. Ein Aufschrei Bell's unterbrach ihn; als dieser einen stärkeren Eisblock wegwälzte, kam ein steifgefrorenes, menschliches Bein zum Vorschein.

»Ein Leichnam! brach der Doctor aus.

– Das ist kein Versteck, sagte Hatteras, sondern ein Grab.«

Der bloßgelegte Cadaver gehörte einem Matrosen von ungefähr dreißig Jahren an; vollkommen gut erhalten trug er noch die gewöhnliche Kleidung der Polarmeerfahrer, und auch der Doctor wagte nicht zu entscheiden, wie lange er wohl schon läge.

Bald darauf grub Bell aber noch einen zweiten Leichnam, den eines Mannes von etwa fünfzig Jahren auf, der noch auf seinem Antlitz die Spuren der Leiden trug, die ihn dahingerafft hatten.

[247] »Das sind keine von anderer Hand begrabenen Körper! rief der Doctor aus, diese Unglücklichen hat der Tod überrascht, so wie wir sie hier finden.

– Sie haben ganz Recht, Herr Clawbonny, bestätigte Bell.

– Grabt weiter! weiter!« trieb Hatteras.

Bell wagte es kaum. Wer konnte wissen, wieviel Leichen wohl noch dieser Hügel barg!?



»Diese Leute sind demselben Unfall zum Opfer gefallen, der uns bedrohte, sagte der Doctor, ihr Schneehaus ist zusammengestürzt. Aber wir wollen nachsehen, ob einer von ihnen noch athmet.«

Schnell wurde weiter abgeräumt, und Bell förderte auch noch einen dritten Körper heraus, einen Mann von etwa dreißig Jahren, der gar nicht so leichenähnlich aussah, wie die Anderen; der Doctor beugte sich über ihn und glaubte noch einige Lebenszeichen wahrzunehmen.

»Er lebt! Er lebt!« rief er erfreut.

Mit Bell's Hilfe schaffte er den Verunglückten in das Schneehaus, während Hatteras, unbeweglich wie immer, die zusammengestürzte Wohnstätte betrachtete.

Der Doctor entkleidete den Ausgegrabenen vollständig; er fand keine Wunde an ihm; er und Bell rieben ihn dann mit in Weingeist getauchten Bäuschen ab, und bald wurden Anzeichen des wiederkehrenden Lebens sichtbar. Der Unglückliche war aber in einem Zustande vollständiger Erschöpfung, und der Sprache vollkommen beraubt. Am Gaumen klebte seine Zunge wie [248] angefroren. Der Doctor durchsuchte die Taschen in der Kleidung. Sie waren leer; kein Schriftstück fand sich. Er ließ Bell die Frictionen fortsetzen und wandte sich zu Hatteras. Dieser war indeß in das zerstörte Hans hineingestiegen, hatte den Erdboden sorgsam durchsucht und kam eben mit einem halb verbrannten Briefcouvert in der Hand wieder heraus. Auf diesem Papier waren nur noch lesbar die Worte:

..... tamont


...... orpoise


w-York.



»Altamont! rief der Doctor aus, von dem Schiffe Porpoise! aus New-York!

– Ein Amerikaner! sagte Hatteras zusammenfahrend.

– Ich rette ihn! sagte der Doctor, ich gebe mein Wort darauf, und wir werden die Lösung dieses schrecklichen Räthsels finden.«

Er kehrte zu Altamont zurück, während Hatteras nachdenklich zurückblieb. Dank seiner Sorgfalt gelang es dem Doctor, den Erstarrten in's Leben zurückzurufen, aber noch nicht zur Empfindung; dieser sah nicht, er hörte nicht, er sprach nicht, doch er lebte!

Am andern Morgen ging Hatteras den Doctor an:

»Es ist Zeit, daß wir aufbrechen, sagte er.

[249] – Gewiß, erwiderte dieser, der Schlitten ist jetzt leicht; wir laden diesen Unglücklichen mit auf und führen ihn zum Schiffe.

– Meinetwegen, sagte Hatteras, aber erst noch die Todten begraben.«

Die beiden unbekannten Matrosen wurden wieder unter die Eistrümmer zurückgebracht, und Simpson's Leiche nahm Altamont's Stelle ein.

Mit einem stillen Gebete nahmen die drei Gefährten von ihrem hingeschiedenen Genossen Abschied, und um sieben Uhr Morgens traten sie den Rückweg nach dem Schiffe an.

Zwei der Zughunde waren verendet. Duk bot sich fast selbst an, mit zu ziehen, und that es mit dem Bewußtsein und der Entschlossenheit eines echten Grönländers.

Während der zwanzig Tage, vom 31. Januar bis 19. Februar, nahm die Rückreise so ziemlich denselben Verlauf, wie die Herreise. Nur bot das Eis im Februar, dem kältesten Monate, überall eine sichere Oberfläche; die Reisenden litten zwar schwer unter der ausnehmenden Kälte, blieben aber doch von Stürmen verschont.

Am 31. Januar war auch die Sonne zum ersten Male wieder sichtbar geworden; jeden Tag stieg sie weiter über den Horizont heraus. Bell und der Doctor, fast blind und halb hinkend, waren mit ihren Kräften zur Neige, ja der Zimmermann konnte nur noch auf Krücken gestützt wandern.

Altamont blieb am Leben, aber in völliger Bewußtlosigkeit. Manchmal fürchtete man für ihn, aber umsichtige Pflege sicherte sein Wiederaufkommen. Und dabei hatte der brave Doctor mit sich selbst genug zu thun, denn seine eigene Gesundheit nahm zusehends ab.

Hatteras dachte an den Forward, an seine Brigg! Wie würde er sie wiederfinden? Was würde an Bord Alles geschehen sein? Wird Johnson dem Shandon und seinem Anhange haben widerstehen können? Ist die Kälte sehr arg gewesen? Sollte man das unglückliche Fahrzeug im Ofen geopfert haben? Waren die Masten und der Schiffsraum noch unversehrt?

Solche Gedanken im Kopfe ging Hatteras jetzt voraus, als hätte er seinen Forward schon aus der Ferne sehen wollen.

Am 24. Februar des Morgens blieb er plötzlich stehen, dreihundert Schritte vor ihm stieg ein röthlicher Schein auf, über den sich eine ungeheure Rauchsäule hinwälzte, die sich in den grauen Nebelmassen des Himmels verlor.

»Was bedeutet dieser Rauch?« rief er entsetzt.

[250] Das Herz schlug ihm so heftig, als wollt' es brechen.

»Da seht doch! Da unten, den Rauch! sagte er zu seinen zwei Genossen, die ihn nun eingeholt hatten, mein Schiff steht in Flammen!

– Aber wir sind noch mehr als drei Meilen davon, meinte Bell, das kann der Forward nicht sein.

– Und doch, er ist es, erwiderte der Doctor, das ist nur Wirkung der Luftspiegelung, der ihn uns so nahe erscheinen läßt.

– Eilen wir schnell!« rief Hatteras, der den beiden Anderen vorauslief.

Diese ließen den Schlitten unter Duk's Leitung und folgten, so schnell sie konnten, dem Kapitän nach.

Eine Stunde später bekamen sie das Fahrzeug in Sicht. O, schrecklicher Anblick! Mitten im Eise flammte die Brigg hoch auf; die Lohe ergriff schon die Schiffswände und der Südwind trug das Geprassel bis in Hatteras' Ohr.

Fünfhundert Schritte weit von ihnen stand ein einzelner Mensch, der verzweiflungsvoll die Hände rang; er stand still da, ohnmächtig gegenüber der Gluth, die den Forward verzehrte.

Er war allein, und dieser Einzige war der alte treue Johnson.

Hatteras rannte auf ihn zu.

»Mein Schiff! Mein Schiff! fragte er mit erregter Stimme.

– Sie sind es! Kapitän! erwiderte Johnson, halt, halt! Keinen Schritt weiter!

– Nun?! fragte Hatteras mit drohender Stimme.

– Die Schurken alle, sagte Johnson, haben vor achtundvierzig Stunden das Schiff verlassen und es vorher in Brand gesteckt!

– Verflucht!« rief Hatteras.

Dann donnerte eine furchtbare Explosion; die Erde zitterte, die Eisberge sanken nieder auf die Fläche und eine Rauchsäule schoß in die Wolken. Der Forward, dessen Pulverkammer in Brand gerathen war, verschwand in einem Flammenmeer.

In diesem Augenblicke erreichten der Doctor und Bell den Kapitän. Dieser, erst in Verzweiflung versunken, richtete sich plötzlich auf.

»Meine Freunde, sagte er, die Feiglinge haben die Flucht ergriffen! Die Starken werden siegen! Sie, Bell und Johnson haben den Muth! Doctor, [251] Ihnen gehört das Wissen, und ich, ich habe den Glauben und das Vertrauen! Da unten ist der Nordpol! An's Werk also! An's Werk!«

Die Genossen Hatteras' erstarkten wieder bei diesen männlichen Worten.

Und doch, die Lage dieser vier Menschen und des Halbtodten war furchtbar – verlassen ohne Hilfsmittel, verloren, allein unter dem 84. Grade nördlicher Breite, tief, tief drinnen in dem Reiche des ewigen Eises!


Das Ende der Brigg Forward. (S. 251.)
[252]

2. Abtheilung

1. Capitel
Erstes Capitel.
Die Inventur des Doctors.

Ein verwegenes Unternehmen war es von Seiten des Kapitän Hatteras, daß er nach dem hohen Norden drang, nur um seinem Vaterlande England die Ehre der Entdeckung des Nordpols zu sichern. Was Menschenkraft nur zu leisten vermochte, dieser kühne Seemann hatte es vollbracht. Und jetzt, – nachdem er neun volle Monate gegen Strömungen und Stürme gekämpft, Eisberge durchbrochen und Eisdecken zertrümmert hatte, – jetzt, wo er einen Winterfrost, der auch in jenen hohen Breiten fast ohne Gleichen war, überstanden und auf seiner Reise die Arbeiten aller Vorgänger zusammenfassend, die Geschichte der arktischen Entdeckungen gewissermaßen controlirt und vervollständigt hatte; wo er mit seiner Brigg, dem Forward, schon außerhalb bekannter Meere weilte und sein Unternehmen schon halb gelungen schien – jetzt war Alles mit einem Schlage vernichtet. Der Verrath, oder sagen wir lieber die Entmuthigung der vielleicht zu hart geprüften Mannschaft, und die verbrecherische Thorheit einiger Rädelsführer hatten ihn in eine entsetzliche Lage gebracht. Von achtzehn auf der Brigg eingeschifften Männern waren nun noch vier übrig, die entblößt von allen Hilfsmitteln und ohne Fahrzeug mehr als zweitausendfünfhundert Meilen von ihrer Heimat entfernt waren.


Bei den Ueberresten der Katastrophe. (S. 253.)

Die Explosion des Forward, welche soeben vor ihren Augen stattfand, beraubte sie auch noch der letzten Subsistenzmittel.

[253] Trotzdem war diese furchtbare Katastrophe nicht im Stande, Hatteras' Muth zu brechen. Die Männer, welche ihm noch blieben, waren die besten der ganzen Gesellschaft und ihr Heldenmuth bewährt. Er appellirte an die Energie und den Wissensdrang des Doctor Clawbonny, an die Ergebenheit Johnson's und Bell's, er betonte sein eigenes Vertrauen zu dem Unternehmen; jetzt, in der verzweifeltsten Lage, sprach er voller Hoffnung und fand Gehör bei seinen beherzten Kameraden, von welchen die vergangene Zeit auch für die Zukunft das Beste erwarten ließ.

[254] Nach den kräftigen Worten des Kapitäns wollte der Doctor sich genau über ihre jetzige Lage unterrichten und verließ die Anderen, die etwa fünfhundert Schritte von dem Wrack standen, um sich nach dem Schauplatz des Unglücks zu begeben.

Von dem Forward selbst, der mit so großer, berechnender Sorgfalt gebauten und ohne Rücksichten auf die Kosten ausgestatteten Brigg, war so gut wie nichts übrig; zerrissene Eisstücke, formlose, geschwärzte, halb geschmolzene Trümmer, verbogene Eisentheile, Taustücke, welche noch wie Lunten fortglimmten, und in der Ferne einige Rauchwolken, die da und dorthin auf dem Eisfeld emporwirbelten, zeugten von der Heftigkeit der Explosion. Die Kanone vom Vordercastell war mehrere Klafter weit zurück geschleudert und lag auf einem Eisblock, wie auf einer Laffette. Im Umkreise wohl von hundert Klaftern war der Boden mit Bruchstücken jeder Art bedeckt; der Kiel der Brigg in einen Eishausen eingebohrt, und die Eisberge, welche vorher da und dort geschmolzen waren, hatten schon wieder ihre Granithärte bekommen.



Trauernd gedachte der Doctor seiner verwüsteten Cabine, seiner verlorenen Sammlungen und der kostbaren, nun zertrümmerten Instrumente, seiner zerrissenen oder verbrannten Bücher. Alle diese Schätze waren vernichtet! Feuchten Auges übersah er das ungeheure Unheil, ohne der Zukunft zu gedenken, nur ergriffen von den fast unersetzlichen Verlusten, die ihn vor Allen schmerzlich getroffen.

Bald gesellte sich Johnson zu ihm; seine Züge trugen die Spuren der Leiden, die er überstanden, und des Kampfes, den er gegen die rebellische Mannschaft aufgenommen hatte, um das ihm anvertraute Fahrzeug zu retten.

Der Doctor reichte ihm eine Hand entgegen, die der Schiffer kummervoll drückte.

»Was soll nun aus uns werden? fragte jener.

– Das weiß Gott allein, erwiderte Johnson.

– Vor Allem, versetzte der Doctor, gilt es, jetzt nicht zu verzweifeln und den Mannesmuth zu bewahren.

[255] – Ja, Herr Clawbonny, sagte der alte Seemann, Sie haben Recht, ein großes Unglück verlangt große Entschlüsse. Wohl sind wir in übler Lage, nun heißt es, sich herauszuziehen.

– Das arme Schiff! seufzte der Doctor, wie fühlte ich mich daran gefesselt und liebte es fast wie den heimischen Heerd, wie das Haus, in dem sich unser ganzes Leben abspielte – und kaum ein Stück ist von jenem noch erkennbar!

– Ja, wer sollte es glauben, Herr Clawbonny, daß solch' ein Bauwerk von Balken und Brettern uns so sehr an's Herz wachsen könnte.

– Und die Schaluppe? fragte der Doctor sich umsehend, ist auch diese dem Verderben nicht entgangen?

– Ja wohl, Herr Clawbonny; Shandon und die anderen Entwichenen haben sie aber entführt.

– Und die Pirogue?

– Ist in tausend Stücken; da, sehen Sie die noch warmen Blechstücke, das sind Ueberreste derselben.

– So bleibt uns also nur noch das Halkett-Boot?

– Ja, das danken wir Ihrem Einfall, es bei Ihrem Abstecher mitzunehmen.

– Das ist freilich wenig, sagte der Doctor.

– O, über die elenden, entflohenen Schurken! rief Johnson; strafe sie der Himmel, wie sie es verdient haben.

– Johnson, mahnte begütigend der Doctor, vergessen wir nicht, daß ihnen eine harte Prüfung auferlegt war. Nur die Besten bleiben auch im Unglück wacker, wo die Schwächeren unterliegen. Beklagen können wir unsere Unglücksgefährten, verdammen dürfen wir sie nicht!«

Einige Augenblicke verharrte der Doctor schweigend, und sandte unruhige, forschende Blicke rund umher.

»Was ist denn aus dem Schlitten geworden? fragte Johnson.

– Der ist nur eine Meile rückwärts geblieben.

– Unter Simpson's Aufsicht, nicht wahr?

– Nein, guter Freund, der arme Simpson ist den Strapazen erlegen.

– Er ist todt? fragte bestürzt der Schiffer.

– Todt! erwiderte der Doctor.

[256] – Der Unglückliche! meinte Johnson, und doch, wer weiß, ob wir nicht bald sein Schicksal zu beneiden haben!

– Aber für einen Todten, den wir zurücklassen mußten, haben wir einen Sterbenden mitgebracht.

– Einen Sterbenden?

– Ja, den Kapitän Altamont.«

Mit kurzen Worten erzählte der Doctor dem Schiffer das Vorgefallene.

»Also ein Amerikaner! sagte nachdenklich Johnson.

– Ja, Alles deutet darauf hin, daß jener ein Bürger der nordamerikanischen Freistaaten ist. Unklar bleibt, was es mit dem Schiffe ›Porpoise‹, das offenbar Schiffbruch erlitten, für ein Bewandtniß hat, und was es in diesen Breiten bezweckte.

– Es ist eben untergegangen, entgegnete Johnson, es hatte seine Bemannung zur Todesfahrt eingeschifft, wie alle Diejenigen, welche ihre Kühnheit in diese Gegenden trieb. Aber sagen Sie mir zunächst, Herr Clawbonny, hat denn Ihre Excursion das beabsichtigte Ziel erreicht?

– Das Kohlenlager? fragte der Doctor.

– Ja, dieses.«

Schweigend schüttelte der Doctor den Kopf.

»Also Nichts erreicht? sagte der alte Seemann.

– Nichts. Uns gingen die Lebensmittel aus, und Erschöpfung überfiel uns unterwegs. Nicht einmal die von Edward Belcher bezeichnete Küste erreichten wir!

– Also, setzte der ergraute Schiffer hinzu, auch kein Brennmaterial erlangten Sie?

– Nein!

– Keine Lebensmittel?

– Nein!

– Und kein Schiff trafen Sie, um nach England heimkehren zu können?«

Der Doctor schwieg und Johnson auch; wahrlich, es gehörte kühner Muth dazu, die entsetzliche Lage ruhig zu überschauen.

»Nun denn, nahm der Schiffer wieder das Wort, unsere Verhältnisse klären sich wenigstens; wir wissen, was uns bevorsteht. Darum gehen wir zuerst an das Nöthigste; die Kälte ist bitter und wir brauchen zuerst irgend ein Unterkommen.

[257] – Ja wohl, erwiderte der Doctor, und mit Bell's Hilfe wird sich ein Eishaus leicht herstellen lassen; dann wollen wir den Schlitten herholen, den Amerikaner versorgen und mit Hatteras das Weitere berathschlagen.

– Der arme Kapitän! meinte Johnson, der sich selbst dabei vergaß, wie wird er zu leiden haben!«

Der Doctor und der Schiffer schlossen sich den Anderen wieder an.

Da stand Hatteras, unbeweglich, mit gekreuzten Armen, und stumm die Pläne für die Zukunft überdenkend. Seine Gesichtszüge zeigten wieder die alte unbeugsame Festigkeit. Woran dachte wohl dieser ganz außergewöhnliche Mann? War es an seine verzweifelte Lage oder an seine zerstörten Pläne? Ueberlegte er doch vielleicht den Rückzug, da Menschen und Elemente sich gegen ihn verschworen zu haben schienen?

Seine Gedanken vermochte Keiner zu errathen, er wußte sie tief verborgen zu halten. Der treue Duk lag neben ihm schlafend, er trotzte einer Kälte von zweiunddreißig Grad unter Null (– 37° hunderttheilig).

Bell, der auf dem Eise ausgestreckt, wie leblos dalag, bewegte sich gar nicht; seine Unempfindlichkeit konnte ihm das Leben kosten, er war in Gefahr, zu Stein zu gefrieren.

Johnson rüttelte ihn kräftig auf und rieb ihn mit Schnee ab, dennoch konnte er ihn nur schwer seiner Erstarrung entreißen.

»Frisch auf, Bell! Muth, Muth, rief er ihm zu, laß Dich nicht übermannen; steh' auf, wir haben zu reden zusammen, wir brauchen ein Obdach. Hast Du's denn ganz vergessen, wie ein Eishaus gebaut wird? Komm, hilf, Bell! Da ist ein kleiner Eisberg, den wir nur auszuhöhlen brauchen. An's Werk denn! Das giebt uns zuerst Kraft und Muth wieder, die wir hier vor Allem brauchen!«

Bell, den auch diese Worte noch etwas gleichgiltig ließen, folgte doch der Leitung des alten Seemanns.

»Unterdessen, fügte dieser noch hinzu, wird sich Herr Clawbonny der Mühe unterziehen, zum Schlitten zu gehen und diesen sammt den Hunden herzubringen.

– Ich bin bereit, erwiderte der Doctor, und kann wohl in einer Stunde zurück sein.

– Begleiten Sie ihn, Kapitän?« wandte sich Johnson fragend an Hatteras.

[258] Obgleich noch vertieft in seine Gedanken, hatte dieser den Vorschlag seines Schiffers doch vernommen, denn er erwiderte mit weicher Stimme:

»Nein, mein Freund, wenn sich der Doctor der Sache annehmen will ... Noch diesen Tag muß ein Entschluß gefaßt sein, und ich will allein sein, um ungestört nachzudenken. Geht, macht, was Alle den Augenblick für das Nöthigste halten, ich denke an die Zukunft.«

Johnson näherte sich dem Doctor.

»Das ist merkwürdig, sagte er, der Kapitän scheint schon allen Zorn vergessen zu haben, nie war seine Stimme so sanft und weich.

– Recht gut, entgegnete der Doctor, so hat er auch sein kaltes Blut wieder. Glauben Sie mir, Johnson, dieser Mann und kein Anderer ist im Stande, uns Alle zu retten.«



Der Doctor hüllte sich so gut wie möglich ein, und ging, den eisenbeschlagenen

Stock in der Hand, in der Richtung nach dem Schlitten, mitten durch den Nebel, den der Mond einigermaßen durchdrang.

Johnson und Bell gingen nun sogleich an's Werk. Der alte Seefahrer trieb immer den Zimmermann an, der schweigend arbeitete; zu bauen gab es eben eigentlich Nichts, der gewählte Block war nur auszuhöhlen. Das harte Eis setzte ihnen vielen Widerstand entgegen, dafür versprach das Obdach desto fester und sicherer zu werden. Bald konnten die Beiden schon von der ersten Aushöhlung gedeckt arbeiten, indem sie die losgelösten Eisstücke hinter sich entfernten.

Hatteras setzte sich von Zeit zu Zeit in Bewegung, aber immer blieb er bald wieder stehen, offenbar scheute er sich, bis an das Todtenbett seiner Brigg zu gelangen.

Wie er versprochen, kam der Doctor bald zurück; auf dem Schlitten ausgestreckt [259] und mit dem Zeltstoffe möglichst umwickelt, lag Altamont; nur mit Mühe noch zogen die mageren, entkräfteten und hungrigen grönländer Hunde; es war höchste Zeit, daß die ganze Gesellschaft, Menschen und Thiere, neue Nahrung und Ruhe fand.

Während das Eishaus an Tiefe zunahm, hatte der Doctor, der immer hier und dorthin spähend umherging, das Glück, einen kleinen Ofen zu finden, den die Explosion fast unverletzt gelassen hatte, und dessen zusammengequetschtes Rohr unschwer wieder aufzubiegen war. Triumphirend schleppte ihn der Doctor herbei. Nach drei Stunden war das Eishaus im Ganzen fertig, der Ofen wurde darin aufgestellt; man füllte ihn mit Holzspänen, und bald knisterte das Feuer darin, eine behagliche Wärme verbreitend.

Der Amerikaner wurde unter Dach und Fach gebracht und im Hintergrunde auf Decken gelagert. Die vier Engländer nahmen nahe dem Ofen Platz. Die letzten Lebensmittel aus dem Schlitten, etwas Zwieback und heißer Thee, erfrischten ihre Lebensgeister; Hatteras sprach nicht, und die Anderen respectirten sein Schweigen.

Als die Mahlzeit vollendet war, winkte der Doctor Johnson, ihm nach außen zu folgen.

»Jetzt, sagte er, wollen wir zunächst eine Inventur über den Rest unserer Habe aufstellen, denn wir müssen den Bestand unseres Besitzthums genau kennen. Alles ist umhergestreut, also wollen wir es sammeln, denn jeden Augenblick kann frischer Schnee fallen, und dann dürften wir wohl vergeblich nach irgend einem Ueberbleibsel aus dem Schiffe suchen.

– So wollen wir also keinen Augenblick verlieren, versetzte Johnson, Lebensmittel und Holz sind für uns ja wohl das Wichtigste.

– Nun gut, so wollen wir Beide dies sammeln, antwortete der Doctor, und den ganzen von der Explosion überstreuten Kreis absuchen; fangen wir in der Mitte an und machen immer größere Kreise bis zum Rande.«

Sofort begaben sich die Beiden nach dem Eisbette, das der Forward eingenommen hatte, und jeder suchte sorgfältig bei dem zweifelhaften Lichte des Mondes nach den Trümmern des Schiffes. Es war eine wahre Jagd, auch hatte der Doctor dazu die Leidenschaft, ja dabei fast das Vergnügen eines Jägers, und das Herz schlug ihm lebhaft, wenn er eine halbwegs unversehrte Kiste entdeckte; aber die meisten waren leer, und nur ihre Trümmer bedeckten den Umkreis.

[260] Die Gewalt der Explosion mußte beträchtlich gewesen sein; eine große Menge Gegenstände war geradezu in Staub und Asche verwandelt; große Theile der Schiffsmaschine lagen da und dort, verbogen und zerbrochen; die Flügel fanden sich zwanzig Toisen weit weggeschleudert und tief in den harten Schnee eingesunken; die verbogenen Cylinder waren von ihrem Zapfen abgerissen; der in seiner ganzen Länge gespaltene Schornstein, an dessen oberem Theile noch Reste von Ketten hingen, lag zur Hälfte zerdrückt unter einem großen Eisstücke; Nägel, Haken, Segeltheile von den Masten, Eisentheile des Steuers, Platten vom Schiffsbeschlag, und alle Metalltheile der Brigg lagen zerstreut, wie aus Kartätschen geschossen, umher.

Aber dieses Eisen, das einen ganzen Eskimostamm hätte glücklich machen können, hatte im Augenblick für die Verunglückten gar keinen Werth; auf Lebensmittel war ihr Verlangen gerichtet, und solche entdeckte der Doctor nur wenige.

»Das läßt sich schlecht an, sprach er zu sich selbst; offenbar ist die Vorrathskammer, welche gleich neben der Pulverkammer lag, durch die Explosion total zerstört worden, und was nicht verbrannte, ist in tausend Stücke gegangen. Das ist schlimm, sehr schlimm, und wenn Johnson nicht mehr auffindet, als ich, sehe ich nicht wohl ein, was aus uns werden soll.«

Dennoch entdeckte der Doctor, als er größere Kreise seiner Nachforschung unterzog, noch einige Reste Pemmican, etwa fünfzehn Pfund, und vier Krüge, welche, trotzdem sie weit weggeschleudert waren, doch durch den weichen Schnee, auf den sie zufällig gefallen, der Zerstörung entgangen waren und noch fünf bis sechs Pinten Branntwein enthielten.

Weiter fand er noch zwei Päcke mit Meerrettich, der nach dem. Verluste alles Citronensaftes deshalb sehr erwünscht war, da er denselben bei der Bekämpfung des Scorbuts wohl ersetzen konnte.

Nach zwei Stunden fanden sich der Doctor und Johnson wieder zusammen. Sie theilten einander mit, was sie gefunden hatten, doch leider war das bezüglich der Nahrungsmittel nur wenig: kaum einige Stücke eingesalzenes Fleisch, etwa fünfzig Pfund Pemmican, drei Säcke mit Zwieback, einen kleinen Rest Chocolade, Branntwein und etwa zwei Pfund Kaffee, welcher aber Bohne für Bohne hatte aufgelesen werden müssen.

Keine Decken, Hängematten oder Kleidungsstücke waren aufgefunden worden, offenbar waren diese vom Feuer verzehrt.

[261] Alles in Allem hatten der Doctor und der Rüstmeister Lebensmittel für etwa drei Wochen gefunden, wenn man deren Verbrauch auf's Aeußerste beschränkte; freilich war da schlechte Aussicht, die Erschöpften wieder zu kräftigen. So sah sich Hatteras, nachdem schon die Kohle ausgegangen, in Folge unglücklicher Umstände auch am Vorabende der Hungersnoth.

Brennmaterial lieferten wohl die Trümmer des Schiffes, die Stücke der Masten und des Kieles auf ungefähr drei Wochen; bevor man diese aber zur Heizung in dem Eishause bestimmte, stellte der Doctor an Johnson die Frage, ob man aus diesen Resten nicht ein neues kleines Fahrzeug, mindestens eine Schaluppe, herzustellen vermöge.

»Nein, Herr Clawbonny, erwiderte der Rüstmeister, daran ist nicht zu denken; da ist kein Stück Holz so unversehrt, um es benutzen zu können; Alles ist nur noch gut genug, uns ein paar Tage zu erwärmen, und dann ...

– Nun, dann? versetzte der Doctor.

– Dann, wie Gott will«, sagte der alte Seemann.

Als die Inventur fertig war, begaben sich der Doctor und Johnson wieder zum Schlitten; wohl oder übel mußten sich die ermatteten Hunde anschirren lassen, und so kehrte man auf den Schauplatz der Explosion zurück. Dort wurden die wenigen, aber desto kostbareren, noch irgend wie tauglichen Ueberreste aufgeladen und in die Nähe des Eishauses geschafft; dann erst nahmen Beide, halb erfroren, neben ihren Leidensgefährten Platz.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Altamont's erste Worte.

Als gegen acht Uhr Abends der Himmel eine kurze Zeit von den ihn erfüllenden Nebelmassen frei war, glänzte ein sternenreiches Firmament durch die klare, aber bitterkalte Luft.

Hatteras benutzte sogleich diese Gelegenheit, um die Höhe einiger Sterne [262] zu bestimmen; ohne ein Wort zu sagen, ging er mit den nöthigen Instrumenten hinaus. Er wollte ihre Stellung bestimmen und sich vergewissern, ob das ganze Eisfeld sich etwa fortbewegt habe, oder nicht.

Nach einer halben Stunde trat er wieder ein, warf sich in einer Ecke des Hauses nieder und verharrte dort in tiefer Ruhe, fiel aber nicht in Schlaf.

Am andern Morgen fiel wieder reichlich Schnee; der Doctor konnte froh sein, daß er seine Nachforschungen schon Tags vorher angestellt hatte, denn bald verhüllte eine ungeheure weiße Decke das Eisfeld, und jede Spur von der Explosion war unter einer drei Fuß mächtigen Schicht verschwunden.

Während dieses ganzen Tages konnte man keinen Fuß in's Freie setzen; zum Glück bot die Wohnung genügende Bequemlichkeiten, mindestens erschien es unsern abgehetzten Reisenden so. Der kleine Ofen that gute Dienste, nur daß dann und wann ein ungestümer Windstoß den Rauch nach innen trieb; an seinen Flammen bereitete man sich Thee oder Kaffee, Genüsse, welche bei so niedriger Lufttemperatur doppelt wohlthätig waren.

Die Schiffbrüchigen, denn diesen Namen verdienten sie wohl in der That, verspürten ein Wohlbehagen, das ihnen lange fremd geblieben war; dabei erfreuten sie sich nur an der Gegenwart, an der wohlthuenden Wärme und der augenblicklichen Ruhe, und vergaßen der grausigen Zukunft, die sie doch mit nahem Tode bedrohte.

Der Amerikaner litt jetzt weniger und kam nach und nach in's Leben zurück; er öffnete schon die Augen, sprach aber noch nicht; seine Lippen zeigten die Spuren des Scorbuts und vermochten noch keinen verständlichen Laut zu bilden; doch da er nun offenbar hörte, wurde er von seiner Lage in Kenntniß gesetzt. Er bewegte nur den Kopf als Dank; er erkannte seine Rettung aus dem Schnee- und Eisgrabe, doch vermied der Doctor noch, ihm mitzutheilen, wie nahe er dem Tode gewesen war, und wie kurze Zeit dieser nur aufgeschoben schien, da ihnen Allen in höchstens drei Wochen die Nahrungsmittel völlig ausgehen mußten.

Erst gegen Mittag regte sich Hatteras wieder und näherte sich den drei Anderen.

»Meine Freunde, sagte er, wir müssen nun zunächst einen bestimmten Entschluß fassen, was wir jetzt vornehmen. Zuerst ersuche ich aber Johnson, [263] zu erzählen, wie jener Schurkenstreich, der uns vielleicht Alle in's Verderben bringt, ausgeführt wurde.


Eine Ladung Schiffstrümmer. (S. 262.)

– Aber wozu das? meinte der Doctor, die Thatsache steht fest, und es ist wohl besser, ihrer nicht mehr zu gedenken.

– Im Gegentheil, jetzt denke ich noch sehr daran, erwiderte Hatteras; nach Johnson's Bericht mag sie vergessen sein.

– Nun gut, ich werde Alles erzählen, begann der Rüstmeister. Ich habe Alles gethan, das Verbrechen zu hindern ...


Der Amerikaner erwacht zum Leben. (S. 263.)

[264]

– Das weiß ich, Johnson, und füge gleich hinzu, daß ich die Sache überhaupt schon für einen seit Langem geplanten Streich halte.

– Ganz meine Meinung, fiel der Doctor ein.

– Die meinige auch, nahm Johnson wieder das Wort, denn gleich nach

Ihrer Abreise, Kapitän, schon den andern Morgen, zeigte sich Shandon, der uns immer das Leben sauer machte, in seiner ganzen Schlechtigkeit und maßte sich, von der ganzen Rotte unterstützt, zunächst das Commando auf dem Schiffe an; was half mir Einzigem da mein Einspruch dagegen? Von da ab [265] handelte fast jeder nach eigenem Gutdünken, und Shandon ließ es zu; es kam ihm darauf an, der Mannschaft zu zeigen, daß nun die Zeit der Arbeit und der nöthigen Einschränkung vorüber sei. Nun wurde nichts mehr gespart; immer glühte der Ofen, der unbarmherzig vom Holze der Brigg geheizt wurde. Ueber den Proviant schaltete Jeder nach Willkür, über die geistigen Getränke desgleichen, und Sie können sich leicht denken, welchen Mißbrauch Leute, die bei dem Verlangen darnach sie doch so lange entbehrt hatten, damit trieben. So verlief die Zeit etwa vom 7. bis zum 15. Januar.

– Also Shandon war es, der die Leute in Aufruhr brachte, sprach Hatteras mit ernstem Tone.

– Ja, Kapitän.

– Erwähnen Sie den Schurken nicht wieder. Jetzt fahren Sie fort!

– Etwa am 24. oder 25. Januar kam nun die Absicht zum Vorschein, das Schiff zu verlassen. Sie wollten die westliche Küste der Bassins-Bai zu erreichen suchen, von dort sollte mit Hilfe der Schaluppe ein Wallfischfahrer gesucht oder doch auf die Grönländer Niederlassungen an der Ostseite losgesteuert werden. Proviant hatten sie in Ueberfluß; auch die Kranken erholten sich durch die Hoffnung auf die Rückkehr ganz auffallend. Nun betrieb man die Vorbereitungen zur Flucht. Zunächst wurde ein Schlitten gebaut, der Nahrungsmittel, Brennmaterial und die Schaluppe tragen sollte; die Mannschaft selbst sollte ihn ziehen. Das dauerte etwa bis Mitte Februar; Tag für Tag erwartete ich Ihre Rückkehr, Kapitän, und doch fürchtete ich sie fast; auch Sie hätten bei den Leuten nichts ausgerichtet, welche Sie eher ermordet hätten, als daß sie auf dem Schiffe geblieben wären. Ein wahrer Freiheitsschwindel hatte sie erfaßt. Ich nahm die Mannschaft Einen nach dem Anderen vor, ich bat sie, ermahnte, stellte ihnen die Gefahren ihres Vorhabens vor Augen; ich sagte ihnen auch, daß sie im Begriff wären, einen elenden Schurkenstreich zu begehen. Es war Alles umsonst, auch bei den Besten von ihnen! Die Abfahrt wurde auf den 22. Februar festgesetzt. Shandon wurde ungeduldig. Es wurde auf den Schlitten und in die Schaluppe gebracht, was nur an Proviant und Getränken aufzutreiben war; mit Holz versahen sie sich reichlich, wozu die Steuerbordseite bis auf die Wasserlinie herunter hatte herhalten müssen. Den letzten Tag gab es nun noch eine wahre Orgie; sie plünderten nach Herzenslust, und als sie toll und voll betrunken waren, steckte Pen mit noch zwei oder drei Anderen das Schiff [266] in Brand. Ich stritt aus Leibeskräften dagegen; sie überwältigten und schlugen mich; dann wandten sich die Schufte, Shandon an der Spitze, nach Osten und entschwanden meinen Blicken. Ich war nun allein; was konnte ich aber gegen das Feuer anfangen, das schon an dem ganzen Schiffe fraß? Selbst unser Wasserloch war dick übereist und so hatte ich keinen Tropfen. Zwei Tage stand der Forward in Flammen, und – das Ende wissen Sie.«

Dumpfes Schweigen herrschte in dem Eishause, als dieser Bericht beendet war. Das düstere Bild des brennenden Fahrzeuges, der Verlust der kostbaren Brigg, trat den armen Schiffbrüchigen grell vor die Augen; sie fühlten sich nur einer Unmöglichkeit gegenüber, der Unmöglichkeit nach England zurückzukehren. Kaum wagten sie einander anzusehen, aus Furcht, Einer möge auf des Anderen Antlitz die helle Verzweiflung lesen. Nur der beklommene Athem des Amerikaners war hörbar.

Endlich nahm Hatteras das Wort:.

»Ich danke Ihnen, Johnson, sagte er, Sie haben gethan, was in Ihren Kräften stand, mein Schiff zu retten. Aber allein vermochten Sie das nicht; noch einmal, ich danke Ihnen von Herzen, und nun – wollen wir von diesem Unglück nicht mehr sprechen. Mit vereinten Kräften laßt uns zur Rettung Aller wohl zusammenwirken. Vier Schicksalsgenossen sind wir hier, vier Freunde; des Einen Leben gilt so viel, wie das des Anderen. Nun gebe Jeder seine Meinung ab, was wir beginnen sollen.

– Fragen Sie uns, Hatteras, begann der Doctor; wir sind Ihnen Alle ergeben, unsere Worte werden vom Herzen kommen. Aber haben Sie nicht zunächst selbst einen Vorschlag?

– Ich darf noch mit keinem solchen hervortreten. Mein Urtheil könnte eigensüchtig aussehen. Erst möchte ich die Ansicht der Anderen hören.

– Kapitän, sagte Johnson, bevor wir uns unter so schwierigen Umständen aussprechen, hätte ich noch eine Frage.

– Reden Sie, Johnson.

– Sie haben gestern unsere Position bestimmt; ist nun das Eisfeld weiter getrieben, oder sind wir noch an derselben Stelle?

– Es hat seine Lage nicht verändert, erwiderte Hatteras. Ganz wie vor unserer Expedition habe ich achtzig Grad fünfzehn Minuten nördlicher Breite und siebenundneunzig Grad fünfunddreißig Minuten Länge gefunden.

[267] – Und, sagte Johnson, wie weit sind wir von dem nächsten Meere im Westen entfernt?

– Gegen sechshundert (englische) Meilen.

– Und dieses Meer ist? ...

– Der Smith-Sund.

– Also dasselbe, bis zu dem wir im vergangenen April nicht vorzudringen vermochten?

– Dasselbe.

– Gut, Kapitän, nun, da unsere Ortslage bekannt ist, können wir darauf hin einen Entschluß fassen.

– So sprechen Sie«, sagte Hatteras, der den Kopf in beide Hände senkte.

Er konnte so seine Gefährten hören, ohne sie anzusehen.

»Nun denn, Bell, forderte der Doctor diesen auf, was ist nach Ihrer Ansicht am gerathensten zu thun?

– Das bedarf wohl kein langes Ueberlegen, erwiderte der Zimmermann; wir müssen, ohne einen Tag, ohne eine Stunde zu verlieren, nach Ost oder West aufbrechen, und die nächste Küste zu erreichen suchen ... und sollten wir auch zwei Monate Zeit dazu brauchen.

– Wir haben nur für drei Wochen zu leben, warf Hatteras ein, ohne den Kopf zu erheben.

– Gut, sagte Johnson, so sind wir gezwungen, die nöthige Strecke in drei Wochen zurückzulegen, denn das bietet uns die einzige Aussicht auf Rettung; und sollten wir uns auf den Knieen fortschleppen, in fünfundzwanzig Tagen müssen wir an der Küste sein.

– Aber dieser Theil des hohen Nordens ist noch ganz unbekannt, entgegnete Hatteras. Wir können auf unzählige Hindernisse, Berge und Gletscher stoßen, die uns den Weg völlig versperren.

– Darin sehe ich keinen Grund, behauptete der Doctor, wenigstens nicht den Versuch zu wagen. Wir werden Beschwerden haben, vielleicht viele, und müssen uns mit der Nahrung auf's Aeußerste beschränken, wenn nicht zufällig die Jagd ...

– Wir haben nur noch ein halbes Pfund Pulver, erwiderte Hatteras.

– Wohlan, Hatteras, sagte der Doctor, ich unterschätze die Bedeutung Ihrer Einwürfe nicht und wiege mich nicht in leerer Hoffnung. Aber ich glaube, Ihre Gedanken zu errathen; haben Sie einen ausführbaren Vorschlag?

[268] – Nein, erwiderte der Kapitän nach einigem Zögern.

– Sie mißtrauen unserem Muthe nicht, fuhr Clawbonny fort, Sie kennen uns Alle als Männer, die Ihnen bis zum Ende folgen; aber müssen wir nicht für jetzt jede Hoffnung aufgeben, noch bis zum Pole hinauszudringen? Eine Verrätherei hat Ihre Pläne zum Scheitern gebracht; den Widerstand der Elemente konnten Sie bekämpfen und besiegen, nicht so die Treulosigkeit und Schwäche der Menschen; Sie haben Alles gethan, was menschenmöglich war, und würden den Erfolg errungen haben, das glaube ich gern, aber angesichts unserer heutigen Lage, sollten Sie sich nicht gezwungen fühlen, Ihre Pläne zu verschieben und nach England, sei es auch nur aus dem Grunde zurückzukehren, um jene ein andermal wieder aufzunehmen?

– Nun, was meinen Sie, Kapitän?« wandte sich auch Johnson an Hatteras, der eine Antwort lange schuldig blieb.

Endlich erhob dieser den Kopf und sagte mit gepreßter Stimme:

»Ihr glaubt also wirklich Alle, ermüdet wie wir sind und fast ohne Nahrungsmittel, die Küste der Meerenge zu erreichen?

– Nein, erwiderte der Doctor, aber auf keinen Fall wird die Küste zu uns kommen. Wir müssen sie also aufsuchen. Vielleicht treffen wir auch weiter südlich auf einen Eskimostamm, mit dem wir leicht in Verbindung treten könnten.

– Könnten wir nicht auch, fügte Johnson hinzu, in der Meerenge auf ein Fahrzeug stoßen, das dort zu überwintern gezwungen wäre?

– Und im Nothfalle, sagte noch der Doctor, wenn die Meerenge zugefroren ist, könnten wir nicht über dieselbe hinaus bis zur Westküste von Grönland gelangen, und von da entweder über das Prudhon-Land oder über das Cap York bis zu einer dänischen Niederlassung vordringen? Nun, Hatteras, keine dieser Möglichkeiten bietet das Eisfeld hier! Der Weg nach England führt dahinunter, nach Süden, nicht dorthinauf nach Norden!

– Ja, sagte Bell, Herr Clawbonny hat Recht, wir müssen uns ohne Zögern aufmachen. Bis jetzt haben wir die Heimat und Alle, die uns dort lieb und theuer sind, zu sehr vergessen.

– Das ist also Ihre Ansicht, Johnson, fragte Hatteras noch einmal.

– Ja, Kapitän.

– Und die Ihre, Doctor?

– Auch die meine, Hatteras.«

[269] Noch immer verharrte dieser Letztere schweigend; seine Gesichtszüge verriethen aber wider seinen Willen, was in ihm vorging. An die Entscheidung, welche er zu fällen im Begriff war, knüpfte sich ja das Schicksal seines ganzen Lebens. Wenn er jetzt zurückkehrte, war es wohl mit seinen kühnen Entwürfen für immer vorbei; er konnte nicht hoffen, zum vierten Male ein derartiges Unternehmen zu Stande zu bringen.

Wieder ergriff der Doctor, da der Kapitän noch immer schwieg, das Wort:

»Lassen Sie mich noch erwähnen, Hatteras, sagte er, daß wir keinen Augenblick zu verlieren haben; wir werden den Schlitten mit allem disponiblen Proviant und soviel Holz beladen müssen, als eben möglich ist. Ein Weg von sechshundert Meilen wird unter solchen Umständen lang, ich weiß das, aber nicht ohne Ende sein; wir können oder müßten vielmehr jeden Tag zwanzig Meilen zurücklegen, um binnen einem Monate, d.h. gegen den 26. März, die Küste zu erreichen ...

– Aber, sagte Hatteras, könnten wir nicht einige Tage damit warten?

– Worauf hoffen Sie? fragte Johnson.

– Weiß ich das? Wer kann die Zukunft durchschauen? Nur einige Tage noch! Wir wollen unseren erschöpften Kräften aufhelfen. Keine zwei Tagereisen würdet Ihr zurücklegen und vor Müdigkeit umsinken, ohne ein Eishaus zum Schutze zu haben.

– Aber hier erwartet uns ein furchtbarer Tod! rief Bell.

– Freunde, sagte Hatteras fast mit bittender Stimme, Ihr verzweifelt etwas zu früh. Schlüge ich vor, im Norden den Weg des Heils zu suchen, so würdet Ihr mir wohl nicht folgen mögen. Uebrigens, leben ganz nahe am Pole nicht auch noch Eskimos, wie am Smith-Sunde? Jenes offene Meer, dessen Existenz so gut wie sicher ist, muß wieder von Festland umspült sein. Die Natur verfährt logisch in allen ihren Werken. So muß man auch annehmen, daß die Vegetation da wieder zum Leben erwacht, wo der heftige Frost aufhört. Haben wir nicht ein Land in Aussicht, das unser im Norden harrt, und welches Ihr auf Nimmerwiederkehr fliehen wollt?«

Hatteras wurde lebhafter durch die Rede; sein erregter Geist malte ihm Lieblingsbilder dieser doch so sehr problematischen Gegenden vor.

»Noch einen Tag nur, wiederholte er, nur noch eine Stunde!«

Doctor Clawbonny fühlte sich bei seinem abenteuerlustigen Charakter und regen Vorstellungsvermögen schon halb gewonnen; er wollte bereits nachgeben.

[270] Doch Johnson, der überlegender und kühler war, rief ihn noch zur Vernunft und Pflicht zurück.

»Frisch auf, Bell, rief dieser, zum Schlitten!

– Vorwärts denn! antwortete Bell.

– O, Johnson! Auch Sie! Auch Sie! sagte der Kapitän, doch, es ist gut, geht, geht Alle! Ich bleibe!

– Kapitän! fiel Johnson ein und blieb wider Willen stehen.

– Ich bleibe, sage ich! Reist ab! Verlaßt mich so gut, wie die Anderen! Geht mit Gott! Komm her, Duk, wir Beide halten aus!«

Bellend schmiegte sich das treue Thier an seinen Herrn.

Johnson sah den Doctor an. Dieser war zweifelhaft, was er thun sollte, das Beste schien zu sein, Hatteras dadurch zu beruhigen, daß man für einen Tag auf seine Ideen einging. Der Doctor war schon dazu entschlossen, als er plötzlich seinen Arm berührt fühlte.

Er drehte sich um. Der Amerikaner hatte seine Decken abgeworfen, er lag noch auf dem Boden, mühsam erhob er sich auf die Kniee und von seinen Lippen quollen einige unarticulirte Laute.

Erstaunt, fast erschrocken sah ihn der Doctor schweigend an. Hatteras seinerseits näherte sich ihm und nahm ihn forschend scharf in's Auge. Er suchte die Worte zu errathen, die der Kranke nicht auszusprechen vermochte. Nach minutenlanger Anstrengung ward endlich ein Wort hörbar.

»Porpoise ...

– Der Porpoise! rief der Kapitän aus.

– Der Amerikaner bejahte durch Zeichen.

– In diesen Gewässern?« frug Hatteras klopfenden Herzens.

Der Kranke gab dieselbe Antwort.

»Im Norden von hier?

– Ja! erwiderte der Unglückliche.

– Und Sie wissen seinen Ort?

– Ja!

– Genau?

– Ja wohl!« sagte Altamont.

Einen Augenblick schwieg Alles; gespannt horchten die Zuschauer dieser unerwarteten Scene.


Altamont's Zeichensprache. (S. 272.)

»Passen Sie wohl auf, sagte endlich Hatteras zu dem Kranken, wir müssen [271] die Lage des Schiffes natürlich genau wissen. Ich werde die Grade mit lauter Stimme zählen und Sie unterbrechen mich durch ein Zeichen.«

– Der Amerikaner nickte zustimmend.

»Nun gut, sagte Hatteras, bestimmen wir erst die Längengrade. Hundertfünf? Nein. – Hundertsechs? Hundertsieben? Hundertacht? – Wir meinen doch westliche Länge?

– Ja, sagte mühsam der Amerikaner.

– Also weiter. – Hundertneun? Hundertzehn? Hundertzwölf? Hundertvierzehn? [272] Hundertsechzehn? Hundertachtzehn? Hundertneunzehn? Hundertzwanzig ...?«

Der Amerikaner machte ein Zeichen.

»Hundertzwanzig Grad westlicher Länge? fragte nochmals Hatteras. Und wieviel Minuten? Ich zähle wieder ...«

Er begann bei Eins; bei Fünfzehn gab Altamont das Zeichen, inne zu halten.

»Schön, sagte der Kapitän. Und nun gehen wir zur geographischen Breite über. Sie verstehen mich doch? – Achtzig? Einundachtzig? Zweiundachtzig? Dreiundachtzig?«

Der Amerikaner hielt ihn durch eine Handbewegung an.

»Gut. Und die Minuten? Fünf? Zehn? Fünfzehn? Zwanzig? Fünfundzwanzig? Dreißig? Fünfunddreißig?«

Abermals machte Altamont lächelnd sein Zeichen.

»Also, wiederholte Hatteras mit ernster Stimme, der Porpoise findet sich bei hundertzwanzig Grad fünfzehn Minuten westlicher Länge und dreiundachtzig Grad fünfunddreißig Minuten nördlicher Breite?

– Ja«, stammelte noch einmal der Amerikaner, der kraftlos in die Arme des Doctors zurücksank.

Die Anstrengung hatte ihn erschöpft.

»Meine Freunde, rief Hatteras aus, Ihr seht, unser Heil liegt im Norden, immer im Norden! – Wir werden gerettet sein!«

Aber gleich nach diesem Ausbruch der Freude schien es, als ob ein furchtbarer Gedanke ihn packe. Sein ganzes Wesen veränderte sich. – Die Schlange der Eifersucht biß sich in sein Herz.

Ein Anderer, und noch dazu ein Amerikaner, hatte ihn in der Richtung zum Pole um drei Grade überholt. Warum? Zu welchem Ende war er in so hoher Breite?

[273]
3. Capitel
Drittes Capitel.
Siebenzehn Tage unterwegs.

Dieses neue Ereigniß, die ersten Aeußerungen Altamont's, hatten die Lage der Schiffbrüchigen vollkommen verändert; während sie früher abgeschnitten von aller Hilfe waren, auch nur eine sehr seichte Hoffnung hatten, die Bassins-Bai zu erreichen, und ihnen für die Länge des zurückzulegenden Weges eine Hungersnoth drohte, die bei der Erschöpfung ihrer Kräfte desto gefährlicher erschien, befand sich, etwa sechshundert Meilen von ihrem Eishause, ein Fahrzeug, das ihnen reiche Hilfsmittel bot und wohl gar die Aussicht eröffnete, den verwegenen Zug nach dem Nordpole fortzusetzen. Hatteras, der Doctor, Johnson und Bell, die schon so nahe der Verzweiflung waren, schöpften wieder Hoffnung.

Da aber Altamont's Aussagen nur noch sehr lückenhaft waren, nahm der Doctor, als Jener sich etwas erholt hatte, die wichtige Unterhaltung wieder auf; wobei er alle Fragen so zu stellen wußte, daß der Kranke nur mit dem Kopfe zu nicken oder durch Bewegung der Augen zu antworten brauchte.

Bald hatte er erfahren, daß der Porpoise ein amerikanischer Dreimaster aus New-York sei, der, belastet mit reichlichem Proviant und Brennmaterial, mitten im Eise Schiffbruch gelitten hatte. Wenn auch auf die Seite geworfen, war doch Aussicht, daß er der Zerstörung widerstanden habe, und seine ganze Ladung noch zu bergen sein werde.

Schon zwei Monate hatte Altamont mit seiner Mannschaft das Schiff verlassen, wobei sie die Schaluppe auf einem Schlitten mitgenommen hatten; sie beabsichtigten bis zum Smith-Sund vorzudringen, wollten dort einen Wallfischfahrer aufsuchen und mit dessen Hilfe nach ihrem Vaterlande zurückkehren; bald aber überwältigten sie Erschlaffung und Krankheiten, und Einer nach dem Anderen kam unterwegs um. Zuletzt waren der Kapitän und zwei Matrosen von einer dreißig Köpfe zählenden Mannschaft übrig, und daß der Erstere noch lebte, war doch nur einem Wunder der Vorsehung zu danken.

Hatteras lag vorzüglich daran, von dem Amerikaner zu hören, was der Porpoise in so ungewöhnlich hoher Breite vorgehabt habe.

[274] Altamont gab zu verstehen, daß das Schiff vom Eise eingeschlossen und dahinauf getrieben worden sei.

Aengstlich suchte Hatteras noch den Zweck der Expedition zu erforschen.

Altamont behauptete, daß man nur die nordwestliche Durchfahrt habe aufsuchen wollen.

Der Kapitän beruhigte sich dabei und stellte keine weitere Frage der Art.

Der Doctor ergriff wieder das Wort:

»Alle unsere Anstrengungen, sagte er, können jetzt nur darauf gerichtet sein, den Porpoise aufzufinden; statt den gefahrvollen Weg nach der Bassins-Bai einzuschlagen, können wir nun auf einem um ein Drittel kürzeren Wege ein Fahrzeug erreichen, das alles Nöthige zu einer Ueberwinterung bietet.

– Es ist gar keine andere Wahl möglich, meinte Bell.

– Und ich füge hinzu, sagte der Schiffer, daß wir dazu keinen Augenblick zu verlieren haben. Freilich müssen wir, entgegen der gewöhnlichen Art und Weise, die Dauer unseres Zuges nach unserem Vorrath an Nahrungsmitteln berechnen und baldmöglichst aufbrechen.

– Sie haben Recht, Johnson, erwiderte der Doctor; wenn wir morgen, den 26. Februar, abreisen, müssen wir, mit genauer Noth dem Hungertode entgehend, am 15. März beim Porpoise eintreffen. Was meinen Sie, Hatteras?

– Treffen wir sogleich alle nöthigen Vorbereitungen zur Reise. Der Weg könnte auch weiter sein, als wir annehmen.

– Warum? entgegnete der Doctor, der Mann scheint doch der Lage seines Schiffes sicher zu sein.

– Wenn nun der Porpoise aber, antwortete Hatteras, mit seinem Eisberge weiter getrieben ist, wie es uns mit dem Forward erging?

– Freilich, sagte der Doctor, diese Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen.«

Johnson und Bell berührten eine Sache gar nicht, die ihnen so verderblich gewesen war.

Altamont, dem diese Reden nicht entgingen, bedeutete dem Doctor durch Zeichen, daß er sprechen wolle. Nach einviertelstündigen Bemühungen hatte Clawbonny so viel sicher erfahren, daß der Porpoise mit einer Seite auf dem Strande liege und sein Felsenbett unmöglich verlassen haben könne.

Wenn das auch den vier Engländern einerseits eine sehr beruhigende Nachricht war, so raubte es ihnen andererseits doch die Aussicht, mit Hilfe [275] des Schiffes nach Europa zurückkehren zu können, wenn es Bell nicht etwa gelänge, aus Theilen des Porpoise ein neues kleines Fahrzeug zu erbauen. Doch wie dem auch sein mochte, man war darüber einig, den Platz des Schiffbruchs baldigst aufzusuchen.

Noch eine letzte Frage richtete der Doctor an Altamont; die, ob er in jener Breite von dreiundachtzig Grad schon Etwas von einem eisfreien Meere bemerkt habe.

»Nein«, erwiderte dieser.

Die Unterhaltung brach hier ab, und man begann sofort, sich zur Abreise zu rüsten; Bell und Johnson besorgten den Schlitten und stellten ihn jetzt, da ihnen Holz dazu nicht fehlte, dauerhafter her; die auf der Excursion nach dem Süden hin gesammelten Erfahrungen wurden nun verwerthet; vor Allem erhöhte man auch die Kufen, da man die schwachen Seiten dieser Transportmethode kennen gelernt, und auf reichlichen, dichten Schnee zu rechnen hatte.



Auch ein bequemes Lager richtete Bell darauf ein, dem die Zeltleinwand als schützende Decke diente, und welches für den Amerikaner bestimmt war. Der wenig beträchtliche Proviant belastete das Gefährt ja nicht sehr, dafür wurde aber Holz so viel als möglich mitgenommen.

Der Doctor, der die Provision ordnete, nahm ihre Menge mit peinlichster Sorgfalt auf. Seiner Rechnung nach mußte sich jeder Reisende für eine Zeit von drei Wochen mit Dreiviertelsrationen begnügen. Für die Zughunde reservirte man das volle Futter; zog Duk mitihnen, so sollte dasselbe auch ihm zu Gute kommen.

Die Eile der Arbeiten wurde jetzt freilich durch die gebieterische Nothwendigkeit, sich auszuruhen und zu schlafen, unterbrochen. Bevor sie sich aber [276] niederlegten, umringten die Schiffbrüchigen den Ofen, den man nicht spärlich heizte. Die Armen gestatteten sich einen Luxus von Wärme, dessen sie lange entwöhnt waren; etwas Pemmican, Zwieback und einige Tassen Kaffee erzeugten eine fast heitere Stimmung, die wohl zur Hälfte dem Hoffnungsstrahl zuzurechnen war, der ihnen so schnell, wenn auch nur aus der Ferne, aufleuchtete.

Um sieben Uhr Morgens ging man wieder an die Arbeit, welche erst gegen drei Uhr Nachmittags beendet ward.

Schon dunkelte es wieder; zwar war die Sonne seit dem 31. Januar wieder sichtbar geworden, doch verbreitete sie nur ein schwaches und kurz dauerndes Licht. Zum Glück ging der Mond schon halb sieben Uhr auf und seine Strahlen erhellten bei dem klaren Himmel den Weg. Die Temperatur, welche seit einigen Tagen merklich herunterging, erreichte endlich dreiunddreißig Grad unter Null (– 37° hunderttheilig).



Der Augenblick der Abreise erschien. Altamont freute sich offenbar darüber, wenn ihn auch die Stöße beim Fahren mit erneuten Schmerzen bedrohten. Er hatte dem Doctor zu verstehen gegeben, daß er an Bord des Porpoise alle antiscorbutischen Medicamente, die zur Wiederherstellung des Kranken so nöthig waren, vorfinden werde.

Man trug ihn also in den Schlitten, auf dem er so bequem als möglich gelagert wurde. Die Hunde, und Duk mit, wurden angeschirrt; noch einen letzten Blick sandten die Reisenden nach dem Eisbette zu, wo der Forward [277] gelegen hatte. Einmal schien ein aufwallender Zorn in Hatteras' Geberden aufzublitzen, aber er bezwang sich, und die kleine Gesellschaft verschwand bald, bei trockener, heiterer Witterung, in den Nebeln gegen Nord-Nord-Westen.

Ein Jeder nahm seinen gewohnten Platz ein; Bell ging voraus, der Doctor und der Rüstmeister zu Seiten des Schlittens, den sie im Auge hatten und wenn nöthig die Hunde antrieben; Hatteras machte den Schluß; er berichtigte den Weg und hielt Alle in gerader Linie.

Der Marsch ging ziemlich schnell vorwärts; bei der so niedrigen Temperatur bot das Eis eine eben so feste, als glatte Oberfläche; die Hunde strengten sich mit ihrer Last, welche kaum neunhundert Pfund betrug, nicht übermäßig an. Aber Menschen und Thiere kamen bald außer Athem und mußten anhalten, um Luft zu schöpfen.

Gegen sieben Uhr Abends brach das röthliche Bild der Mondscheibe durch die Nebel des Horizontes. Ihre ruhigen Strahlen erhellten die Atmosphäre, und wurden glänzend von den blanken Eisspiegeln zurückgeworfen. Gegen Nordwesten zeigte sich das Eisfeld als eine grenzenlose, weiße, vollkommen ebene Fläche. Keine Erhöhung, kein Spitzhügel war sichtbar. Dieser Theil des Meeres schien ruhig, wie ein friedlicher See, erstarrt zu sein.

Es war eine unendliche, flache, einförmige Wüste.

So war der Eindruck, den der Doctor von dem Bilde empfing, und den er seinem Begleiter mittheilte.

»Sie haben Recht, Herr Clawbonny, erwiderte Johnson, eine Wüste ist es, aber mindestens werden wir in ihr nicht verdursten.

– Das ist zwar ein Vortheil, meinte der Doctor, doch ihre ungeheure Ausdehnung giebt mir die Gewißheit, daß wir noch sehr weit von jedem Lande entfernt sind; gewöhnlich wird die Nähe einer Küste durch eine Menge Eisberge bezeichnet, aber nichts Derartiges ist ringsum zu sehen.

– Der Horizont ist durch den Nebel sehr beschränkt, antwortete Johnson.

– Gewiß, aber seit unserem Aufbruch sind wir nur über eine Fläche gezogen, die nicht enden zu wollen scheint.

– Wissen Sie, Herr Clawbonny, daß wir übrigens auf recht gefährlichen Wegen sind? Man gewöhnt sich und denkt nicht daran, und doch birgt das Eis, über das wir gleiten, genug grundlose Klüfte!

– Sie haben Recht, Freund, aber wir brauchen nicht zu fürchten, verschlungen zu werden. Der Widerstand dieser weißen Decke ist bei einer Kälte [278] von dreiunddreißig Graden ganz beträchtlich! Denken Sie ferner daran, daß diese tagtäglich im Zunehmen ist, denn unter diesen Breiten fällt an neun Tagen unter zehn Schnee, selbst im April, im Mai, ja noch im Juni; und ich glaube, daß die größte Stärke der Lage wohl dreißig bis vierzig Fuß betragen dürfte.

– Das ist beruhigend, sagte Johnson.

– Wahrlich, wir sind nicht in der Lage, wie die Schlittschuhläufer auf dem Serpentine River, denen der zerbrechliche Boden jeden Augenblick unter den Füßen zu schwinden droht; solche Gefahr haben wir nicht zu befürchten.

– Kennt man vom Eise die Größe des Widerstandes? fragte der alte Seemann, der in Gesellschaft des Doctors gern Etwas zu lernen suchte.

– Vollkommen, entgegnete der Doctor. Was in der Welt wäre, Dank dem menschlichen Wissensdrange, noch nicht gemessen worden! Ist es nicht derselbe Drang, der uns hier gegen den Nordpol treibt, welchen der Mensch endlich kennen zu lernen verlangt? Aber, um auf Ihre Frage zurückzukommen, so kann ich diese etwa insoweit beantworten: Bei einer Dicke von zwei Zollen trägt das Eis einen Menschen; bei drei und einem halben Zolle einen Reiter sammt Pferd; bei fünf Zollen einen Achtpfünder; bei acht Zollen ein vollkommen bespanntes Feldgeschütz; bei zehn Zollen endlich eine ganze Armee, überhaupt eine beliebig vertheilte Last. Auf der Stelle, wo wir hier gehen, könnte man die Zollspeicher von Liverpool oder die Londoner Parlamentsgebäude errichten.

– Das ist nur schwer zu begreifen, sagte Johnson, aber Herr Clawbonny, Sie sprachen auch von dem Schneefall, der in diesen Gegenden an neun Tagen unter zehn einträte; die Richtigkeit der Thatsache bestreite ich nicht; aber wo kommt der viele Schnee her, denn ich sehe nicht ein, wie die gefrorenen Meeresflächen hier die dazu nöthige bedeutende Verdunstung gestatten sollten.

– Ihre Beobachtung ist ganz richtig, Johnson; meiner Ansicht nach entstammt auch der weitaus größte Theil des Schnees oder Regens, der uns hier trifft, den Meeren der gemäßigten Zone. Eine solche Flocke, ursprünglich ein Wassertröpfchen eines europäischen Flusses, hat sich dort dampfförmig erhoben, mit anderen gleichen Wolken gebildet und wird am Ende hier niedergeschlagen. Es ist also gar nicht unmöglich, daß wir, indem wir von diesem Schnee trinken, unseren Durst aus vaterländischen Flüssen stillen.

[279] – Immer der gleiche Kreislauf!« erwiderte der Rüstmeister.

Da vernahm man Hatteras' Stimme, der ihre Abweichung vom Wege berichtigte und diese Unterhaltung unterbrach.

Der Nebel wurde dichter und erschwerte sehr die Einhaltung der geraden Richtung.

Gegen acht Uhr Abends hielt die kleine Gesellschaft endlich an, nachdem sie fünfzehn Meilen zurückgelegt hatte. Das Wetter blieb fortwährend trocken; [280] das Zelt wurde aufgeschlagen, der Wärmespender in Thätigkeit gesetzt, man aß, und die Nacht verlief ruhig.


Willkommener Proviant. (S. 282.)

Hatteras und seine Genossen wurden von erwünschter Witterung begünstigt. Sie setzten ihre Reise auch an den folgenden Tagen ohne Schwierigkeiten fort, obgleich die Kälte äußerst streng wurde, so daß das Quecksilber im Thermometer gefroren blieb. Erhob sich noch Wind dazu, so hätte Keiner einer solchen Temperatur zu widerstehen vermocht. Der Doctor constatirte bei dieser Gelegenheit die Richtigkeit der Beobachtungen, welche Parry bei seiner Excursion nach der Insel Melville machte. Dieser berühmte Seefahrer stellt den Satz auf, daß ein genügend mit Kleidung versehener Mensch ungestraft bei größter Kälte in freier Luft verweilen kann, vorausgesetzt, daß diese Luft ruhig ist; sobald aber der leiseste Wind sich erhebt, fühle man im ganzen Körper einen brennenden Schmerz, und es erfolge unter heftigsten Kopfschmerzen bald der Tod. Der Doctor wurde denn auch gar nicht mehr recht ruhig, da er sich sagte, daß schon wenig Wind hinreiche, sie bis auf das Mark zu erstarren.

Am 5. März beobachtete er eine in diesen Breiten nur seltene Erscheinung. Bei vollkommen reinem Himmel und schönstem Sternenglanze fiel, ohne daß nur eine Wolke sichtbar gewesen wäre, ein reichlicher Schnee. Die Sternbilder blieben durch die Flocken sichtbar, welche sich schön gleichmäßig niedersenkten. Das währte etwa zwei Stunden, ohne daß der Doctor sich über die Entstehungsursache eine befriedigende Rechenschaft zu geben vermochte.

Auch das letzte Viertel des Mondes war nun vorüber; während siebenzehn Stunden von je vierundzwanzigen war es völlig dunkel; die Reisenden mußten sich durch Stricke verbinden, um einander nicht zu verlieren. Eine gerade Richtung des Weges war kaum einzuhalten.

Nach und nach singen die muthigen Leute, obwohl die eiserne Nothwendigkeit sie trieb, doch zu ermatten an. Sie machten öfter Halt, und durften doch, in Rücksicht auf die vorräthigen Nahrungsmittel, keine Stunde vergeuden.

Nach der Stellung des Mondes und der Sterne bestimmte Hatteras häufig ihre Lage. Als aber nun ein Tag nach dem anderen verfloß und die Reise sich endlos zu verlängern schien, fragte er sich manchmal, ob denn der Porpoise wirklich noch existire; ob bei dem Amerikaner nicht etwa durch das, was er hatte ausstehen müssen, auch das Gehirn gelitten habe, oder ob er nicht gar, [281] da er für sich doch keine Rettung sah, aus Haß gegen die englische Nation, auch sie einem gewissen Tode entgegenführen wolle.

Er theilte dem Doctor seinen Verdacht mit; dieser theilte ihn keineswegs, aber es war ihm klar, daß zwischen dem englischen und dem amerikanischen Kapitän eine unselige Eifersucht Platz greife.

»Diese beiden Männer werden schwerlich in gutem Vernehmen mit einander bleiben«, sprach er zu sich selbst.

Am 14. März, und nach sechzehntägigem Marsche befanden sich die Reisenden immer noch erst unter'm zweiundachtzigsten Breitegrade; ihre Kräfte gingen zur Neige und noch hundert Meilen trennten sie von dem Fahrzeuge; ihre Leiden zu vervollständigen, mußten die Rationen auf ein Viertel herabgesetzt werden, um nur den Hunden ihr volles Futter zu sichern.

Auf Jagdbeute konnte man leider auch nicht rechnen – sie waren nur noch mit sieben Schuß Pulver versehen und sechs Kugeln war ihr ganzer Vorrath. Auf mehrere weiße Hasen und einige Füchse, die übrigens beide nur selten zu sehen waren, hatte man, ohne zu treffen, geschossen.

Freitags, am 15., war der Doctor so glücklich, eine Robbe zu entdecken, die auf dem Eise lag. Er verwundete sie durch mehrere Schüsse, und da das Thier durch sein schon zugefrorenes Loch nicht entwischen konnte, wurde es bald erreicht und erschlagen. Es war ein großes Exemplar; Johnson weidete es kunstgerecht aus, aber bei seiner außerordentlichen Magerkeit bot es den Reisenden nur wenig Nahrung, da sie sich nicht entschließen konnten, nach Art der Eskimos dessen Thran zu trinken.

Der Doctor versuchte zwar mit aller Ueberwindung, diese widerliche Flüssigkeit zu verschlucken, aber er mußte trotzdem davon abstehen. Das Fell des Thieres hob er, ohne recht zu wissen wozu, nur so nach Jägergewohnheit, auf und barg es im Schlitten.

Am Morgen des Sechzehnten entdeckte man einige höhere und niedrigere Eisberge am Horizont. War das ein Anzeichen der nahen Küste oder nur die Folge von Bewegungen des Eismeeres? Die Entscheidung hierüber war schwer.

Einen dieser Spitzhügel benutzten die Reisenden, als sie dahin gelangt waren, um mit Hilfe der Eisklingen 1 sich darin ein besseres Obdach, als [282] das Zelt bot, auszuhöhlen, und nach drei Stunden unausgesetzter Arbeit konnten sie sich schon um den behaglichen Ofen lagern.

Fußnoten

1 Breite Messer, die zum Zerschneiden der Eisschollen etc. dienen.

4. Capitel
Viertes Capitel.
Der letzte Schuß Pulver.

Johnson hatte auch die müden Hunde mit in das Eishaus geführt; bei reichlichem Schneefall bereitet dieser den Thieren eine Decke, die ihre natürliche Wärme zusammenhält. Aber jetzt wären die armen Thiere bei einer trockenen Kälte von fast vierzig Grad in freier Luft ohne Zweifel bald erfroren.

Johnson, der sich viel mit dem Abrichten von Hunden beschäftigte, versuchte die Thiere mit dem schwärzlichen Robbenfleische, das ihnen widerstand, zu füttern, und zu seiner großen Freude schien das ihnen gar nicht übel zu munden, wovon er dem Doctor bald Nachricht gab. Dieser war gar nicht besonders erstaunt darüber; er wußte, daß sich im Norden Amerikas die Pferde vorwiegend von Fischen nähren, und was dem pflanzenfressenden Rosse genügte, das mußte wohl den fleisch- und pflanzenfressenden Hunden gelegen kommen.

Bevor er sich niederlegte, wollte der Doctor, obschon der Schlaf den Reisenden, die sich wieder fünfzehn Meilen über das Eis geschleppt hatten, sich dringend geltend machte, ihnen ihre thatsächliche Lage klar machen, ohne den Ernst derselben herabzusetzen.

»Wir sind erst unter'm zweiundachtzigsten Breitegrade, sagte er, und schon drohen uns die Lebensmittel zu fehlen.

– Das ist ein Grund mehr, erwiderte Hatteras, um keinen Augenblick zu verlieren. Wir müssen vorwärts! Die Stärkeren mögen die Schwächeren fortziehen.

– Werden wir an bezeichneter Stelle auch ein Schiff finden? fragte Bell, den die Strapazen der Reise trotz seiner Gegenwehr niederdrückten.

[283] – Warum sollten wir das bezweifeln? Das Heil des Amerikaners ist auch das unsere«, antwortete Johnson.

Zu größerer Sicherheit wollte der Doctor noch einmal Altamont befragen; dieser sprach jetzt, wenn auch schwach, doch mit größerer Leichtigkeit; er bestätigte nur alle früher angegebenen Einzelheiten; er wiederholte, daß das auf felsigem Ufer gelagerte Fahrzeug seinen Ort nicht zu verändern im Stande sei, und daß es sich also bei hundertzwanzig Grad fünfzehn Minuten Länge und dreiundachtzig Grad fünfunddreißig Minuten Breite finden müsse.

»Wir können an der Richtigkeit dieser Aussage nicht zweifeln; die Schwierigkeit wird nicht darin liegen, den Porpoise aufzufinden, sondern ihn nur zu erreichen.

– Wie viel haben wir noch Proviant? fragte Hatteras.

– Etwa noch für drei Tage.

– Nun gut, so werden wir binnen drei Tagen dort ankommen müssen, sagte der energische Kapitän.

– Freilich ist das nöthig, fuhr der Doctor fort, und wenn wir es durchführen, werden wir es dem Wetter zu danken haben, das uns ganz auffallend günstig war. Fünfzehn Tage sind wir von Schnee verschont geblieben, und der Schlitten glitt leicht über das feste Eis. O, daß wir nicht noch zwei Centner Nahrungsmittel haben, unsere braven Hunde wären dann leicht dieser Aufgabe gewachsen. Doch wir müssen uns wohl in's Unvermeidliche fügen.

– Könnte man denn, entgegnete Johnson, nicht mit ein wenig Glück und Geschick die paar Schuß Pulver verwenden, welche uns noch blieben? Wenn wir einen Bären erlegten, wären wir für den ganzen Rest der Reise versorgt.

– Ohne Zweifel, sagte der Doctor, aber diese Thiere sind selten und flüchtig. Und gerade, wenn man daran denkt, was von dem Erfolge eines Schusses Alles abhängt, zittert die Hand und versagt das Auge.

– Sie sind doch ein tüchtiger Schütze, sagte Bell.

– Ja, aber nur dann, wenn nicht die Beschaffung der Nahrung für vier Mann von meiner Fertigkeit abhängt; giebt es aber der Zufall, so will ich mein Bestes thun. Für jetzt, lieben Freunde, begnügen wir uns mit diesen dünnen Pemmicanschnitten und suchen zu schlafen. Morgen früh mag's weiter gehen.«

[284] Schon nach kurzer Zeit lagen Alle, von übermäßiger Müdigkeit bewältigt, trotz aller Gedanken, die sie beschäftigten, in tiefem Schlafe.

Am Sonnabend darauf weckte Johnson frühzeitig; die Hunde kamen an den Schlitten und fort ging's nach Nordwesten.



Der Himmel war prächtig, die Luft überaus rein, und die Temperatur sehr niedrig. Als die Sonne über dem Horizont erschien, hatte sie die Form einer langen Ellipse; ihr horizontaler Durchmesser erschien durch eine sonderbare Strahlenbrechung doppelt so groß als der verticale. Klar, aber kalt, schossen ihre Strahlenbündel über die ungeheure Eisebene. Schon diese Rückkehr zum Licht, wenn auch nicht zur Wärme, erfreute die Wanderer.

Der Doctor schweifte, trotz Kälte und Verlassenheit, mit dem Gewehre eine bis zwei Meilen weit allein herum; vorher hatte er seine Munition sorgsam gemustert: er hatte nur noch vier Schuß Pulver und drei Kugeln, mehr nicht; und wie wenig war das, wenn man bedenkt, daß der starke und lebenszähe Eisbär oft erst auf den zehnten bis zwölften Schuß fällt.

Der Ehrgeiz des Jägers war auch gar nicht auf ein so großes Wild gerichtet; nach einigen Hasen oder zwei bis drei Füchsen sehnte er sich aber doch, die dem Proviant einen erheblichen Zuwachs herbeigeführt hätten.

Wenn er aber im Laufe dieses Tages ein derartiges Thier in Sicht bekam, konnte er ihm entweder nicht nahe genug kommen, oder es täuschte die Strahlenbrechung sein Auge, und er feuerte vergeblich; dieser Tag kostete ihm also eine vergeudete scharfe Ladung.

[285] Seine Gefährten, die schon voller Freude waren, als sie den Knall seines Gewehres hörten, sahen ihn gesenkten Kopfes zurückkehren; sie sprachen kein Wort darüber; man legte sich am Abend nieder wie gewöhnlich, nachdem noch die beiden letzten Viertelrationen sorgfältig zurückgelegt waren.

Am folgenden Tage schien die Reise mehr und mehr beschwerlich zu werden. Man ging nicht mehr, man schleppte sich. Die Hunde hatten die Robbe bis auf die Eingeweide verzehrt und nagten schon wieder an dem Lederzeug.

Einige Füchse trabten in ziemlich großer Entfernung vorbei, und nachdem der Doctor einmal, ohne zu treffen, darauf geschossen hatte, wagte er es nicht, seine letzte Kugel und vorletzte Pulverladung an dieses unsichere Ziel zu setzen.

Abends machte man bei Zeiten Halt. Die Reisenden konnten kaum noch einen Fuß vor den andern setzen, und obschon der Weg durch ein prachtvolles Nordlicht erhellt war, mußten sie doch rasten.

Die letzte Mahlzeit am Sonntag Abend wurde in trauriger Stimmung eingenommen. Wenn der Himmel ihnen jetzt nicht beistand, waren sie verloren. Hatteras sprach nicht; Bell dachte wohl gar nicht mehr; Johnson brütete still vor sich hin; nur der Doctor verzweifelte noch nicht.

Johnson hatte den Einfall, für die Nacht einige Fallgruben anzulegen, da er aber keine Lockspeise hineinzulegen hatte, versprach er sich selbst nicht viel davon; er täuschte sich darin nicht; denn als er am Morgen darauf nachsah, fand man wohl Spuren von Füchsen, aber keiner von den Schlauköpfen war in die leere Falle gegangen.

Er kam sehr entmuthigt zurück, als er einen sehr großen Bären bemerkte, der den Schlitten in einer Entfernung von etwa hundertfünfzig Schritten witterte. Dem alten Seemann kam der Gedanke, es habe ihn die Vorsehung bestimmt, diese unerwartete Beute zu erlegen; ohne seine Gefährten zu wecken, bemächtigte er sich der Flinte des Doctors und war dem Thiere bald zur Seite.

Als er in Schußweite war, legte er an, doch als er schon den Drücker berühren wollte, fühlte er seinen Arm zittern; seine großen Fellhandschuhe behinderten ihn auch; schnell zog er sie aus und ergriff das Gewehr mit sicherer Hand.

Plötzlich entfuhr ihm ein Schmerzensschrei; seine Finger klebten vermöge [286] der Kälte des Laufes an diesem, während gleichzeitig die Waffe zu Boden fiel, sich entlud und die letzte Kugel in die Luft jagte.

Durch den Knall aufgescheucht, lief der Doctor herzu; er durchschaute Alles; das aufgeschreckte Thier trottete ruhig von dannen. Johnson verzweifelte und dachte gar nicht mehr an seine eigenen Leiden.

»Ich bin doch eine rechte Memme! rief er aus, ein Kind, das nicht den geringsten Schmerz ertragen kann. O Jammer! Was bin ich so alt geworden!

– Halloh, Johnson, sagte da der Doctor, kommen Sie herbei; Sie werden erfrieren. Da, Ihre Hände sind schon ganz weiß, kommen Sie, kommen Sie!

– Ich bin Ihrer Besorgniß nicht werth, Herr Clawbonny, erwiderte der Rüstmeister, lassen Sie mich nur!



– Aber so kommen Sie doch, Sie Starrkopf! Kommen Sie! Es könnte bald zu spät sein.«

Der Doctor mußte den grauen Seemann bis unter das Zelt fortziehen, wo er ihn die Hände in ein Gefäß mit Wasser halten ließ, das zwar der Ofen aus Eisstücken zusammengeschmolzen, aber noch nicht erwärmt hatte; aber kaum waren Johnson's Hände darin, als auch schon das Wasser, wo es sie berührte, gefror.

»Sie sehen, daß es höchste Zeit war, hereinzukommen, sagte der Doctor, sonst hätte ich in die Lage kommen können, Sie zu amputiren.«

Dank seiner Pflege war nach etwa einer Stunde jede Gefahr vorüber, aber doch hatte es wiederholter Abreibungen bedurft, das Blut in den Händen des alten Seemanns wieder in Umlauf zu bringen. Der Doctor empfahl [287] ihm noch besonders, die Hände nicht dem warmen Ofen zu nähern, was nicht ohne sehr üble Folgen geblieben sein würde.

An diesem Morgen nun mußte man das Frühstück entbehren; Pemmican oder Salzfleisch – Nichts war mehr da; keine Schnitte Zwieback. Kaum noch ein halbes Pfund Kaffee. Man mußte sich wohl oder übel mit diesem erwärmenden Getränk begnügen, und setzte sich dann in Marsch.

»Nun sind wir am Ende! sagte Bell zu Johnson im Tone der Verzweiflung.

– Vertrauen wir Gott! erwiderte der alte Seemann, er ist allmächtig genug, uns zu retten.

– O, dieser Kapitän Hatteras! Von seinen früheren Zügen ist er wohl zurückgekehrt, der Verblendete! Von diesem kehrt er niemals wieder, und auch wir werden die Heimat nicht mehr sehen.

– Muth, Bell! Ich gebe zu, daß der Kapitän ein Waghals ist, aber neben ihm ist noch ein anderer Mann, der nie um einen Ausweg verlegen ist.

– Der Doctor Clawbonny? fragte Bell.

– Derselbe, antwortete Johnson.

– Was vermag er in unserer Lage zu thun? erwiderte Bell mit Achselzucken. Wird er die Eisschollen in Fleisch verwandeln können? Ist er ein Gott, der Wunder thut?

– Wer weiß es! setzte Johnson allen Zweifeln seines Gefährten entgegen. Ich wenigstens habe Vertrauen zu ihm.«

Bell zog den Kopf ein und versank wieder gedankenlos in düsteres Schweigen.

Drei Meilen legte man an diesem Tage zurück; zum Abend gab es – Nichts zu essen; die Hunde drohten einander aufzufressen, und nur mit Mühe kämpften die Menschen den nagenden Hunger nieder.

Kein Thier war sichtbar. Was hätte es auch genützt? Man konnte nur noch mit dem Messer jagen. Nur Johnson glaubte, etwa eine Meile unter dem Winde, den Bär zu bemerken, welcher der unglücklichen Gesellschaft nachtrabte.

»Der lauert uns auf, sagte er sich, er hält uns schon für eine sichere Beute!«

Gegen seine Genossen sprach sich Johnson nicht darüber aus; Abends [288] machte man wie gewöhnlich Halt. Die ganze Abendmahlzeit bestand aus Kaffee. Die Unglücklichen bemerkten, wie ihre Augen sich trübten und ihr Gehirn eingenommen wurde; gepeinigt von wüthendem Hunger vermochten sie keine Stunde Schlaf zu finden; wilde und schmerzliche Träume betäubten ihren Geist.


Erschöpft von Hunger und Kälte. (S. 290.)

Unter einem Breitegrade, wo der Körper um so gebieterischer eine kräftigere Kost verlangt, hatten die Unglücklichen nun, am Mittwoch Morgen, seit sechsunddreißig Stunden Nichts gegessen. Mit fast übermenschlicher [289] Anstrengung nahmen sie doch ihren Weg wieder auf und drückten noch den Schlitten vorwärts, den die Hunde nicht mehr zu ziehen vermochten.

Nach zwei Stunden sanken sie erschöpft zusammen. Hatteras wollte noch weiter gehen. Er, der immer Energische, wandte alle Vorstellungen, alle Bitten an, auch seine Genossen dazu zu bewegen, aufzustehen, – vergeblich! Das hieß auch etwas Unmögliches verlangen.

Mit Hilfe Johnson's arbeitete er noch eine Höhle in einem Eisberge aus. Es sah aus, als ob die beiden Männer ihr Grab grüben.

»Vor Hunger will ich wohl sterben, sagte Hatteras, aber nicht vor Kälte.«

Nach unendlicher Anstrengung war das Obdach fertig, und alle begaben sich hinein.



So verging der Tag. Am Abend, während Alle schliefen, hatte Johnson eine Art Wahngesicht; er träumte von gigantischen Bären.

Dieses von ihm öfter wiederholte Wort erregte endlich die Aufmerksamkeit des Doctors, der, aus seiner halben Betäubung erwacht, den alten Seemann fragte, warum er immer von Bären, und von welchem er denn spreche.

»Von dem Bären, der uns folgt, erwiderte Johnson.

– Ein Bär, der uns folgt? wiederholte der Doctor.

– Ja, seit zwei Tagen!

– So lange schon? Haben Sie ihn wirklich gesehen?

– Ja, er hält sich etwa eine Meile unter dem Winde.

– Und davon haben Sie mir Nichts gesagt, Johnson?

– Was hätte es genützt?

– Das ist wahr, sagte der Doctor, wir können keine Kugel nach ihm jagen.

– Ja, wir haben auch keinen Spieß, kein Stück Eisen, nicht einmal einen Nagel!« setzte der Seemann hinzu.

[290] Nachdenklich schwieg der Doctor. Bald sagte er zum Rüstmeister:

»Sie sind also sicher, daß das Thier uns nachfolgt?

– Ja, Herr Clawbonny, das wartet auf ein Gericht Menschenfleisch; es weiß, daß wir ihm nicht entgehen.

– Johnson! rief der Doctor, erregt von dem verzweifelten Tone des Gefährten.

– Seine Nahrung ist ihm sicher, erwiderte der Arme, dem schon der Geist irre wurde; es wird hungrig sein, und ich sehe nicht ein, warum wir es warten lassen!

– Johnson, beruhigen Sie sich!

– Nein, Herr Clawbonny, da wir doch einmal dazu kommen müssen, warum sollen wir das Thier länger leiden lassen? Das hat Hunger, so gut wie wir, und es hat keine Robbe zu verzehren! Der Himmel sendet ihm Menschen, desto besser für den Bären!«

Der alte Johnson wurde närrisch, er schickte sich schon an, das Eishaus zu verlassen. Der Doctor hatte alle Mühe, ihn zurückzuhalten, und wenn ihm das gelang, so dankte er es nicht seinen Leibeskräften, sondern folgenden Worten, die er ihm aus des Herzens Ueberzeugung zurief:

»Morgen werde ich den Bären erlegen!

– Morgen, sagte Johnson, der aus einem schweren Traume zu erwachen schien.

– Morgen!

– Sie haben keine Kugel!

– Ich werde eine machen.

– Sie haben kein Blei!

– Nein, aber Quecksilber.«

Nach diesen Worten ergriff der Doctor das Thermometer. Es zeigte jetzt im Eishause fünfzig Grad über Null (+ 7° hunderttheilig). Der Doctor ging hinaus, legte das Instrument auf eine Eisscholle, und kam bald wieder herein. Die äußere Temperatur war fünfzig Grad unter Null (– 47° hunderttheilig).

»Also auf morgen, sagte er zu dem alten Seemanne. Jetzt schlafen Sie und erwarten ruhig den Sonnenaufgang.«

Unter den Qualen des Hungers verstrich die Nacht; nur der Rüstmeister und der Doctor konnten sie durch einen schwachen Hoffnungsschimmer etwas mildern.

[291] Beim ersten Tageslichte machte sich der Doctor, dem Johnson folgte, schon hinaus und lief zum Thermometer. Alles Quecksilber hatte sich in das untere Gefäß zurückgezogen und bildete einen compacten Cylinder. Der Doctor zerbrach das Instrument und zog daraus, mit Handschuhen wohl bedeckt, ein wirkliches, kaum hämmerbares Stück Metall hervor, einen wahren Barren.

»O, Herr Clawbonny, rief der Rüstmeister erfreut, das ist wunderbar! O, Sie sind ein großer Mann!

– Nein, lieber Freund, ich bin eben nur ein Mensch mit gutem Gedächtniß, der viel gelesen hat.

– Was wollen Sie damit sagen?

– Ich erinnerte mich eben einer Bemerkung des Kapitän Roß aus dessen Reiseberichte. Er hatte ein zolldickes Brett mit einer Kugel aus gefrorenen Quecksilber durchschossen; hätte ich Oel bei der Hand gehabt, so hätte das fast dasselbe gethan, denn er erzählt auch, daß eine Kugel aus süßem Mandelöl, natürlich aus gefrorenem, gegen einen Pfahl abgeschossen, denselben aufsplitterte und unzerbrochen zur Erde zurückprallte.

– Das ist unglaublich!

– Aber es ist doch so, Johnson. Da, dieses Stück Metall kann uns möglicher Weise das Leben retten; lassen wir es bis zum Gebrauche an der Luft liegen und sehen zu, ob uns der Bär nicht bereits verlassen hat.«

In diesem Augenblicke trat Hatteras aus der Hütte, der Doctor zeigte ihm den kleinen Barren Quecksilber und theilte ihm den Gebrauch mit, den er davon machen wolle; der Kapitän drückte ihm schweigend die Hand, und die drei Jäger brachen auf.

Das Wetter war ganz klar. Hatteras war seinen Genossen vorausgeeilt und entdeckte den Bären auf etwa achtzehnhundert Schritt.

Das Thier hatte sich niedergesetzt; langsam bewegte es den Kopf und schnüffelte die ungewohnten Ausdünstungen seiner Wirthe ein.

»Da ist er! rief der Kapitän.

– Stille!« sagte der Doctor.

Aber als der große Vierfüßler die sich Nähernden sah, fiel es ihm gar nicht ein, von der Stelle zu weichen. Ohne Schrecken und auch ohne Wuth sah er sie an. Dennoch war es nicht leicht, sich ihm genügend zu nähern.

»Meine Freunde, sagte Hatteras, es handelt sich jetzt hier nicht um ein [292] bloßes Vergnügen, sondern um die Rettung unseres Lebens. Also handeln wir mit Klugheit!

– Ja, erwiderte der Doctor, wir haben nur einen Flintenschuß. Wir dürfen nicht fehlen; entflieht das Thier, so ist es für uns verloren, da es wohl einen Windhund im Laufe überholt.

– Also müssen wir gerade darauf losgehen. Das Leben gilt es, sagte Johnson, doch was thut das jetzt – ich will das meine daran wagen.



– Nein ich! rief der Doctor.

– Das thue ich, sagte einfach Hatteras.

– Nein, nein, stritt Johnson dagegen, sind Sie nicht für das Wohl Aller nützlicher, als ich alter Mann?

– Nein, Johnson, erwiderte der Kapitän, laßt mich nur machen. Ich werde mein Leben nicht unnöthig auf's Spiel setzen; es ist sogar möglich, daß ich Euch zu Hilfe rufen muß.

– Hatteras, fragte der Doctor, wollen Sie wirklich dem Bären zu Leibe gehen?

– Wär' ich nur sicher, ihn zu erlegen, so thät' ich's, wenn er mir auch den Schädel zerschlüge! Aber, wenn ich nahe komme, reißt er wohl aus. Es ist ein sehr listiges Thier, und wir müssen ihn überlisten.

– Was denken Sie zu thun?

– Ich will versuchen, mich ihm auf zehn Schritte zu nähern, ohne daß er mich bemerkt.

– Und wie das?

– Das Mittel ist kühn, aber einfach. Sie haben doch das Fell von der Robbe aufgehoben, die Sie erlegt haben?

– Es ist auf dem Schlitten.

[293] – Gut, so wollen wir jetzt zurückkehren, während Johnson auf Wache bleibt.«

Der Rüstmeister glitt hinter einen Spitzhügel, der ihn den Blicken des Bären vollkommen entzog.

Dieser aber blieb ruhig auf seinem Platze und schnüffelte arglos weiter.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Robbe und Bär.

Hatteras und der Doctor kehrten nach der Hütte zurück.

»Sie wissen, sagte der Erstere, daß die Polarbären gern auf Robben Jagd machen, da sie ihnen vornehmlich als Nahrung dienen. Ganze Tage lauern sie denselben an Eisspalten auf, und erwürgen sie, sobald sie zu Tage kommen, zwischen ihren gewaltigen Tatzen. Ein Bär wird also bei der Erscheinung einer Robbe nicht erschrecken, sondern im Gegentheil darauf losgehen.

– Ich erkenne Ihre Absicht, sagte der Doctor, doch ist sie nicht ohne Gefahr.

– Aber erfolgversprechend, antwortete der Kapitän, also muß sie ausgeführt werden. Ich werde dieses Robbenfell umhängen und auf dem Eise hinkriechen. Wir wollen keine Zeit verlieren. Laden Sie mir Ihr Gewehr.«

Was sollte der Doctor dagegen sagen? Er hätte ja dasselbe gethan, was sein Gefährte jetzt vorhatte. Er nahm zwei Beile, eins für Johnson, das andere für sich, verließ das Haus und begab sich mit Hatteras nach dem Schlitten.

Dort machte Hatteras Jagdtoilette, d.h. er kroch in das Robbenfell, das ihn fast vollständig verhüllte.

Unterdessen lud der Doctor die Flinte mit dem letzten Pulverreste, und setzte das Quecksilbergeschoß auf, das so hart wie Eisen und schwerer als Blei war. Hatteras, dem er die Waffe übergab, verbarg sie unter dem Felle.

[294] »So, nun gehen Sie mit zu Johnson, ich werde eine kurze Zeit zurückbleiben, um meinen Gegner irre zu führen.

– Nun Muth, Hatteras! sagte der Doctor.

– Seien Sie ohne Sorgen, und jedenfalls lassen Sie sich nicht sehen, bevor ich geschossen habe.«

Schnell war der Doctor hinter dem Eishügel, der Johnson verbarg.

»Nun? fragte dieser.

– Nur etwas Geduld, Hatteras wagt sein Leben, um uns zu retten.«

Der Doctor war selbst aufgeregt, er sah den Bären sich unruhig bewegen, als ob ihn eine nahe Gefahr bedrohe.

Nach einer kleinen Viertelstunde kroch die vermeintliche Robbe auf dem Eise daher; sie hatte einen Umweg um große Eisblöcke herum genommen, um den Bären desto sicherer zu täuschen; jetzt war sie noch dreihundert Fuß von diesem entfernt. Er bemerkte sie, stellte sich auf die Füße und suchte sich offenbar zu verbergen.

Hatteras ahmte mit großem Geschick die Bewegungen einer Robbe nach, und wenn ihm dies vielleicht auch nicht vollständig gelang, so ließ sich der Gegner doch davon täuschen.

»Da ist sie! Da ist sie!« sagte Johnson leise.

Die Robbe, die sich nun leise nach der Seite des Thieres heranschlich, schien dasselbe gar nicht zu bemerken; sie schien einen Spalt zu suchen, um in ihr nasses Element zurückzukehren.

Der Bär seinerseits schlich sich um einige Eisschollen und näherte sich ihr mit größter Vorsicht, doch aus seinen flammenden Augen sprach die brennende Begierde; seit einem, vielleicht seit zwei Monaten fastete er wohl, und jetzt warf ihm der Zufall eine sichere Beute in den Weg.

Nur zehn Schritte noch war die Robbe von ihrem Feinde entfernt; – dieser raffte sich auf, machte einen gewaltigen Sprung und blieb voll Staunen und Schrecken drei Schritte vor Hatteras stehen, der das Fell abgeworfen hatte und auf den Knieen liegend schon nach des Bären Herzen zielte.

Der Schuß krachte – das Ungethüm wälzte sich auf dem Eise.

»Vorwärts! Vorwärts!« schrie der Doctor.

Von Johnson gefolgt, eilte er nach dem Kampfplatze.

Das große Thier hatte sich wieder aufgerichtet, focht mit der einen [295] Tatze in der Luft, und raffte mit der anderen Schnee auf, den es auf seine Wunde schob.


Ein betrogener Eisbär. (S. 294.)

Hatteras, ohne zu straucheln, wartete mit dem Messer in der Hand. Aber er hatte trefflich gezielt und mit sicherer Hand jenem eine gut sitzende Kugel zugesendet. Schon bevor seine Leute eintrafen, hatte er auch sein Messer dem Unthier bis an's Heft in die Kehle gestoßen, das nun vollends umfiel, um sich nicht wieder zu erheben.

»Sieg! Sieg! rief Johnson, und

– Hurrah! Hurrah!« der Doctor.

[296] Hatteras betrachtete in aller Gemüthsruhe mit gekreuzten Armen den gigantischen Körper.

»Nun habe ich zu thun, sagte Johnson. Es war zwar die Hauptsache, das Stück Wild abzuthun, aber wir wollen nicht warten, bis es zu Stein gefroren ist, dann möchten unsere Zähne und unsere Messer nicht viel damit anfangen können.«

Johnson begann demnach das große Thier abzuhäuten, welches an Größe fast einem Stiere gleich kam; es hatte neun Fuß in der Länge bei sechs Fuß Umfang; zwei tüchtige Fangzähne von drei Zoll Länge starrten aus seinen Kiefern.

Als Johnson den Bären öffnete, fand er nur Wasser in dessen Magen; offenbar hatte er seit langer Zeit Nichts gefressen; dennoch war er reichlich fett und wog über fünfzehnhundert Pfund. In vier Theile zertheilt lieferte jedes zweihundert Pfund Fleisch, und freudig schleppten die Jäger diese Fleischmasse nach der Eishütte, ohne das Herz des Thieres zu vergessen, das drei Stunden vorher noch kräftig geschlagen hatte.

Des Doctors Genossen hätten sich gerne sogleich auch auf das rohe Fleisch gestürzt, aber dieser hielt sie zurück, bis dasselbe geröstet sein werde.

Als Clawbonny in das Eishaus zurückkehrte, fiel es ihm auf, daß es darin so kalt war; das Feuer im Ofen fand er denn auch vollkommen erloschen.

Die Beschäftigungen am frühen Morgen und die darauf folgenden erregten Scenen hatten Johnson, dem das Nachlegen eigentlich zukam, seine Pflichten versäumen lassen.

Der Doctor wollte das Feuer wieder entzünden, aber er fand auch kein Fünkchen mehr in der kalten Asche.

»Nun denn, etwas Geduld«, sagte er für sich.

Er ging nach dem Schlitten, um Feuerschwamm zu holen, und verlangte von Johnson dessen Stahl und Stein.

»Der Ofen ist erloschen! sagte er.

– Ei, daran bin ich Schuld«, erwiderte Johnson.

Dieser suchte nun das Feuerzeug in der Tasche, in der er es immer trug, und wunderte sich, es nicht darin zu finden; er visitirte auch seine anderen Taschen vergebens; im Hause wandte er seine Lagerstätte nach allen Seiten um – vergebens.

»Nun?« fragte der Doctor.

[297] Johnson kam zurück und sah seine Gefährten an.

»Ja das Feuerzeug, haben Sie es nicht etwa, Herr Clawbonny?

– Nein, Johnson.

– Auch Sie nicht, Kapitän?

– Nein, erwiderte Hatteras.

– Sie haben es doch immer selbst gehabt, sagte der Doctor.

– Ja wohl! Aber ich habe es nicht mehr ... murmelte erblassend der alte Seemann.

– Nicht mehr?!« rief der Doctor, der unwillkürlich erzitterte.

Es war kein anderes Feuerzeug vorhanden und der Verlust jenes einzigen konnte sehr üble Folgen haben.

»Suchen Sie ordentlich, Johnson«, mahnte der Doctor.

Dieser lief nach dem Schollenhaufen, von dem aus er den Bär beobachtet hatte; dann nach der Stelle, wo der Bär getödtet wurde und er ihn ausgeweidet hatte. Aber verzweifelnd kam er mit leerer Hand zurück.

Hatteras sah ihn an, ohne ihm jedoch irgend welchen Vorwurf zu machen.

»Das ist bitter, sagte er zum Doctor.

– Ja wohl, erwiderte dieser.

– Wir haben nun gar kein Instrument, nicht einmal ein Fernrohr, aus dem wir eine Linse nehmen könnten, um uns Feuer zu machen.

– Ich weiß es, meinte der Doctor, und das ist besonders traurig, da die Sonnenstrahlen leicht hinreichen würden, um mit ihrer Hilfe Schwamm zu entzünden.

– Nun, sagte Hatteras, so werden wir unseren Hunger mit rohem Fleische stillen müssen; dann nehmen wir den Marsch wieder auf und suchen das Fahrzeug zu erreichen.

– Ja, sagte der Doctor nachdenklich, das wäre der letzte Ausweg. Aber warum? – Man könnte versuchen ...

– Woran denken Sie? fragte Hatteras.

– Da kommt mir ein Gedanke ...

– Ein Gedanke! rief Johnson erfreut, ein Gedanke von Ihnen! O, dann ist uns geholfen.

– Ob er ausführbar sein wird, versetzte der Doctor, ist freilich noch eine Frage.

[298] – Was denken Sie zu thun, sagte Hatteras.

– Wir haben keine Brennlinse, nun gut, so werden wir eine machen müssen.

– Was? fragte erstaunt Johnson.

– Von einem Stück Eis, das wir zuschneiden.

– Wie? Sie glauben ...?

– Warum nicht? Es kommt ja nur darauf an, die Sonnenstrahlen auf einen Punkt zu sammeln, und dazu kann uns Eis so gut dienen, wie der schönste Krystall.

– Ist das möglich? sagte Johnson.

– Gewiß; ich hätte nur gern Süßwassereis dazu, das ist durchsichtiger und härter.

– Nun, wenn ich mich nicht täusche, sagte Johnson, indem er nach einem kaum hundert Schritte entfernten Spitzhügel wies, so verräth jener dunklere Block mit grünlichem Schimmer ...

– Ja wohl, Sie haben Recht; kommen Sie, Freunde, und Sie, Johnson, nehmen das Beil mit.«

Die drei Männer verfügten sich nach dem Schollenhaufen, den sie wirklich aus Süßwassereis bestehend fanden.

Der Doctor ließ ein Stück von etwa einem Fuß Durchmesser ablösen, das er erst im Groben mit dem Beil, später mit dem Eismesser bearbeitete; endlich polirte er es noch nach und nach mit Hilfe der Hand und erhielt so eine große durchsichtige Linse, die mit dem besten Krystall wetteiferte.

Dann ging er vor den Eingang des Hauses, nahm ein Stück Zündschwamm und begann sein Experiment.

Die Sonne stand in reinstem Glanze am Himmel; der Doctor hielt seine Eislinse in geeigneter Lage gegen ihre Strahlen, welche er auf dem Schwamme sammelte.

In wenigen Secunden schon fing dieser Feuer.

»Hurrah! Hurrah! rief Johnson aus der kaum seinen Augen traute. O, Herr Clawbonny! Herr Clawbonny!«

Der alte Seefahrer konnte seine Freude gar nicht zügeln; wie närrisch lief er hin und her.

Der Doctor war in's Haus zurückgegangen; in wenigen Minuten prasselte [299] es im Ofen und bald weckte der köstliche Geruch eines Rostbratens auch Bell aus seinem Halbschlafe.

Es versteht sich wohl, daß mit dieser Mahlzeit ein wahres Fest gefeiert wurde, doch rieth der Doctor seinen Genossen, ihre Begierde zu mäßigen, ging ihnen selbst mit gutem Beispiele voran und sprach noch beim Essen also:


(S. 297.)

»Wir haben heute einen Glückstag und ausreichende Provision bis zu Ende der Fahrt. Dennoch dürfen wir uns nicht durch lucullische Mahle einschläfern, sondern werden gut thun, bei Zeiten wieder aufzubrechen.

– Vom Porpoise können wir nur noch gegen achtundvierzig Stunden entfernt sein, sagte Altamont, der mehr und mehr der Sprache wieder Herr

– Ich hoffe, wir finden da Etwas, um Feuer machen zu können, bemerkte lächelnd der Doctor.

– Gewiß, erwiderte der Amerikaner.

– Wenn mein Brennglas aus Eis auch ganz gut ist, so dürfte es an sonnenlosen Tagen doch den Dienst versagen, und solche Tage sind kaum sechs Grad vom Pole nicht eben selten.

– Wahrlich, seufzte Altamont, kaum sechs Grade! Mein Schiff ist soweit hinausgekommen, wie vor ihm noch kein anderes.

– Brechen wir auf! befahl Hatteras kurz.

– Ja, vorwärts!« wiederholte der Doctor, der mit unruhigem Blicke die beiden Kapitäne musterte.

[300] Schnell hatten die Reisenden ihre Kräfte wieder gewonnen; die Hunde waren reichlich mit den Abfällen vom Bären gefüttert worden, und muthig wandte man sich wieder gen Norden.

Unterwegs versuchte der Doctor von Altamont einigen Aufschluß über den Zweck seiner Reise, die ihn soweit nach dem Pole geführt hatte, zu erhalten; doch der Amerikaner gab nur ausweichende Antworten.

»Da giebt es zwei Männer zu überwachen, sagte Clawbonny dem alten Rüstmeister in's Ohr.

– Ja wohl! bestätigte Johnson.

– Hatteras hat nie ein Wort für den Amerikaner, und dieser scheint auch wenig erkenntlich zu sein. Zum Glücke bin ich noch zur Vermittlung da.

– Herr Clawbonny, antwortete Johnson, seit dieser Yankee wieder lebendig geworden ist, verspricht mir seine Miene nicht viel Gutes!

– Entweder täusche ich mich arg, versetzte der Doctor, oder er muthmaßt unseres Hatteras' Zwecke.

– Glauben Sie, daß der Fremde die nämlichen Absichten gehabt hat, wie wir?

– Wer weiß es? Johnson! Die Amerikaner sind unternehmend und kühn, und was ein Engländer ausführen wollte, konnte Jener ja wohl auch versuchen.

– Sie glauben, daß Altamont ...?

– Ich glaube gar Nichts, fiel der Doctor ein, aber die Lage seines Schiffes auf dem Wege zum Pole giebt doch zu denken.

– Altamont sagt aber, er sei wider Willen dahin verschlagen worden.

– Ja, er sagte es, aber er schien mir dabei verstohlen zu lächeln.

– Zum Teufel! Herr Clawbonny, eine Rivalität zwischen zwei Männern dieses Schlages könnte unter unseren Umständen eine schlimme Sache werden.

– Gott gebe, daß ich mich täusche, Johnson, aber das kann schwere Verwickelungen nach sich ziehen, die vielleicht gar zu gewaltsamer Lösung führen.

– Hoffentlich wird Altamont nie vergessen, daß wir ihm das Leben gerettet haben.

– Und er jetzt uns, nicht wahr? Ich gebe zu, daß er ohne unsere Hilfe jetzt nicht mehr lebte, was wäre aber ohne ihn, ohne sein Schiff, und die Hilfsquellen, die es birgt, aus uns geworden?

[301] – Nun, Herr Clawbonny, Sie sind ja bei der Hand; Sie werden hoffentlich Alles zum Besten lenken.

– Ich hoffe es wenigstens auch, Johnson.«

Der Marsch ging ohne besondern Zwischenfall weiter; Bärenfleisch gab es ja genug, und so hielt man reichliche Mahlzeiten. Durch des Doctors Scherze und seine liebenswürdige Weltanschauung belebte sogar ein gewisser Humor die kleine Truppe. In seinem wissenschaftlichen Quersack fand er immer Anknüpfungspunkte, aus Dem und Jenem Belehrungen abzuleiten. Seine Gesundheit blieb immer gut; trotz aller Anstrengungen und Entbehrungen war er nicht besonders abgemagert; an der unverwüstlich guten Laune hätten ihn seine Freunde in Liverpool allemal wieder erkannt.

Als der Sonnabend Morgen herankam, änderte sich die Natur der ungeheuern Eiswüste merklich. Uebereinander geworfene Schollen, einzelne häufigere Erhöhungen und Spitzhügel bewiesen, daß das Eisfeld hier unter den Einwirkungen anderer Elementarkräfte stand; offenbar hatte ein unbekanntes Land, vielleicht eine neue Insel, hier das Fahrwasser verengt und dadurch jenes Durcheinander erzeugt. Blöcke von Süßwassereis, die häufiger und größer sich fanden, deuteten auch auf eine nahe Küste.

Sicher existirte in geringer Entfernung noch ungesehenes Land, und der Doctor brannte vor Begierde, die Karten der Umgebungen des Nordpols mit dessen Einzeichnung zu bereichern. Man kann sich wohl vorstellen, welches Vergnügen es gewähren muß, unerforschte Küsten aufzunehmen und mit dem Bleistifte ihre Form und Lage zu fixiren; das war, während Hatteras nur seinen Fuß auf den Pol der Erde setzen wollte, des Doctors Absicht, und mit Freude dachte er schon im Voraus an die Namen, die er den Meeren und Meerengen, den Baien und kleineren Einbuchtungen des neuen Continentes verleihen würde. Sicher würde er in diesem glorreichen Verzeichniß weder seine Gefährten, noch seine Freunde, »Ihre huldreiche Majestät« oder die königliche Familie vergessen, aber auch sich selbst wollte er nicht ganz übergehen, und bereits sah er mit einer gewissen berechtigten Befriedigung auch schon etwa ein »Cap Clawbonny« vor seinem geistigen Auge.

Den ganzen Tag über fesselten ihn derlei Gedanken. Abends wurde das Nachtquartier in gewohnter Weise bereitet, und Alle nach der Reihe thaten ihre Wache, in der letzten Nacht vielleicht, die sie vor der Entdeckung eines neuen Continentes verbrachten.

[302] Am folgenden Tage, dem Sonntage, zogen die Reisenden nach einem tüchtigen Frühstück von Bärentatzen, welche vortrefflich mundeten, weiter nach Norden mit etwas Abweichung nach Westen; zwar wurde der Weg beschwerlicher, doch schritt man rasch vorwärts.

Mit fieberhafter Anspannung beobachtete Altamont von dem Schlitten aus den Horizont. Seine Gefährten waren ebenso die Beute einer unwillkürlichen Unruhe. Die letzten Sonnenbeobachtungen hatten genau eine Breite von 83°35' und einer Länge von 120°15' ergeben.



Das war der Punkt, wo das amerikanische Schiff sich finden sollte; die Entscheidung zwischen Leben oder Tod mußte also noch diesen Tag fallen.

Endlich, es war gegen Nachmittags zwei Uhr, brachte Altamont durch einen wiederhallenden Aufschrei die kleine Gesellschaft zum Stillstande. Er hatte sich ganz aufgerichtet, und mit den Fingern nach einer weißen Masse zeigend, die jeder Andere freilich noch mit den benachbarten kleinen Eisbergen verwechselt hätte, rief er laut hinaus:

»Der Porpoise

[303]
6. Capitel
Sechstes Capitel.
Der Porpoise.

Der 24. März war der Tag jenes hohen Festes, des Palmsonntags, an dem die Straßen der Dörfer und Städte des südlicheren Europas mit Blumen und Blättern überstreut sind; dann klingen die Glocken durch die Lüfte und die Atmosphäre füllt sich mit köstlichem Wohlgeruch.

Welch' trostloses Schweigen herrschte dagegen hier, in diesem verlassenen Lande! Ein scharfer, fast schmerzender Wind fegte darüber hin, aber kein abgefallenes Blatt, kein Grashälmchen wehte er daher.

Und dennoch war dieser Sonntag ein Freudentag für unsere Reisenden, denn endlich hatten sie Ersatz für die ihnen entzogenen Hilfsmittel gefunden, deren Mangel so nahe daran gewesen war, ihnen ein trauriges Ende zu bereiten.

Sie verdoppelten ihre Schritte; die Hunde zogen kräftiger, freudig bellte Duk und bald erreichten sie das amerikanische Schiff.

Der Porpoise war total in Schnee begraben. Man sah an ihm weder Masten, noch Raaen oder Tauwerk. Sein ganzes Takelwerk hatte der Schiffbruch zerstört; zwischen nicht sichtbaren Felsen lag der Rumpf desselben eingezwängt. Durch die Gewalt des Stoßes war das Fahrzeug auf die Seite gelegt und der geöffnete Schiffsraum versprach als Wohnung wenig Behaglichkeit.

Hiervon überzeugten sich der Kapitän, der Doctor und Johnson bald, als sie nicht ohne Mühe in das Innere desselben gedrungen waren; über fünfzehn Fuß Eis waren wegzuschaffen, bevor sie zu den Vorrathsräumen gelangten; zur Freude Aller sah man aber, daß die wilden Thiere, von denen sich zahlreiche Spuren fanden, nicht zu dem ihnen besonders wichtigen Proviant gelangt waren.

»Wenn wir hier nur, sagte Johnson, Feuerung und Lebensmittel genug haben, als Wohnung scheint mir dieser Rumpf nicht besonders tauglich.

– Nun wohl, dann werden wir ein Eishaus bauen, meinte Hatteras, und uns auf diesem Lande so gut als möglich einrichten.

– Gewiß, erwiderte der Doctor, aber nur keine Ueberstürzung. Zur [304] Noth können wir vorläufig immerhin in dem Schiffe wohnen; unterdessen errichten wir ein solides Haus, das uns gegen den Frost und den Angriff wilder Thiere schützt. Ich werde den Architekten abgeben und Sie sollen mich bald bei der Arbeit sehen.

– Ich bezweifle gar nicht Ihr Geschick dazu, Herr Clawbonny, sagte Johnson; doch für jetzt richten wir uns hier nach besten Kräften ein, und könnten eine Umschau halten über das, was noch in dem Schiffe da ist; leider sehe ich weder ein kleineres noch ein größeres Boot, und diese [305] Reste sind in zu schlechtem Zustande, um daraus ein kleines Fahrzeug zu bauen.


Beim Thee im Raume des Porpoise. (S. 306.)

– Wer weiß! entgegnete der Doctor, kommt Zeit, kommt Rath! Jetzt handelt es sich aber nicht darum, zu Schiffe zu gehen, sondern eine dauernde Wohnung zu beschaffen. Ich schlage also vor, vorläufig alle anderen Projecte fallen zu lassen, und jedes Ding zu seiner Zeit zu thun.

– Weise gesprochen! bestätigte Hatteras; laßt uns mit dem Nöthigsten anfangen?«

Die drei Gefährten verließen also das Schiff, gingen zum Schlitten und theilten Bell und dem Amerikaner ihre Absichten mit; Bell war gleich bereit, an's Werk zu gehen; der Amerikaner schüttelte den Kopf, als er hörte, daß mit seinem Schiffe nichts anzufangen sei; da aber weitere Auseinandersetzungen darüber jetzt doch fruchtlos gewesen wären, hielt man sich daran, vorläufig ein Obdach im Porpoise zu suchen und an der Küste eine geräumige Wohnung zu errichten.

Um vier Uhr Nachmittags waren die fünf Reisenden wohl oder übel im Zwischendeck untergebracht. Mittelst Sparren und Bruchstücken von Masten hatte Bell einen nahezu wagerechten Fußboden hergestellt. Die durch den Frost erhärteten Lagertheile wurden hineingeschafft; die Wärme eines Ofens versetzte sie bald wieder in brauchbaren Zustand; Altamont konnte sich, gestützt auf den Doctor, ohne zu große Mühe nach der ihm reservirten Ecke begeben. Als er den Fuß wieder in das eigene Schiff setzte, ließ er einen Laut der Befriedigung vernehmen, der dem Rüstmeister nicht das beste Anzeichen zu sein schien.

»Er fühlt sich zu Hause, sprach der alte Seemann zu sich; und sieht es nicht aus, als ob er uns einlüde?«

Den Rest des Tages widmete man der Ruhe; einzelne Windstöße aus Westen deuteten auf einen Umschlag der Witterung; das Thermometer zeigte im Freien sechsundzwanzig Grad (– 32° hunderttheilig).

In Summa befand sich der Porpoise über dem Kältepol hinaus und unter einer zwar nördlicheren, aber verhältnißmäßig minder eisigen Breite.

Man schloß den Tag mit einer Mahlzeit aus Bärenfleisch, nebst Zwieback, das sich im untern Schiffsraume vorfand, und einigen Tassen Thee; dann siegte aber die Ermüdung und alle verfielen in tiefen Schlaf.

Am anderen Morgen erwachten alle Schicksalsgenossen erst etwas spät; [306] ihre Gedanken waren in ganz anderen Richtungen beschäftigt; frei von der quälenden Sorge um den anderen Tag, dachten sie nur daran, sich recht wohnlich einzurichten. Diese Schiffbrüchigen fühlten sich fast wie Colonisten, die an ihrem Ziele angelangt sind, und die Leiden der langen Reise vergessend nur die Zukunft sich erträglich zu gestalten suchen.

»Ah, rief der Doctor, die Arme ausstreckend, was ist es doch für ein Genuß, nicht fragen zu müssen, wo man den Abend schlafen, und was man den andern Tag essen werde.

– Wir wollen nur erst das Inventar aufnehmen«, sagte Johnson.

Der Porpoise war für eine sehr lange Fahrt ausgerüstet und mit Lebensmitteln versehen.

Die Inventur ergab an Provisionen Folgendes: sechstausendundhundertfünfzig Pfund Mehl, Fett und Rosinen zu Puddings; zweitausend Pfund eingesalzenes Rind- und Schweinefleisch; fünfzehnhundert Pfund Pemmican; siebenhundert Pfund Zucker und eben so viel Chocolade; anderthalb Kisten Thee, welche sechsundneunzig Pfund wogen; fünfhundert Pfund Reis; mehrere Fässer mit conservirten Früchten und Gemüsen; Citronensaft, Löffelkraut, Sauerampfer und Kresse in Ueberfluß; dreihundert Gallonen Rum und Branntwein; in der Pulverkammer fanden sich große Vorräthe an Pulver, Kugeln und Blei. Holz und Kohlen waren in sehr großer Menge da. Der Doctor musterte sorgfältig die physikalischen und navigatorischen Instrumente, und fand zu seiner besonderen Freude eine starke Bunsen'sche Batterie, die zum Zwecke elektrischer Versuche mitgenommen war.

Kurz, die Vorräthe aller Art reichten für fünf Menschen, bei reichlichen Rationen, gewiß über zwei Jahre lang, so daß alle Furcht, vor Hunger oder Frost umzukommen, verschwand.

»Nun wäre ja unsere Existenz gesichert, sagte der Doctor zum Kapitän, und es hindert uns nichts mehr, bis zum Pole vorzudringen.

– Bis zum Nordpole! erwiderte Hatteras freudig erregt.

– Ohne Zweifel, fügte der Doctor hinzu, was sollte uns hindern, während der Sommermonate dahin eine Expedition zu Lande zu unternehmen?

– Ueber das Land, ja, aber wie über das Meer?

– Läßt sich nicht aus Theilen des Porpoise ein Boot erbauen?

– Eine amerikanische Schaluppe, nicht wahr, erwiderte Hatteras geringschätzig, und von jenem Amerikaner befehligt!«

[307] Der Doctor durchschaute den Grund der Ablehnung des Kapitäns, und hielt es nicht für gerathen, diese Frage jetzt weiter zu erörtern. Er ging also auf ein anderes Thema über.

»Jetzt, da wir wissen, welche Vorräthe uns zur Hand sind, sagte er, würden wir an die Errichtung eines Magazins für diese und einer Wohnung für uns denken müssen. An Material dazu fehlt's ja nicht, und wir können uns ganz behaglich einrichten. Ich hoffe, Bell, schloß er, zum Zimmermann gewendet, daß Sie sich dabei selbst übertreffen werden; übrigens würde ich Ihnen mit gutem Rath gerne zur Hand gehen.

– Ich bin bereit, Herr Clawbonny, erwiderte Bell, aus den Eisblöcken hier baue ich zur Noth eine ganze Stadt mit Häusern und Straßen ...

– Nun, nun, so viel brauchen wir nicht; nehmen wir uns die Agenten der Hudsons-Bai-Compagnie zum Muster: diese bauen sich kleine Forts zum Schutze gegen wilde Thiere und Indianer; das ist auch Alles, was wir bedürfen, verschanzen wir uns, so gut als möglich; auf einer Seite stehe die Wohnung, auf der anderen die Magazine, geschützt durch einen Mittelwall und zwei Bastionen. Ich werde versuchen, hierzu meine ganzen Kenntnisse der Lagerkunst aufzufrischen.

– Meiner Treu, Herr Clawbonny, das weiß ich voraus, daß wir unter Ihrer Leitung etwas Rechtes zu Stande bringen.

– Nun, wohlan, Freunde, so wollen wir denn zunächst die Oertlichkeit dazu auswählen. Ein guter Ingenieur muß vor Allem sein Terrain kennen. Kommen Sie mit, Hatteras?

– Ich verlasse mich ganz auf Sie, Doctor, erwiderte der Kapitän. Wählen Sie aus, während ich einmal die Küste besichtigen werde.«

Da Altamont noch zu schwach war, um sich an irgend einem Vorhaben betheiligen zu können, wurde er auf dem Schiffe zurückgelassen, während die vier Engländer an's Land gingen.

Das Wetter war stürmisch und dunstig; zu Mittag zeigte das Thermometer elf Grad unter Null (– 23° hunderttheilig), aber bei Windstille war die Temperatur ganz erträglich.

Nach der Uferbildung zu urtheilen mußte sich nach Westen hin, über Sehweite hinaus, ein jetzt freilich ganz erstarrtes Meer ausbreiten. Nach Osten war es von einer abgerundeten Küste begrenzt, die, von tiefen Buchten zerrissen, sich zweihundert Yards hoch steil aufthürmte; es bildete demnach [308] eine ungeheure Bai, die von den Felsen umschlossen war, an denen auch der Porpoise scheiterte; weiter landeinwärts erhob sich ein Berg, dessen Höhe der Doctor auf achtzehnhundert Fuß schätzte. Gegen Norden verlief ein Vorgebirge im Meere, das einen beträchtlichen Theil der Bai zu decken schien. Aus der Eisfläche erhob sich auch eine kleinere Insel, oder besser ein Eiland, etwa drei Meilen von der Küste entfernt, welches, wenn es nicht zu schwierig war, den Eingang zu dieser Rhede zu gewinnen, wohl einen sicheren und geschützten Ankergrund bieten mußte. In einer Einbuchtung des Ufers befand sich sogar noch ein kleiner, für Fahrzeuge scheinbar leicht zugänglicher Hafen, vorausgesetzt, daß die Sommerwärme überhaupt jemals diesen Theil des arktischen Meeres schiffbar zu machen vermochte. Nach den Angaben Belcher's und Penny's mußte aber dieses ganze Meer während der Sommermonate frei sein.

Dicht an der Küste entdeckte der Doctor eine Art kreisrunden Plateaus von etwa zweihundert Fuß Durchmesser: es beherrschte die Bai auf drei Seiten; die vierte war durch eine natürliche senkrechte Mauer von hundertzwanzig Fuß Höhe abgeschlossen.



Nur durch Einhauen von Stufen in das Eis war jenes zu ersteigen. Dieser Punkt schien vorzüglich geeignet, dort [309] einen dauerhafteren Bau aufzuführen, da er sich auch leicht befestigen ließ; die erste Hand dazu hatte hier schon die Natur angelegt, und es galt nur, das Gebotene auszunützen.

Der Doctor, Bell und Johnson erstiegen die kleine Höhe, mußten sich aber mit der Axt den Weg durch und über das Eis zuhauen; sie fanden dieselbe völlig eben.

Als der Doctor sich von der Vortrefflichkeit des Ortes überzeugt hatte, beschloß er, die etwa zehn Fuß dicke Lage gefrorenen Schnees, welche ihn überdeckte, davon abzuräumen, denn für die Wohnung und die Magazine bedurfte es eines solideren Baugrundes.

Während des Montags, Dienstags und Mittwochs wurde nun eifrig daran gearbeitet; endlich kam der Urboden zu Tage, der aus feinkörnigem Granit bestand, dessen Kanten eine Glasschärfe aufwiesen; er enthielt ferner Granaten und Feldspathkrystalle eingeschlossen, die unter der Hacke Funken gaben.

Der Doctor bestimmte nun die Größe und den Plan des Eishauses; es sollte vierzig Fuß lang, zwanzig tief und zehn hoch werden. Drei Abtheilungen desselben bildeten ein Wohnzimmer, einen Schlafraum und eine Küche, von denen ersteres in der Mitte, der zweite zur Rechten und die letztere zur Linken gelegen war; mehr Räumlichkeiten brauchten sie ja nicht.

Fünf Tage lang wurden die Arbeiten fortgesetzt. Das nöthige Baumaterial fehlte ja nicht; die Eismauern mußten aber auch dick genug werden, um eintretendem Thauwetter zu widerstehen, denn auch für die Sommerzeit durfte man nicht wohl ohne sicheres Obdach sein.

Je mehr das Gebäude aufwuchs, ein desto netteres Aussehen gewann es; in der Front hatte es vier Fensteröffnungen, zwei für das Wohnzimmer und je eine für die anderen Räume; als Scheiben dienten, so wie es bei den Eskimos Sitte ist, besonders klare Eisschollen, durch welche, wie durch mattes Glas, genügend Licht eindrang.

Vor dem Wohnzimmer und zwischen seinen zwei Fenstern befand sich ein verdeckter Gang, von dem aus man in das Haus gelangte; eine gute Thüre, die man aus der Cabine des Porpoise entnahm, verschloß diesen vollkommen. Als das Gebäude fertig war, freute sich der Doctor selbst darüber; schwierig würde es freilich gewesen sein, zu sagen, welchem Baustyle es angehörte, obgleich der Architekt desselben seine Vorliebe für die in [310] England so verbreitete sächsische Gothik aussprach; hier handelte es sich aber vor Allem um die Dauerhaftigkeit des Baues; der Doctor begnügte sich also, die Façade mit starken Strebepfeilern, gleich den kurzen dicken römischen Pfeilern, zu bekleiden. Oben lehnte sich ein steiles Dach an die Granitwand. Diese diente auch für die Rohre, welche den Ofenrauch ableiten sollten, als Stütze.

Als so der Rohbau vollendet war, ging man an die innere Ausstattung. Die Lagerstätten wurden aus dem Porpoise in den dafür bestimmten Raum rund um einen großen Ofen angebracht. Bänke, Stühle, Fauteuils, Tische, Schränke wurden in das Wohnzimmer gebracht, das auch als Speisezimmer diente. Endlich erhielt die Küche ihre Feuerungseinrichtungen aus dem Fahrzeuge, nebst ihren verschiedenen Geräthschaften. Auf dem Boden ausgebreitete Segel vertraten die Stelle der Teppiche und dienten auch als Portièren vor den inneren Thüröffnungen, die eines anderen Verschlusses entbehrten. Durchschnittlich hatten die Wände eine Stärke von fünf Fuß, so daß die Fensteröffnungen allerdings mehr wie Kanonenluken aussahen.



Alles dies war von größter Dauerhaftigkeit. Was konnte man mehr verlangen? Und wenn man gar immer auf den Doctor gehört hätte, was hätte der nicht Alles aus Eis und Schnee, die auf jede Art und Weise so verwendbar sind, gebaut! Den ganzen Tag ersann er tausend herrliche Projecte, und wenn es ihm auch gar nicht einfiel, diese auszuführen, so würzte er doch die allgemeine Arbeit durch seine geistreichen Einfälle.

Ein Bücherliebhaber, wie er war, hatte er auch Kraft's so seltenes Werk mit dem Titel: »Genaue Beschreibung des zu Petersburg im Januar 1740 errichteten Eishauses und aller darin befindlichen Gegenstände«, gelesen. Die [311] Erinnerung daran reizte seinen erfindungsreichen Geist nur noch mehr. Eines Abends erzählte er selbst seinen Gefährten die Wunder dieses Eisbaues:

»Was man in Petersburg gemacht hat, sollten wir das nicht hier auch können? Was fehlt uns dazu? Nichts, nicht einmal die nöthige Phantasie!

– Das war dort wohl sehr schön? fragte Johnson.

– Das war feenhaft, guter Freund. Das Gebäude, welches auf Befehl der Kaiserin Anna errichtet wurde und in welchem sie im Jahre 1740 die Hochzeit eines ihrer Hofnarren feiern ließ, hatte ungefähr die Größe des unsrigen; vor seiner Front aber lagen sechs Kanonen aus Eis auf ihren Lafetten; mehrmals schoß man mit Kugeln und auch nur mit Pulver daraus, ohne daß sie zersprangen; desgleichen waren Mörser für sechzigpfündige Geschosse ebenso hergestellt; wir könnten uns also zur Noth eine ganze formidable Artillerie errichten; die Bronze für die Läufe ist nicht weit und fällt uns vom Himmel.



Ihren höchsten Triumph aber feierten Geschmack und Kunst am Fronton des Gebäudes, wo Eisstatuen von seltener Schönheit angebracht waren; der Aufgang bot den Blicken Blumenvasen und Orangebäume aus demselben Material; zur Rechten befand sich ein großer Elephant, der Tags über einen Wasserstrahl von sich gab, in der Nacht aber mittelst brennender Naphtha leuchtete. Hei! Was könnten wir uns für eine Menagerie herstellen, wenn wir nur wollten!

– Nun, was Thiere betrifft, warf Johnson ein, so werden uns diese nicht fehlen, und wenn sie auch nicht aus Eis sind, so dürften sie doch nicht minder interessant sein!

– Schön, erwiderte der kriegsmuthige Doctor, wir werden uns gegen ihre Angriffe zu vertheidigen wissen. Um aber auf besagtes Haus in Petersburg zurückzukommen, so will ich noch hinzufügen, daß darin Tische.


Doctors Hans. (S. 319.)

[312]

Toiletten, Spiegel, Armleuchter, Kerzen, Betten, Matratzen, Kopfkissen, Vorhänge, Uhren, Stühle, Spielkarten, Schränke mit vollständigem Geschirr u.s.w. – Alles aus Eis, ciselirt, guillochirt, vom Bildhauer gearbeitet, kurz ein Mobiliar war, an dem absolut Nichts fehlte.

– Das war ja ein leibhaftiger Palast, sagte Bell.

– Ein ebenso prächtiger, als einer Herrscherin würdiger Palast. O, das Eis! Wie war die Vorsehung weise, das zu erfinden, was zu solchen Wundern ebenso geeignet, wie wohlthätig für Schiffbrüchige ist!«

[313] Die Ausstattung des Hauses nahm die Zeit bis zum 31. März in Anspruch; auf diesen Tag fiel das Osterfest, und so ward er der Ruhe gewidmet. Man verbrachte ihn ganz im Salon, in dem auch ein Gottesdienst abgehalten wurde, und Alle hatten Gelegenheit, sich von der schönen Einrichtung des Eishauses zu überzeugen.

Am anderen Tage ging man an die Errichtung der Magazine und einer Pulverkammer; das erforderte wieder eine Woche Arbeit, eingerechnet der für die vollständige Ausladung des Porpoise nöthigen Zeit, welche nicht ganz ohne Schwierigkeiten war, denn die wieder strengere Kälte ließ nicht lange dabei ausdauern.

Endlich, am 8. April, waren Brennmaterial, Provision und Munition auf festem Lande unter Dach und Fach. Die Magazine lagen nördlich, das Pulverhäuschen südlich, mindestens sechzig Fuß vom Hause entfernt. Neben den Magazinen wurde noch eine kleine Hütte erbaut, bestimmt die grönländer Hunde zu beherbergen; der Doctor beehrte diese mit dem Namen: »Doggenpalast«. Duk theilte die allgemeine Wohnung.

Darauf beschäftigte sich der Doctor mit der Wehrbarmachung des Platzes. Unter seiner Leitung wurde die kleine Hochebene mit einer wahren Fortification aus Eis umgürtet, die sie vor jedem Ueberfall sicherte. Ihre Höhe bildete eine natürliche Böschung, und da diese weder vor noch einspringende Winkel bildete, war sie nach allen Richtungen hin gleich stark. Als der Doctor diese Art der Vertheidigung entwarf, erinnerte er unwillkürlich an den würdigen Onkel Tobias Sterne's, dessen milde Güte und gleichmäßig gute Laune er auch besaß. Man mußte ihn sehen, wie er den Abhang der inneren Böschung, die Neigungswinkel der Wälle und die Breite des Laufwegs dahin berechnete. Aber mit dem so gefälligen Schnee machte sich die Arbeit so leicht, daß sie ein reines Vergnügen war, und der liebenswürdige Ingenieur vermochte seinen Eismauern eine Dicke von sieben Fuß zu geben. Da das Plateau die Bai beherrschte, brauchte er weder Gegenwall, noch äußere Böschung, noch Glacis anzulegen. Die Brüstung aus Schnee, welche den Umfangslinien des Plateaus folgte, lief bis an die Felsen und schloß sich an die zwei Seiten des Hauses an. Am 15. April waren die Lagerbauten vollendet, das Fort war nun fertig und der Doctor nicht wenig stolz auf sein Werk.

Der befestigte kleine Platz hätte in der That geraume Zeit den Angriffen eines Eskimostammes widerstehen können, wenn solche Feinde sich überhaupt [314] je in so hohen Breiten gezeigt hätten. Die Küste aber zeigte gar nichts von menschlichen Spuren; auch Hatteras sah, als er die Küste aufnahm, niemals Reste von Hütten, wie sie in Gegenden, in welche noch Grönländer kommen, so häufig sind. Die Schiffbrüchigen vom Forward und dem Porpoise schienen die ersten Menschen zu sein, die diesen jungfräulichen Boden betraten.

Wenn aber auch von Menschen nichts zu fürchten war, so blieb das doch zweifelhaft bezüglich der Thiere, und das Fort hatte eben vorzüglich den Zweck, die wenigen Insassen gegen deren Angriffe zu schützen.

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Eine kartologische Unterhaltung.

Während dieser Vorbereitungen zur weiteren Ueberwinterung hatte auch Altamont seine Gesundheit und seine Kräfte wiedergefunden; er konnte sich schon bei der Entladung des Schiffes mit betheiligen. Seine kräftige Constitution hatte doch endlich gesiegt und die frühere Blässe wich nun bald dem wieder gesunden Blute.

Jetzt erwachte in ihm wieder der kraftvolle, lebhafte Mensch der Vereinigten Staaten, der energische und intelligente Mann mit entschlossenem Charakter, der unternehmende, kühne, zu Allem geschickte Amerikaner; er stammte aus Newyork und war fast von Kindheit auf zur See gewesen, wie er seinen neuen Gefährten mittheilte. Sein Schiff war von einer Gesellschaft reich er Kaufleute der Union ausgerüstet worden, an deren Spitze der weltberühmte Grinnel 1 stand.

Gewisse Beziehungen bestanden zwischen ihm und Hatteras; Aehnlichkeiten des Charakters wohl, aber keine Sympathieen, so daß aus beiden Männern[315] schwerlich zwei Freunde werden konnten. Im Gegentheil. Uebrigens würde ein scharfer Beobachter bald genug Unterschiede zwischen Beiden bemerkt haben; so schien zwar Altamont mehr Offenheit auf den Lippen zu tragen, ohne sie im Grunde zu besitzen, seinem Gehenlassen der Dinge paarte sich eine geringere Biederkeit; sein scheinbar so offener Charakter flößte doch weniger Vertrauen ein, als der verschlossenere des Kapitäns. Dieser verlieh seinen Gedanken nur einmal den entsprechenden Ausdruck. Jener sprach viel, ohne immer Etwas zu sagen.



So weit enträthselte sich der Doctor den Charakter des Amerikaners bald, und er ahnte mit Recht für später ein feindschaftliches Verhältniß, wenn nicht offenen Haß, zwischen den Kapitänen des Porpoise und des Forward.

Von Beiden konnte doch zuletzt nur Einer den Befehl führen. Gewiß hatte Hatteras alles Anrecht, des Amerikaners Unterordnung zu erwarten; er hatte die Priorität und die Macht auf seiner Seite. Aber wenn der Eine das Haupt seiner Leute war, so befand sich der Andere an Bord seines Fahrzeugs. Und das spürte man.

War es Politik oder Instinct, jedenfalls schloß sich Altamont gleich anfangs dem Doctor an; er verdankte ihm das Leben, aber mehr noch als die Erkenntlichkeit fesselte ihn ein inneres Gefühl an diesen würdigen Mann. Es war die natürliche Folge des Charakters Clawbonny's; wie die Halme [316] im Sonnenschein, sproßten die Freunde rings um ihn. Man erzählt von Leuten, die um fünf Uhr früh aufgestanden seien, nur um sich Feinde zu erwerben; der Doctor that es schon um Vier, und kam nicht dazu.

Doch suchte er von der Zuneigung Altamont's einen Vortheil zu ziehen, nämlich die wahre Ursache seiner Anwesenheit in den Polarmeeren zu erfahren. Aber bei all' seinem Wortreichthum antwortete der Amerikaner ohne eigentlich zu antworten und kam dabei immer auf sein beliebtes Thema von der Nordwest-Passage zurück.


(S. 318.)

Der Doctor legte der Expedition indeß ein anderes Motiv unter; dasselbe, welches Hatteras befürchtete; ebenso beschloß er, die beiden Gegner niemals auf diesen Gegenstand zu bringen; aber das gelang doch nicht immer. Die einfachsten Unterhaltungen drohten oft wider seinen Willen dahin überzuspringen und jedes Wörtchen war im Stande, als Funke das rivalisirende Interesse zu entzünden.

Wirklich kam das auch bald. Als das Haus fertig war, hatte der Doctor die Absicht, es durch ein festliches Mahl einzuweihen; es war ein guter Gedanke Clawbonny's, der hier die Gewohnheiten und Vergnügungen des europäischen Lebens einzuführen strebte. Bell hatte gerade zur rechten Zeit [317] einige Ptarmigane und einen weißen Hasen, die ersten Boten des nahenden Frühlings, erlegt.

Am 14. April fand die Festlichkeit statt, am Sonntag Quasimodogeniti bei schönem trockenen Wetter; der Frost vermochte aber nicht in das Eishaus einzudringen, die knackernden Oefen überwanden ihn leicht.

Man speiste mit Vergnügen; das frische Fleisch war eine zu erwünschte Abwechselung gegenüber dem Pemmican und dem Pökelfleisch; ein köstlicher Pudding von des Doctors Hand bereitet, erntete sogar ein da capo; man verlangte ihn noch einmal. Der gelehrte Küchenchef, die Schürze um die Hüften und das Messer im Gürtel, hätte der Küche des Lordkanzlers von England Ehre gemacht. Zum Dessert erschienen Liqueure auf der Tafel. Die englischen Enthaltsamkeits-Vereine gelten in Amerika nicht, es war also kein Grund vorhanden, sich ein Glas Gin oder Brandy zu versagen; die anderen Tischgenossen, sonst ganz nüchterne Leute, heute konnten sie ja wohl einmal von der strengen Regel abweichen; kurz, auf des Arztes Aufforderung mußten sie sich zum Schluß der Mahlzeit Alle einmal zutrinken. Bei einem Toaste auf die Union hatte Hatteras einfach geschwiegen.

Da brachte der Doctor eine interessante Frage zur Sprache.

»Meine Freunde, sagte er, es ist nicht genug, daß wir die Meerengen, die Eisdecken und Eisfelder überwunden haben, und bis hierher vorgedrungen sind; wir haben nun noch eine Verpflichtung. Ich wollte Ihnen vorschlagen, dieses gastfreundliche Land, an dem wir Rettung und Ruhe gefunden haben, zu taufen; diese Gewohnheit haben die Seefahrer aus aller Welt, und es wird Keinen geben, der sie unter gleichen Umständen nicht geübt hätte; bei unserer Rückkehr werden wir neben der hydrographischen Beschreibung der Küste auch die Namen der Caps, der Baien, Spitzen und Vorgebirge, die sie auszeichnen, angeben müssen. Das ist unumgänglich nothwendig.

– Das ist wohl gesprochen, rief Johnson; sobald man alle diese Landstrecken mit ihrem bestimmten Namen bezeichnen kann, giebt ihnen das ein ernsteres Ansehen, und man hat fast nicht mehr die Berechtigung, sich als verlassen auf einem unbekannten Continente zu betrachten.

– Ohne das anzuschlagen, fügte Bell noch hinzu, daß es die etwaigen Reise-Instructionen vereinfacht und die Befolgung der Befehle erleichtert; wir können bei einer Expedition, ja schon auf der Jagd, dazu kommen, uns von [318] einander zu trennen, und Nichts begünstigt mehr die Wiederauffindung eines Weges, als daß man ihn zu benennen weiß.

– Gut, sagte der Doctor, da wir nun einmal bei diesem Gegenstande sind, so wollen wir uns zunächst über die zu gebenden Namen verständigen und weder unsere Vaterländer, noch unsere Freunde in dem Verzeichniß übergehen. Mich persönlich berührt, wenn ich die Augen auf eine Karte werfe, Nichts angenehmer, als dem Namen eines Landsmannes an einem Cap, an der Küste einer Insel oder auch mitten im Meere zu begegnen. Hier erweist die Erdkunde der Freundschaft einen liebenswürdigen Dienst.

– Sie haben Recht, lieber Doctor, erwiderte der Amerikaner, und die Art und Weise, wie Sie das aussprechen, verleiht der Sache noch einen höheren Werth.

– Wohlan, entgegnete der Doctor, gehen wir mit Ordnung daran.«

Hatteras hatte sich noch nicht an der Unterhaltung betheiligt; er überlegte; als er aber die Augen der Anderen auf sich gerichtet sah, erhob er sich und sprach:

»Meiner unmaßgeblichen Meinung nach, und doch denke ich, daß ihr Niemand hier widersprechen wird, – er sah dabei Altamont an – scheint es mir angemessen, unserer Wohnung den Namen ihres geschickten Architekten, des Besten unter uns, zu geben, und sie demnach ›Doctors-House‹ zu nennen.

– So ist es, antwortete Bell.

– Schön! rief Johnson, das Haus des Doctors.

– Man kann nichts Besseres finden, setzte Altamont hinzu, ein Hurrah dem Doctor Clawbonny!«

Ein dreifaches Hurrah erschallte einstimmig, und Duk bellte voll Zustimmung dazu.

»So sei also, nahm Hatteras wieder das Wort, für jetzt diese Wohnung genannt, in der Erwartung, daß ein neues Land uns Gelegenheit geben wird, den Namen unseres Freundes daran zu knüpfen.

– Ah, sagte der alte Johnson, wenn das Paradies auf Erden noch keinen Namen hätte, der Name Clawbonny stände ihm am besten!«

Der Doctor, tief gerührt, wollte bescheiden ablehnen; es half ihm Nichts, er mußte es geschehen lassen.

Es ward denn nun ganz gebührend festgestellt, daß dieses herzerquickende Mahl im großen Salon von Doctors-House abgehalten, in der Küche von [319] Doctors-House bereitet war, und daß man sich in dem Schlafzimmer von Doctors-House freudig niederlegen werde.

»Nun wollen wir aber, sagte der Doctor, zu unseren wichtigeren Entdeckungen übergehen.

– Da ist dieses weite Meer, fuhr Hatteras fort, das uns umgiebt, und dessen Wogen noch kein Schiff durchsegelte!

– Noch kein Schiff! rief Altamont dazwischen, es scheint mir jedoch, [320] daß man den Porpoise nicht vergessen dürfe, wenigstens, wenn er nicht über Land hierher gekommen ist, setzte er scherzend hinzu.


Nationale Eifersucht. (S. 321.)

– Man könnte das fast glauben, erwiderte Hatteras, wenigstens in Anbetracht der Felsen, auf denen er jetzt schwimmt.

– Gewiß, Hatteras! sagte Altamont etwas gereizt, aber, Alles zusammengenommen, ist das nicht noch besser als in den Lüften zu verduften, wie der Forward?«

Schon wollte Hatteras lebhaft antworten, als sich der Doctor in's Mittel schlug.

»Meine Freunde, sagte er, es handelt sich jetzt nicht um Schiffe, sondern um ein neues Meer ...

– Es ist kein neues mehr, fiel ihm Altamont in's Wort. Es ist schon auf allen Karten des Poles benannt. Es heißt Nördliches Polarmeer, und ich halte es nicht für angemessen, diesen Namen zu ändern; sollten wir später entdecken, daß es nur ein Meerestheil, etwa ein Golf sei, so wird es sich finden, was zu thun ist.

– Es sei, sagte Hatteras.

– Darin wären wir also einig, erwiderte noch der Doctor, der schon fast bedauerte, eine Discussion hervorgerufen zu haben, welche die nationale Eitelkeit so sehr reizte.

– Dann beschäftigen wir uns also mit dem Lande, dessen Boden uns jetzt trägt, nahm Hatteras das Gespräch wieder auf. Mir ist nicht bekannt, daß es selbst auf den neuesten Karten schon einen Namen trüge!«

Als er so sprach, fixirte er Altamont, der seinen Blicken nicht auswich, sondern sagte:

»Sie könnten sich doch irren, Hatteras.

– Mich irren! Was? Dieses unbekannte Land ...

– Hat schon einen Namen«, setzte der Amerikaner ruhig fort.

Hatteras schwieg, aber seine Lippen zitterten.

»Und wie heißt es? fragte der Doctor etwas erstaunt über die Versicherung des Amerikaners.

– Mein lieber Clawbonny, erwiderte dieser, es ist die Gewohnheit, um nicht zu sagen, das Recht jedes Seefahrers, ein Land, wo er zuerst anlandet, zu benennen. Mir scheint also, daß ich bei früherer Gelegenheit von diesem Rechte Gebrauch machen konnte, ja durfte ...

[321] – Indessen ... sagte Johnson, den die Kaltblütigkeit des Yankee erregte.

– Man wird schwerlich behaupten, fuhr dieser unbeirrt fort, der Porpoise sei nicht an diese Küste gekommen; selbst angenommen, er sei über Land gekommen, so ändert das Nichts an der Sachlage, fügte er mit einem Blick auf Hatteras hinzu.

– Das ist eine Behauptung, die ich nicht gelten lasse, erwiderte Hatteras, der nur mit Mühe an sich hielt. Um etwas zu benennen, muß man es wenigstens entdecken, was Sie doch im Grunde nicht gethan haben. Uebrigens, mein Herr, Sie, der Sie uns Gesetze vorschreiben wollen, wo wären Sie ohne uns? Zwanzig Fuß unter dem Schnee!

– Und Sie, mein Herr, erwiderte lebhaft der Amerikaner, wo wären Sie jetzt ohne mein Schiff? Vor Hunger und Frost elend umgekommen!

– Meine Freunde, sagte der Doctor, der, so gut er konnte, sich in's Mittel legte, etwas Ruhe! Es wird sich Alles machen. Hören Sie mich!

– Der Herr da, fuhr Altamont fort, indem er auf den Kapitän zeigte, mag allen weiteren Ländern, wenn er deren entdeckt, nach Belieben Namen geben, aber dieser Continent gehört mir! Ich könnte nicht einmal zugeben daß er zwei Namen bekäme, wie das Grinnel-Land, das auch Prinz-Albert-Land heißt, weil ein Engländer und ein Amerikaner es fast gleichzeitig entdeckten. Hier liegt die Sache anders. Daß ich zuerst hinkam, ist unbestreitbar! Kein Schiff vor dem meinigen ist nur mit seinem Plattbord an diese Küste gestreift. Keines Menschen Fuß hat vor dem meinigen dieses Land betreten; ich habe ihm also einen Namen gegeben, und den wird es behalten.

– Und der ist? fragte der Doctor.

– Neu-Amerika«, erwiderte Altamont.

Hatteras' Hände ballten sich krampfhaft auf dem Tische. Aber er hielt an sich, wenn auch nur mit großer Selbstüberwindung.

»Können Sie mir nachweisen, fragte Altamont noch einmal, daß ein Engländer je vor einem Amerikaner diesen Boden betreten hat?«

Johnson und Bell schwiegen, obgleich sie, ebenso zornig wie der Kapitän, über das herrische Auftreten ihres Gegners aufgebracht waren. Aber es war eben Nichts auf seine Frage zu erwidern.

Nach einigen Augenblicken peinlichen Schweigens nahm der Doctor wiederum das Wort.

[322] »Freunde, sagte er, das vornehmste menschliche Gesetz ist die Gerechtigkeit; es schließt alle anderen in sich. Seien wir also gerecht und geben uns nicht falschen Gefühlen hin. Die Priorität Altamont's scheint mir hier allerdings unzweifelhaft. Darüber ist nicht zu rechten; wir werden später Revanche nehmen und England soll bei unseren Entdeckungen nicht zu kurz kommen. Lassen wir also diesem Lande den Namen Neu-Amerika. Aber Altamont hat, als er es so nannte, damit nicht der Bezeichnung der einzelnen Baien, Landspitzen und Vorgebirge, die es enthält, vorgegriffen, und ich sehe keinen Grund, warum wir die Bai, in der wir uns befinden, nicht die Victoria-Bai nennen sollten?

– Keinen, entgegnete Altamont, wenn das Cap, welches sich dort in's Meer erstreckt, den Namen Cap Washington erhält.

– Sie hätten auch, rief Hatteras außer sich, einen für englische Ohren minder widerwärtigen Namen wählen können.

– Aber keinen theureren für ein amerikanisches, erwiderte Altamont voll Stolz.

– Halt! Halt! fiel der Doctor ein, der alle Mühe hatte, in dieser kleinen Welt Frieden zu erhalten, keine solchen Auseinandersetzungen! Ein Amerikaner möge stolz auf seine großen Männer sein. Ehren wir das Genie, wo wir es auch antreffen; und da Altamont seine Wahl getroffen hat, so reden wir nun für uns und die Unseren. Was unseren Kapitän ...

– Doctor, sagte da der Letztere, das ist ein amerikanisches Land, und ich wünsche nicht, daß mein Name da verewigt wird.

– Ist das unwiderruflich? fragte der Doctor.

– Unbedingt!« erwiderte Hatteras.

Der Doctor bestand nicht weiter auf diesem Punkte.

»Nun denn, so ist an uns die Reihe, sagte er, sich an den alten Seemann und den Zimmermann wendend; wir wollen hier einige Spuren unserer Fahrt zurücklassen. Ich schlage vor, die Insel, welche man dort in der Entfernung von etwa drei Meilen sieht, die Johnson-Insel zu nennen, zu Ehren unseres Rüstmeisters.

– O! sagte dieser etwas verlegen, o, Herr Clawbonny!

– Den Berg, welchen wir da im Westen sehen, wollen wir Bell-Mount nennen, wenn unser Zimmermann zustimmt.

– Zu viel Ehre für mich, antwortete Bell.

[323] – Es ist nur gerecht, erwiderte der Doctor.

– Es ist ganz gut so, bestätigte Altamont.


Clawbonny erklettert den Berggipfel hinter der Wohnung. (S. 325.)

– Nun hätten wir also nur noch unser Fort zu taufen, sagte der Doctor; darüber wird es keinen Streit geben; weder ihrer huldreichen Majestät, der Königin Victoria, noch auch Washington verdanken wir es, jetzt hier gesichert zu sein, wohl aber der göttlichen Vorsehung, die uns Alle rettete, indem sie uns zusammenführte. So soll es also Fort Providence heißen.

– Das ist gut ausgedacht! meinte Altamont.

[324] – Fort Providence, wiederholte Johnson, das klingt gut. Wenn wir also nun von unseren Ausflügen nach Norden zurückkehren, werden wir über Cap Washington gehen, um die Victoria-Bai zu erreichen, und von da nach Fort Providence, um Ruhe und Stärkung in Doctors-House zu finden.

– Einverstanden, sagte der Doctor. Später und je nach Maßgabe und der Wichtigkeit unserer Entdeckungen, werden wir andere Namen zu geben haben, die keine Veranlassung zu Streitigkeiten werden sollen, wie ich hoffe; denn, meine Freunde, hier müssen wir doch zu einander halten und uns lieben. Wir repräsentiren die ganze Menschheit auf diesem Küstenende. Geben wir uns nicht den abscheulichen Leidenschaften hin, welche die Gesellschaft zerreißen, vereinigen wir uns, stark und untrennbar im Ungemach zu sein. Wer weiß, welche Gefahren uns der Himmel noch aufgespart hat, welche Leiden unser noch warten, bevor wir die Heimat wiedersehen? Stehen wir Fünf also für Einen und lassen wir alle Eifersüchteleien bei Seite, die vielleicht nirgends am Platze sind, hier aber wohl am wenigsten. Sie verstehen mich, Altamont? Und Sie auch, Hatteras?«

Die beiden Männer antworteten nicht, aber der Doctor that so, als ob es geschehen wäre.

Später sprach man über andere Sachen. Es galt, die Jagd zu organisiren, theils um die Provision zu ersetzen, vorzüglich aber, in diese eine Abwechslung zu bringen; mit dem Frühjahr mußten weiße Hasen, Schneehühner, selbst Füchse und Bären wiederkommen; man beschloß also, keinen geeigneten Tag vorüber zu lassen, ohne eine Recognoscirung auf dem Lande von Neu-Amerika vorzunehmen.

Fußnoten

1 Ein reicher Rheder der Vereinigten Staaten, der auch die Kosten für die Expedition des Doctor Kane trug.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Ein Ausflug nach dem Norden der Victoria-Bai.

Tags darauf beim ersten Sonnenstrahl erklomm Clawbonny mit Mühe den steilen Felsen, an welchen sich Doctors-House lehnte. Er endigte oben mit einer stumpfen Spitze; der Doctor gelangte leicht auf diesen Gipfel, von [325] dem aus sein Blick eine weite Strecke zerrissenen Terrains umfaßte, welches einem vulkanischen Ausbruche seinen Zustand zu danken schien. Eine unendliche, weiße Decke lag über Land und Meer gebreitet, so daß es nicht möglich war, Eins von dem Anderen zu unterscheiden.

Da der Doctor erkannte, daß dieser Punkt alle umgebenden Ebenen überragte, faßte er einen Gedanken, über den der Leser nicht wenig staunen wird.

Er durchdachte ihn, veränderte und verfolgte ihn und war seiner ganz Meister, als er in das Haus zurückkam, um ihn seinen Gefährten mitzutheilen.

»Da ist mir in den Sinn gekommen, sagte er, auf dem Gipfel des Kegels, der sich da über uns erhebt, einen Leuchtthurm zu errichten.

– Einen Leuchtthurm? fragten Alle.

– Ja, einen Leuchtthurm! Das wird den doppelten Vortheil gewähren, uns, wenn wir von weiteren Zügen heimkehren, bei Nacht als Führer zu dienen, und diese Hochebene während der Wintermonate zu beleuchten.

– Gewiß, meinte Altamont, wäre eine solche Einrichtung ganz nützlich; aber wie wollen Sie diese treffen?

– Mittelst einer der Schiffslaternen des Porpoise.

– Gut, aber womit soll das Feuer im Leuchtthurm unterhalten werden? Etwa mit Robbenthran?

– Nein; das Licht von diesem Oele ist zu schwach; das würde kaum den Nebel durchdringen.

– Wollen Sie etwa aus unserer Steinkohle Leuchtgas bereiten?

– Das Licht wäre ebenfalls unzureichend, und es wäre verkehrt, einen Theil unseres Brennmaterials zu verbrauchen.

– Nun, sagte Altamont, dann sehe ich aber nicht ...

– Was mich betrifft, meinte Johnson, so glaube ich seit der Kugel aus Quecksilber, der Brennlinse aus Eis, und seit der Errichtung des Forts Providence, daß Herr Clawbonny eben Alles kann.

– Nun, versetzte Altamont, werden Sie uns mittheilen, welche Art Leuchtthum Sie zu errichten gedenken?

– Sehr einfach, entgegnete der Doctor, einen mit elektrischem Lichte.

– Einen elektrischen Leuchtthurm!

– Ohne Zweifel, hatten Sie nicht an Bord des Porpoise eine vollständige Bunsen'sche Batterie?

[326] – Ja, antwortete der Amerikaner.

– Gewiß haben Sie auch, da Sie diese mitnahmen, die Absicht gehabt, sie zu Versuchen zu benutzen; denn es fehlt an ihr Nichts, weder die völlig isolirten Leitungsdrähte, noch die nöthigen Säuren, um die Elemente in Thätigkeit zu setzen. Es wird also leicht sein, uns elektrisches Licht darzustellen. Man wird besser dabei sehen, und trotzdem kostet es uns Nichts.

– Das ist herrlich, bemerkte der Rüstmeister, und ohne irgend Zeit zu verlieren ...

– Nun ja, das Material ist vorhanden, erwiderte der Doctor; binnen einer Stunde können wir eine zehnfüßige Säule errichtet haben, die vollkommen ausreichend sein wird.«



Der Doctor ging hinaus; die Anderen folgten ihm nach dem Gipfel des Felsenkegels; die Säule wuchs rasch empor und war bald mit einer der Schiffslaternen des Porpoise gekrönt.


Elektrische Sonne über Fort Providence. (S. 328.)

Dann brachte der Doctor die Verbindungs-Drähte daran an, welche mit dem anderen Ende an der Batterie hingen; diese war durch ihren Standpunkt nahe dem Ofen im Salon des Eishauses vor dem Einfrieren geschützt; von dort aus liefen die Drähte zur Laterne des Leuchtthurmes.

Alles das war schnell hergestellt, und man erwartete nur den Sonnenuntergang, um den Effect zu sehen. Bei Nacht wurden die beiden Kohlenspitzen, welche in der Laterne in angemessener Entfernung gehalten waren, einander genähert und sogleich blitzte ein Strahlenbündel dazwischen auf, [327] gegen das auch ein Sturm ohnmächtig war. Es war ein prächtiges Schauspiel, diese blendenden Strahlen, deren Weiße mit der der Umgebungen wetteiferte, und einen grellen Schatten von allen vorspringenden Punkten warf. Johnson konnte nicht umhin, in die Hände zu klatschen.

»Da, seht den Herrn Clawbonny, sagte er, der Sonnenschein machen kann und wie schönen!

– Ein wenig muß man wohl Alles können«, erwiderte bescheiden der [328] Die Kälte setzte der allgemeinen Bewunderung ein Ziel, und Jeder eilte sich in seine Decken zu hüllen.

Die Lebensweise wurde nun regelmäßig eingerichtet. Während der folgenden Tage, vom 15. bis 20. April, war die Witterung sehr unbestimmt; die Temperatur änderte sich manchmal plötzlich um zwanzig Grade, und die Atmosphäre überraschte mit Veränderungen, war einmal voller Schnee und Wirbelwinde, dann wieder trocken und so kalt, daß man ohne Vorsicht nicht einen Fuß in's Freie setzen konnte.

Als am Sonnabend darauf sich der Wind legte, ward ein Ausflug möglich; man beschloß also, diesen Tag auf die Jagd zu gehen, um den Proviant zu erneuern.



Am Morgen schon machten sich Altamont, der Doctor und Bell, mit Doppelflinten, hinreichender Munition, und für den Fall, daß sie genöthigt wären, sich ein Obdach zu schaffen, mit Axt und Schneemesser ausgerüstet, bei bedecktem Himmel auf den Weg.

Während ihrer Abwesenheit sollte Hatteras die Küste erforschen und einige Aufnahmen vornehmen. Der Doctor sorgte für Anzündung des Leuchtthurmes, dessen Strahlen mit dem Sonnenschein wetteiferten. In der That vermag nur das elektrische Licht, welches hier etwa dreitausend Kerzen oder dreihundert Gasflammen gleich war, die Vergleichung mit dem Sonnenglanze auszuhalten.

Die Kälte war lebhaft, aber trocken und still. Die Jäger schlugen die [329] Richtung nach Cap Washington ein; der harte Schnee erleichterte ihren Weg. In ein und einer halben Stunde legten sie die drei Meilen von dem Fort Providence aus zurück. Duk sprang um sie herum.

Nach Osten hin zog sich die Küste zurück und die höheren Gipfel an der Victoria-Bai schienen nach Norden zu abzufallen. Das gab zu der Vermuthung Anlaß, daß Neu-Amerika am Ende nur eine Insel sei; aber es handelte sich jetzt noch nicht darum, seine Form zu bestimmen.

Die Jäger hielten sich am Ufer des Meeres und schritten rüstig vorwärts. Keine Spur von Bewohntsein, kein Rest einer Hütte war sichtbar; sie wanderten auf bis jetzt noch von keinem Menschen betretenem Boden.

So legten sie während der ersten drei Stunden gegen fünfzehn Meilen zurück, und machten nicht einmal zum Essen Halt; die Jagd aber schien erfolglos bleiben zu sollen. Wirklich sahen sie kaum die Spuren eines Hasen, Fuchses oder Wolfs. Doch hüpften da und dort einige Schneehühner, als Vorboten des Frühlings und des arktischen Thierlebens, umher.

Die drei Jäger hatten weit landeinwärts gehen müssen, um tiefe Schluchten und spitze Felsen am Fuße des Bell-Mount zu umgehen; später gewannen sie indessen das Ufer wieder. Das Eis war noch nicht davon losgebrochen, und das Meer fortwährend fest gefroren; jedoch verkündigten einige Robbenfährten, daß diese Amphibien schon wieder auf dem Eisfelde erschienen. Mindestens war es, nach den breiten Spuren und frischen Eisbrüchen zu schließen, unzweifelhaft, daß mehrere Thiere der Art an's Land gegangen waren.

Die Robben sonnen sich nämlich sehr gern und strecken sich behaglich an den Ufern aus, um die wohlthuende Wärme zu genießen.

Der Doctor machte seine Gefährten auf diese Einzelheiten aufmerksam.

»Wir wollen uns diese Stelle genau merken, sprach er; möglicher Weise treffen wir im Sommer die Robben hier in ganzen Schaaren an, in solchen von Menschen wenig besuchten Gegenden kann man sich ihnen leicht nähern und sie fangen. Wohl muß man sich hüten, sie zu erschrecken, denn dann verschwinden sie wie nach Verabredung auf Nimmerwiederkehr. So geschieht es nicht selten, daß ungeschickte Jäger, statt sie einzeln zu tödten, beim lärmenden Massenangriff auf dieselben ihre Beute einbüßen oder schmälern.

– Jagt man sie nur um ihres Felles und Thranes willen? fragte Bell.

– Die Europäer, ja; aber die Eskimos verzehren sie gar; sie leben [330] davon, doch haben die Fleischstücke, welche sie mit Blut und Fett zurichten, wahrlich nichts Appetitliches. Indessen kann man doch einigen Gebrauch davon machen, und ich verpflichte mich, so schöne Cotelettes herzustellen, daß sie bis auf ihre schwärzliche Farbe gewiß nicht zu verachten sein dürften.

– Nun, Sie werden das ausführen können, antwortete Bell; ich habe solches Vertrauen, daß ich mich verpflichte, davon soviel zu essen, als Ihnen beliebt. Sie verstehen mich, Herr Clawbonny?

– Mein braver Bell, Sie wollen sagen, soviel es Ihnen selbst Vergnügen macht. Das können Sie getrost; den Verbrauch eines Grönländers werden Sie doch nicht erreichen, denn er ißt an einem Tage wohl fünfzehn Pfund davon.

– Fünfzehn Pfund! rief Bell, das nenne ich einen Magen!

– Ja, das sind Polarmagen, erwiderte der Doctor, die sich nach Belieben erstaunlich ausdehnen, aber, wohl zu merken, auch wieder zusammenschrumpfen, die Mangel und Ueberfluß gleichmäßig gut vertragen. Zu Anfang seiner Mahlzeit ist der Eskimo mager, wenn er aufsteht, aber dick und kaum wiederzuerkennen! Es steht fest, daß er manchmal einen ganzen Tag lang Mahlzeit hält.

– Offenbar, sagte Altamont, ist diese Gefräßigkeit den Bewohnern kalter Länder eigenthümlich?

– Ich glaube es, entgegnete der Doctor; in den arktischen Gegenden muß man viel essen, nicht nur um die Körperkräfte zu erhalten, sondern um überhaupt seine Existenz zu sichern. So liefert auch die Hudsons-Bai-Compagnie jedem Mann acht Pfund Fleisch oder zwölf Pfund Fisch oder auch zwei Pfund Pemmican täglich.

– Das ist aber eine kräftigende Lebensweise, bemerkte der Zimmermann.

– Es ist nicht so schlimm, als Sie denken, mein Freund, und ein so gefütterter Indianer leistet an Arbeit nicht mehr als ein Engländer, der sich von seinem einen Pfunde Rindfleisch und einer Pinte Bier ernährt.

– Also ist Alles gut eingerichtet, Herr Clawbonny.

– Gewiß, und doch kann uns eine echte Grönländer Mahlzeit manchmal in Erstaunen setzen. So war auch Sir Roß, als er auf Boothia überwinterte, verwundert über die Gefräßigkeit seiner Führer; er berichtet, daß zwei Mann, verstehen Sie wohl, ich sage zwei, an einem Morgen ein ganzes Viertel eines Bisonochsen vertilgten; sie zerlegten das Fleisch in lange Streifen, die [331] sie nur so in die Speiseröhre gleiten ließen, dann schnitten sie unter der Nase davon ab, was ihr Mund nicht fassen konnte, und gaben es Einer dem Anderen; oder die Vielfraße ließen auch lange Bänder von Fleisch bis auf die Erde herabhängen und verschlangen sie nach und nach, so etwa wie eine Boa einen Ochsen, und lagen dabei ebenso lang auf der Erde wie jene.

– Pfui, sagte Bell, das ist ja widerliches Vieh!

– Jeder speist nach seiner Weise, erwiderte philosophisch der Amerikaner.

– Ja, glücklicher Weise, sagte der Doctor.


(S. 334.)

– Nun, bemerkte Altamont, wenn der Ernährungstrieb unter diesen Breiten so mächtig ist, wundere ich mich auch nicht mehr, daß man in den Reiseberichten der Eismeerfahrer auch immer der Mahlzeiten Erwähnung gethan findet.

– Sie haben Recht, meinte der Doctor, dieselbe Bemerkung habe ich auch gemacht; und das kommt wohl nicht nur daher, daß man hier eine sehr reichliche Nahrung braucht, sondern auch daher, daß man sich dieselbe oft nur sehr schwer beschaffen kann. Daher rührt es, daß man immer daran denkt und folglich auch häufig davon spricht.

– Wenn mich mein Gedächtniß aber nicht sehr trügt, erwähnte Altamont, so brauchen die Bauern in Norwegen, auch in den kältesten Districten, keine so stoffhaltige Nahrung; sie essen etwas Milchspeisen, Eier, Brod aus Birkenrinde, [332] manchmal wohl Lachs, aber eigentlich nie Fleisch, und doch wachsen auch dabei ganz gesunde, kräftige Bursche auf.

– Das ist Sache der Organisation, erwiderte der Doctor, über die ich mir kein Urtheil erlauben möchte. Dennoch halte ich dafür, daß die zweite oder dritte Generation etwa nach Grönland ausgewanderter Norweger zuletzt auch auf grönländische Art und Weise essen würde. Ja, wenn wir noch lange in diesem gesegneten Lande bleiben, werden wir selbst halb zu Grönländern und vielleicht zu Erzvielfraßen.

[333] – Herr Clawbonny macht mir ordentlich Hunger, wenn er so spricht, sagte Bell.


Der Nutzen des Leuchtthurms. (S. 335.)

– Mir nicht, entgegnete Altamont, das benimmt mir den Appetit und flößt mir vor dem Robbenfleische nur Ekel ein. Ah, da! Ich glaube, wir werden ein Pröbchen machen können. Ich täusche mich jetzt sehr, oder da unten streckt sich eine belebte Masse auf dem Eise aus!

– Das ist ein Wallroß! rief erfreut der Doctor; nun still vorwärts!«

Wirklich ergötzte sich ein starkes Exemplar eines solchen Thieres in einer Entfernung von etwa zweihundert Yards; es reckte sich und wälzte sich wohlgemuth in den bleichen Strahlen der Sonne.

Die drei Jäger vertheilten sich so, daß sie dem Thiere den Rückzug abschnitten; so kamen sie, hinter Eishügeln verborgen, bis auf kurze Distanz heran und gaben Feuer.

Das Wallroß überschlug sich, noch voller Kraft, es zertrümmerte die Eisschollen und versuchte zu fliehen, aber Altamont griff es mit dem Beil an und hieb ihm die Rückenflossen durch. Noch setzte es sich zu verzweifelter Gegenwehr, doch von etlichen Kugeln getroffen lag es bald leblos auf dem Eisfelde, das von seinem Blute gefärbt war.

Es war ein tüchtiges Thier und maß vom Rüssel bis zum Schwanzende an fünfzehn Fuß, so daß es wohl mehrere Faß Oel geliefert hätte.

Der Doctor schnitt die leckersten Stücke Fleisch aus und ließ den Cadaver dann einigen Raben zur Beute, die zu dieser Jahreszeit schon in den Lüften kreisten.

Die Nacht war jetzt nicht mehr fern; man dachte daran, nach Fort Providence zurückzukehren; der Himmel war ganz klar geworden, und bevor der Mond aufging, erglänzte er in hellem Sternenlichte.

»Nun denn, brechen wir auf, sagte der Doctor, es wird schon spät; unsere Jagd ist zwar nicht sehr glücklich gewesen, aber wenn der Jäger nur Etwas zum Abendbrod mit nach Hause bringt, soll er nicht klagen. Wir wollen jedoch den kürzesten Weg wählen und uns vor dem Fehlgehen hüten; die Sterne werden uns den Weg zeigen.«

In den Gegenden aber, wo der Polarstern fast gerade über des Wanderers Kopfe glänzt, eignet er sich nur sehr schlecht zum Führer; in der That, wenn der Nordpunkt gerade am Scheitel der Himmelswölbung ist, bestimmen sich auch die anderen Hauptpunkte nur sehr schwierig; glücklicher Weise [334] unterstützten der Mond und die auffallenderen Sternbilder den Doctor in der Bestimmung der Richtung.

Um den Weg abzukürzen beschloß er, die Biegungen des Ufers zu vermeiden und quer über das Land zu gehen; das war zwar mehr geradaus, aber auch unsicherer; und so hatte sich die kleine Gesellschaft denn nach einigen Stunden wirklich vollkommen verirrt.

Man berathschlagte, ob es nicht vorzuziehen sei, die Nacht in einer Eishütte zu verbringen, auszuruhen und am anderen Morgen nach der Küste zurückzukehren, um dann dieser zu folgen; der Doctor bestand aber, da er Hatteras und Johnson unnöthig zu beunruhigen befürchtete, darauf, den Weg fortzusetzen.

»Duk leitet uns, sagte er, und Duk kann sich nicht irren; sein Instinct ist jetzt mehr werth, als Boussole und Sterne. Folgen wir ihm.«

Duk lief voraus, und man vertraute seinem Spürsinn nicht mit Unrecht; bald wurde ein Lichtschein am Horizonte sichtbar; mit einem Sterne konnte konnte man ihn nicht verwechseln, da dessen Licht bei so niedrigem Stande des Nebels wegen nicht sichtbar gewesen wäre.

»Da ist unser Leuchtthurm! rief der Doctor.

– Glauben Sie, Herr Clawbonny? fragte der Zimmermann.

– Ja, gewiß; gehen wir nur darauf zu!«

Je näher die Jäger kamen, um so heller wurde das Licht, und bald gingen sie wie in einem Streifen Lichtstaubes hin. Der gewaltige Strahl warf über die Maßen lange Schatten, die sich scharf abhoben, über die Schneedecke.

Sie verdoppelten ihre Schritte, und nach weiteren anderthalb Stunden erklommen sie den Wall des Forts Providence.

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Kälte und Wärme.

Mit einer gewissen Unruhe warteten schon Hatteras und Johnson auf die Wanderer. Diese waren froh, so ein warmes und bequemes Obdach zu [335] finden. Die Temperatur war seit Anbruch des Abends merklich gesunken; das Thermometer zeigte im Freien einunddreißig Grad unter Null (– 31° hunderttheilig).

Die Ankömmlinge, erschöpft von der Anstrengung und halb erfroren, hätten auch nicht mehr weiter gekonnt. Glücklicher Weise waren die Oefen gut im Gange; der Kochofen wartete nur auf den Ertrag der Jagd; der Doctor ward wieder zum Koch, schmorte einige Wallroßcotelette, und um neun Uhr saßen alle fünf Gefährten bei einem stärkenden Mahle.

»Meiner Treu, sagte Bell, und wenn ich für einen Eskimo gehalten würde, ich gestehe, daß die Mahlzeit mir das wichtigste Ding bei einer Ueberwinterung zu sein scheint. Wenn man einmal eine vor sich hat, soll man ordentlich einhauen.«

Alle Gefährten hatten den Mund voll und konnten nicht gleich antworten, aber der Doctor gab durch Zeichen seine Zustimmung zu erkennen.

Die Wallroßcotelette wurden für delicat erklärt, und wenn das nicht mit Worten geschah, so aß man sie doch bis zum letzten Bissen auf, was wohl alle Erklärungen aufwiegt.



Wie gewöhnlich bereitete der Doctor nach dem Essen Kaffee, er überließ es Niemand, dieses vortreffliche Getränk herzustellen; in einer Spiritus-Kaffeemaschine kochte er ihn auf dem Tisch und reichte ihn siedend. Er für seine Person verlangte, daß ihm das Getränk noch auf der Zunge brannte, sonst erachtete er es nicht werth, durch seine Kehle zu gleiten. Diesen Abend aber trank er den Kaffee so heiß, daß seine Gefährten es ihm nicht nachthun konnten.

»Sie verbrennen sich noch, Doctor, sagte Altamont.

[336] – Das kommt nicht vor, erwiderte er.

– Dann ist Ihr Gaumen mit Kupfer ausgeschlagen? warf Johnson ein.

– Nein, Freunde; ich lade Alle ein, meinem Beispiele zu folgen. Es giebt eben Leute, und zu denen zähle auch ich, die den Kaffee in einer Wärme von hunderteinunddreißig Grad (+ 55° hunderttheilig) genießen.



– Hunderteinunddreißig Grad! rief Altamont aus; solche Hitze vermag ja kaum die Hand auszuhalten!

– Ganz recht, Altamont, da die Hand im Wasser gewöhnlich nicht mehr als hundertzweiundzwanzig Grad (+ 50° hunderttheilig) verträgt; aber Gaumen und Zunge sind in diesem Sinne auch weniger empfindlich als die Hand, und dauern noch da aus, wo es diese nicht könnte.

– Sie setzen mich in Erstaunen, sagte Altamont.

– Gut, ich werde Sie überzeugen.«



Da tauchte der Doctor das Thermometer des Salons in seinen heißen Kaffee, und wartete, bis das Instrument nur noch hunderteinunddreißig Grad zeigte. Mit merkbarem Wohlbehagen nahm er dann das erquickende Getränk zu sich. Bell wollte es ihm tapfer gleichthun, verbrannte sich aber, daß er laut aufschrie.

[337] »Da fehlt's an der Gewohnheit, sagte der Doctor.

– Clawbonny, fragte Altamont, könnten Sie uns wohl die höchsten Wärmegrade angeben, die der menschliche Körper zu ertragen vermag?

– Sehr wohl, erwiderte der Doctor, man hat darüber Versuche angestellt und hat auch ganz merkwürdige Erfahrungen gemacht. An zwei bis drei erinnere ich mich eben, und sie mögen Sie überzeugen, daß man sich an Alles gewöhnen kann, selbst daran, nicht zu braten, wo ein Beefsteak braten würde. So erzählt man, daß die Dienstmädchen beim Bannofen der Stadt Rochefoucauld in Frankreich zehn Minuten lang in diesem Backofen aushalten konnten, wenn darin eine Hitze von dreihundert Graden (+ 132° hunderttheilig) war, d.h. neunundachtzig Grad mehr als die des siedenden Wassers, während um sie her Aepfel und Fleisch lustig brieten.

– Was für Mädchen! rief Altamont aus.

– Erlauben Sie, da hören Sie ein anderes unzweifelhaftes Beispiel. Acht unserer Landsleute, Fordyce, Banks, Solander, Blagdin, Home, Nooth, Lord Seaforth und der Kapitän Philips ertrugen im Jahre 1774 eine Temperatur von zweihundertfünfundneunzig Graden (+128° hunderttheilig), während Eier und ein Rostbeef um sie herum gar wurden.

– Das waren aber auch Engländer, sagte Bell mit einem Anflug von Stolz.

– Ja wohl, Bell, bestätigte der Doctor.

– O! Amerikaner hätten das noch besser gekonnt, bemerkte Altamont.

– Die wären gebraten worden, sagte der Doctor mit Lachen.

– Und warum das? erwiderte der Amerikaner.

– Jedenfalls haben's wenigstens Keine versucht; ich kann also nur von meinen Landsleuten sprechen. Ein letztes Beispiel will ich noch anführen, das ganz unglaublich wäre, wenn es nicht die Zeugen dafür außer Zweifel setzten. Der Herzog von Ragusa und ein Dr. Jung, ein Franzose und ein Oesterreicher, sahen einen Türken gar in ein Bad gehen, welches hundertsiebzig Grad (+78° hunderttheilig) warm war.

[338] – Mir will aber scheinen, sagte Johnson, daß das nicht der Leistung der Bannofenmädchen und der unserer Landsleute gleichkommt!

– Entschuldigen Sie, erwiderte der Doctor, es ist ein großer Unterschied, ob man in heiße Luft oder in heißes Wasser geht. Die warme Luft ruft eine Verdunstung hervor, welche den Körper beschützt, während man in heißem Wasser nicht transspirirt und sich deshalb verbrennt. So ist die äußerste Temperaturgrenze, die man bei Bädern für zulässig erachtet, im Allgemeinen hundertsieben Grad (+ 42° hunderttheilig). Jener Türke mußte also ein außergewöhnlicher Mensch sein, um eine solche Hitze zu ertragen.

– Herr Clawbonny, fragte Johnson, welche Temperatur haben im Allgemeinen die lebenden Geschöpfe?

– Das ist je nach ihrer Natur verschieden, entgegnete der Doctor; so zeigen die Vögel unter allen Thieren die größte Eigenwärme und unter ihnen stehen Ente und Henne vornan; die Wärme ihres Körpers übersteigt hundertzehn Grad (+ 43° hunderttheilig), während die Nachteule z.B. nur hundertvier Grad (+ 40° hunderttheilig) hat; in zweiter Linie kommen dann die Säugethiere und die Menschen; die Temperatur der Engländer ist gewöhnlich hundertein Grad (+ 37° hunderttheilig).

– Ich bin ganz sicher, daß Herr Altamont für die Amerikaner mehr beanspruchen wird, sagte Johnson lachend.

– Nun gewiß, erwiderte dieser, es sind sehr Heißblütige darunter; da ich ihnen aber nie ein Thermometer in den Brustkasten oder unter die Zunge geschoben habe, kann ich unmöglich etwas Gewisses darüber sagen.

– Gut, setzte der Doctor hinzu, der Unterschied zwischen den verschiedenen Menschenracen ist auch nicht merkbar, wenn sie sich unter gleichen Verhältnissen befinden und dieselbe Nahrung genießen. Ich möchte fast behaupten, daß die menschliche Eigenwärme unter dem Aequator und dem Pole dieselbe ist.

– Also, sagte Altamont, ist hier unsere Körperwärme dieselbe wie in England?

– Ganz sicher, antwortete der Doctor; was die anderen Säugethiere betrifft, so übersteigt ihre Temperatur meist ein wenig die des Menschen. Das Pferd steht ihm sehr nahe, ebenso der Hase, der Elephant, das Meerschwein und der Tiger; aber Katze, Eichhörnchen, Ratte, Panther, Schaf, Ochse, Hund, Affe, Bock und Ziege erreichen hundertdrei Grad, und endlich,[339] das Bevorzugteste unter derart Thieren, das Schwein, hat gar über hundertvier Grad (+ 40° hunderttheilig)..

– Das ist erniedrigend für uns, sagte Altamont.

– Es folgen hierauf die Amphibien und Fische, deren Temperatur je nach der des Wassers sehr verschieden ist. Die Schlange hat nur sechsundachtzig Grad (+ 30° hunderttheilig), der Frosch fünfundsechzig (+ 25° hunderttheilig), der Hai im Mittel gar noch ein und einen halben Grad weniger; die Insecten endlich scheinen gar die Temperatur der Luft und des Wassers zu haben.

– Das ist Alles ganz schön, sagte Hatteras, der jetzt endlich das Wort ergriff, und ich danke dem Doctor für die uns gewordene Mittheilung seiner Kenntnisse. Aber wir plaudern hier, als wenn uns große Hitze zu ertragen bevorstände. Wäre es nicht mehr am Platze, von der Kälte zu reden, zu wissen, was wir etwa zu erwarten haben, und welches die niedrigsten bis jetzt beobachteten Temperaturen sind?

– Das ist richtig, meinte Johnson.

– Nichts leichter als das, sagte der Doctor, und ich stehe gern mit Aufklärung zu Diensten.

– Das glaube ich, sagte Johnson, Sie wissen ja Alles.

– Ich weiß weiter Nichts, meine Freunde, als was ich von Anderen gelernt habe, und nach meinen Mittheilungen werden Alle ebenso unterrichtet sein, wie ich. Ueber die Kälte und die in Europa beobachteten niedrigsten Temperaturen kann ich nur etwa Folgendes sagen: Man zählt viele sehr harte Winter, und es scheint, daß die strengsten unter diesen nach einer Periode von etwa einundvierzig Jahren wiederkehren, ein Zeitraum, der mit dem reichlichsten Vorkommen von Sonnenflecken zusammenfällt. Ich erinnere hier an den Winter von 1364, wo die Rhône bis Arles hin gefror; an den von 1408, wo die Donau in ihrer ganzen Länge zufror und die Wölfe trockenen Fußes nach Jütland kamen; an den von 1509, während dessen das Adriatische Meer bei Venedig, Cette und Marseille fest wurde und die Ostsee noch am 10. April nicht zu befahren war; an den von 1608, während dessen in England alles Vieh umkam; an den von 1789, wo die Themse bis Gravesend, sechs Stunden unterhalb London, gefroren war; an den von 1813, an welchen sich die Franzosen mit Schrecken erinnern, und endlich an[340] den von 1829, den strengsten und andauerndsten im neunzehnten Jahrhundert. Dies in Hinsicht Europas.

– Aber welchen Grad kann die Kälte hier, oberhalb des nördlichen Wendekreises, annehmen? fragte Altamont.

– Nun, meinte der Doctor, ich glaube, daß wir die härteste Kälte, die je beobachtet wurde, selbst erlebt haben; denn das Weingeist-Thermometer zeigte an einem Tage zweiundsiebzig Grad unter Null (– 58° hunderttheilig), und, wenn ich mich recht entsinne, erreichen die niedrigsten von Polarreisenden bis jetzt aufgemerkten Temperaturen nur einundsechzig Grad auf der Insel Melville, fünfundsechzig Grad am Port Felix und siebzig Grad (– 56°,7 hunderttheilig) am Fort Reliance.

– Ja, wir sind hier durch einen sehr rauhen Winter zurückgehalten worden, sagte da Hatteras, und sehr zu unserm Unglück.

– Sie sind aufgehalten worden, fragte rasch Altamont, den Kapitän scharf ansehend.

– Auf unserer Fahrt nach Westen, beeilte sich der Doctor zu sagen.

– Also schwankt, sagte Altamont, den Faden der Unterhaltung wieder aufnehmend, der höchste und niedrigste Stand der dem Menschen erträglichen Temperaturgrade etwa zwischen zweihundert Graden?

– Ja, antwortete der Doctor, ein im Freien und ge schützt vor jeder Rückstrahlung angebrachtes Thermometer steigt nie und nirgends über hundertfünfunddreißig Grad über Null (+57° hunderttheilig), so wie es andererseits nicht unter zweiundsiebenzig Grad (– 58° hunderttheilig) herabsinkt. Sie sehen also, meine Freunde, daß wir uns ganz nach Bequemlichkeit einrichten können.

– Wenn aber die Sonne, sagte Johnson, plötzlich verlöschte, würde die Erde nicht in eine weit beträchtlichere Kälte versinken?

– Die Sonne wird zwar nicht verlöschen, erwiderte der Doctor, aber auch wenn es geschähe, würde die Temperatur schwerlich unter den vorhin angedeuteten Grad herabgehen.

– Das ist merkwürdig.

– O, ich weiß, daß man früher für die außerhalb der Atmosphäre gelegenen Räume Tausende von Graden annahm, aber nach den Forschungen eines gelehrten Franzosen, Fourrier, muß man das jetzt abweisen; er hat es zwar wahrscheinlich gemacht, daß, wenn sich die Erde in einer völlig wärmelosen [341] Umgebung befände, die Stärke des Frostes, den wir jetzt am Pole beobachteten, zwar noch größer, auch zwischen Tag und Nacht ein beträchtlicherer Unterschied der Temperatur stattfinden würde; dennoch, meine Freunde, ist es auch Millionen Meilen entfernt nicht so sehr kälter als hier.

– Sagen Sie mir, Doctor, fragte Altamont, ist die Temperatur Amerikas nicht geringer, als die der anderen Länder der Erde?

– Ohne Zweifel, Sie dürfen aber darauf nicht eitel werden, sagte der Doctor lachend.

– Und wie erklärt man sich diese Erscheinung?


(S. 316.)

– Man hat eine Erklärung dafür gesucht, aber keine genügende gefunden; so stellte Halley die Vermuthung auf, ein Komet, der einmal schief auf die Erde getroffen sei, habe ihre Rotationsaxe verschoben, d.h. also ihre Pole. Nach ihm soll der Nordpol, welcher früher bei der Hudsonsbai war, weiter nach Osten gerückt sein, und die Gegenden des alten Poles wären dann so weit abgekühlt, daß sie die Sonne noch nicht wieder habe zu erwärmen vermögen.

– Und Sie stimmen dieser Theorie nicht bei?

– Keinen Augenblick; denn was für die Ostküste Amerikas wahr ist, gilt nicht für die Westküste, deren Temperatur eine höhere ist. Nein! Es ist nur zu bestätigen, daß es Isothermenlinien giebt, welche von den Parallelkreisen der Erde abweichen, das ist Alles.

[342] – Wissen Sie, Herr Clawbonny, sagte Johnson, daß es sich unter unseren jetzigen Verhältnissen recht hübsch von der Kälte plaudert.

– Gewiß, mein alter Johnson; wir sind eben dabei, die Praxis zur Unterstützung der Theorie anzurufen. Diese Gegenden sind ein ungeheures Laboratorium, in dem man merkwürdige Versuche über niedrige Temperaturen anzustellen vermag. Seien Sie aber immer aufmerksam und klug; sollte Ihnen ein Körpertheil erfrieren, so reiben Sie ihn sogleich mit Schnee ab, um die Blutcirculation wieder herzustellen, und nehmen sich in Acht, wenn Sie an's Feuer zurückkommen, denn Sie könnten sich Hände oder Füße verbrennen, ohne es zu bemerken; das würde Amputationen nöthig machen, und wir wollen doch suchen, Nichts von uns selbst in diesen Polargegenden zurückzulassen. Ueberdies aber, meine Freunde, denke ich, wir werden gut thun, uns nun im Schlafe einige Stunden Ruhe zu gönnen.

– Gern, antworteten des Doctors Gefährten.

– Wer hat die Wache beim Ofen.

– Ich, antwortete Bell.

– Nun gut, Freundchen, so sehen Sie darauf, daß das Feuer nicht nachläßt, denn es ist eine Teufelskälte diesen Abend.

– Beruhigen Sie sich, Herr Clawbonny, das spornt genug, und übrigens, sehen Sie doch, der Himmel steht ganz in Flammen.

– Ja, erwiderte der Doctor, der sich dem Fenster näherte, ein Nordlicht von vollkommener Schönheit! Welch' prächtiges Schauspiel! Ich werde nie satt, es zu betrachten.«

In der That bewunderte der Doctor immer diese kosmischen Phänomene, welchen seine Genossen keine große Aufmerksamkeit mehr schenkten; er hatte übrigens bemerkt, daß ihrem Erscheinen immer Störungen der Magnetnadel vorhergingen, und notirte sich seine Beobachtungen, die für das »Weather-Book« 1 bestimmt waren.

Bald war dann Jeder, während Bell nächst dem Ofen wachte, auf seinem Lager gestreckt in ruhigen Schlummer gesunken.

Fußnoten

1 Das »Wetterbuch« des Admirals Fitz-Roy, in dem alle meteorologische Erscheinungen berichtet werden.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Wintervergnügungen.

Das Leben am Pole ist von trauriger Einförmigkeit. Der Mensch ist vollständig den Launen der Atmosphäre unterthan, welche Stürme und strenge Kälte mit verzweifelter Eintönigkeit herbeiführt. Den größten Theil der Zeit ist es ganz unmöglich, einen Schritt aus dem Hause zu thun, und man bleibt in den Eishütten eingeschlossen. So vergehen lange Monate, welche die Ueberwinternden zu einer Maulwurfsexistenz verdammen.



Am anderen Tage ging das Thermometer um einige Grade herab, und die Luft war voll wirbelnden Schneegestöbers, wodurch das ganze Tageslicht entzogen ward. Der Doctor sah sich an's Haus gefesselt und legte die Hände in den Schoß; er hatte Nichts zu thun, außer etwa den Verbindungsgang alle Stunden zu reinigen, der sonst sich ganz zu verstopfen drohte, und die Wände, welche von der Wärme im Innern feucht wurden, wieder zu glätten; das Eishaus selbst war höchst dauerhaft errichtet, und die Schneewehen, die seine Mauern verstärkten, erhöhten nur seine Widerstandsfähigkeit.

Die Magazine bewährten sich gleichmäßig gut. Alle aus dem Schiffe geräumten Gegenstände waren in bester Ordnung aufgestapelt in diesen »Warendocks«, wie sie der Doctor nannte. Obgleich diese Magazine übrigens kaum sechzig Schritt vom Hause entfernt lagen, so war es an manchen stürmischen Tagen doch fast unmöglich, sich dahin zu begeben; daher mußte [344] auch eine gewisse Menge Proviant für den täglichen Bedarf immer in der Küche aufbewahrt werden.

Die Vorsicht, den Porpoise zu entladen, war ganz gerechtfertigt gewesen. Das Fahrzeug unterlag einem langsamen, unmerkbaren, aber unwiderstehlichen Drucke, der es nach und nach zerstörte. Es lag auf der Hand, daß aus seinen Trümmern Nichts zu machen sein werde; dennoch hoffte der Doctor immer, wenigstens eine Schaluppe zur Rückkehr nach England daraus zu gewinnen; der Augenblick, um deren Bau vorzunehmen, war aber noch nicht gekommen.

So verbrachten die fünf Wintergenossen den größten Theil der Zeit in tiefem Müßiggange. Hatteras lag in Gedanken versunken auf seinem Bette, Altamont trank oder schlief, und der Doctor hütete sich wohl, sie aus ihrem Halbschlummer zu erwecken, denn er fürchtete stets irgend einen bösen Wortwechsel. Nur selten sprachen diese beiden Männer mit einander.



Auch während der Mahlzeiten trug der kluge Doctor immer Sorge, die Unterhaltung zu führen und so zu leiten, daß keine Eigenliebe in's Spiel kam; er hatte aber alle Mühe, die überreizte Empfindlichkeit abzulenken. Soviel als möglich suchte er seine Genossen zu unterrichten, zu zerstreuen oder doch ihr Interesse zu erregen. Wenn er nicht mit der Ordnung seiner Reisenotizen beschäftigt war, besprach er lauter Gegenstände aus der Geschichte, der Erdbeschreibung oder der Witterungskunde, welche sich aus ihrer Lage ergaben; er trug die Sachen in ansprechender, dem Verstand einleuchtender Form vor; zog aus den geringsten Zwischenfällen eine Nutzanwendung; sein unerschöpfliches Gedächtniß ließ ihn niemals im Stich; er wandte seine Lehrsätze auf die anwesenden Personen an; erinnerte sie an Dies oder Jenes, was aus diesem oder jenem Umstande hervorging, und erhöhte so das Gewicht seiner Theorieen durch persönliche Beweisgründe.

[345] Man kann wohl sagen, daß dieser würdige Mann die Seele dieser kleinen Welt war, eine Seele, voll Offenherzigkeit und Gerechtigkeit, womit sie Alles durchdrang. Seine Genossen hatten zu ihm ein unbegrenztes Zutrauen; er verfehlte sogar seines Eindrucks auf Hatteras nicht, der ihn übrigens liebte. Durch seine Worte, sein Wesen und seine Gewohnheiten wirkte er so wohlthätig, daß die Existenz dieser wenigen, sechs Grad vom Nordpole vereinsamten Menschen ganz natürlich erschien; wenn der Doctor sprach, glaubte man ihn in seinem Zimmer in Liverpool zu hören.

Und doch, wie verschieden war diese Lage von der solcher Schiffbrüchiger, die auf eine Insel des Stillen Oceans verschlagen wurden, jene Robinsone, deren anziehende Geschichte stets die Leser fesselt. Dort bot allerdings ein fruchtbarer Boden, eine üppig reiche Natur tausend Hilfsquellen; in jenen herrlichen Ländern genügte ein wenig Einbildungskraft und Arbeit, um sich materielles Wohlsein zu schaffen; Jagd und Fischfang befriedigten alle menschlichen Bedürfnisse; die Bäume trieben für den Menschen, natürliche Höhlen boten ihm ihren Schutz, die Bäche rieselten, seinen Durst zu löschen, prächtiger Schatten schützte ihn gegen die Hitze, und niemals bedrohte ihn arger Frost in jenen milden Wintern; pflegelos hingeworfene Samenkörner lieferten einige Monate später eine Ernte. Abgesehen von dem Mangel an Gesellschaft war die Glückseligkeit vollkommen. Dazu lagen jene bezaubernden Inseln, jene herrlichen Länder an dem Wege anderer Schiffe; der Schiffbrüchige konnte immer hoffen, wieder mit aufgenommen zu werden, und er wartete geduldig, bis man ihn seiner glücklichen Existenz entriß.

Aber hier, an dieser Küste Neu-Amerikas, welcher Abstand! Diesen Vergleich stellte der Doctor zwar manchmal an, aber er behielt ihn für sich, obgleich er gewiß über den erzwungenen Müßiggang erzürnt war.

Mit Begierde erwartete er den Wiedereintritt des Thauwetters, um seine Ausflüge von Neuem vornehmen zu können, und doch sah er ihn nicht ohne Furcht sich nahen, denn er prophezeite sich ernsthafte Auftritte zwischen Hatteras und Altamont. Wenn man jemals bis zum Pole drang, was würde aus der Rivalität der beiden Männer sich ergeben?

Er mußte also zunächst Alles abzuwenden suchen, nach und nach diese beiden Rivalen zu einem unbewußten Einverständniß und zu freimüthigem Gedankenaustausche bringen; aber einen Engländer und einen Amerikaner unter einen Hut zu bringen, zwei Menschen, die schon ihre Abkunft zu Feinden [346] machte, der Eine von ihnen erfüllt mit dem ganzen Ernste Alt-Englands, der Andere, begabt mit dem unternehmenden, kühnen und rücksichtslosen Geiste seiner Nation welche Arbeit voller Schwierigkeiten bot das!

Wenn der Doctor über diesen unversöhnlichen Wettstreit der Menschen, diese nationale Eifersucht nachdachte, konnte er nicht umhin, nicht etwa mit den Achseln zu zucken, denn das kam bei ihm überhaupt nie vor, aber doch die menschlichen Schwachheiten zu bedauern.

Mit Johnson sprach er oft über dieses Thema; der alte Seemann und er stimmten in dieser Hinsicht ganz überein; sie fragten sich dann, welche Mittel sie ergreifen, durch welches vorsichtige Verfahren sie zu ihrem Ziele gelangen sollten, und sahen wohl die in der Zukunft drohenden Verwickelungen.

Indeß dauerte die üble Witterung fort; nicht auf eine Stunde konnte man daran denken, das Fort Providence zu verlassen; Tag und Nacht mußte man in dem Eishause verweilen. Man langweilte sich, ausgenommen der Doctor, der immer ein Mittel fand, sich zu beschäftigen.

»Es giebt also keine Möglichkeit, sich zu zerstreuen? sagte eines Abends Altamont; das nennt man doch wahrlich nur nach Art der Reptilien leben, die den ganzen Winter über verscharrt liegen.

– Es ist wohl wahr, bestätigte der Doctor; leider sind wir nicht zahlreich genug, um irgend ein System von Zerstreuungen zu organisiren.

– Also glauben Sie, erwiderte der Amerikaner, daß wir weniger mit Müßiggang zu kämpfen hätten, wenn wir in größerer Zahl hier wären?

– Ohne Zweifel, denn wenn ganze Schiffsmannschaften einen Winter in den Polargegenden verbracht haben, fanden sie allemal ein Auskunftsmittel, sich nicht zu langweilen.

– Ich wäre wahrlich neugierig, sagte Altamont, zu wissen, wie sie das angefangen haben; es gehören sehr erfindungsreiche Geister dazu, um einer solchen Lage noch erheiternde Seiten abzugewinnen. Sie gaben sich, denk' ich, nicht Räthsel zu lösen auf!

– Nein, es fehlte aber nicht viel, versetzte der Doctor; sie hatten in diese hochnördlichen Länder zwei mächtige Zerstreuungsmittel eingeführt: die Presse und das Schauspiel.

– Wie? Sie hatten ein Journal? fragte der Amerikaner.

– Sie spielten Komödie? rief Bell.


Ein Bericht über Parry's Nordpolfahrt. (S. 348.)

– Allerdings, und sie fanden auch ein wahrhaftes [347] Vergnügen dabei. So schlug der Commandant Parry bei Gelegenheit der Ueberwinterung auf der Insel Melville seinen Leuten diese beiden Arten Vergnügungen, und zwar mit bestem Erfolge vor.

– Nun, offen gestanden, meinte Johnson, ich hätte wohl dabei sein mögen, das muß merkwürdig gewesen sein.

– Merkwürdig und unterhaltend, mein braver Johnson; der Lieutenant [348] Beechey wurde Theaterdirector, und der Kapitän Sabine Hauptredacteur der ›Winter-Chronik‹, oder ›Zeitung für Nord-Georgia.‹

– Schöne Titel, sagte Altamont.

– Diese Zeitung erschien vom 1. November 1819 bis 20. März 1820 jeden Montag. Sie berichtete Alles, was auf die Ueberwinterung Bezug hatte, über die Jagden, kleine Vorkommnisse, Unfälle, über Witterung und Temperatur; sie enthielt eine mehr oder weniger ergötzliche Chronik; zwar durfte man den Geist eines Sterne nicht darin suchen, oder etwa die schönen Artikel des ›Daily-Telegraph‹; aber doch half man sich immerhin damit fort und zerstreute sich; die Leser waren weder zu peinlich noch blasirt und niemals, glaub' ich, wird die Aufgabe eines Tagesschriftstellers eine angenehmere gewesen sein.

– Wahrlich, sagte Altamont, ich wäre wohl begierig, Auszüge aus dieser Wochenschrift zu kennen, mein lieber Doctor; ihre Artikel müssen doch vom er sten Wort bis zum letzten von Frost gestarrt haben.


(S. 350.)

– Gott bewahre, entgegnete der Doctor; was jedenfalls der Philosophischen Gesellschaft in Liverpool oder dem Literarischen Institut in London etwas naiv vorgekommen wäre, das genügte doch den im Schnee vergrabenen Mannschaften vollkommen. Wollen Sie selbst darüber urtheilen?

– Was? Sie hätten das im Gedächtniß behalten ...?

– Das zwar nicht, aber Sie hatten Parry's Reisen an Bord des Porpoise, und ich brauche nur seine eigenen Berichte vorzulesen.

[349] – Ja, thun Sie es! riefen die Gefährten des Doctors.

– Nichts leichter als das.«

Der Doctor suchte das betreffende Werk in dem Schranke des Salons, und fand leicht die einschlagende Stelle.

»Seht, sagte er, da haben wir einige Auszüge aus der ›Zeitung für Nord-Georgia.‹ Hier ist ein an den Hauptredacteur gerichtetes Schreiben:


›Mit wahrer Befriedigung wurde in unserer Mitte Ihr Vorschlag zur Begründung einer Zeitung aufgenommen. Ich bin der Ueberzeugung, daß sie unter Ihrer Leitung uns manches Vergnügen bereiten und die Last unserer hundert finsteren Tage wesentlich erleichtern wird.

Bei dem Interesse, welches ich persönlich daran nehme, habe ich den Eindruck Ihrer Anzeige auf die ganze Gesellschaft zu ermitteln gesucht, und ich kann Sie versichern, daß, um die der Londoner Presse geläufigen Ausdrücke zu gebrauchen, die Sache bei unserem Publicum eine tiefe Sensation hervorgerufen hat.

Am Tage nach dem Erscheinen Ihres Prospectes entstand an Bord eine ganz ungewohnte, noch nie dagewesene Nachfrage nach Tinte. Die grünen Decken unserer Tische hatten sich bald mit einer wahren Sündfluth von Federabschnitzeln bedeckt, zum großen Verdrusse eines unserer Diener, der sich beim Abschütteln einen davon unter den Nagel stach.

Ich weiß endlich aus guter Quelle, daß der Sergeant Martin nicht weniger als neun Federmesser zu schleifen hat. All' unsere Tische kann man unter der ungewohnten Last der Schreibepulte sich beugen sehen, die seit zwei Monaten nicht das Tageslicht gesehen hatten, und man sagt sogar, daß man aus den Tiefen des Schiffsraumes manches Ries Papier, das nicht so bald aus seiner Ruhe gestört zu werden glaubte, hervorgeholt habe.

Vergessen will ich nicht, Ihnen mitzutheilen, wie ich einigen Verdacht habe, daß man versuchen wird, in Ihren Briefkasten einige Artikel schlüpfen zu lassen, welche, da sie jeder Originalität entbehren und keineswegs noch ungedruckt sind, Ihrem Plane nicht entsprechen dürften. Ich kann versichern, daß schon gestern Abend ein Autor zu sehen war, der in der einen Hand einen aufgeschlagenen Band des »Spectators« hielt, während er mit der anderen seine Tinte an der Lampenflamme aufthaute! Es wird unnütz sein, Ihnen [350] zu empfehlen, daß Sie sich vor solcher Arglist hüten; wir wollen nicht das in der »Winterchronik« wieder erscheinen sehen, was unsere Vorfahren, vielleicht vor einem Jahrhundert, beim Frühstück lasen.‹


– Gut, sehr gut, sagte Altamont, als der Doctor zu Ende gelesen hatte, darin ist wirklich gesunder Humor, und der Verfasser des Briefes muß ein rechter Schlaukopf gewesen sein.

– Schlaukopf, das ist das rechte Wort, antwortete der Doctor. Doch halt, da ist noch eine Anzeige, der es auch nicht an Humor fehlt:


›Gesucht wird eine gut beleumundete Frau in mittleren Jahren, um den Damen der Truppe des königlichen Theaters im nördlichen Georgia bei der Toilette behilflich zu sein. Neben angemessenem Salär gewährt man ihr Thee und Bier nach Belieben. Adressen werden an das Theater-Comité erbeten. – NB. Eine Witwe erhielte den Vorzug.‹


– Meiner Treu', sagte Johnson, unsere Landsleute waren für den Spaß noch nicht verdorben.

– Aber die Witwe, fragte Bell, hat diese sich gefunden?

– Man sollte es wohl glauben, erwiderte der Doctor, denn hier findet sich auch eine an das genannte Comité gerichtete Antwort:


›Meine Herren, ich bin Witwe und sechsundzwanzig Jahre alt. Für mein Verhalten und meine Geschicklichkeit kann ich unwiderlegliche Zeugnisse beibringen. Bevor ich aber die Toilette der Künstlerinnen an Ihrer Bühne in die Hand nehme, möchte ich wissen, ob dieselben ihre Hosen beibehalten wollen, und ob man mir zum Schnüren und Binden der Corsets zwei handfeste Matrosen zur Hilfe giebt. Wenn das der Fall ist, meine Herren, so zählen Sie auf Ihre ergebene Dienerin


A. B.


Nachschrift. Könnten Sie nicht Branntwein statt des Halbbieres liefern?‹


– Ah, bravo! rief Altamont, ich sehe nun schon Kammerfrauen, die mit der Schiffswinde zusammenschnüren. Aber wahrlich, lustig waren sie, die Begleiter des Kapitän Parry.

– Wie alle diejenigen, welche je ihr Ziel erreicht haben«, versetzte Hatteras.

[351] Hatteras warf diese Bemerkung mitten in die Unterhaltung dazwischen, dann verfiel er wieder in sein gewohntes Schweigen. Der Doctor, der auf diesen Punkt nicht weiter eingehen wollte, las unverweilt weiter.

»Hier findet sich nun, fuhr er fort, ein Gemälde der Leiden im hohen Norden; man könnte es in's Unendliche vervielfältigen; aber einige Beobachtungen sind gar zu treffend. Urtheilen Sie selbst:


Morgens ausgehen, um frische Luft zu schöpfen und beim ersten Schritt aus dem Schiffe ein unfreiwilliges kaltes Bad in dem Wasserloche des Kochs nehmen.

Auf die Jagd gehen, einem prächtigen Rennthier begegnen, anlegen und Feuer zu geben versuchen, und dann den abscheulichen Fehler begehen, von der Pfanne blitzen zu lassen, weil die Ladung feucht war.

Sich mit einem weichen Stück Brod auf den Weg begeben, und wenn man Appetit fühlt, es so hart zu finden, daß man wohl die Zähne zerbrechen kann.

Plötzlich die Tafel verlassen, da man hört, ein Wolf sei in Sicht des Fahrzeugs, und bei der Rückkehr sein Essen von der Katze verzehrt finden.

Vom Spaziergang heimkehren, sich tiefen und nützlichen Grübeleien hingeben und plötzlich durch die Umarmung eines Bären wieder herausgerissen werden.«


– Sie sehen, meine Freunde, wir würden nicht verlegen sein, dem noch mehrere andere polare Unannehmlichkeiten hinzuzufügen; aber wenn man diese einmal ertragen mußte, war es doch ein Vergnügen, sie zu constatiren.

– Das ist wahrlich eine unterhaltende Zeitschrift, sagte Altamont, und es ist schade, daß wir sie nicht halten können.

– Wenn wir nun versuchten, selbst eine zu gründen, bemerkte Johnson.

– Wir, zu Fünf? erwiderte Clawbonny; wir würden höchstens die Redacteure dazu sein, und es bliebe keine hinreichende Zahl von Lesern.

– Nicht mehr als Zuschauer, wenn wir uns in den Kopf setzten, Komödie zu spielen, fügte Altamont hinzu.

– Was das betrifft, Herr Clawbonny, sagte Johnson, so erzählen Sie uns doch Etwas vom Theater des Kapitän Parry; gab man da neue Stücke?

[352] – Ohne Zweifel; anfangs wurden zwar zwei Bände mit solchen, die auf dem »Hekla« mit eingeschifft waren, benutzt; da aber alle vierzehn Tage eine Vorstellung gegeben wurde, ging das Repertoire bald total zur Neige. Dann machten sich improvisirte Schriftsteller an's Werk, und Parry selbst schrieb für Weihnachten ein ihrer Lage ganz angepaßtes Stück, welches »Die Nord-West-Passage«, oder »Das Ende der Reise« hieß, und ungeheuren Erfolg hatte.

– Ein herrlicher Titel, sagte Altamont, doch gestehe ich, daß ich für meine Person bei der Behandlung desselben Sujets um die Lösung der Verwicklung verlegen sein würde.

– Sie haben wohl Recht, meinte Bell; wer weiß, wie das noch enden wird!

– Genug, sagte der Doctor; wer wird denn schon an den letzten Act denken, wenn die ersten gut verlaufen? Ueberlassen wir das der Vorsehung, meine Freunde; wir haben nur unsere Rollen nach besten Kräften zu spielen, und da die Lösung den Schöpfer aller Dinge angeht, so wollen wir auch seiner Weisheit vertrauen; er wird uns schon zu helfen wissen.

– Nun wollen wir aber alles das beschlafen, warf Johnson ein, es ist spät, und da die Zeit der Ruhe da ist, wollen wir auch schlummern.

– Sie haben rechte Eile, mein alter Freund, sagte der Doctor.

– Was meinen Sie, Herr Clawbonny, ich befinde mich so wohl in meinem Bette! Und dann träume ich auch gewöhnlich so schön; ich träume von den heißen Ländern, so daß ich wahrlich sagen möchte, daß ich die eine Hälfte meines Lebens unter dem Aequator und die andere am Pole zubringe.

– Den Teufel, sagte Altamont, da sind Sie ja glücklich organisirt.

– Wie Sie sagen, erwiderte der Rüstmeister.

– Nun gut, schloß der Doctor, es würde grausam sein, unseren braven Johnson noch länger sich sehnen zu lassen. Seine Tropensonne erwartet ihn; da wollen wir auch schlafen gehen.

[353]
11. Capitel
Elftes Capitel.
Beunruhigende Spuren.

In der Nacht vom 26. zum 27. April schlug das Wetter um; das Thermometer sank merkbar, so daß die Insassen von Doctors-House die Kälte spürten, die bis unter ihre Decken drang. –



Altamont, der die Ofenwache hatte, bemühte sich, das Feuer nicht ausgehen zu lassen, und mußte tüchtig nachlegen, um die Temperatur im Innern auf fünfzig Grad über Null (+ 10° hunderttheilig) zu erhalten.

Der Wiedereintritt der Kälte bezeichnete das Ende des stürmischen Wetters, worüber sich der Doctor sehr freute; nun konnten ja die gewohnten Beschäftigungen, wie Jagden, Ausflüge, Erforschung des Landes und dergleichen wieder aufgenommen werden, was endlich der thätigkeitslosen Einsamkeit ein Ziel setzte, über die zuletzt auch die besten Menschen ärgerlich werden.

Am folgenden Morgen verließ der Doctor frühzeitig das Bett und bahnte sich durch die aufgehäuften eisigen Massen einen Weg bis zu dem Gipfel, auf dem der Leuchtthurm stand.

[354] Der Wind war nach Norden umgesprungen; die Atmosphäre war klar; lange weiße Flächen boten dem Fuße ihren erhärteten Teppich.

Bald verließen die fünf Wintergenossen Doctors-House; ihre erste Sorge war, das Haus von den umhergelagerten Eismassen zu befreien; das Plateau erkannte man kaum wieder, es wäre unmöglich gewesen, darauf die Spuren einer Wohnung zu erkennen. Der Sturm, der die Unebenheiten des Terrains zufüllte, hatte Alles geebnet; mindestens um fünfzehn Fuß war der Boden erhöht.

Zuerst mußte man zum Wegräumen der Schneemassen schreiten; dann verlieh man dem Gebäude wieder eine architektonische Form, indem man seine Linien vereinigte und sein Aussehen wiederherstellte. Das war übrigens nicht allzuschwer, denn nachdem das Eis fortgeschafft war, genügte einige Arbeit mit dem Eismesser, den Mauern ihre normale Stärke wiederzugeben.

Nach zwei Stunden anhaltender Arbeit ward der Granitboden wieder sichtbar; dann wurde auch der Weg nach den Magazinen und dem Pulverhäuschen wieder gangbar gemacht.

Da sich bei dem so unzuverlässigen Klima ein solcher Zustand jeden Tag wiederholen konnte, entnahm man neuen Vorrath an Lebensmitteln und schaffte ihn in die Küche. Nun machte sich den durch das Salzfleisch gereizten Magen aber auch das Bedürfniß nach frischem Fleische fühlbar; die Jäger wurden demnach beauftragt, diese erhitzende Nahrungsweise einmal abzuändern, und sie bereiteten sich zu einer Partie.

Doch war mit Ende April der polare Frühling noch nicht gekommen; das dauerte noch mindestens sechs Wochen. Die noch schwachen Sonnenstrahlen vermochten diese Schneeflächen nicht zu durchdringen und dem Boden die dürftige Flora jener Gegenden zu entlocken. Man mußte wohl fürchten, daß die Thiere, Vögel und Vierfüßler noch sehr selten seien. Doch hätten ein Hase, einige Paar Schneehühner, selbst ein junger Fuchs die Tafel in Doctors-House geziert, und die Jäger waren entschlossen, unerbittlich Alles, was ihnen vor den Flintenlauf kam, zu erlegen.

Der Doctor, Altamont und Bell machten sich daran, das Land zu erforschen. Altamont mußte, seinem Auftreten nach, ein geschickter und entschlossener Jäger sein; er war ein trefflicher Schütze, aber auch etwas großsprecherisch. Er war also bei der Partie, ganz wie Duk, der in seiner Art gleichviel werth war, und weniger schwatzte.

[355] Die drei Reisegenossen stiegen auf die östliche Erhöhung hinauf und drangen quer über die weißen Ebenen; sie brauchten indeß nicht weit zu gehen, denn kaum zweitausend Schritte vom Fort wurden zahlreiche Fährten sichtbar; von dieser Stelle aus gingen sie nach dem Ufer der Victoria-Bai und schienen rings das Fort in concentrischen Kreisen zu umschließen.

Nachdem die Jäger diese Spuren aufmerksam verfolgt, sahen sie sich einander an.

»Nun, sagte der Doctor, das scheint mir jetzt klar.

– Nur zu klar, setzte Bell hinzu; das sind Spuren von Bären.

– Ein prächtiges Stück Wild, antwortete Altamont, aber heute scheint es mir doch einen großen Fehler zu haben.

– Welchen? fragte der Doctor.

– Seine große Anzahl, erwiderte der Amerikaner.

– Was wollen Sie damit sagen, versetzte Bell.



– Ich will sagen, daß das die Spuren von fünf vollkommen zu unterscheidenden Bären sind; und fünf Bären auf fünf Menschen ist doch etwas viel.

– Sind Sie Ihrer Ansicht sicher? fragte der Doctor.

– Sehen und urtheilen Sie selbst; hier ist eine Fährte, die jener anderen nicht gleicht; die Krallen von diesen hier sind weiter abstehend, als die von jenen; da ist auch noch die Fußtapfe eines kleineren Bären. Wenn Sie vergleichen, werden Sie in bestimmtem Raume immer die Spuren von fünf Thieren finden.

[356] – Es ist unzweifelhaft, sagte Bell, nachdem er sich die Sache genau angesehen.

– Dann, meinte der Doctor, gilt es hier nicht un nütze Bravour zu zeigen, sondern auf unserer Hut zu sein; diese Thiere sind durch den strengen Winter ausgehungert, und können deshalb sehr gefährlich werden; und da über ihre Zahl kein Zweifel sein kann ...

– Und auch nicht über ihre Absichten, fiel Altamont ein.

– Sie glauben, sagte der Erstere, daß diese unseren Aufenthalt an der Küste aufgespürt haben?

– Gewiß, wenn wir nicht nur auf eine Wechselfährte der Bären gestoßen sind.



Aber warum gehen diese Spuren rund herum und verlieren sich nicht in der Ferne? Da sehen Sie, von Südosten sind die Thiere gekommen, haben dann hier Halt gemacht, und von dieser Stelle aus das Terrain durchstöbert.

– Sie haben Recht, sagte der Doctor; es steht sogar fest, daß sie diese Nacht gekommen sind.

– Und ohne Zweifel auch die früheren Nächte, antwortete Altamont, nur wird der Schnee ihre Spuren verdeckt haben.

– Nein, erwiderte der Doctor, es ist vielmehr anzunehmen, daß die Bären auch das Ende der Stürme abgewartet haben; durch die Noth getrieben, haben sie sich dann nach der Küste der Bai aufgemacht, um einige Robben zu fangen, und haben uns dabei ausgewittert.

[357] – So ist's gerade, sagte Altamont; übrigens können wir leicht erfahren, ob sie nächste Nacht wiederkehren.

– Wie das? fragte Bell.

– Wir verwischen die Spuren auf einer Strecke Weges, und wenn wir morgen frische eingedrückte Spuren bemerken, ist es sicher, daß das Fort Providence das Ziel ist, nach dem sie trachten.

– Gut, sagte der Doctor, dann werden wir wenigstens wissen, woran wir sind.«

Die drei Jäger gingen an's Werk, und indem sie den Schnee darüber scharrten, hatten sie bald auf eine Entfernung von sechshundert Fuß jede Fährte zerstört.

»Es ist doch auffallend, sagte Bell, daß die Thiere uns auf eine so große Entfernung hin aufspüren konnten, da wir kein Fett verbrannt haben, das sie hätte anlocken können.

– O, sagte der Doctor, die Bären haben sehr scharfen Gesichts-, und sehr seinen Geruchssinn; dazu sind sie sehr gescheit, wenn nicht die gescheitesten aller Thiere, und haben von hier aus gewiß etwas Ungewohntes gewittert.

– Wer sagt uns übrigens, bemerkte Bell, daß sie nicht während des Sturmes sogar bis zu dem Plateau gekommen sind?

– Ja, sagte der Amerikaner, warum hätten sie sich dann aber letzte Nacht gerade auf diese Grenze beschränkt?

– Darauf giebt es freilich keine Antwort, erwiderte der Doctor, und wir müssen annehmen, daß sie den Kreis ihrer Nachforschungen immer enger um das Fort Providence ziehen werden.

– Das werden wir wohl sehen, antwortete der Amerikaner.

– Nun wollen wir unseren Weg fortsetzen, sagte der Doctor, aber wachsamen Auges!«

Die Jäger lugten scharf aus; sie mochten fürchten, hinter irgend einem kleinen Eisberge lauere ein Bär; häufig hielten sie große Blöcke, die ungefähr die Form und Farbe derselben hatten, auch selbst für solche; aber zuletzt und zu ihrer großen Befriedigung war es immer eine Täuschung.

Endlich kamen sie dem Bergkegel wieder nahe, von wo aus ihr Blick vergeblich vom Cap Washington bis zur Insel Johnson streifte.

Sie sahen Nichts; Alles war unbeweglich und weiß; kein Geräusch, kein Krachen des Eises war hörbar.

[358] So kehrten sie in das Schneehaus zurück.

Hatteras und Johnson wurden mit dem Vorgefallenen bekannt gemacht, und man beschloß mit angestrengtester Aufmerksamkeit zu wachen. Die Nacht kam; Nichts störte ihre Ruhe, Nichts ließ sich hören, was die Nähe einer Gefahr verrathen hätte.

Am folgenden Tage machten sich Hatteras und seine Begleiter schon mit der Morgendämmerung wohlbewaffnet auf, den Zustand der Schneefläche nachzusehen; sie entdeckten Spuren, die denen des vorigen Tages vollkommen entsprachen, aber näher waren. Offenbar machten die Feinde Anstalt, das Fort Providence zu belagern.

»Sie haben ihre zweite Parallele eröffnet, sagte der Doctor.

– Sie haben sogar einen Posten vorgeschoben, erwiderte Altamont; sehen Sie dort diese Fährte, sie gehört einem gewaltigen Thiere an.

– Ja, sagte Johnson, diese Bären kommen nach und nach heran; es ist augenscheinlich, daß sie uns angreifen wollen.

– Das unterliegt keinem Zweifel, entgegnete der Doctor, darum vermeiden wir, uns sehen zu lassen. Wir sind nicht stark genug, um mit Erfolg einen offenen Kampf aufzunehmen.

– Aber wo mögen diese verdammten Bären sein? rief Bell.

– Hinter irgend einem Schollenhaufen im Osten, von wo aus sie uns beobachten; wir wollen uns keinem unklugen Abenteuer aussetzen.

– Und die Jagd? warf Altamont ein.

– Werden wir einige Tage aufschieben; wir wollen auf's Neue die nächsten Fährten verlöschen, und morgen nachsehen, ob sie wieder da sind. So werden wir uns bezüglich der Manoeuvres unserer Feinde auf dem Laufenden erhalten.«

Des Doctors Rath ward befolgt, und man zog sich wieder in das Fort zurück. Die Anwesenheit dieser furchtbaren Thiere machte jeden Ausflug unmöglich. Man überwachte aufmerksam die Umgebungen der Victoria-Bai. Der Leuchtthurm wurde gelöscht, er hatte jetzt keinen thatsächlichen Nutzen und erregte eher die Aufmerksamkeit der Thiere; die Laterne und die Leitungsschnüre wurden in das Haus hereingenommen; ferner begab sich Einer nach dem Anderen zur Umschau auf das obere Plateau.

Nun hatten sie auf's Neue die Unlust der Abschließung auszuhalten; aber konnten sie anders handeln? In einen so ungleichen Kampf konnte man sich [359] nicht einlassen, und das Leben jedes Einzelnen war zu kostbar, um es unklug auf's Spiel zu setzen. Wenn die Bären Nichts mehr sahen, gaben sie vielleicht das Spüren auf, und traf man sie bei einem Ausfluge einzeln, so waren sie schon mit Erfolg anzugreifen.



Diese Unthätigkeit wurde indeß auch durch ein neues Interesse belebt; es galt zu wachen, und Keiner bedauerte, ein wenig Vorposten stehen zu müssen.

Der 28. April verging ohne ein Lebenszeichen der Feinde.

Am anderen Tage suchte man mit lebhafter Neugierde die Fährte wieder auf, und war nicht wenig erstaunt, keine zu finden. Weit und breit sah man nur die unberührte Schneefläche.

»Gut! rief Altamont, die Bären haben ihr Spüren aufgegeben, sie hatten keine Ausdauer und wurden des Wartens müde. Sie sind fort! Glückliche Reise! Und nun auf, zur Jagd!

– Halt! Halt! wendete der Doctor ein, wer weiß? Zu größerer Sicherheit, meine Freunde, verlange ich noch einen Tag Ueberwachung; sicher ist nur, daß der Feind diese Nacht nicht zurückgekehrt ist, mindestens nicht von dieser Seite her ...

[360] – So umgehen wir das ganze Plateau, sagte Altamont, dann wissen wir gleich, woran wir sind.

– Recht gern!« erwiderte der Doctor.

Aber mochte man auch noch so achtsam den ganzen Raum innerhalb zwei Meilen absuchen, es war unmöglich, nur die geringste Fährte zu entdecken.

»Nun, gehen wir nun jagen? fragte ungeduldig der Amerikaner.

– Warten wir bis morgen, entgegnete der Doctor.

– Also bis morgen«, versetzte Altamont, der sich nur mit Mühe zurückhielt.

Alle gingen in's Fort zurück und Jeder mußte, wie den Tag vorher, immer eine Stunde auf dem Beobachtungspunkte verbleiben.

Als die Reihe an Altamont kam, verfügte er sich zur Ablösung Bell's nach dem Bergkegel.

Sobald er nur hinaus war, rief Hatteras seine Gefährten um sich zusammen. Der Doctor verließ sein Notizenheft und Johnson die Oefen.

Man hätte glauben können, daß Hatteras mit ihnen über die Gefahren ihrer Lage habe reden wollen; aber daran dachte er nicht.

»Meine Freunde, sagte er, benutzen wir die Abwesenheit dieses Amerikaners, um einmal von unseren Angelegenheiten zu sprechen; es giebt Sachen, die ihn Nichts angehen und in welche ich seine Einmischung nicht wünschte.«

Die Angeredeten sahen sich an, da sie noch nicht wußten, wo er hinaus wolle.

»Ich wünsche mich mit Euch, fuhr er fort, über unsere zukünftigen Projecte zu verständigen.

– Gut, gut, erwiderte der Doctor, darüber wollen wir reden, da wir allein sind.

– In einem Monate, sagte Hatteras, spätestens in sechs Wochen wird die Zeit zu größeren Ausflügen wieder da sein. Habt Ihr daran gedacht, was wir wohl während des Sommers unternehmen sollen?

– Und Sie, Kapitän, fragte Johnson.

– Ich, ich kann sagen, daß mir keine Stunde verstreicht, die mich nicht mit meiner Idee beschäftigt fände. Ich nehme an, daß Keiner die Absicht hat, den Weg rückwärts zu gehen?«

Diese Anmuthung blieb ohne augenblickliche Antwort.

»Was mich betrifft, fuhr Hatteras fort, und müßte ich allein gehen, ich [361] ginge bis zum Nordpole, von dem wir höchstens noch dreihundert Meilen entfernt sind. Noch niemals näherten sich Menschen soweit diesem ersehnten Ziele, und ich möchte eine solche Gelegenheit nicht verlieren, ohne Alles versucht zu haben, selbst das Unmögliche. Was sind in dieser Hinsicht Ihre Absichten?

– Die Ihrigen, antwortete lebhaft der Doctor.

– Und die Ihrigen, Johnson?

– Die des Doctors, erwiderte der alte Schiffer.

– Es ist noch an Ihnen, zu sprechen, Bell, sagte Hatteras.

– Kapitän, entgegnete der Zimmermann, uns erwartet keine Familie in England, das ist wahr, aber die Heimat bleibt doch die Heimat? Denken Sie denn an keine Rückkehr?

– Die Rückkehr wird sich nach der Entdeckung des Poles noch ebensogut ausführen lassen, erwiderte der Kapitän. Selbst noch besser. Die Schwierigkeiten derselben werden nicht größer geworden sein, denn bei der Rückkehr entfernen wir uns immer mehr von den kältesten Punkten der Erdkugel. Wir haben noch für lange Zeit Brennmaterial und Nahrungsmittel. Nichts kann uns demnach abhalten, und wir würden uns eine wahre Schuld aufladen, nicht bis an's Ziel gegangen zu sein.

– Nun denn, sagte Bell, wir sind Alle Ihrer Meinung, Kapitän.

– Gut, antwortete Hatteras, ich habe auch nie an Ihnen gezweifelt. Wir werden siegen, meine Freunde, und England wird den vollen Ruhm unseres Erfolges haben.

– Aber es ist ein Amerikaner unter uns«, sagte Johnson.

Hatteras vermochte bei dieser Bemerkung eine zornige Bewegung nicht zu unterdrücken.

»Ich weiß es, sagte er ernst.

– Wir können ihn hier nicht zurücklassen, meinte der Doctor.

– Nein, das können wir nicht, sagte mechanisch Hatteras.

– Und er wird bestimmt mitkommen.

– Ja! Er wird mitkommen! Aber wer wird den Befehl führen?

– Sie, Kapitän.

– Und wenn Ihr Anderen mir gehorcht, sollte dieser Yankee den Gehorsam verweigern?

[362] – Ich glaube es nicht, antwortete Johnson; und wenn er sich wirklich Ihren Anordnungen nicht fügen wollte ...

– So wäre das dann eine Frage zwischen ihm und mir.«

Schweigend sahen die drei Engländer Hatteras an. Der Doctor ergriff wieder das Wort.

»Wie werden wir reisen? sagte er.

– So viel als möglich längs der Küste, erwiderte Hatteras.

– Aber wenn wir, wie es wahrscheinlich ist, auf ein offenes Meer stoßen?

– Nun gut, dann setzen wir hinüber.

– Aber wie? Wir haben kein Fahrzeug.«

Hatteras blieb die Antwort schuldig; er war offenbar in Verlegenheit.

»Man könnte vielleicht, sagte Bell, eine Schaluppe aus den Trümmern des Porpoise bauen.

– Nimmermehr! fuhr Hatteras heftig auf.

– Nimmermehr?« fragte Johnson.

Der Doctor schüttelte den Kopf; er verstand das Widerstreben des Kapitäns.

»Nimmermehr! wiederholte dieser. Eine Schaluppe aus dem Holze eines amerikanischen Schiffes gebaut, wäre auch eine amerikanische! ...

– Aber, Kapitän! ...« begann Johnson.

Der Doctor gab dem alten Schiffer einen Wink, jetzt nicht hierbei zu verharren. Diese Frage mußte für einen gelegeneren Augenblick erspart bleiben. Wenn der Doctor auch Hatteras' Widerstand vollkommen begriff, so theilte er ihn doch nicht, und hoffte schon, den Freund wieder von seiner so bestimmten Entschließung zurückzubringen. Er sprach nun von Anderem; von der Möglichkeit, von der Küste aus direct nach Norden zu dringen, und von jenem unbekannten Punkte der Erdkugel, den man den Nordpol nennt.

Kurz, er vermied die gefährlicheren Seiten der Unterhaltung bis zu dem Augenblick, wo sie plötzlich unterbrochen wurde, und das war beim Wiedereintritt Altamont's.

Dieser hatte nichts Neues mitzutheilen.

So endete der Tag, und auch die Nacht verlief ruhig. Offenbar waren die Bären verschwunden.

[363]
12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Im Eis-Gefängniß.

Am folgenden Tage dachte man daran, einen Jagdzug zu unternehmen, an dem Hatteras, Altamont und der Zimmermann theilnehmen sollten. Verdächtige Spuren waren nicht wieder bemerkt worden, und die Bären hatten gewiß auf einen Angriff verzichtet, sei es aus Furcht vor ihren unbekannten Feinden, oder weil ihnen neuerdings Nichts die Anwesenheit lebender Wesen in jener Schneemasse verrathen hatte.

Während der Abwesenheit der drei Jäger sollte der Doctor zur Insel Johnson vordringen, den Zustand des Eises untersuchen und einige hydrographische Aufnahmen vornehmen. Es war zwar eine sehr lebhafte Kälte, aber die Ueberwinternden vertrugen sie gut; ihre Haut hatte sich an diese ungeheure Kälte bereits gewöhnt.

Der Rüstmeister sollte in Doctors-House zurückbleiben, um die Wohnung zu überwachen.

Die Jäger trafen ihre Vorbereitungen; sie bewaffneten sich Jeder mit einem gezogenen Doppelgewehre und Spitzkugeln, und nahmen etwas Pemmican mit, für den Fall, daß die Nacht sie vor Beendigung ihres Ausflugs überraschte; außerdem trugen sie das unvermeidliche Schneemesser mit sich, das unentbehrlichste Werkzeug in jenen Gegenden, und ein Beil steckte im Gürtel ihrer Damwildjacken.

So ausgerüstet, bekleidet und bewaffnet konnten sie wohl ziemlich weit gehen, und, gewandt und kühn wie sie waren, auf einen guten Erfolg ihrer Jagd rechnen.

Um acht Uhr Morgens waren sie fertig und brachen auf. Duk sprang munter voran; sie stiegen die kleine Höhe im Osten hinauf, umgingen den Leuchtthurm und verloren sich in der weiten, im Süden durch den Mount Bell begrenzten Ebene.

Der Doctor seinerseits ging, nachdem er mit Johnson ein Alarmsignal für den Fall einer Gefahr verabredet hatte, nach dem Ufer hinab, um zu den vielgestaltigen Eismassen zu gelangen, welche die Bai Victoria umstarrten.

[364] Der Rüstmeister blieb im Fort Providence allein, aber nicht müßig. Er ließ zuerst die Grönländer Hunde, die im Doggenpalast unruhig wurden, in's Freie, wo sie sich lustig im Schnee wälzten. Dann beschäftigte sich Johnson mit den vielerlei Einzelheiten des Haushalts. Er mußte Brennmaterial und Speisevorräthe herbeischaffen, die Magazine in Ordnung bringen, manch' zerbrochenes Geräth wiederherstellen, die schlecht gewordenen Decken ausbessern und Schuhwerk für die weiten Sommerausflüge in Stand setzen. An Arbeit fehlte es ihm nicht, und der Rüstmeister gab sich ihr mit jener, dem Seemann eigenthümlichen Geschicklichkeit hin, die sich in Alles zu finden weiß.

Als er sich so beschäftigte, kam ihm die Unterhaltung des vergangenen Tages wieder in den Sinn; er dachte an den Kapitän und dessen nach Allem so heroischen und ehrenhaften Eigensinn, der nicht wollte, daß ein Amerikaner, nicht einmal eine amerikanische Schaluppe vor oder mit ihm den Pol erreichen sollte.



»Es scheint mir immerhin schwer, sprach er bei sich, den Ocean ohne ein Fahrzeug zu passiren, und wenn wir erst das offene Meer vor uns haben, wird man sich wohl der Nothwendigkeit, zu Schiffe zu gehen, nicht entschlagen können. Dreihundert Meilen weit kann man nicht schwimmen, und wenn man der beste Engländer wäre; der Patriotismus hat eben seine Grenzen. Nun wir werden's ja sehen. Noch haben wir Zeit vor uns; Herr Clawbonny hat sein letztes Wort in dieser Sache auch noch nicht gesprochen; er ist der Mann dazu, den Kapitän die Sache noch einmal überlegen zu lassen. Ich möchte wetten, daß er von der Küste der Insel her schon einen Blick auf das Wrack des Porpoise wirst, und dann am besten wissen wird, was sich daraus machen läßt.«

Bis hierher kam Johnson mit seinen Betrachtungen, und die Jäger waren [365] etwa eine Stunde lang fort, als er zwei bis drei Meilen unter dem Winde einen heftigen, deutlichen Knall hörte.

»Schön! sagte der alte Seemann, sie haben Etwas gefunden, und ohne weit zu gehen, da man den Schall so deutlich hört. Zudem ist die Atmosphäre sehr rein!«

Ein zweiter Knall und ein dritter folgten sich Schlag auf Schlag.

»Nun, sagte Johnson, die sind an einem guten Platze.«

Da fielen noch, offenbar näher, drei weitere Schüsse.

»Sechs Schuß! stutzte Johnson, nun haben sie keine Ladung mehr in den Gewehren, das muß heiß hergegangen sein. Oder sollten etwa gar .....«

Johnson erblaßte bei dem Gedanken, der ihm kam; schnell sprang er aus dem Hause und klomm in wenigen Augenblicken den kleinen Abhang bis zum Gipfel des Kegels empor. Was er sah, machte ihn erzittern.

»Die Bären!« rief er aus.

Die drei Jäger kamen, gefolgt von Duk, in vollem Laufe daher, verfolgt von fünf gewaltigen Thieren; ihre sechs Kugeln hatten jene nicht abzuwehren vermocht; die Bären liefen schneller als sie; Hatteras, der zurück war, verlor an Zwischenraum zwischen sich und den Thieren, und konnte diesen nur dadurch, daß er seine Mütze, seine Hacke und sogar seine Flinte wegwarf, erhalten. Die Bären hielten ihrer Gewohnheit gemäß an, um jeden ihrer Neugierde preisgegebenen Gegenstand zu beschnüffeln, und verloren so etwas an Terrain, während sie sonst das schnellste Pferd überholt hätten.

So kamen Hatteras, Altamont und Bell, außer Athem vom Laufen, bei Johnson an und ließen sich mit ihm die Böschung nach dem Schneehaufe hinabgleiten.

Die fünf Bären waren ihnen dicht auf dem Nacken, und der Kapitän mußte noch mit seinem Messer einen Tatzenschlag pariren, der kräftig nach ihm geführt wurde.

In Zeit von einem Augenblicke waren Hatteras und seine Genossen im Hause eingeschlossen. Die Bären waren zunächst auf dem durch die Abstumpfung des Kegelberges gebildeten Plateau zurückgeblieben.

»Endlich, rief Hatteras, werden wir uns nun besser vertheidigen können, Fünf gegen Fünf!

– Nur Vier gegen Fünf, sagte Johnson voll Schrecken.

– Wie das? fragte Hatteras.


Der Angriff der Eisbären. (S. 366.)

[366]

– Der Doctor! antwortete Johnson nur, auf das leere Zimmer zeigend. – Nun?

– Er ist nach der Insel zu gegangen!

– Der Unglückliche! rief Bell aus.

– So können wir ihn nicht verlassen, meinte Altamont.

– Nein, machen wir uns auf!« sprach Hatteras.

Schnell öffnete er die Thür, aber konnte sie kaum rechtzeitig wieder schließen; ein Bär hätte ihm beinahe mit einem Tatzenschlage den Schädel zertrümmert.

[367] »Sie sind da! schrie er.

– Alle? fragte Bell.

– Alle!« erwiderte Hatteras.

Altamont sprang nach den Fenstern, deren Oeffnungen er mit Eisstücken aus den inneren Wänden verrammelte; seine Genossen thaten dasselbe; durch Nichts ward das Schweigen unterbrochen, als durch Duks verhaltenes Bellen.

Das muß man jedoch den Männern nachsagen, daß sie nur Ein Gedanke beseelte: sie vergaßen die eigene Gefahr und dachten nur an den Doctor; an ihn, nicht an sich. Der arme Clawbonny! So gut, so ergeben, die Seele der kleinen Colonie! Zum ersten Male war er nicht da; die größten Gefahren, vielleicht gar ein schrecklicher Tod warteten sein, denn nach Beendigung seines Ausflugs würde er ruhig nach Fort Providence zurückkehren und plötzlich vor den wilden Bestien stehen.



Und es gab kein Mittel, das zu verhüten!

»Jedoch, wenn ich mich nicht sehr täusche, sagte Johnson, wird er auf seiner Hut sein; Ihr wiederholtes Feuern muß ihn aufmerksam gemacht haben und ihn glauben lassen, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorgehe.

– Wenn er aber zu fern von hier war, antwortete Altamont, und es nicht gehört hätte? Mit der Wahrscheinlichkeit von acht zu zehn wird er ohne Ahnung einer Gefahr zurückkehren. Die Bären sind durch den Wall des Forts verdeckt, so daß er sie vorher nicht sehen kann.

– Wir müssen uns also von diesen gefährlichen Gästen vor seiner Rückkehr befreien, erwiderte Hatteras.

– Aber wie?« fragte Bell.

Die Antwort hierauf war nicht leicht. Ein Ausfall erschien unausführbar. Man hatte Mühe gehabt, den Verbindungsgang zu verbarrikadiren, aber die [368] Bären konnten, wenn es ihnen einfiel, dieser Hindernisse leicht Meister werden; sie wußten recht gut, wie sie bezüglich der Zahl und der Stärke ihrer Gegner daran waren, welche ohne Schwierigkeit bis zu ihnen gelangen konnten.



Die Gefangenen vertheilten sich in alle Räume von Doctors-House, um jeden Versuch eines Einbruchs zu überwachen; wenn sie lauschten, hörten sie die Bären hin und her laufen, dumpf brummen und mit ihren ungeheuren Tatzen an den Wänden scharren.

Doch, man mußte handeln; die Zeit drängte. Altamont beschloß eine Schießluke herzustellen, um auf die Angreifer zu feuern; in wenigen Minuten hatte er ein Loch in der Eismauer ausgehöhlt, in welches er sein Gewehr einlegte; kaum aber erschien dasselbe außerhalb mit der Mündung, als es seinen Händen auch schon mit unwiderstehlicher Gewalt entrissen wurde, ohne daß er zum Schießen kam.

»Zum Teufel! rief er; dagegen sind wir nicht stark genug!« und beeilte sich, die Schießscharte wieder zu verstopfen.

Diese Lage währte nun schon eine Stunde, und ihr Ende war vorläufig nicht abzusehen. Die Aussichten eines Ausfalls wurden noch besprochen; sie waren nur schwach, da man die Bären nicht würde einzeln bekämpfen können. Nichtsdestoweniger gedachten Hatteras und seine Genossen, die diese Lage gern ändern wollten, und, man muß es gestehen, sehr beschämt und verwirrt waren, so von Thieren gefangen gehalten zu werden, einen directen Angriff unternehmen, als der Kapitän noch auf ein neues Vertheidigungsmittel verfiel.

[369] Er nahm den Poker 1, der Johnson zum Reinigen der Ofenroste diente, und legte ihn in die Kohlengluth; dann machte er eine Oeffnung in die Schneemauer, ohne sie für jetzt bis nach Außen zu verlängern, so daß also noch eine dünne Eiskruste an der Mündung stehen blieb.

Seine Gefährten sahen ihm zu. Als der Poker weißglühend geworden war, sagte Hatteras:

»Diese weißglühende Stange soll mir dazu dienen, die Bären, welche sie nicht halten können, zurückzutreiben, und durch die Schießscharte wird ein wohlgenährtes Feuer auf sie gerichtet werden können, ohne daß sie uns die Waffen zu entreißen vermögen.

– Gut ausgedacht!« rief Bell, der neben Altamont Posto faßte.



Darauf nahm Hatteras das Eisen aus der Gluth und stieß es schnell vollends durch die Mauer. Der Schnee, der in Berührung damit schmolz und verdampfte, zischte mit betäubendem Geräusche. Zwei Bären sprangen herbei, faßten die noch rothglühende Stange an, und stießen ein schreckliches Geheul aus; in demselben Augenblick fielen vier Schüsse Schlag auf Schlag.

»Getroffen! rief der Amerikaner.

– Getroffen! wiederholte hurtig Bell.

– Wiederholen wir's«, sagte Hatteras, und verstopfte die Oeffnung augenblicklich wieder.

[370] Das Schüreisen kam wieder in den Ofen; nach einigen Minuten war es rothglühend.

Altamont und Bell, welche die Gewehre wieder geladen hatten, nahmen ihre Plätze wieder ein; Hatteras reinigte die Schießscharte wieder und brachte das weißglühende Eisen auf's Neue hinein.

Diesmal aber stieß es auf eine undurchdringliche Schicht.

»Verdammt! rief der Amerikaner.

– Was ist los? fragte Johnson.

– Was los ist! Nun, daß diese verwünschten Thiere Blöcke auf Blöcke häufen, so daß sie uns in unserem Hause einmauern und lebendig begraben.

– Unmöglich!

– Sehen Sie doch, das Schüreisen dringt nicht mehr durch; das wird am Ende spaßhaft!«

Spaßhaft war es nicht mehr, es wurde beunruhigend; die Lage verschlimmerte sich. Die Bären, als sehr gescheite Thiere, wandten dies Mittel an, ihre Beute zu ersticken. Sie häuften die Schollen derart an, daß jede Flucht unmöglich wurde.

»Das ist hart! sagte der alte Johnson mit höchst ärgerlicher Miene. Wenn Menschen uns so behandelten, möchte es noch gehen, aber Bären!«

Hierauf verflossen noch zwei Stunden ohne wesentliche Veränderung der Lage; ein Ausfall war unausführbar geworden, die verdickten Mauern hielten auch jedes von Außen kommende Geräusch ab. Altamont ging unruhig umher, wie ein muthiger Mann, der erbittert ist über eine Gefahr, die alle seine Kühnheit übersteigt. Hatteras gedachte mit Schrecken des Doctors und der ernstlichen Gefahr, die ihm bei der Rückkehr drohte.

»Ach! rief Johnson, wäre doch Herr Clawbonny hier!

– Nun, was würde er beginnen? fragte Altamont.

– Er würde uns gewiß aus der Noth zu helfen wissen.

– Und womit? fragte lächelnd der Amerikaner.

– Ja, wenn ich das wüßte, erwiderte Johnson, dann brauchte ich ihn nicht. Doch, einen Rath, den er uns jetzt geben würde, weiß ich doch.

– Der wäre?

– Den, einen Imbiß zu nehmen! Gewiß kann uns das nichts schaden, im Gegentheil. Was meinen Sie darüber, Herr Altamont?

– Wir wollen essen, wenn es Ihnen Vergnügen macht, antwortete der [371] Letztere, obgleich es in unserer Lage etwas Albernes, um nicht zu sagen Demüthigendes ist.


Von Bären eingemauert. (S. 371.)

– Ich wette, daß wir nach dem Essen irgend ein Mittel entdecken, hier heraus zu kommen«, sagte Johnson.

Niemand antwortete, aber man setzte sich zu Tisch. Zwar versuchte Johnson, der in des Doctors Schule gebildet war, gegenüber der Gefahr den Philosophen zu spielen; doch gelang es ihm nur schlecht. Uebrigens singen die Gefangenen auch allmälig an, sich unbehaglich zu fühlen; die Luft verschlechterte [372] sich in diesem hermetisch verschlossenen Raume; die Atmosphäre konnte sich durch die Rauchfänge der Oefen, welche schlecht zogen, nicht erneuern, und es war leicht vorauszusehen, daß in nicht ferner Zeit das Feuer erlöschen werde; der Sauerstoff, welcher durch das Athmen und das Feuer verzehrt wurde, mußte bald der Kohlensäure, deren verderbliche Wirkung bekannt ist, Platz machen.

Hatteras erkannte diese neue Gefahr zuerst und wollte sie seinen Gefährten nicht verheimlichen.

»So werden wir also um jeden Preis hinaus müssen, sagte Altamont.

– Ja, erwiderte Hatteras; aber wir wollen die Nacht abwarten, dann machen wir eine Oeffnung in die Decke, die uns frische Luft zuführen wird, dann nimmt Einer von uns auf dieser Stelle Platz, um auf die Bären zu feuern.

– Das ist der einzige Ausweg«, erwiderte der Amerikaner.



Als man dahin übereingekommen war, wartete man gespannt auf die Zeit zum Versuche dieses Abenteuers, doch machte in den folgenden Stunden Altamont seinen Verwünschungen Luft über eine Lage der Dinge, »in welche, wie er sagte, Bären und Menschen gekommen seien, und in der die Letzteren nicht die schönste Rolle spielten.«

[373]
Fußnoten

1 Ein langes Stück Eisen zum Schüren des Feuers.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Die Mine.

Die Nacht kam heran, und schon begann die Lampe in der sauerstoffarmen Atmosphäre des Salons düster zu werden.

Um acht Uhr traf man die letzten Vorbereitungen. Die Gewehre wurden sorgfältig geladen, und eine Oeffnung in die Decke des Eishauses gemacht.



Die Arbeit dauerte schon einige Minuten, und Bell unterzog sich ihr ganz geschickt, als Johnson aus dem Schlafraume, in dem er sich zum Aufpassen befand, eilig zu den Anderen gelaufen kam.

Er schien unruhig zu sein.

»Was ist Ihnen, fragte der Kapitän.

– Was mir ist? Nichts, erwiderte der alte Seefahrer stockend, und doch ....

– Nun, was giebt's? sagte Altamont.

– Stille! Hören Sie nicht ein sonderbares Geräusch?

– Von welcher Seite?

– Da! Es geht irgend Etwas in der Mauer des Zimmers vor.«

Bell unterbrach seine Arbeit; Jeder horchte.

Ein noch entferntes Geräusch war zu vernehmen, das aus der Seitenwand herzukommen schien; offenbar wurde ein Loch in das Eis gemacht.

»Man scharrt daran! sagte Johnson.

[374] – Ohne Zweifel, erwiderte Altamont.

– Die Bären? fragte Bell.

– Ja, die Bären, versetzte dieser.

– Die haben ihre Taktik geändert, sagte der alte Seemann; sie haben es aufgegeben, uns zu ersticken.

– Oder sie halten uns schon für abgethan, erwiderte der Amerikaner, in dem der Zorn aufschäumte.

– Nun werden wir angegriffen werden, meinte Bell.

– Nun gut! sagte Hatteras, so werden wir Auge in Auge kämpfen.

– Tausend Teufel! rief Altamont, das ist mir lieber; ich für meinen Theil bin dieser unsichtbaren Feinde überdrüssig; jetzt wird man sich sehen und sich schlagen.

– Ja wohl, erwiderte Johnson, aber nicht mit Flintenschüssen, das geht in dem engen Raume nicht an.

– Nun gut, dann mit dem Beil, dem Messer!«

Das Geräusch wurde hörbarer, man vernahm deutlich das Kratzen der Krallen. Die Bären hatten die Mauer an dem Winkel in Angriff genommen, wo sich das Haus an den eisigen Abhang des Felsens lehnte.

»Das Thier, welches da arbeitet, ist jetzt keine sechs Fuß mehr von uns, sagte Johnson.

– Sie haben Recht, antwortete der Amerikaner, aber es bleibt uns Zeit, uns zu seinem Empfange vorzubereiten.«

Der Amerikaner nahm sein Beil in die eine, sein Messer in die andere Hand; auf den rechten Fuß gestützt, und den Körper zurückgebogen, hielt er sich zum Angriff bereit. Hatteras und Bell thaten desgleichen. Johnson hatte die Flinte bei der Hand, für den Fall, daß der Gebrauch der Feuerwaffe nöthig erschiene.

Immer stärker wurde das Geräusch; das Eis krachte unter der Gewalt der stählernen Krallen.

Endlich trennte nur noch eine dünne Kruste den Angreifer und seine Gegner. Plötzlich spaltete sich auch diese Zwischenwand, und ein großer schwarzer Körper erschien in dem Halbdunkel des Zimmers.

Schnell erhob Altamont seine Hand zum Schlage.

»Halt! Um des Himmels willen! rief da eine bekannte Stimme.

– Der Doctor! der Doctor!« jauchzte Johnson.


Des Doctors Einbruch in die Festung. (S. 375.)

[375]

Wirklich, es war der Doctor, der mit der Wucht seines Leibes mitten in's Zimmer kollerte.

»Nun, guten Tag, meine tapferen Freunde!« sagte er, indem er flink aufsprang.

Seine Gefährten waren ganz verdutzt, aber auf dieses Staunen folgte die Freude; Jeder wollte den wackern Mann in seine Arme schließen; Hatteras drückte ihn, tief gerührt, lange Zeit an's Herz; der Doctor antwortete ihm mit einem warmen Händedruck.

[376] »Was, Sie sind es, Herr Clawbonny! rief der Rüstmeister.

– Ich bin es, mein alter Johnson, und ich war über Ihr Loos gewiß unruhiger, als Sie es um das meinige sein konnten.

– Aber wie haben Sie wissen können, daß wir durch eine Rotte Bären angegriffen waren? fragte Altamont; unsere Hauptsorge war die, Sie möchten ruhig, ohne Ahnung der Gefahr, nach Fort Providence zurückkehren.

– O, ich habe Alles mit angesehen, erwiderte der Doctor; Ihre Flintenschüsse machten mich aufmerksam; ich war in dem Augenblicke nahe dem Wrack des Porpoise; ich erkletterte einen Eishügel und bemerkte die fünf Bären, die Ihnen auch auf der Ferse waren; ach, welche Angst hab' ich für Sie ausgestanden! Als ich Sie aber endlich von der Höhe des Hügels herabgleiten und die Bären Halt machen sah, war ich für den Augenblick beruhigt; ich nahm an, daß Sie noch Zeit hatten, sich im Hause verschanzen zu können. Dann hab' ich mich nach und nach genähert, bald kriechend, bald zwischen den Eisschollen gleitend; ich kam dem Fort nahe, und sah die gewaltigen Thiere, wie große Biber, bei der Arbeit; sie schlugen den Schnee an, thürmten die Blöcke, mit einem Worte, sie mauerten Sie lebendig ein. Glücklicherweise kamen sie nicht auf den Einfall, Blöcke von dem Berggipfel herabzuschleudern, denn dann würden Sie ohne Gnade zerschmettert worden sein.

– Aber, sagte Bell, Sie waren doch nicht in Sicherheit, Herr Clawbonny; konnten die Ungethüme nicht ihren Platz verlassen und gegen Sie vorgehen?

– Das fiel ihnen gar nicht ein; die Grönländer Hunde, welche Johnson losgelassen hatte, streiften mehrmals dicht bei jenen herum, ohne daß ihnen der Gedanke kam, auf sie Jagd zu machen; nein, die waren sich einer leckereren Beute gewiß.

– Ich danke für das Compliment, sagte Altamont lachend.

– O, darauf dürfen Sie nicht stolz sein. Als ich die Taktik der Bären durchschaute, beschloß ich zu Ihnen einzudringen; aus Vorsicht mußte ich die Nacht abwarten. Schon mit Eintritt der Dämmerung glitt ich geräuschlos nach dem Abhange von der Seite des Pulverhäuschens her. Diesen Weg wählte ich aus ganz bestimmten Gründen; ich wollte hier einen verdeckten Gang anlegen. Ich ging also an die Arbeit und griff das Eis mit meinem Schneemesser – wahrlich, ein prächtiges Stück Werkzeug das, entschlossen an. Ich hackte, bohrte, arbeitete, und da bin ich nun, zwar ausgehungert und kreuzlahm, aber doch angekommen ...

[377] – Um unser Loos zu theilen? sagte Altamont.

– Nein, um Alle zu retten; aber erst geben Sie mir etwas Zwieback und Fleisch, ich salle fast um vor Hunger.«

Bald zermalmten des Doctors weiße Zähne ein tüchtiges Stück Pökelfleisch; noch während des Essens gab er auf die ihn bestürmenden Fragen Antwort.

»Uns retten! wiederholte Bell.

– Ohne Zweifel, erwiderte der Doctor, der mit gewaltiger Anstrengung der Kaumuskeln seiner Antwort Bahn machte.

– Uebrigens, sagte Bell, da Herr Clawbonny hereingekommen ist, können wir auch auf demselben Wege wieder hinauskommen.

– Ja freilich, erwiderte der Doctor, und können der bösen Brut das Feld räumen, die zuletzt unsere Vorräthe entdecken und plündern wird.

– Wir müssen hier aushalten, sagte Hatteras.

– Ohne Zweifel, bestätigte der Doctor, aber uns nichtsdestoweniger bald jene Thiere vom Halse schaffen.

– Und dazu gäbe es ein Mittel? fragte Bell.

– Ein ganz sichres, erwiderte der Doctor.

– Ich hab's doch immer gesagt, frohlockte Johnson, sich die Hände reibend; mit Herrn Clawbonny braucht man an Nichts zu verzweifeln; er hat in seinem Wissenssacke immer noch eine Aushilfe.

O, o! Mein armer Quersack ist sehr schmächtig, wenn man ihn aber tüchtig durchsucht ...

– Doctor, fiel Altamont ein, die Bären können doch nicht durch den Gang, den Sie ausgehöhlt haben, nachdringen?

– Nein, den habe ich hinter mir wieder gut verstopft; jetzt können wir von hier wenigstens nach dem Pulverhäuschen, ohne daß sie Etwas davon merken.

– Gut! Aber nun theilen Sie uns auch mit, wie Sie uns die lächerlichen Belagerer vom Halse zu schaffen gedenken.

– Das ist ein sehr einfaches Mittel, wofür die Vorarbeiten schon theilweise ausgeführt sind.

– Wie so?

– Das werden Sie gleich sehen. Doch ich vergesse ganz, daß ich ja nicht allein gekommen bin.

[378] – Was sagen Sie? fragte Johnson.

– Ich habe Ihnen da einen Begleiter vorzustellen.«

Bei diesen Worten holte der Doctor aus dem Gange einen frisch geschossenen Fuchs.

»Ah, ein Fuchs! rief Bell.

– Meine Jagdbeute von heute früh, erklärte bescheiden der Doctor, und Sie sollen einsehen, daß noch nie ein Fuchs zu gelegenerer Zeit erlegt worden ist.

– Aber was haben Sie für einen Plan? fragte Altamont.

– Ich will die Bären alle miteinander mit einem Centner Pulver in die Luft sprengen«, erwiderte der Doctor.



Erstaunt sahen sie den Letzteren an.

»Aber das Pulver? fragte man.

– Ist im Magazin.

– Und das Magazin?

– Dieser enge Gang führt dahin. Ich habe doch nicht ohne Grund einen sechzig Fuß langen Stollen ausgegraben; ich hätte von der Brüstung aus auf näherem Wege in das Haus gelangen können, aber ich hatte so meine Gedanken dabei.

– Nun, und die Mine, fragte der Amerikaner, wo wollen Sie diese anlegen?

– Vor unserer Böschung, d.h. so entfernt von dem Hause, der Pulverkammer und den Magazinen als möglich.

[379] – Aber wie sollen die Bären dahin gelockt werden?

– Das übernehme ich schon, antwortete der Doctor; genug der Worte, gehen wir zu Thaten. Während der Nacht haben wir einen etwa hundert Fuß langen Gang auszuhöhlen; das ist eine anstrengende Arbeit, aber zu Fünf werden wir, wenn wir uns ablösen, auch damit fertig. Bell mag anfangen und wir ruhen indessen aus.

– Alle Wetter, rief Johnson, je mehr ich mir es überlege, desto besser erscheint mir Herr Clawbonny's Mittel.

– Es ist wenigstens ein sicheres, erwiderte der Doctor.

– O, von dem Augenblicke an, da Sie es sagen, sind die Bären schon so gut wie todt, und ich fühle schon ihre Pelze auf der Schulter.

– Nun denn, an's Werk!«



Der Doctor verschwand in dem dunkeln Gange, und Bell folgte ihm; die Gefährten wußten, daß er bei einer Sache, die er einmal anfing, auch mit frohem Muthe war. Die beiden Mineure kamen am Pulverhäuschen an und machten sich eine Oeffnung, die sie mitten unter die bestens geordneten Fäßchen führte. Der Doctor gab Bell die nöthigen Anweisungen, und der Zimmermann arbeitete durch die entgegengesetzte Mauer, auf welche sich die Böschung stützte, während sein Begleiter nach dem Hause zurückkehrte.

Bell arbeitete eine Stunde lang und schachtete einen etwa zehn Fuß langen engen Gang aus, der kriechend passirt werden konnte. Nach dieser Zeit trat Altamont an seine Stelle, welcher ungefähr eben so viel förderte. Der aus [380] dem Gange fortgeschaffte Schnee wurde nach der Küche gebracht, wo ihn der Doctor der Raumersparniß wegen einschmolz.

Auf den Amerikaner folgte der Kapitän, auf diesen Johnson; in zehn Stunden, d.h. bis gegen früh acht Uhr, war der Gang vollendet.

Beim ersten Morgengrauen beobachtete der Doctor die Bären durch die Luke, die er in die Wand des Pulverhäuschens gebrochen hatte.

Die geduldigen Thiere waren nicht von der Stelle gewichen; er sah sie hin- und hergehen und brummen, aber im Ganzen standen sie doch mit bewundernswerther Ausdauer Schildwache; sie tummelten sich rund um das Haus, das der Eisblöcke wegen kaum sichtbar war. Plötzlich aber schien ihre Geduld zu Ende zu sein, denn der Doctor sah sie die Eisschollen, die sie erst aufgethürmt hatten, wieder wegräumen.

»Schön! sagte er zum Kapitän, der neben ihm stand.

– Was fangen sie an? fragte dieser.

– Es scheint mir, als wollten sie ihr eigenes Werk wieder zerstören und bis zu uns vordringen! Aber Geduld, sie werden vorher zerschmettert sein; auf jeden Fall ist nun keine Zeit zu verlieren!«

Der Doctor glitt bis zu dem Punkte, wo die Mine angelegt werden sollte; dort ließ er die Kammer zur ganzen Höhe und Breite der Böschung ausweiten; bald war diese nur noch von einer dünnen, kaum einen Fuß mächtigen Eiskruste bedeckt; man mußte sie stützen, damit sie sich nicht senkte.

Ein auf dem Granitboden aufgestemmter Pfahl diente als Pfeiler; oben wurde der Fuchs daran gebunden, unten ein langer Strick, der bis zum Pulverhäuschen hinlief.

Die Genossen des Doctors folgten seinen Anordnungen, ohne sie noch völlig zu verstehen.

»Da ist die Lockspeise«, sagte er, auf den Fuchs weisend.

Neben den Pfeiler rollte er ein Tönnchen, das einen Centner Pulver enthalten mochte.

»Und hier ist die Mine, fügte er hinzu.

– Aber, fragte Hatteras, mit den Bären werden wir gleichzeitig in die Luft gehen.

– Nein, wir sind von dem Orte der Explosion weit genug entfernt; übrigens ist unser Haus fest, und wenn es etwas aus den Fugen ginge, nun, so werden wir es wiederherstellen.

[381] – Gut, erwiderte Altamont; aber wie wollen Sie zu Werke gehen?

– Folgendermaßen: Wenn wir diesen Strick anziehen, reißen wir den Pfeiler um, der die Eisdecke über der Mine hält; der Balg des Fuchses wird dann sichtbar werden und Sie werden zugeben, daß die durch langes Fasten ausgehungerten Thiere sogleich darüber herfallen werden.

– Zugegeben.

– Nun wohl, in demselben Augenblicke lege ich Feuer an die Mine, und sprenge Mahlzeit und Gäste auf einmal in die Luft.

– Schön, schön!« rief Johnson, welcher der Unterhaltung mit lebhaftem Interesse gefolgt war.



Hatteras hatte zu seinem Freunde so vollkommenes Vertrauen, daß er nach keiner weiteren Erklärung verlangte; er wartete es ruhig ab. Altamont wollte aber näher unterrichtet sein.

»Doctor, sagte er, wie wollen Sie die Brennzeit ihre Lunte so genau berechnen, daß die Explosion im rechten Augenblicke erfolgt?

– Das ist sehr einfach, denn ich berechne sie gar nicht.

– Sie haben doch eine hundert Fuß lange Lunte?

– Nein.

– Dann wollen Sie wohl eine Pulverspur anlegen?

– Nein, die könnte versagen.

– Dann wird sich also Einer entschließen müssen, die Mine zu entzünden?

[382] – Wenn es eines Mannes mit gutem Willen bedarf, sagte Johnson opferwillig, so biete ich mich freiwillig an.

– Das ist unnöthig, mein würdiger Freund, antwortete der Doctor dem alten Rüstmeister, unsere fünf Leben sind kostbar, und sollen, Gott sei Dank, geschont werden.

Dann höre ich auf, zu rathen, bemerkte der Amerikaner.

– Aber, sagte der Doctor lachend, wenn man sich hierbei nicht helfen könnte, wozu hätte man dann Physik studirt!

– Ah, sagte Johnson freudestrahlend, – die Physik hilft!

– Natürlich. Haben wir da nicht eine elektrische Batterie mit hinreichend langen Leitungsdrähten? Ich meine dieselben, die uns beim Leuchtthurme dienten.


(S. 385.)

– Nun, und ...?

– Nun, damit werden wir augenblicklich, wenn es uns gefällt, und ganz ohne Gefahr, die Mine entzünden.

– Hurrah! rief Johnson.

– Hurrah!« die Anderen, unbekümmert, ob es die Feinde hörten oder nicht.

Sogleich wurden die Drähte von dem Hause aus bis nach der Minenkammer gelegt. Ihr eines Ende blieb an der Batterie befestigt, die anderen tauchten in das Pulver, indem sie sich unweit gegenüberstanden.

Um neun Uhr Morgens war Alles beendet; es ward auch die höchste Zeit; wüthend betrieben die Bären das Werk der Zerstörung.

Der Doctor erklärte den Augenblick für gekommen.

[383] Johnson wurde in dem Pulverhäuschen damit beauftragt, den mit dem Pfeiler verbundenen Strick anzuziehen. Er bezog seinen Posten.


Die Angreifer werden durch eine Mine zerrissen. (S. 385.)

»Jetzt, sagte der Doctor zu seinen Gefährten, halten Sie auch die Gewehre bereit für den Fall, daß die Belagerer nicht auf einen Schlag getödtet würden, und halten Sie sich an Johnson's Seite; sogleich nach der Explosion brechen Sie aus.

– Einverstanden, sagte der Amerikaner.

– Und jetzt haben wir Alles gethan, was Menschen thun können! Wir haben uns geholfen, nun helfe der Himmel weiter!«

[384] Hatteras, Altamont und Bell verfügten sich nach dem Pulverhäuschen. Bei der Batterie blieb der Doctor allein.

Bald hörte er den entfernten Zuruf Johnson's:

»Achtung!

– Es geht Alles nach Wunsch!« antwortete er.

Johnson zog heftig an dem Taue, es gab nach, indem es die Stütze umriß, dann eilte er nach der Luke und sah nach dem Erfolge.

Die Decke der Boschung senkte sich nieder; über den Bruchstücken ward der Körper des Fuchses sichtbar. Die Bären, welche zuerst erstaunt schienen, stürzten sich doch bald dicht an einander gedrängt auf die willkommene Beute.

»Feuer!« rief Johnson schnell.

Sogleich schloß der Doctor den elektrischen Strom; eine furchtbare Explosion fand statt – das Haus erzitterte wie von einem Erdbeben; die Mauern barsten. Hatteras, Altamont und Bell stürzten hervor, um nöthigenfalls zu feuern.

Aber ihre Waffen waren unnöthig; vier von den fünf Bären, welche die Explosion getroffen hatte, fielen da und dort zerrissen, unkennbar, verstümmelt und verbrannt nieder, während der Letzte, halb geröstet, sein Heil in eiliger Flucht suchte.

»Hurrah! Hurrah! Hurrah!« riefen die Genossen Clawbonny's, während dieser freudig in ihre Arme fiel.

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Arktischer Frühling.

Die Gefangenen waren erlöst; ihre Freude sprach sich in lauten Ausbrüchen und lebhaften Dankesbezeugungen gegen den Doctor aus. Die verbrannten und zu keiner Anwendung mehr tauglichen Felle der Bären bedauerte der alte Johnson zwar, ohne daß dies indeß seiner guten Laune besonderen Abbruch that.

[385] Der Tag verging mit Wiederausbesserung des Eishauses, das merkliche Spuren von der Explosion davon getragen hatte.

Man entfernte die von den Thieren herangewälzten Blöcke wieder und verschloß die Mauerfugen auf's Neue. Die Arbeit schritt, begleitet vom lustigen Gesang des Rüstmeisters, rasch vorwärts.

Am anderen Tage besserte sich die Temperatur wesentlich, und das Thermometer stieg in Folge einer plötzlichen Drehung des Windes bis auf fünfzehn Grad über Null (– 9° hunderttheilig). Eine so beträchtliche Differenz war an lebenden und todten Wesen sehr bemerkbar. Der südliche Seewind brachte die ersten Anzeichen des nahenden polaren Frühlings.

Diese relative Wärme dauerte mehrere Tage an; das Thermometer zeigte, geschützt vor dem Winde, sogar einunddreißig Grad über Null (– 1° hunderttheilig); es traten Anzeichen von Thauwetter ein.

Das Eis bekam Risse; da und dort sprang schon etwas Salzwasser hervor, wie die Wasserstrahlen in englischen Parks, und einige Tage später strömte reichlicher Regen herab.

Ein dichter Dunst lagerte über dem Schnee; er war ein gutes Vorzeichen und verkündete die baldige Schmelzung der ungeheuren Massen. Die blasse Scheibe der Sonne färbte sich lebhafter und beschrieb längere Bogen am Himmel; die Nacht dauerte jetzt kaum drei Stunden.

Ein anderes nicht weniger bezeichnendes Symptom bildeten die in großer Anzahl wiederkehrenden Schneehühner, Polargänse, Regenvögel und Birkhühner; die Luft ertönte nach und nach von jenem betäubenden Geschrei, dessen sich die Seefahrer noch vom vorigen Frühling her erinnerten; Hasen, welche man in großer Zahl schoß, erschienen an den Ufern der Bai, ebenso wie die arktische Maus, deren Bau eine Reihe regelmäßiger Zellen bildet.

Der Doctor machte seine Gefährten darauf aufmerksam, wie fast alle diese Thiere ihre weißen Winterhaare oder -Federn verloren und gegen die Sommer-Pelze oder -Gefieder umtauschten, sie »machten selbst Frühling«, während die Natur ringsherum ihre Nahrung in Form von Moos, Mohn, Steinbrech und Zwergrafen hervorsprießen ließ. Ein ganz neues Leben brach durch den verschwindenden Schnee hervor.

Mit den unschuldigen Thieren kamen aber auch deren ausgehungerte Feinde wieder; Füchse und Wölfe trabten ihrer Beute nach; und klägliches Geheul erscholl während der kurzen Dunkelheit der Nacht.

[386] Der Wolf dieser Gegend ist unserm Hunde nahe verwandt; er bellt wie dieser, und so täuschend, daß sich auch die geübtesten Ohren, nämlich die der Hunderace selbst, täuschen lassen; man erzählt sogar, daß diese Thiere jene Kriegslist anwenden, um Hunde heranzulocken und diese zu verzehren. Diese Thatsache wurde ebenso in den Hudson-Bai-Ländern beobachtet, wie sie der Doctor in Neu-Amerika bestätigen konnte, und Johnson sorgte deshalb, daß die Hunde des Gespanns, die sich in dieser Schlinge hätten fangen können, nicht umher liefen. Was Duk betraf, so hatte dieser zu viele gesehen, und war zu klug, um in den Rachen eines Wolfs zu laufen.

Während vierzehn Tagen jagte man sehr fleißig und hatte bald frische Fleischvorräthe in Ueberfluß. Man erlegte Schneehühner, Rebhühner und Schnee-Ortolane, die eine leckere Speise boten. Weit vom Fort Providence brauchten sich die Jäger gar nicht zu entfernen; man konnte sagen, daß das kleine Wild ihnen selbst vor die Flinte lief; es belebte durch seine Gegenwart diese sonst so schweigsamen Gegenden ganz eigenthümlich, und die Bai Victoria gewann ein ebenso ungewohntes, als den Augen erquickliches Ansehen.



Die vierzehn Tage nach dem ernsthaften Zusammenstoße mit den Bären wurden so auf wechselnde Art verbracht; das Thauwetter machte sichtliche Fortschritte; das Thermometer stieg auf zweiunddreißig Grad über Null (– 0° hunderttheilig). Bergströme rauschten in den Hohlwegen und tausend Wasserfälle bildeten sich an den Abhängen der Hügel.

[387] Der Doctor räumte etwa einen Morgen Landes auf und säete darein Kresse, Sauerampher und Löffelkraut, die eine so vortreffliche Heilwirkung beim Scorbut äußern. Schon sproßten kleine grüne Blättchen aus der Erde auf, als der Frost plötzlich wieder die Oberhand in seinem Reiche gewann.

In einer Nacht sank das Thermometer bei strengem Nordwind etwa vierzig Grade, bis auf acht unter Null (– 22° hunderttheilig). Alles war wieder gefroren; Vögel, Vierfüßler und Amphibien verschwanden wie durch Zauberschlag; die Robbenlöcher schlossen sich wieder; die Risse verschwanden und das Eis bekam wieder die Härte des Granites, während die Cascaden, in ihrem Herabsturz gehemmt, lange Krystallzapfen bildeten.



Eine merkwürdige Veränderung des Anblicks ging in der Nacht vom 11. zum 12. Mai vor, und als Bell am Morgen die Nase in diesen schneidenden Frost hinaussteckte, hätte er sie beinahe draußen gelassen.

»O, über diesen Norden, rief der Doctor etwas verdrießlich, das ist so eine seiner Plagen! Nun werde ich mein Säen von Neuem anfangen können.«

Hatteras nahm die Sache weniger philosophisch, so sehr trieb es ihn, seine Untersuchungen aufzunehmen, doch wohl oder übel mußte er sich fügen.

»Und werden wir diese Kälte lange Zeit haben? fragte Johnson.

– Nein, mein Freund, antwortete Clawbonny, das ist gewöhnlich der letzte Anfall des Frostes! Sie wissen, daß er hier zu Hause ist und ohne Widerstand läßt er sich nicht vertreiben.

[388] – Er vertheidigt sich wirklich gut, warf Bell ein, sich das Gesicht reibend.

– Ja wohl, bestätigte der Doctor; aber ich hätte das wissen können und meine Sämereien nicht wie ein Unwissender vergeuden sollen, zumal da ich sie nöthigenfalls in der Nähe des Küchenofens hätte treiben lassen können.

– Wie, sagte Altamont, Sie konnten diesen Temperaturwechsel voraussehen?

– Gewiß, und ohne deshalb Prophet zu sein. Ich hätte wenigstens meine Sämereien unter den unmittelbaren Schutz der Heiligen Mamertus, Pancratius und Servatius stellenmüssen, deren Namenstage auf den 11., 12. und 13. dieses Monats fallen.



– Können Sie mir beispielsweise sagen, Doctor, rief Altamont, welchen Einfluß die genannten drei Heiligen auf die Temperatur haben könnten?

– Einen sehr großen, wenn man den Gärtnern, welche sie ›die drei Eisheiligen‹ nennen, Glauben schenkt.

– Und wie das, wenn ich fragen darf?

– Weil gewöhnlich im Monat Mai ein periodisches Froststadium einfällt, und der niedrigste Stand der Temperatur vom 11. bis 13. stattfindet. Das ist mindestens Thatsache.

– Es ist merkwürdig; doch hat man eine Erklärung dafür? fragte der Amerikaner.

– Ja; sogar zwei: Entweder erklärt man es durch die Annahme einer [389] größeren Zahl Asteroïden 1, die an diesem Tage zwischen Sonne und Erde vorüberziehen sollen; oder einfacher durch die Schmelzung der Schneemassen, welche eine große Menge Wärme bindet. Beide Erklärungen haben Etwas für sich. Muß man die Richtigkeit derselben anerkennen? – Ich weiß es nicht; aber wenn ich das auch nicht thue, durfte ich doch die Thatsache nicht außer Acht lassen und dadurch meine Pflanzungen in Gefahr bringen.«

Der Doctor hatte Recht; mochte nun Dies oder Jenes die Ursache sein, die Kälte hielt bis Ende des Monats an; die Jagd mußte unterbrochen werden, nicht weil der Frost zu heftig gewesen wäre, als weil es Nichts zu jagen gab; zum Glück waren die Vorräthe an frischem Fleische bei Weitem noch nicht erschöpft.

Die Ueberwinternden waren also zu neuer Unthätigkeit verurtheilt; während der nächsten vierzehn Tage, vom 11. bis 25. Mai, wurde ihr eintöniges Leben nur von einem einzigen Ereigniß unterbrochen, einer schweren Krankheit, die Rachenbräune, welche den Zimmermann unerwartet überfiel; bei den heftig geschwollenen Mandeln und den falschen Membranen, die darauf abgelagert waren, konnte der Doctor bezüglich der Diagnose nicht in Zweifel sein; hier war er aber in seinem Elemente, und die böse Krankheit, die auf ihn gewiß nicht gerechnet hatte, wurde bald abgewendet. Die Behandlung Bell's war sehr einfach, und die Apotheke nicht weit. Der Doctor that Nichts weiter, als daß er den Kranken Eisstückchen in den Mund nehmen ließ; schon nach einigen Stunden sank die Anschwellung zusammen und die falschen Membranen stießen sich los; vierundzwanzig Stunden später war Bell wieder auf den Füßen.

Als man sich über das Verfahren des Doctors wunderte, antwortete dieser:

»Hier zu Lande sind die Halsentzündungen einheimisch, und das Heilmittel dagegen muß nahe dem Uebel sein.

– Das Heilmittel und besonders der Arzt«, fügte Johnson hinzu, in dessen Augen der Doctor zu wahrhaft pyramidalem Ansehen stieg.

Während dieser neuen Muße beschloß der Letztere mit dem Kapitän eine wichtige Auseinandersetzung zu veranlassen; es handelte sich darum, Hatteras darauf zurückzuführen, daß der Weg nach Norden unternommen werden solle, ohne eine Schaluppe, ein Canot, ein Stück Holz mitzunehmen, um mit ihm [390] die See oder Meerengen zu überschreiten. Der Kapitän, der unbeugsam auf seinen Ideen beharrte, hatte sich ja in aller Form gegen die Erbauung eines Fahrzeuges aus den Resten des Porpoise ausgesprochen.

Es wurde demnach dem Doctor nicht leicht, jenes Thema anzufassen, und doch war es wichtig, dasselbe gründlich bis zur Entscheidung zu behandeln, denn bald mußte nun ja der Juni die Zeit der größeren Ausflüge herbeiführen. Nach reiflicher Ueberlegung nahm er Hatteras endlich einmal bei Seite und sprach zu ihm mit dem Ausdrucke sanfter Freundlichkeit:

»Hatteras, halten Sie mich für Ihren Freund?

– Gewiß, erwiderte der Kapitän schnell, für den besten, vielleicht für den einzigen.

– Wenn ich Ihnen einen, wenn auch unverlangten Rath ertheile, fuhr der Doctor fort, glauben Sie, daß ich das aus Eigennutz thue?

– Nein, denn das persönliche Interesse hat nie Ihre Handlungen bestimmt; aber wohinaus zielen Sie?

– Erlauben Sie mir noch eine Frage, Hatteras; halten Sie mich für einen eben so guten Engländer als Sie, und für eben so ehrgeizig auf den Ruhm unseres Vaterlandes?«

Erstaunt maß Hatteras den Doctor mit den Augen.

»Ja, erwiderte er, und forschte mit den Augen nach dem Zwecke seiner Fragen.

– Sie wollen bis zum Nordpol vordringen, fuhr der Doctor fort; ich begreife Ihren Ehrgeiz, ja, ich theile ihn; aber um dieses Ziel zu erreichen, würden wir nichts Nothwendiges unterlassen dürfen.

– Nun, habe ich bis jetzt nicht Alles diesem Zwecke geopfert?

– Nein, Hatteras, Ihr persönliches Widerstreben haben Sie nicht geopfert, und noch jetzt sehe ich Sie die unumgänglichsten Hilfsmittel, den Pol zu erreichen, ausschlagen.

– Aha, fiel Hatteras ein, Sie wollen von jener Schaluppe, von jenem Manne sprechen ...

– Hatteras, wir wollen ganz ruhig und kaltblütig verhandeln, und die Sache von allen Seiten betrachten. Diese Küste, auf der wir den Winter zugebracht haben, kann unterbrochen sein; Nichts giebt uns einen Beweis, daß sie sich durch sechs Breitengrade bis zum Pole erstrecke; wenn die Angaben, welche uns bis hierher führten, sich bestätigen, so werden wir während [391] des Sommers eine große Fläche freien Wassers vorfinden. Nun, und wenn wir vor dem Arktischen Ocean stehen, der frei von Eis, aber ohne Hinderniß für die Schifffahrt ist, was werden wir beginnen, wenn uns die Mittel fehlen, darüber zu setzen?«

Hatteras antwortete nicht.

»Wird es Ihnen genehm sein, sich wenige Meilen vom Pole entfernt zu befinden, ohne bis dahin gelangen zu können?«

Der Kapitän hatte den Kopf in die Hände sinken lassen.

»Und nun, betrachten wir die Frage einmal vom moralischen Standpunkte aus. Ich begreife, daß ein Engländer sein Vermögen, ja, seine Existenz einsetzt, um England ein neues Lorbeerblatt zu erwerben. Aber weil ein Boot aus einigen, von einem amerikanischen Schiffe genommenen Planken gezimmert worden ist, kann das die Ehre der Entdeckung schmälern? Und wenn Sie nun selbst hier ein verlassenes Schiff aufgefunden hätten, würden Sie Anstand genommen haben, sich seiner zu bedienen? Kommen nicht dem Chef einer Expedition allein die Früchte des Erfolges zu? – und ich frage Sie noch, wird denn diese Schaluppe, welche vier Engländer erbauen, und vier Engländer bemannen, wird sie nicht vom Kiel bis zum Deck eine englische sein?«

Hatteras schwieg noch immer.

»Nein, nahm der Doctor wieder das Wort, sprechen wir offenherzig, nicht die Schaluppe liegt Ihnen am Herzen, sondern der Mann.

– Ja, Doctor, ja, erwiderte der Kapitän, dieser Amerikaner, der meinen ganzen englischen Haß wachruft; dieser Mann, den das Schicksal mir in den Weg werfen mußte ...

– Um Sie zu retten!

– Um mich zu verderben! Mir scheint es, als hänsele er mich, als rede er hier als Herr und Meister, als bilde er sich ein, mein Geschick in der Hand und meine Pläne errathen zu haben. Bekannte er nicht schon Farbe, als es sich darum handelte, diese neuen Länder zu taufen? Hat er je eingestanden, was er in diesen Breiten überhaupt vorhabe? Sie werden mir nicht einen Gedanken, der mich martert, nehmen können, nämlich den, daß er der Chef einer von der Unionsregierung auf Entdeckungsreisen ausgesendeten Expedition ist.


Bell zerlegt Altamont's Schiff. (S. 395.)

– Und wenn das wäre, wer beweist, daß diese Expedition auch den [392] Nordpol zum Ziele hatte? Kann Amerika nicht eben so gut wie England die nordwestliche Durchfahrt suchen? Jedenfalls kennt Altamont Ihre Absichten nicht im Mindesten, denn weder Johnson, noch Bell, noch Sie, noch ich haben vor ihm je ein Wort davon gesprochen!

– Nun gut, so möge er sie auch nie kennen lernen.

– Das wird nicht angehen, denn wir können ihn doch nicht allein hier zurücklassen?

[393] – Warum das nicht? fragte Hatteras mit einer gewissen Heftigkeit; kann er nicht im Fort Providence wohnen bleiben?

– Da würde er schwerlich zustimmen, Hatteras; übrigens, diesen Mann zu verlassen, den wiederzufinden wir bei der Rückkehr nicht einmal sicher sind, wäre mehr als unklug, es wäre unmenschlich; Altamont wird mitkommen und muß es auch! Da es aber unnütz wäre, ihm jetzt Gedanken beizubringen, die er noch nicht hat, so sagen wir ihm auch nichts, sondern bauen eine Schaluppe, die scheinbar zur Erforschung dieser neuen Ufer bestimmt ist.«

Noch vermochte Hatteras nicht auf die Ideen seines Freundes einzugehen; dieser erwartete vergeblich eine Antwort.

»Und wenn dieser Mann die Zerstückelung seines Schiffes nicht zugäbe? sagte endlich der Kapitän.

– In diesem Falle wäre das volle Recht auf Ihrer Seite; Sie würden trotz seines Widerspruchs eine Schaluppe bauen lassen und er hätte keinen weiteren Anspruch.

– Gebe der Himmel, daß er es abschlägt! rief Hatteras.

– Vorher aber, erwiderte der Doctor, ist eine Anfrage nöthig; ich erbiete mich, diese zu stellen.«

Wirklich brachte noch denselben Abend, beim Essen, Clawbonny das Gespräch auf gewisse Projecte zu Ausflügen während der Sommermonate, wobei die Küste hydrographisch aufgenommen werden sollte.

»Ich denke, Sie werden sich uns anschließen, Altamont, sagte er.

– Gewiß, antwortete der Amerikaner, wir müssen doch wissen, wie weit sich Neu-Amerika erstreckt.«

Hatteras sah seinen Nebenbuhler, als dieser so sprach, scharf an.

»Und dazu, fuhr Altamont fort, müssen wir aus den Resten des Porpoise den besten Nutzen zu ziehen suchen. Wir wollen eine feste Schaluppe bauen, die uns weit tragen kann.

– Sie hören es, Bell, sagte lebhaft der Doctor, von morgen an gehen wir an's Werk.«

[394]
Fußnoten

1 Wahrscheinlich Trümmer eines großen Planeten.

15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Die nordwestsiche Durchfahrt.

Am anderen Tage begaben sich Bell, Altamont und der Doctor nach dem Porpoise; Holz bot das Wrack in Ueberfluß; die alte Schaluppe des Dreimasters war zwar leck durch die Stöße der Eisschollen, konnte aber doch die Haupttheile zu der neuen liefern. Der Zimmermann begann ohne Zögern seine Arbeit; man brauchte ein seetüchtiges Fahrzeug, das gleichzeitig so leicht war, um auf dem Schlitten fortgeschafft werden zu können.



Die letzten Tage des Mai hob sich die Temperatur; das Thermometer stieg wieder bis zum Gefrierpunkte; dieses Mal kam nun der Frühling alles Ernstes, und die Reisenden konnten die Winterkleider ablegen. Häufig trat Regen ein; der Schnee schmolz zusammen und rann über die geringsten Terrainneigungen in Stromschnellen und kleinen Wasserfällen.

Hatteras konnte seine Befriedigung nicht verhehlen, als die Eisfelder die ersten Spuren des Thauwetters zeigten. Freies Meer war auch für ihn die Freiheit.

Ob seine Vorgänger sich mit der Annahme eines offenen Polarmeeres getäuscht hatten oder nicht, das hoffte er nun bald zu wissen, davon hing ja der ganze Erfolg seiner Unternehmung ab.

[395] Eines Abends, als nach einem warmen Tage sich die Spuren der Auflösung des Eises noch deutlicher zeigten, brachte er das Gespräch auf dieses hochinteressante Thema.

Er brachte dafür alle ihm geläufigen Wahrscheinlichkeitsgründe vor, und fand in dem Doctor immer einen warmen Vertheidiger seiner Lehrsätze. Uebrigens hatten seine Schlußfolgerungen entschieden viel für sich.

»Es ist einleuchtend, sagte er, daß, wenn der Ocean sich seiner Eismassen vor der Bai Victoria entledigt, sein nördlicher Theil bis Neu-Cornwallis hin frei sein muß, ebenso wie bis zu dem Canal der Königin. Penny und Belcher haben ihn so gesehen, und sie beobachteten gut.

– Ich glaube das so gut wie Sie, Hatteras, erwiderte der Doctor, und Nichts gestattet, den guten Glauben dieser berühmten Seefahrer in Zweifel zu ziehen; nur wollte man ihre Entdeckung einer Luftspiegelung zuschreiben, doch waren sie offenbar zu sehr überzeugt, um der Thatsache nicht sicher zu sein.

– So hab' ich immer gedacht, nahm dann Altamont das Wort; das Polarmeer erstreckt sich nicht nur nach Westen, sondern auch nach Osten.

– In der That, das kann man annehmen; erwiderte Hatteras.

– Man muß es sogar, entgegnete der Amerikaner, denn dasselbe freie Meer, welches die Kapitäne Penny und Belcher nahe den Küsten von Grinnelland gesehen haben, sah Morton, der Lieutenant Kane's, ebenfalls von der Meerenge aus, die den Namen dieses kühnen Gelehrten trägt.

– Wir sind nicht im Kane-Meer, entgegnete Hatteras trocken, also können wir das auch nicht bestätigen.

– Mindestens ist es wahrscheinlich, sagte Altamont.

– Gewiß, fiel der Doctor ein, der einem unnützen Streite vorbeugen wollte. Was Altamont denkt, wird schon wahr sein; bei den eigenthümlichen Gestaltungen des umlagernden Landes treten unter gleichen Breiten auch die nämlichen Erscheinungen auf. Ich für meinen Theil glaube an das offene Meer im Osten eben so, wie im Westen.

– Jedenfalls ist das für uns nicht von Belang! sagte Hatteras.

– Ich spreche da nicht so wie Sie, Hatteras, sagte der Amerikaner, den die affectirte Gleichgiltigkeit des Kapitäns warm zu machen anfing, das könnte für uns von einer gewissen Wichtigkeit sein.

– Und wann, ich bitte?

[396] – Wenn wir an die Rückkehr denken.

– An die Rückkehr! rief Hatteras; wer denkt denn daran?

– Jetzt Niemand, meinte Altamont, aber auf einem Punkte werden wir, denk' ich, doch einmal Halt machen.

– Und wo wäre dieser?« fragte Hatteras.

Diese directe Frage war hiermit zum ersten Male an den Amerikaner gerichtet. Der Doctor hätte einen Arm darum gegeben, um die Erörterung von Unannehmlichkeiten frei zu erhalten.

Altamont antwortete nicht; der Kapitän wiederholte seine Frage.

»Nun, wo wäre das?

– Wo wir eben hingehen! erwiderte gelassen der Amerikaner.

– Und wer kann das wissen? sagte beruhigend der Doctor.

– Ich nehme doch an, sprach der Amerikaner weiter, daß, wenn wir das Polarmeer zur Rückkehr benutzen wollen, wir versuchen müssen, das Kane-Meer zu erreichen; das wird uns näher nach der Bassins-Bai bringen.

– Sie glauben? fragte ironisch der Kapitän.

– Ich glaube es, so gewiß wie ich überzeugt bin, daß, wenn diese nördlichen Meere jemals der Schifffahrt erschlossen werden, man jenen Weg, der offenbar weniger Hindernisse bietet, benutzen wird. O, die Entdeckung des Doctor Kane ist sehr wichtig!

– Wirklich! sagte Hatteras, der sich die Lippen fast blutig biß.

– Ja, man kann das nicht leugnen, fügte der Doctor hinzu, und muß Jedem seine Verdienste gönnen.

– Ohne in Anschlag zu bringen, fuhr der hartnäckige Amerikaner fort, daß vor ihm noch Keiner so weit nach Norden vorgedrungen war.

– Mir scheint, erwiderte Hatteras, die Engländer haben's ihm jetzt zuvor gethan.

– Und die Amerikaner! setzte Altamont hinzu.

– Die Amerikaner! rief Hatteras.

– Nun, was bin ich denn? sagte Altamont stolz.

– Sie sind, erwiderte Hatteras mit kaum verhaltener Stimme, ein Mann, der dem Zufalle und der Wissenschaft nur gleiche Theile des Ruhmes zugesteht. Ihr amerikanischer Kapitän ist weit nach Norden vorgedrungen, aber der Zufall allein ...

[397] – Dem Zufalle! Sie wagen zu behaupten, daß Kaue seine große Entdeckung nicht der Energie und den Kenntnissen verdanke, welche er besaß?

– Ich sage, entgegnete Hatteras, daß der Name Kane in einem durch einen Parry, einen Franklin, Roß, Belcher und Penny berühmten Lande gar nicht zu nennen ist, oder in Meeren, worin der Engländer Mac-Clure die nordwestliche Durchfahrt gefunden ...

– Mac-Clure, rief lebhaft der Amerikaner; Sie führen diesen Mann an und wollen die Geltung des Zufalls bestreiten? Hat ihn nicht die Gunst des Zufalls allein dahin geführt?

– Nein, erwiderte erregt Hatteras, nein! Vielmehr sein Muth, seine Ausdauer, vier Winter mitten im Eise auszuhalten ...

– Das glaub' ich wohl, warf der Amerikaner ein, er war festgefroren, er konnte nicht fort und verließ endlich sein Schiff, den ›Investigator‹, um nach England zurückzukehren.

– Meine Freunde ..., sagte der Doctor.

– Uebrigens, unterbrach ihn Altamont, sehen wir von dem Manne ab und fassen das Resultat in's Auge. Sie sprechen von der nordwestlichen Durchfahrt; nun, diese Durchfahrt ist erst noch aufzufinden!«

Hatteras sprang bei diesen Worten auf; nie ist eine Streitfrage zwischen zwei wetteifernden Nationen mit mehr Aufregung erörtert worden.

Der Doctor suchte fortwährend in's Mittel zu treten.

»Sie haben Unrecht, Altamont, sagte er.

– Nein! Ich halte meine Behauptung aufrecht, erwiderte der Starrkopf, die nordwestliche Durchfahrt ist noch aufzufinden, oder doch zu durchschiffen, wenn Sie das lieber wollen! Mac-Clure ist nicht bis zu ihr vorgedrungen, und bis auf den heutigen Tag ist noch kein Schiff von der Behrings-Straße nach der Bassins-Bai gelangt.«

Buchstäblich genommen war das richtig. Was konnte man dem Amerikaner entgegen halten?

Indessen erhob sich Hatteras und sprach:

»Ich dulde nicht, daß der Ruhm eines englischen Kapitäns in meiner Anwesenheit länger angegriffen wird!

– Sie wollen es nicht dulden! entgegnete der Amerikaner, der nun ebenfalls aufstand, aber die Thatsachen sind da, und Sie werden sie nicht ungeschehen machen können.

[398] – Mein Herr! rief Hatteras bleich vor Zorn.

– Aber, Freunde, fiel der Doctor ein, etwas ruhiges Blut! Wir erörtern hier einen wissenschaftlichen Gegenstand!«

Der gute Clawbonny wollte darin nur eine wissenschaftliche Erörterung sehen, wo der Haß zwischen einem Amerikaner und einem Engländer in's Spiel kam.

»Die Thatsachen – ich werde sie Ihnen anführen, rief drohend Hatteras, der auf Nichts mehr hörte.

– Und ich lasse mir's nicht wehren, zu reden!« entgegnete der Amerikaner.

Johnson und Bell wußten nicht, wie sie sich hierbei benehmen sollten.

»Meine Herren, sprach der Doctor mit Nachdruck, Sie werden mir das Wort gestatten! Lassen Siemich reden; die betreffenden Thatsachen sind mir so gut, wo nicht besser bekannt, als Ihnen, und Sie werden mir zugestehen, daß ich sie unparteiischer darzulegen vermag.

– Ja wohl! Ja wohl! riefen Bell und Johnson, welche über die Wendung des Gespräches besorgt waren, und mit ihrer Beistimmung dem Doctor die Majorität verschafften.

– Fangen Sie nur immer an, Herr Clawbonny, sagte Johnson; diese Herren werden auf Sie hören, und wir dabei uns Alle unterrichten.

– Reden Sie«, sagte der Amerikaner.

Hatteras gab mit einem Zeichen seine Zustimmung zu erkennen, nahm wieder Platz und kreuzte die Arme.

»Ich will Ihnen die Thatsachen in schlichter Wahrheit erzählen, sagte der Doctor, und Sie, meine Freunde, können berichtigen, wenn ich irgend Etwas übergehe oder falsch darstelle.

– Wir kennen Sie zur Genüge, Herr Clawbonny, sagte Bell, und Sie können erzählen, ohne das zu befürchten.


Der Plover in der nordwestlichen Durchfahrt. (S. 401.)

– Hier ist die Karte der Polarmeere, begann der Doctor, der aufgestanden war, die nöthigen Unterlagen zu beschaffen; es wird damit leicht sein, dem Zuge Mac-Clure's zu folgen, und Sie werden, da Ihnen der Fall bekannt ist, leicht urtheilen können.«

Der Doctor breitete auf dem Tische eine der ausgezeichneten, auf Befehl der Admiralität herausgegebenen Karten aus, welche auch die neuesten Entdeckungen in der Polarregion verzeichnet enthielt, und begann folgendermaßen:

»Sie wissen, daß im Jahre 1848 zwei Schiffe, der ›Herald‹, Kapitän [399] Kellet, und der ›Plover‹, Befehlshaber Moore, nach der Behrings-Straße ausgesendet wurden, um die Spuren von Franklin aufzufinden; ihr Nachsuchen war erfolglos; im Jahre 1850 stieß auch noch Mac-Clure, der den ›Investigator‹ befehligte, dazu, ein Schiff, auf dem er die im Jahre 1849 vorgenommene Expedition unter James Roß mitgemacht hatte. Er fuhr in Begleitung seines Oberbefehlshabers, des Kapitäns Collinson, der sich auf dem ›Entreprise‹ befand; aber er segelte diesem voraus, und erklärte, als er an der Behrings-Straße angekommen war, nicht länger warten zu wollen, [400] sondern auf eigene Verantwortlichkeit weiter zu schiffen, um, bemerken Sie wohl, Altamont, entweder Franklin oder die Durchfahrt aufzufinden.«

Altamont gab weder Zustimmung noch Widerspruch zu erkennen.


Mac-Clure erhält Nachricht vom Herald. (S. 403.)

»Am 5. August 1850, fuhr der Doctor fort, drang Mac-Clure, nachdem er noch ein letztes Mal mit dem ›Plover‹ in Verbindung getreten war, in die östlichen Meere, und zwar auf einem wenig bekannten Wege ein; sehen Sie, kaum einige Länder sind auf dieser Karte verzeichnet. Am 30. August erreichte der junge Officier Cap Bathurst; am 6. September entdeckte er das [401] Barings-Land, zu welchem er vom Banks-Lande aus segelnd gelangte, und später das Prinz Albert-Land; dann wandte er sich entschlossen nach jener langen Meerenge, welche diese beiden mächtigen Inseln trennt und der er den Namen ›Meerenge des Prinzen von Wales‹ gab. Begleiten Sie hier im Geiste den kühnen Seefahrer. Er hoffte in das Melville-Bassin, durch welches wir gekommen sind, einlaufen zu können, und hatte wohl auch guten Grund dazu; aber am Ausgange der Meerenge thürmte ihm das Eis eine unübersteigliche Schranke entgegen. In seinem Wege aufgehalten, brachte Mac-Clure dort den Winter 1850 auf 1851 zu und machte während dieser Zeit einen Ausflug über das Eis, um sich über die Verbindung der Meerenge mit dem Melville-Bassin zu vergewissern.

– Ja, sagte hier Altamont, aber er fuhr nicht durch sie hindurch.

– Gedulden Sie sich, entgegnete der Doctor. Während dieser Ueberwinterung durchstreiften Mac-Clure's Officiere die benachbarten Küsten, Creswell das Barings-Land, Haswelt den südlichen Theil des Prinz Albert-Landes, und Wynniat das Cap Walker im Norden. Im Juli, beim ersten Thauwetter, versucht Mac-Clure zum zweiten Mal, den ›Investigator‹ in das Melville-Bassin zu führen; bis auf zwanzig Meilen nähert er sich diesem, nur zwanzig Meilen! Aber unwiderstehlich drängen ihn Stürme nach dem Süden, ohne daß er dieses Hinderniß zu überwinden vermag. Nun entschließt er sich, die Meerenge des Prinzen von Wales zurückzufahren, Banks-Land zu umschiffen, und das von Westen aus zu versuchen, was ihm von Osten unmöglich war. Er wendet also um, und erreicht am 18. Cap Kellet, am 20. das Cap Prinz Alfred, zwei Grade nördlicher; dann aber, nach schrecklichen Kämpfen mit den Eisbergen, sieht er sich in der Banks-Durchfahrt, am Eingange jener Reihe von Meerengen, welche nach dem Bassins-Meere führen, festgehalten.

– Aber er hat nicht hindurchschiffen können, sagte Altamont.

– Warten Sie noch und haben Sie die Geduld Mac-Clure's. Am 26. September bezog er Winterquartier in der Mercy-Bai, nördlich von Banks-Land, und blieb dort bis 1852; der April kam heran; Mac-Clure hatte nur noch für achtzehn Monate Provision, und doch denkt er an keine Rückkehr. Er reist ab, setzt mittels Schlitten über die Meerenge von Banks und kommt auf der Insel Melville an. Folgen wir ihm. An ihren Küsten hoffte er die Schiffe des Commandanten Austin zu finden, die ihm durch die Bassins-Bai [402] und den Lancaster-Sund entgegengeschickt waren. Am 28. April berührt er Winter-Harbour, an demselben Punkte, wo Parry dreiunddreißig Jahre vorher überwinterte. Von Schiffen sah er aber Nichts; in einem Cairn entdeckte er jedoch ein Document, aus dem er erfährt, daß Mac-Clintock, der Lieutenant Austin's, im vorigen Jahre hier vorübergekommen und zurückgesegelt sei. Wo jeder Andere verzweifelt wäre, Mac-Clure verzweifelte nicht. Auf gut Glück legt er in den Cairn ein anderes Document nieder, in dem er seine Absicht ausspricht, durch die nordwestliche Durchfahrt, die er aufgefunden habe, nach England zurückzukehren, indem er den Lancaster-Sund und das Bassins-Meer zu erreichen hoffe. Wenn man zunächst nicht weiter von ihm reden hört, so kommt das daher, daß er im Norden oder Westen der Melville-Insel verschlagen worden war; genug er kam nach der Mercy-Bai, zum Zwecke einer dritten Ueberwinterung, von 1852 auf 1853, unentmuthigt zurück.

– Seinen Muth habe ich nie bezweifelt, erwiderte Altamont, wohl aber seinen Erfolg.

– Folgen wir ihm weiter, fuhr der Doctor fort. Als er Mitte März in Folge eines sehr strengen Winters, der keine Beute an Wild ergab, auf Zweidrittel-Rationen beschränkt war, entschloß sich Mac-Clure, die Hälfte seiner Mannschaft nach England zurückzusenden, und zwar entweder durch die Bassins-Bai oder durch den Mackenzie-Strom und die Hudsons-Bai; die andere Hälfte sollte dann den ›Investigator‹ nach Europa zurückführen. Er suchte die minder Gesunden aus, denen eine vierte Ueberwinterung verderblich zu werden drohte. Alles war schon für ihre auf den 15. April festgesetzte Abreise vorbereitet, als Mac-Clure am 6. bei einem Spaziergange mit seinem Lieutenant Creswell auf dem Eise von Norden her einen Mann heranlaufen sah, der mit Handbewegungen winkte; und dieser Mann war der Lieutenant Pim, vom ›Herald‹, der Lieutenant desselben Kapitäns Kellet, den er, wie früher bemerkt, zwei Jahre vorher in der Behrings-Straße verlassen hatte. Kellet hatte, als er nach Winter-Harbour gekommen war, das auf gut Glück zurückgelassene Document Mac-Clure's gefunden; da er daraus dessen Aufenthalt in der Mercy-Bai erfahren, schickte er dem kühnen Seefahrer seinen Lieutenant Pim entgegen. Diesem folgte noch eine Abtheilung Seeleute des ›Herald‹, unter welchen sich auch ein französischer Schiffsfähnrich, Herr von Bray, befand, der als Volontär unter dem Stabe des Kapitäns Kellet diente. Sie setzen doch in diese Begegnung unserer Landsleute keinen Zweifel?

[403] – Durchaus nicht, erwiderte Altamont.

– Nun gut, so wollen wir noch betrachten, was später geschah, und ob die Nordwest-Passage wirklich durchmessen worden ist, oder nicht. Bedenken Sie, daß wenn man die Entdeckungen Parry's mit denen Mac-Clure's verbindet, zugeben muß, daß die Nordküsten Amerikas festgestellt sind.

– Nicht durch ein einziges Schiff, antwortete Altamont.

– Nein, aber durch einen einzelnen Menschen. Doch weiter. Mac-Clure besuchte den Kapitän Kellet auf der Melville-Insel; in zwölf Tagen legte er die hundertsiebenzig Meilen zurück, welche die Mercy-Bai von Winter-Harbour trennen; er kam mit dem Commandanten des ›Herald‹ dahin überein, diesem seine Kranken zu schicken, und kehrte nach seinem Schiffe zurück. Andere würden an der Stelle Mac-Clure's glauben, genug geleistet zu haben, aber der unerschrockene junge Mann wollte noch einmal das Glück versuchen. Dann verließ, und hierauf richte ich besonders Ihre Aufmerksamkeit, sein Lieutenant Creswell, der die Kranken begleitete, die Mercy-Bai, erreichte Winter-Harbour, und von da, nach einer Reise von vierhundertundsiebenzig Meilen über das Eis, am 2. Juni die Insel Beechey, wenige Tage nachher aber schiffte er sich mit einem Dutzend Mann an Bord des ›Phönix‹ ein.

– Wo ich damals mit Kapitän Inglefield diente, schaltete Johnson ein, und wir kamen nach England zurück.

– Und am 7. October 1853, fuhr der Doctor fort, traf Creswell in London ein, nachdem er den ganzen Raum, der zwischen der Behrings-Straße und Cap Farewell liegt, durchmessen hatte.

– Nun, sagte Hatteras, auf der einen Seite angekommen und von der anderen ausgegangen sein, nennt man ›passirt haben‹.

– Ja wohl, erwiderte Altamont, wobei vierhundertundsiebenzig Meilen auf dem Eise zurückgelegt wurden.

– Nun, was verschlägt das?

– Daran liegt Alles, erwiderte der Amerikaner. Hat Mac-Clure's Schiff den Weg zurückgelegt?

– Nein, antwortete der Doctor, nach der vierten Ueberwinterung mußte es Mac-Clure mitten im Eise verlassen.

– Schön, bei einer Seereise kommt es aber darauf an, daß ein Schiff einen gewissen Weg macht, nicht ein Mensch. Wenn die nordwestliche [404] Durchfahrt jemals benutzbar sein soll, so muß sie es für Fahrzeuge, nicht für Schlitten sein. Das Schiff muß also die Reise vollenden können, in Ermangelung die Schaluppe.

– Die Schaluppe! rief Hatteras, der in diesen Worten einen bedeutungsvollen Wink herausfühlte.

– Altamont, sagte der Doctor, da machen Sie denn doch einen zu kleinlichen Unterschied, und in dieser Hinsicht geben wir Ihnen Alle Unrecht.

– Das ist für Sie nicht schwer, meine Herren, erwiderte der Amerikaner; [405] Sie sind Vier gegen Einen. Das soll mich aber nicht hindern, meine Ansicht zu behalten.

– Behalten Sie sie doch, rief Hatteras aus, und so fest, daß man Nichts mehr davon hört.

– Mit welchem Rechte sprechen Sie in solchem Tone zu mir? fragte der Amerikaner wüthend.

– Mit meinem Rechte als Kapitän, entgegnete Hatteras zornig.


Ohne Zweifel! Und es ist Ihr Unglück, wenn ... (S. 406.)

– Unterliege ich denn etwa Ihren Befehlen? fragte Altamont barsch.

– Ohne Zweifel! Und wehe Ihnen, wenn ...«

Der Doctor, Johnson und Bell sprangen dazwischen; es war höchste Zeit; die beiden Feinde maßen sich mit den Blicken; dem Doctor schwoll das Herz.

Nach einigen versöhnlichen Worten legte sich Altamont indessen, den »Yankee doodle« pfeifend, nieder und sprach, ob er nun schlief oder nicht, dann keine Sylbe mehr.

Hatteras verließ das Zelt und ging draußen mit großen Schritten hin und her; erst eine Stunde später kam er wieder herein und legte sich, ohne ein Wort zu reden, zur Ruhe.

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Arkadien des Nordens.

Am 29. Mai ging die Sonne zum ersten Male nicht unter; ihre Scheibe strich über dem Horizonte hin und streifte ihn kaum, um sogleich wieder zu steigen; man trat in die Periode der vierundzwanzigstündigen Tage ein. Am andern Tage erschien das strahlende Gestirn von einem prächtigen Hofe umgeben, einem leuchtenden Kreise, der in allen Regenbogenfarben spielte; das häufige Auftreten dieser Erscheinungen erregte die Aufmerksamkeit des Doctors, der stets das Datum, die Ausdehnung und die Art derselben aufzeichnete; [406] die von erwähntem Tage zeigte durch ihre elliptische Form eine noch minder bekannte Erscheinungsweise.

Bald erschien das ganze Volk schreiender Vögel wieder; ganze Schwärme von Trappen und Canadagänsen, die aus dem so entfernten Florida oder Arkansas kamen, zogen mit erstaunlicher Schnelligkeit gen Norden und brachten den Frühling unter ihren Fittichen mit. Es gelang dem Doctor, einige derselben zu erlegen, sowie drei oder vier voreilige Kraniche, und selbst einen einsamen Storch.

Inzwischen schmolz unter Einwirkung der Sonne der Schnee auf allen Seiten, das auf dem Eisfelde durch die Risse und die Robbenlöcher ausgetretene Salzwasser zersetzte das Eis schnell; mit dem Seewasser vermengt bildet das letztere eine Art schmutzigen Teiges, den die Nordpolfahrer »Slush« nennen.



Breite Lachen bildeten sich auf dem Lande neben der Bai, und der bloßgelegte Boden schien, wie zu einer Vorstellung des arktischen Frühlings, mächtig zu treiben.

Der Doctor wiederholte nun seine Anpflanzungen; an Samen fehlte es ihm nicht; übrigens war er verwundert, zwischen den trockener gewordenen Steinmassen eine Art Sauerampfer wild wachsen zu sehen, und er bewunderte die Triebkraft der Natur, die so wenig braucht, um sichtbar zu werden. Er säete Kresse, deren junge Triebe nach drei Wochen schon über einen Zoll lang waren.

[407] Auch Haidekraut begann schüchtern die kleinen Blüthen einer fast farblosen Rose zu zeigen. Kurz gesagt, ließ die Flora von Neu-Amerika viel zu wünschen übrig, dennoch sah man mit Vergnügen diese seltene, fast furchtsame Vegetation; es war ja Alles, was die schwachen Strahlen der Sonne zu leisten vermochten, ein letztes Liebeszeichen der Vorsehung, welche diese weitabliegenden Gegenden nicht gänzlich vergessen hatte.



Endlich wurde es wirklich warm; am 15. Juni beobachtete der Doctor, daß das Thermometer siebenundfünfzig Grade über Null (+14° hunderttheilig) zeigte; er traute seinen Augen kaum, aber überzeugte sich von der Richtigkeit; das Land wandelte sich um; unzählige murmelnde Wasserfälle sprudelten von den Gipfeln, welche die Sonne liebkoste, herab; das Eis verschob sich und die große Frage über das offene Meer am Pole nahte der Entscheidung ... Die Luft erdröhnte von Lawinen, welche die Hügel herab in die Hohlwege stürzten, und das Bersten des Eises erscholl mit betäubendem Krachen.

Man unternahm einen Ausflug nach der Johnson-Insel; sie bestand nur aus einem dürren, wüsten Eilande, aber der alte Rüstmeister war deshalb nicht weniger stolz, daß die paar im Meere verlorenen Felsen seinen Namen trugen; er wollte ihn selbst, auf die Gefahr hin, den Hals dabei zu brechen, in einem hochragenden Steinblock eingraben.

Hatteras hatte bei seinen Ausflügen das Land bis jenseits Cap Washington genau durchforscht; das Schmelzen des Schnees veränderte das Aussehen der[408] Umgebung merklich; Höhlungen und Abhänge erschienen da, wo der Winterteppisch scheinbar vollkommene Ebenen bedeckt hatte.

Das Haus und die Magazine drohten nun auch zu verschwinden, und man mußte sie häufig wieder in guten Stand bringen. Glücklicher Weise ist eine Temperatur von siebenundfünfzig Graden in jenen Breiten selten, und durchschnittlich erhebt sie sich dort kaum über den Gefrierpunkt.

Gegen den 15. Juni war die Schaluppe schon weit im Bau vorgeschritten und nahm ein gefälliges Aussehen an. Während Bell und Johnson an ihr arbeiteten, wurden einige große Jagden unternommen, welche reiche Ausbeute lieferten.



Es glückte auch, Rennthiere zu erlegen, denen man sich nur sehr schwer nähern kann; doch Altamont half sich mit der Methode der Indianer seines Vaterlandes, er kroch auf dem Boden hin, wobei er sein Gewehr und die Arme so hielt, daß sie den Hörnern eines solchen scheuen Vierfüßlers ähnelten, und so konnte er sie, indem er auf richtige Schußweite herankam, sicher treffen.

Aber das vorzüglichste Wild, der Bisonochse, den Parry in großen Heerden auf der Melville-Insel antraf, schien die Ufer der Victoria-Bai nicht zu besuchen. Es wurde demnach ein entfernterer Ausflug beschlossen, theils um [409] dieses kostbare Thier zu jagen, theils um das Land im Osten kennen zu lernen; Hatteras hatte nicht vor, auf diesem Wege zum Pole vorzudringen, aber der Doctor war gar nicht böse, eine allgemeine Kenntniß des Landes zu gewinnen. Man entschloß sich also zu einem Abstecher östlich von Fort Providence. Altamont wollte jagen; Duk war natürlich bei der Gesellschaft.

So verließen also die drei Jäger, jeder mit Doppelflinte, Beil und Schneemesser ausgerüstet und von Duk gefolgt, am 17. Juni bei gutem Wetter, wobei das Thermometer einundvierzig Grad (+5° hunderttheilig) zeigte, und ruhiger, reiner Luft früh um sechs Uhr Doctors-House; sie waren auf eine vielleicht zwei bis drei Tage währende Excursion eingerichtet und führten demnach Proviant bei sich.

Um acht Uhr des Morgens hatte Hatteras mit seinen zwei Gefährten ungefähr sieben Meilen zurückgelegt. Noch kein lebendes Wesen hatte sie zu einem Schusse veranlaßt, und die Jagd schien in eine einfache Excursion umzuschlagen.

Das Land zeigte weite Ebenen, die sich über Sehweite hinaus verloren; Bäche von gestern furchten es zahlreich, und große Lachen, die wie Teiche ohne Bewegung waren, spiegelten die schief einfallenden Sonnenstrahlen wieder. Wo das Eis geschmolzen war, zeigte es einen Sedimentboden, der dem Wasser seine Entstehung verdankt und der auf der ganzen Erde so weit verbreitet ist.

Doch fanden sich einige erratische Blöcke von dem Boden ganz widersprechender Natur vor, deren Anwesenheit nur schwer erklärlich war; schiefrige Gesteine dagegen und die verschiedenen Bestandtheile der Kalkformation traf man in Ueberfluß an, und vorzüglich eine Art merkwürdiger, durchsichtiger und farbloser Krystalle, welche das eigenthümliche Lichtbrechungsvermögen des Isländischen Spathes zeigte.

Wenn er aber auch nicht jagte, so konnte der Doctor jetzt doch nicht Geolog sein; hier hieß es nur Schritt zu halten, denn seine Gefährten gingen sehr rasch. Doch studirte er das Terrain, und plauderte so viel als möglich, denn ohne ihn hätte ein vollkommenes Stillschweigen die kleine Gesellschaft beherrscht; Altamont hatte keine Lust mit dem Kapitän zu sprechen, und dieser wohl auch keine, ihm zu antworten.

Um zehn Uhr Morgens hatten die Jäger etwa ein Dutzend Meilen gegen Osten zurückgelegt; das Meer verschwand unter dem Horizonte; der Doctor [410] schlug eine Rast zum Frühstücken vor. Der Imbiß wurde schnell eingenommen, und schon nach einer halben Stunde machte man sich wieder auf den Weg.

Das Land ward in sanfter Abdachung niedriger; einzelne durch ihre Lage oder durch überhängende Felsmassen noch erhaltene Schneestreifen gaben ihm ein wellenförmiges Ansehen; man konnte meinen, lange Wogen zu sehen, welche durch einen kräftigen Wind getrieben sich vom offenen Meere aus gegen das Land hin verliefen.



Noch immer bildeten vegetationslose Ebenen die Umgebung, die noch von keinem lebenden Wesen besucht zu sein schienen.

»Unstreitig haben wir kein Glück auf unseren Jagden, sagte Altamont zum Doctor; ich gebe zu, daß der Boden den Thieren wenig Nahrung bietet, aber das Wild der Polarländer brauchte doch nicht so zurückhaltend zu sein und könnte sich etwas entgegenkommender zeigen.

– Geben wir die Hoffnung nicht auf, antwortete der Doctor; wir stehen erst in Sommers Anfang, und wenn Parry auf der Melville-Insel so viele Thiere angetroffen hat, werden wir solche auch hier finden.

– Doch befinden wir uns nördlicher, bemerkte Hatteras.

– Allerdings, aber der Norden ist in dieser Frage nur ein Wort ohne Bedeutung; wir müssen vielmehr den Kältepol in's Auge fassen, d.h. jene ungeheuern Eismassen, zwischen denen wir mit dem Forward überwinterten; je weiter wir jetzt hinauskommen, desto mehr entfernen wir uns von den [411] kältesten Punkten der Erde und werden nach jener Seite hin dasselbe wieder finden, was Parry diesseits derselben antraf.

– Schließlich, sagte Altamont mit einem Seufzer des Bedauerns, sind wir bis jetzt mehr Reisende als Jäger!

– Geduld! entgegnete der Doctor, das Land verändert sich nach und nach, und es sollte mich sehr wundern, wenn wir in solchen Hohlwegen, wo etwas Pflanzenwuchs möglich ist, nicht Wild antreffen sollten.

– Man muß zugeben, erwiderte der Amerikaner, daß wir eine ebenso unbewohnte, als unbewohnbare Gegend durchstreifen.



– O, unbewohnbar, das ist ein großes Wort, versetzte der Doctor, ich glaube nicht an unbewohnbare Gegenden; der Menschh würde, wenn auch zuerst mit Opfern, indem er Generationen hindurch die Hilfsmittel der Landwirthschaftslehre anwendet, auch ein solches Land ertragsfähig machen.

– Sie glauben das? sagte Altamont.

– Allerdings! Wenn Sie sich nach den aus dem Kindesalter der Erde berühmten Gegenden, etwa nach Theben, Ninive oder Babylon, begeben, in jene fruchtbaren Thäler unserer Ahnen, so würde es Ihnen unmöglich scheinen, daß dort je hätten Menschen wohnen können; ja, die ganze Atmosphäre ist dort seit dem Verschwinden der Bewohner verdorben. Es ist das ein ganz allgemeines Gesetz der Natur, daß sie diejenigen Oertlichkeiten, welche wir nicht bewohnen, ebenso wie die, welche wir zu dicht bewohnen, unfruchtbar und ungesund werden läßt. Bedenken Sie wohl, daß es der Mensch ist, der sich [412] seine Naturverhältnisse schafft, durch seine Gegenwart, seine Gewohnheiten, seine Industrie, ja ich gehe noch weiter, auch durch seinen Athem; er verändert nach und nach die Ausdünstungen des Bodens und die atmosphärischen Verhältnisse, und er verbessert schon dadurch, daß er athmet. Sonach giebt es wohl unbewohnte, aber nie unbewohnbare Orte.«

So gingen die Jäger plaudernd, indem sie Naturforscher geworden, immer weiter und erreichten ein weites Thal, in dessen Grunde ein fast eisfreier Fluß sich hinschlängelte; die Lage nach Süden hatte an seinen Ufern und etwas darüber hinaus einige Vegetation hervorgerufen. Der Boden schien mit Lust fruchtbar zu werden; es hatte nur einiger Zoll Erde bedurft, um ergiebig zu sein. Der Doctor machte auf dieses deutliche Streben aufmerksam.

»Sehen Sie, sagte er, könnten sich nicht einige unternehmende Colonisten zur Noth in diesem Thale niederlassen? Mit Fleiß und Ausdauer würden sie noch etwas ganz Anderes daraus machen; ich sage nicht etwa, Felder, wie in den gemäßigten Zonen, aber doch ein Land, das sich sehen lassen könnte. Ah, wenn ich mich nicht täusche, giebt es hier auch vierfüßige Bewohner! Die Schelme kennen die fetten Gegenden.

– Wahrhaftig, rief Altamont, sein Gewehr in Stand setzend, da sind Polarhasen.

– Warten Sie noch, sagte der Doctor, Sie hitziger Jäger! Die armen Thiere denken gar nicht an die Flucht. Lassen wir sie in Ruhe; sie kommen auf uns zu!«

In der That näherten sich drei bis vier junge Hasen, die sich in der niedrigen Haide und dem frischen Moose tummelten, den drei Männern, die sie gar nicht zu fürchten schienen; mit sorglos lustigen Sprüngen, welche Altamont fast entwaffneten, kamen sie heran.

Bald waren sie dem Doctor zwischen den Füßen, der sie mit der Hand streichelte und sagte:

»Warum auf Geschöpfe Feuer geben, welche zu freundlichem Verkehr mit uns herankommen? Der Tod dieser kleinen Thiere wäre uns doch unnütz.

– Sie haben Recht, Doctor, meinte Hatteras, wir wollen sie schonen.

– Und jene Schneehühner, die auf uns zufliegen, rief Altamont; und die Schnepfen, die dort auf ihren langen Beinen einherstolziren!«

Ein ganzes Volk von Federvieh erschien vor den Jägern, ohne Ahnung [413] der Gefahr, welche nur der Doctor noch beschwor. Selbst Duk verhielt sich verwundert ganz ruhig.

Es war ein merkwürdiges, fast rührendes Schauspiel, die hübschen Thiere einherlaufen, hüpfen und umherflattern zu sehen; sie setzten sich auf die Schultern des guten Clawbonny, legten sich ihm zu Füßen und boten sich selbst den ungewohnten Liebkosungen desselben dar; sie schienen ihr Bestes zum Empfange der fremden Gäste zu thun, die zahlreichen Vögel stießen Freudenschreie aus, riefen immer einer den anderen, und bald kamen von allen Seiten noch mehr herzu. Der Doctor glich einem leibhaftigen Liebhaber. Die Jäger setzten, immer von der zutraulichen Gesellschaft gefolgt, ihren Weg an den feuchten Ufern des Flusses hinauf weiter fort, und als sie das Thal verließen, bemerkten sie eine Heerde von acht bis zehn Rennthieren, welche einige kümmerliche unter dem Schnee noch halb verborgene Flechten abweideten. Die graziösen stillen Thiere boten einen prächtigen Anblick mit ihrem gezahnten Geweih, welches das Weibchen ebenso stolz wie das Männchen trug; ihr scheinbar wolliger Pelz verlor schon das winterliche Weiß und tauschte dafür die graubraune Färbung für die Sommerzeit ein. Sie schienen ebensowenig scheu und ebenso zahm zu sein, wie die Hasen und die Vögel dieser friedlichen Gegend. – Solcher Art waren wohl die Beziehungen des ersten Menschen zur Thierwelt bald nach der Schöpfung der Erde.



Die Jäger gelangten in die Mitte der Truppe, die keinen Schritt entfloh; diesmal hatte der Doctor nicht wenig Mühe, Altamont's Jagdtrieb zu zügeln; [414] der Amerikaner konnte das herrliche Wild nicht sehen, ohne daß ihm das Blut berauschend zu Kopfe stieg. Hatteras betrachtete mit Rührung diese sanften Thiere, die ihre Nasen an den Kleidern des Doctors, der eben ein Freund aller lebenden Wesen war, rieben.


Das Paradies in der Polarzone. (S. 411.)

»Aber sind wir denn nicht eigentlich zum Jagen hierher gekommen? sagte Altamont.

– Um Bisonochsen zu erlegen, antwortete Hatteras, aber nichts Anderes! Wir wüßten mit diesem Wilde Nichts zu beginnen, da unsere Vorräthe noch [415] reichlich sind. Wir wollen doch lieber das rührende Schauspiel genießen, den Menschen sich der Freude dieser schüchternen Thiere anschließen zu sehen, und ihnen keine Furcht einflößen.

– Das beweist uns, daß sie noch nie einen Menschen gesehen haben.

– Unzweifelhaft, bestätigte der Doctor, und daraus kann man auch noch den weiteren Schluß ziehen, daß diese Thiere nicht amerikanischen Ursprungs sind.

– Und warum das? fragte Altamont.

– Weil, wenn sie im nördlichen Amerika geboren wären, sie wissen würden, was sie von dem zweihändigen Geschöpfe, das man Mensch nennt, zu erwarten haben, und sie bei unserem Anblick dann sicher geflohen wären.



Nein, wahrscheinlich sind sie aus dem Norden gekommen und entstammen jenen unbekannten Gegenden Asiens, denen Unseresgleichen sich noch nie genähert haben, von wo aus sie möglicher Weise die dem Pole benachbarten Continente überschritten. Demnach, Altamont, haben Sie nicht das Recht, sie als Landsleute zu beanspruchen.

– O, entgegnete Altamont, darauf sieht ein Jäger nicht so genau; das Wild gehört immer dem Lande desjenigen an, der es erlegt.

– Nun beruhigen Sie sich, tapferer Nimrod! Ich für meinen Theil würde lieber mein Lebenlang auf jeden Flintenschuß verzichten, als dieser liebenswürdigen Bevölkerung Schrecken einjagen. Sehen Sie, sogar Duk [416] fraternisirt mit den allerliebsten Thieren. Glauben Sie mir, und bleiben wir gütig, so lange es möglich ist! Die Güte ist eine Macht!

– Schön, schön! entgegnete Altamont, der dieses Feinfühlen nicht ganz verstand, aber ich möchte Sie mit dieser Güte statt jeder Waffe mitten in einem Haufen von Bären oder Wölfen sehen.

– O, es fällt mir nicht ein, auch wilde Thiere zu liebkosen, entgegnete der Doctor, an die Zaubereien eines Orpheus glaube ich nicht sehr; übrigens würden Wölfe und Bären auch nicht wie jene Hasen, Hühner und Rennthiere auf uns zukommen.

– Und warum nicht, erwiderte Altamont, wenn auch sie noch keinen Menschen gesehen hätten.

– Weil derartige Thiere von Natur wild sind, und die Wildheit, so wie die Schlechtigkeit, den Verdacht nähren; das ist eine Beobachtung, die an Menschen und Thieren gleichmäßig zu machen ist. Wer schlecht ist, ist auch herausfordernd, und Furcht haben die selbst leicht, welche sie Anderen einzuflößen gewöhnt sind.«

Diese kleine philosophische Belehrung schloß die Unterhaltung.

Der ganze Tag verstrich in diesem Thale, welches der Doctor Arkadien des Nordens zu nennen beliebte, wogegen seine Genossen gar keinen Einwand erhoben; und als der Abend kam, schlummerten die drei Jäger nach einer Mahlzeit, welche keinem der Bewohner dieser Gegend das Leben gekostet hatte, in einer Felsenaushöhlung, die eigens für sie gemacht schien, friedlich ein.

17. Capitel
Siebenzehntes Capitel.
Altamont's Vergeltung.

Am andern Morgen erwachte der Doctor und seine zwei Gefährten nach einer völlig ruhig verbrachten Nacht. Die Kälte hatte sie, wenn sie auch nicht bedeutend war, doch am Morgen belästigt; aber gut bedeckt, wie sie waren, hatten sie, unter Obhut der friedlichen Thiere, fest geschlafen.

[417] Das Wetter blieb schön, und sie beschlossen, auch noch diesen Tag der Erforschung des Landes und dem Aufspüren von Bisonochsen zu widmen. Man mußte schon Altamont die Möglichkeit bieten, ein wenig zu jagen, und man einigte sich also dahin, daß, wenn diese Thiere auch die friedliebendsten der ganzen Welt wären, er das Recht haben solle, sie zu schießen. Uebrigens bietet ihr Fleisch, wenn es auch stark nach Moschus riecht, eine schmackhafte Speise, und die Jäger freuten sich darauf, einige Stücke solch' frischen und stärkenden Fleisches mit nach Fort Providence zu bringen.

Während der ersten Morgenstunden bot die Reise nichts Besonderes. Im Nordosten fing das Land an, sein Aussehen zu ändern. Einige Terrainerhöhungen, die ersten Wellen einer bergigen Gegend, deuteten auf eine andere Axt des Bodens. Dieses Land von Neu- Amerika mußte, wenn es nicht ein Continent war, doch eine sehr große Insel bilden; im Uebrigen handelte es sich jetzt nicht darum, diese geographische Frage zu lösen.

Duk lief weit voraus und stand bald bei der Fährte einer Heerde Bisonochsen; schnell trabte er voraus, und schwand bald den Jägern aus den Augen.

Diese folgten seinem lauten, deutlichen Gebell, dessen Eifer ihnen verrieth, daß das treue Thier endlich das Ziel ihrer Begierde aufgefunden hatte.

Sie gingen schneller, und nach etwa anderthalb Stunden trafen sie wirklich auf zwei große und ihrem Aeußern nach wirklich furchterweckende Thiere; diese eigenthümlichen Vierfüßler schienen über Duk's Angriff sehr verwundert, ohne übrigens zu erschrecken. Sie fraßen eine Art röthlichen Mooses, welches den schneereinen Boden bedeckte. Der Doctor erkannte sie leicht an ihrer geringeren Größe, ihren breiten, an der Basis verbundenen Hörnern, an dem merkwürdigen scheinbaren Fehlen der Schnauze und an ihren kurzen Schwänzen. Der Gesammteindruck dieses Baus hat ihnen bei den Naturforschern den Namen »Ovibos« (Schafochse) erworben, ein Wort, welches also an die beiden Naturen, denen sich dieses Thier anschließt, erinnert. Ein Büschel dicker und langer Haare und ein seiner, brauner, seidenartiger Pelz ist ihnen eigenthümlich.

Beim Erblicken der Jäger liefen die Thiere sogleich davon, und diese verfolgten sie in vollem Laufe.

Aber für Leute, die ein halbstündiger Dauerlauf vollkommen außer Athem brachte, war es schwer, sie einzuholen. Hatteras und seine Genossen hielten an.

[418] »Teufel! sagte Altamont.

– Teufel ist das richtige Wort, versetzte der Doctor, der kaum Athem schöpfen konnte. Diese Wiederkäuer überlasse ich Ihnen als Amerikaner, aber sie scheinen von ihren Landsleuten nicht die vortheilhafteste Meinung zu haben.

– Das beweist, daß wir gute Jäger sind«, erwiderte Altamont.



Indessen blieben auch die Bisonochsen, die sich nicht mehr verfolgt sahen, in staunender Haltung wieder stehen. Es war augenscheinlich, daß man sie im Laufen nicht erlangen würde; man mußte sie einzuschließen suchen; das kleine Plateau, auf dem sie jetzt waren, bot sich fast selbst dazu an.

Die Jäger ließen durch Duk die Thiere necken, während sie in nahen Hohlwegen heranschlichen, das Plateau zu umgehen. Altamont und der Doctor versteckten sich an dem einen Ausläufer desselben hinter Felsenvorsprüngen, während Hatteras, der es von der anderen Seite unvermuthet erstieg, sie ihnen zutreiben sollte.

Nach einer halben Stunde hatte Jeder seine Stelle eingenommen.

»Jetzt werden Sie sich nicht widersetzen, sagte Altamont, diese Thiere mit Flintenschüssen zu empfangen?

– Nein, das ist ehrlicher Krieg«, erwiderte der Doctor, der trotz seiner natürlichen Gutmüthigkeit doch Jäger vom Grunde seiner Seele war.

So sprachen sie, als sie die Thiere, Duk ihnen auf der Ferse, sich schnell in Bewegung setzen sahen; weiter entfernt rief Hatteras laut und jagte sie [419] nach der Richtung des Doctors und des Amerikaners, die sich bald dieser prächtigen Beute entgegenstellten.

Sogleich standen da die Ochsen, und da sie vor einem einzelnen Feinde weniger Furcht hatten, so liefen sie gegen Hatteras wieder zurück. Dieser erwartete sie festen Fußes, legte, als sie nahe genug waren, an und gab Feuer, ohne daß seine Kugel, die eines der Thiere mitten auf die Stirn traf, sie im Laufe aufzuhalten vermochte. Der zweite Schuß von Hatteras machte die Thiere nur wüthend; sie stürzten sich auf den entwaffneten Jäger und warfen ihn jählings um.

»Er ist verloren!« rief der Doctor.



In dem Augenblicke, da Clawbonny diese Worte im Ton der Verzweiflung ausrief, that Altamont einen Schritt voran, um. Hatteras zu Hilfe zu eilen, dann blieb er wieder stehen, im Kampfe gegen sich selbst und seine Vorurtheile.

»Nein, rief er aus, das wäre ein Schurkenstreich!«


Hatteras durch Altamont gerettet. (S. 422.)

So stürzte er mit Clawbonny schnell nach dem Kampfplatze. Keine halbe Secunde hatte sein Zögern gedauert, aber so wie der Doctor sah, was in der Seele des Amerikaners vorging, so verstand es auch Hatteras, er, der lieber umgekommen wäre, als daß er die Hilfe seines Nebenbuhlers angerufen hätte. Jedenfalls hatte er kaum Zeit, sich darüber Rechenschaft zu geben, denn Altamont war schon nahe bei ihm.

Hatteras, der zu Boden lag, suchte die Hörnerstöße und Huftritte der [420] beiden Thiere abzuwehren; lange hätte er indeß diesen Kampf nicht fortzusetzen vermocht.

Er war nahe daran, unvermeidlich in Stücke zerrissen zu werden, als zwei Flintenschüsse fielen; Hatteras fühlte die Kugeln fast seinen Kopf streifen.

»Nur Muth!« rief Altamont, der sein abgeschossenes Gewehr von sich schleuderte und auf die wüthenden Thiere losstürzte.

Der eine der Ochsen stürzte, im Herzen getroffen, zusammen; der andere wollte in schäumender Wuth dem unglücklichen Kapitän den Leib aufschlitzen, [421] als Altamont ihm gegenüber sprang und mit der einen Hand sein Schneemesser tief zwischen die geöffneten Kinnbacken stieß, während er ihm mit der anderen durch einen furchtbaren Beilhieb den Kopf spaltete.

Das Alles geschah mit so wunderbarer Schnelligkeit, daß ein Blitz hinreichend gewesen wäre, die ganze Scene zu beleuchten.

Der zweite Ochse brach in den Knieen zusammen und fiel todt nieder.

»Hurrah! Hurrah!« rief Clawbonny.

Hatteras war gerettet.

Er verdankte also sein Leben demselben Manne, den er in der Welt am meisten haßte! Was ging in diesem Augenblick in seiner Seele vor? Welche menschliche Regung, die er nicht zu bemeistern vermochte, stieg in ihr auf?

Hier liegt ein Geheimniß des Herzens, das sich jeder Deutung entzieht.

Wie dem auch sei, Hatteras ging ohne Zaudern auf seinen Rivalen zu und sagte mit ernster Stimme:

»Sie haben mir das Leben gerettet, Altamont.

– Sie hatten es mir gethan, erwiderte der Amerikaner, und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: Wir sind quitt, Hatteras.

– Nein, Altamont, erwiderte der Kapitän, als der Doctor Sie aus dem Eisgrabe hervorzog, wußte ich nicht, wer Sie waren, doch Sie haben mich mit eigener Lebensgefahr gerettet, trotzdem Sie wußten, wer ich sei.

– Nun, Sie sind Meinesgleichen, entgegnete Altamont; doch sei dem wie ihm wolle, ein Amerikaner ist kein feiger Schurke.

– Nein, gewiß nicht, rief der Doctor, er ist ein Mensch, ein Mensch wie Sie, Hatteras!

– Und mit mir soll er den Ruhm theilen, der uns noch zu ernten bevorsteht.

– Den Ruhm, zum Nordpole vorzudringen, sagte Altamont.

– Ja wohl, erwiderte der Kapitän mit Selbstgefühl.

– Ich hatte es also errathen, rief der Amerikaner; Sie haben gewagt, einen solchen Beschluß zu fassen! Sie haben zu versuchen gewagt, diesen unnahbaren Punkt zu erreichen. O, das ist schön; das sage ich Ihnen, ich; das ist herrlich!

– Aber Sie, fragte Hatteras schnell, Sie befanden sich also nicht wie wir auf dem Wege zum Pole?«

Altamont schien mit der Antwort zu zögern.

[422] »Nun? fragte der Doctor.

– Nun denn, nein! sagte der Amerikaner. Nein! Die Wahrheit über die Eigenliebe! Nein, ich hatte den großen Gedanken, der Sie hierher geleitet hat, nicht. Ich wollte mit meinem Schiffe nur die Nordwestpassage durchfahren; das ist Alles.

– Altamont, sagte Hatteras, dem Amerikaner die Hand entgegenstreckend, seien Sie also unser Ruhmesgefährte und kommen Sie mit uns, den Nordpol zu entdecken!«

Und die beiden Männer reichten sich zum warmen, redlichen Drucke ihre Hände.

Als sie sich nach dem Doctor umdrehten, standen diesem die Thränen in den Augen.

»O, meine Freunde, sagte er, sich die Augen trocknend, wie vermag mein Herz die Freude, mit der Sie es erfüllen, zu fassen! O, meine theuren Gefährten, Sie haben für den gemeinschaftlichen Erfolg die leidige Frage wegen der Nationalitäten geopfert. Sie haben sich gesagt, daß weder England noch Amerika hierbei in Betracht kommen, und daß eine innige Sympathie uns gegenüber den Gefahren unserer Expedition verbinden muß. Wenn der Nordpol erreicht ist, was kommt darauf an, wer ihn entdeckt? Warum sich so erniedrigen und darauf pochen, daß man ein Amerikaner oder ein Engländer ist, wenn man sich rühmen kann, ein Mensch zu sein!«

Der Doctor drückte die versöhnten Feinde in seine Arme; er konnte sich vor Freude kaum beruhigen, und auch die beiden neuen Freunde fühlten sich durch die Freundschaft, welche der würdige Mann ihnen entgegen brachte, nur noch mehr genähert.

Clawbonny sprach, ohne sich zurückhalten zu können, von der Eitelkeit der Wettbewerbung, von der Thorheit des Rivalisirens, und von dem so nöthigen Zusammenwirken zwischen Menschen, die so weit von ihrem Vaterlande verlassen sind. Seine Worte, seine Thränen, seine Zärtlichkeiten, Alles kam aus dem Grunde seines Herzens.

Doch beruhigte er sich endlich, nachdem er Hatteras und Altamont wohl zwanzig Mal umarmt hatte.

»Und nun, sagte er, an's Werk, an's Werk! Da ich als Jäger zu Nichts gut gewesen bin, so wollen wir meine Fähigkeiten auf anderer Seite benutzen!«

[423] Er ging daran, den Ochsen auszuweiden, den er »den Ochsen des Versöhnungs-Opfers« nannte, und machte das so geschickt, daß er vielmehr einem Arzte glich, der eine sorgsame Section vornimmt.


Die versöhnten Rivalen. (S. 425.)

Lächelnd sahen ihm die Gefährten zu. Nach wenigen Minuten hatte der gewandte Operateur etwa einen Centner appetitlichen Fleisches herausgeschnitten, das er in drei gleiche Theile theilte; Jeder belud sich mit einem derselben, und zurück ging es nach Fort Providence.

Um zehn Uhr Abends erreichten die Jäger, von den schiefen Strahlen der [424] Sonne beleuchtet, Doctors-House, wo Johnson und Bell sie mit einer guten Mahlzeit erwarteten.

Aber noch bevor sie sich zu Tische setzten, rief der Doctor, auf seine beiden Jagdgenossen zeigend:

»Mein alter Johnson, ich hatte einen Engländer und einen Amerikaner mitgenommen, nicht wahr?

– Ja wohl, Herr Clawbonny, erwiderte der Rüstmeister.

– Nun, und zurück bringe ich zwei Brüder!«

Freudig reichten die beiden Seeleute Altamont die Hände; der Doctor erzählte ihnen, was der amerikanische Kapitän für den englischen gethan hatte, und diese Nacht beherbergte das Eishaus fünf wahrhaft glückliche Menschen.

18. Capitel
Achtzehntes Capitel.
Die letzten Vorbereitungen.

Am anderen Tage wechselte die Witterung; es ward wieder kalt; Schnee, Regen und Wirbelstürme folgten einander mehrere Tage hindurch.

Bell war mit der Schaluppe fertig; sie entsprach vollkommen dem Zwecke, dem sie dienen sollte; in Bordhöhe zum Theil verdeckt, konnte sie mit ihrem Fockmast und Klüverbaum auch bei schwererem Wetter See halten; dabei erlaubte ihre Leichtigkeit, sie auf dem Schlitten mitzunehmen, ohne dem Hundegespann zu schwer zu sein.

Endlich vollzog sich in dem Polarmeere eine für die Ueberwinternden immerhin sehr wichtige Veränderung. Die Eishausen in der Mitte der Bai singen an sich in Bewegung zu setzen; die höheren, schon unterminirt durch das fortwährende Anprallen, brauchten nur noch einen kräftigen Sturm, um sich vom Ufer loszureißen und schwimmende Eisberge zu bilden. Doch wollte Hatteras nicht die Beseitigung des ganzen Eisfeldes erwarten, um den Ausflug anzutreten. Da die Reise über Land gemacht werden sollte, that es nicht [425] viel Eintrag, ob das Meer frei war oder nicht; er setzte also die Abreise auf den 25. Juni fest; bis dahin sollten alle Vorbereitungen vollkommen beendigt sein. Johnson und Bell beschäftigten sich mit der Instandsetzung des Schlittens, dessen Gestell verstärkt wurde, und verfertigten neue Schneeschuhe. Die Reisenden suchten für ihren Ausflug die wenigen Wochen schöner Witterung zu benutzen, welche die Natur diesen hochnördlichen Gegenden zutheilt. Die Beschwerden mußten da leichter zu ertragen, etwaige Hindernisse besser zu besiegen sein.



Einige Tage vor der Abfahrt, am 20. Juni, zeigte das Eis verschiedene offene Stellen, die man benutzte, um die Schaluppe bei einer Spazierfahrt nach Cap Washington zu erproben. Frei war das Meer freilich noch lange nicht, doch zeigte es keine feste Oberfläche mehr und eine Fußwanderung über die geborstenen Eisfelder wäre unmöglich gewesen.

Dieser halbe Tag Schifffahrt gestattete, die guten nautischen Eigenschaften der Schaluppe schätzen zu lernen.

Auf ihrer Rückfahrt waren die Reisenden Zeugen eines merkwürdigen Vorfalls. Es war die Jagd eines gewaltigen Bären auf eine Robbe; Ersterer war offenbar zu sehr in Anspruch genommen, um die Schaluppe zu bemerken, denn er würde nicht verfehlt haben, sie zu verfolgen. Er befand sich an einem Loch im Eisfelde, durch welches die Robbe jedenfalls entschlüpft war, auf der Lauer. Der Bär erwartete ihr Wiedererscheinen mit der Geduld eines Jägers oder vielmehr eines Fischers, denn er fischte ja in Wahrheit.

[426] Schweigend, ohne Bewegung, ja, ohne jedes Lebenszeichen, lag er auf dem Anstand.

Plötzlich aber begann sich die Oberfläche des Wassers zu bewegen; die Amphibie tauchte zum Athemholen empor; der Bär streckte sich der Länge nach auf das Eis hin und legte die Tatzen rund um das Loch.

Einen Augenblick später erschien der Kopf der Robbe über dem Wasser; es blieb ihr aber nicht Zeit, wieder unterzutauchen; die Tatzen des Bären umfaßten sie wie von einer Feder losgeschnellt, preßten das Thier mit unwiderstehlicher Gewalt zusammen und hoben es aus seinem Elemente empor.



Es war nur ein kurzer Kampf; die Robbe vertheidigte sich einige Secunden lang, wurde aber an der Brust des gigantischen Gegners erstickt; dieser, der sie trotz ihrer Größe leicht wegtrug, sprang behende von einer Scholle zur andern bis an das feste Land und verschwand mit seiner Beute.

»Glückliche Reise! rief ihm Johnson nach; der Bär hat etwas zu viel Tatzen zur Verfügung.«

Die Schaluppe erreichte bald die kleine Bucht wieder, die ihr Bell im Eise ausgehauen hatte.

Noch vier Tage nur trennten Hatteras und seine Gefährten von dem zur Abreise bestimmten Zeitpunkt. Hatteras beeilte die letzten Zurüstungen; es drängte ihn, dieses Neu-Amerika zu verlassen, dieses Land, welches doch nicht das Seine war und dem er nicht seinen Namen gegeben hatte; er fühlte sich hier nicht zu Hause.


Wie der Polarbär Robben fängt. (S. 427.)

Am 22. Juni begann man den Schlitten mit den Lagergeräthschaften zu beladen, mit dem Zelte und dem Proviant. Die Reisenden nahmen zweihundert Pfund [427] gesalzenes Fleisch mit, drei Kisten mit conservirtem Gemüse und Fleisch; fünfzig Pfund Salzlake und Limoniensaft; fünf Quarter (380 Pfd.)

Mehl; verschiedene Päckchen Kresse und Löffelkraut aus den Anpflanzungen des Doctors; rechnet man hierzu zweihundert Pfund Pulver, die Instrumente, die Waffen, die Küchengeräthe, und dazu noch die Schaluppe, das Kautschukboot und das Gewicht des Schlittens, so ergab das eine Last von nahezu [428] fünfzehnhundert Pfund, gewiß genug für vier Hunde, um so mehr, da diese nicht wie im Dienste der Eskimos, welche dieselben nur vier Tage hintereinander arbeiten lassen, keine Stellvertreter hatten, und alle Tage ziehen mußten; aber die Reisenden nahmen sich vor, ihnen im Nothfalle zu helfen und nur kurze Tagemärsche zurückzulegen. Die Entfernung von der Bai Victoria bis zum Pol betrug höchstens hundertfünfundfünfzig Meilen, wozu sie, bei zwölf Meilen täglich, einen halben Monat bedurften.

Sollte übrigens das Land aufhören, so mußten sie die Reise mit Hilfe der Schaluppe ohne Anstrengung für die Menschen oder die Hunde vollenden können.

Alle befanden sich jetzt wohl; der allgemeine Gesundheitszustand war ausgezeichnet; der Winter, obgleich streng, schloß doch unter für ihr Wohlsein günstigen Verhältnissen; Jeder entging, da sie alle dem Rathe des Doctors Folge geleistet hatten, den jenen rauhen Klimaten eigenthümlichen Krankheiten. In Summa, man war etwas abgemagert, was dem würdigen Clawbonny ganz erfreulich war. Aber man hatte auch Leib und Seele dieser rauhen Lebensweise angepaßt, und nun konnten diese acclimatisirten Männer den härtesten Proben der Ermüdung und der Kälte widerstehen, ohne zu unterliegen.



Und endlich, sie eilten ja dem Ziele der Reise zu, jenem unnahbaren Pole, an dem keine andere Frage als die der Rückkehr noch übrig blieb. Die Uebereinstimmung, welche jetzt die fünf Mitglieder der Expedition beseelte, [429] sollte ihnen helfen, ihre kühne Fahrt zu vollbringen, und Keiner von ihnen zweifelte an dem Erfolge des Unternehmens.

In der Voraussicht einer lange dauernden Expedition hatte der Doctor seine Gefährten dahin vermocht, sich auch lange vorher darauf vorzubereiten.

Am 23. Juni waren die Reisenden bereit; es war ein Sonntag, der vollkommen der Ruhe gewidmet wurde.

Der Augenblick der Abreise nahte heran, und die Bewohner des Fort Providence sahen ihm nicht ohne Bewegung entgegen.

Es ging ihnen doch etwas an's Herz, diese Schneehütte zu verlassen, die ihren Zweck als Wohnung so gut erfüllt hatte; diese Bai Victoria, diese gastliche Küste, an der sie die letzten Wintermonate verbracht hatten.



Würde man diese Baulichkeiten bei der Rückkehr wiederfinden? Würden die Strahlen der Sonne diese zerbrechlichen Mauern nicht vollends schmelzen?

Alles in Allem hatten sie hier schöne Stunden verlebt. Der Doctor rief beim Abendessen seinen Gefährten diese rührenden Erinnerungen wieder wach, und vergaß nicht, dem Himmel für seinen sichtbaren Schutz zu danken.

Endlich kam die Stunde der Ruhe. Jeder legte sich zeitig nieder, um früh aufzustehen. So verfloß die letzte im Fort Providence verbrachte Nacht.

[430]
19. Capitel
Neunzehntes Capitel.
Die Reise nach Norden.

Am anderen Tage gab Hatteras zeitig das Zeichen zur Abreise; die Hunde wurden vor den Schlitten gespannt; wohl ernährt und ausgeruht, und nach einem sehr bequem verbrachten Winter, waren sie gewiß im Stande, für den Sommer große Dienste zu leisten. Sie ließen sich auch gar nicht bitten, ihr Reisegeschirr wieder anzulegen.



Nach Allem zu urtheilen, sind diese Grönländer Hunde sehr gute Thiere; ihre wilde Natur hatte sich nach und nach verändert; sie verloren ihre Aehnlichkeit mit dem Wolfe und wurden Duk, diesem vollendeten Beispiele aus der Hunderace, ähnlicher; mit einem Worte, sie wurden civilisirt.

Duk konnte sich gewiß einen guten Theil ihrer Erziehung zurechnen; er hatte sie gelehrt, sich gut zu vertragen, und war mit eigenem Beispiele vorangegangen; in seiner Eigenschaft als Engländer und etwas eigensinnig bezüglich der »Kunstsprache«, hatte es lange gedauert, bevor er mit diesen Hunden, »die ihm nicht vorgestellt waren«, vertraulicher wurde, und im Princip sprach er nicht mit ihnen. Da sie aber dieselben Gefahren, dieselben Entbehrungen, dasselbe Loos theilten, vertrugen sich endlich diese Thiere verschiedener Race ganz gut. Duk, der ein gutes Herz hatte, that die ersten entgegenkommenden Schritte, und das ganze vierfüßige Volk war bald eine Heerde Freunde.

[431] Der Doctor liebkoste die Grönländer Hunde, und Duk sah es ohne Eifersucht auf seine Kameraden. In nicht weniger guten Verhältnissen befanden sich die Menschen; wenn Jene tapfer ziehen mußten, so nahmen sich diese vor, gut zu marschiren.

Bei günstiger Witterung reiste man früh um sechs Uhr ab; nachdem man den Umgebungen der Bai gefolgt war und das Cap Washington überschritten hatte, ließ Hatteras die Richtung direct nach Norden einschlagen; um sieben Uhr verloren die Reisenden im Süden den Leuchtthurmkegel und Fort Providence aus dem Gesicht.

Die Reise begann unter guten Anzeichen, jedenfalls unter weit besseren, als die im tiefen Winter zur Aufsuchung von Kohlen unternommene! Hatteras ließ damals an Bord seines Schiffes die Empörung und die Verzweiflung zurück, ohne des Zieles, dem er nachstrebte, sicher zu sein; er verließ eine vor Kälte halbtodte Mannschaft und reiste mit Begleitern, welche durch die Leiden des arktischen Winters geschwächt waren; er, der Mann des Nordens, wandte sich nach Süden zurück. Jetzt dagegen strebte er, umgeben von kräftigen Freunden, im besten Wohlbefinden, unterstützt, ermuthigt, fast gedrängt, nach dem Pol, nach diesem Zielpunkt seines ganzen Lebens. Niemals war ein Mensch näher daran gewesen, diesen für ihn und sein Vaterland hellstrahlenden Ruhm zu erwerben!

Dachte er wohl an alle diese bei den gegenwärtigen Verhältnissen so selbstverständlich erscheinenden Dinge? Der Doctor nahm es gern an, und konnte kaum daran zweifeln, wenn er Jenen so begierig sah. Der gute Clawbonny freute sich über das, was seinem Freunde offenbar Freude bereitete, und seit der Aussöhnung der beiden Kapitäne, seiner beiden Freunde, fühlte er sich als den glücklichsten der Menschen; er, dem die Empfindung des Hasses, der Mißgunst, der Rivalität so fremd war, er, das beste aller Geschöpfe! Was würde aus dieser Reise werden, welchen Erfolg versprach sie? Er wußte es nicht; indeß, sie fing gut an, das war schon viel.


Vorwärts zum Pole! (S. 433.)

Jenseit des Cap Washington verlängerte sich die westliche Küste Neu-Amerikas mittels einer Reihenfolge einzelner Baien; um diese ungeheuren Bogen zu vermeiden, wandten sich die Reisenden, nachdem sie die ersten Abhänge des Mount-Bell erstiegen hatten, gegen Norden, um die höheren Ebenen zu gewinnen. Sie kürzten dadurch den Weg ganz wesentlich ab.

Hatteras wollte, wenn nicht durch Meerengen oder Berge unvorhergesehene [432] Hindernisse dazwischen träten, eine gerade Linie von dreihundertfünfzig Meilen vom Fort Providence bis nach dem Pole ziehen.

Die Reise ging fröhlich vorwärts; die höheren Ebenen boten einen ungeheuren weißen Teppich dar, auf welchem der Schlitten, der mit geschwefelten Kufen versehen war, ohne Mühe dahinglitt, ebenso wie die Menschen mittels der Schneeschuhe einen raschen und sichern Gang hatten.

Das Thermometer zeigte siebenunddreißig Grad (+3° hunderttheilig). Die Witterung war nicht beständig; bald war es klar, bald nebelig; aber [433] weder Kälte noch Wirbelwinde hätten die Reisenden, welche so fest entschlossen waren, vorwärts zu dringen, aufzuhalten vermocht.

Nach dem Compaß war die Richtung leicht inne zu halten; die Nadel war weniger träge, da sie sich vom magnetischen Pol entfernte; freilich drehte sie sich, als dieser magnetische Punkt überschritten war, nach diesem um, und zeigte also für die nach Norden Wandernden jetzt eigentlich den Süden an; aber dieses verkehrte Anzeigen machte ja keine beschwerliche Rechnung nothwendig.



Uebrigens ersann der Doctor noch ein sehr einfaches Mittel zur Bestimmung der Richtung, welches das häufige Beobachten der Boussole unnöthig machte; war ihre Lage einmal festgestellt, so suchten sie bei heiterem Wetter einen genau nördlichen, zwei bis drei Meilen entfernten Punkt; auf diesen gingen sie zu, bis er erreicht war, und bestimmten von da aus einen neuen ebenso belegenen Punkt. So wichen sie gewiß nur wenig von dem geraden Wege ab.

Während der ersten beiden Reisetage legte man immer zwanzig Meilen in zwölf Stunden zurück; die übrige Zeit wurde den Mahlzeiten und der Ruhe gewidmet; zum Schutz während des Schlafes erwies sich das Zelt als ausreichend.

Die Temperatur hob sich dann und wann; stellenweise schmolz der Schnee, je nach der Art des Bodens, während andere Stellen ihre fleckenlose Weiße bewahrten, da und dort bildeten sich große Wasserflächen, manchmal wahre Teiche, welche mit etwas Phantasie wohl für Seen zu halten waren; sie [434] mußten manchmal mit dem halben Bein im Wasser gehen, worüber sie nur lachten; ja der Doctor war über diese unerwarteten Bäder ganz glücklich.

»Dem Wasser ist's gleichwohl nicht verstattet, uns in diesen Ländern zu durchnässen, sagte er; hier hat es nur in festem oder gasförmigem Zustande Rechte; sein flüssiger Zustand ist ein Mißbrauch. Eis oder Dampf, ganz schön, aber Wasser, nie!«



Unterwegs wurde auch die Jagd nicht vernachlässigt, denn sie mußte frische Nahrungsmittel liefern; dazu durchstreiften Altamont und Bell, ohne sich zu weit zu entfernen, die Nachbarschaft; sie schossen Schneehühner, Taucherhühner, Gänse, einige graue Hasen u. dergl.; diese Thiere kamen übrigens bald von dem ersten Zutrauen zurück und wurden furchtsam; sie flohen scheu, und nu schwer konnte man sich ihnen nähern. Ohne Duk wären die Jäger häufig um ihr Pulver betrogen gewesen.

Hatteras befahl ihnen, sich nicht weiter, als eine Meile zu entfernen, denn er hatte keinen Tag, ja keine Stunde zu verlieren, da auf mehr als drei Monate geeigneter Witterung nicht zu rechnen war.

Außerdem mußte Jeder dem Schlitten nahe zur Hand sein, wenn eine schwierige Stelle, eine enge Schlucht oder starkgeneigte Ebenen zu passiren waren; dann spannte oder stemmte sich Jeder an den Schlitten, ihn ziehend, schiebend oder stützend; mehr als einmal mußte man ihn ganz entladen, und auch das verhinderte noch nicht alle Stöße und in Folge dessen Beschädigungen, welche Bell nach besten Kräften ausbesserte.

[435] Am dritten Tage, Mittwochs den 26. Juni, stießen die Reisenden auf einen See von mehreren Morgen Landes Ausdehnung, der in Folge seiner vor der Sonne geschützten Lage noch vollständig mit Eis bedeckt war; dieses zeigte sich auch stark genug, das Gewicht der Reisenden und des Schlittens zu tragen. Dieses Eis schien schon von einem früheren Winter herzurühren, denn in Folge seiner Lage konnte dieser See nie aufthauen. Es war ein compacter Spiegel, dem die arktischen Sommer Nichts anhaben konnten; was diese Ansicht noch bestätigte, war der trockene Schnee, der seine Ufer einrahmte, und dessen untere Schichten offenbar früheren Jahren angehörten.



Von diesem Punkte aus ward das Land merklich niedriger, woraus der Doctor den Schluß zog, daß es gegen Norden sich nicht allzuweit erstrecken dürfte; es wurde immer wahrscheinlicher, daß Neu-Amerika nur eine Insel sei, welche sich nicht bis zum Pol ausdehnte. Nach und nach slachte sich das Land mehr ab; kaum waren noch im Westen einige theils in der Entfernung, theils in einem bläulichen Nebel verschwindende Hügel sichtbar.

Bis hierher war die Expedition ohne Ermüdung verlaufen, die Reisenden litten höchstens durch die von dem Schnee zurückgeworfenen Sonnenstrahlen; durch diesen Reflex konnten sie der Schnee-Blindheit 1 kaum entgehen. Zu anderer Jahreszeit wären sie während der Nacht gereist, um diesem Uebelstande [436] zu entgehen, jetzt aber gab es ja keine Nacht. Glücklicher Weise neigte sich der Schnee zum Schmelzen, und verlor so, wenn er im Begriff war, in Wasser überzugehen, viel von seinem Glanze.



Am 28. Juni hob sich die Temperatur bis auf fünfundvierzig Grad über Null (+ 7° hunderttheilig); dieser Wärmegrad war von reichlichem Regen begleitet, den die Reisenden ruhig, selbst mit Vergnügen ertrugen, denn er beförderte das Schmelzen des Schnees; man mußte wieder auf die Mocassins von Damleder zurückgreifen und auch das Gleitungsvermögen des Schlittens ändern. Der Marsch wurde dadurch zwar aufgehalten, da aber ernsthafte Hindernisse nicht auftraten, kam man doch vorwärts.

Einige Male hob der Doctor unterwegs rundliche oder platte Steine auf, die das Ansehen der durch den Wellenschlag abgerundeten Steine am Seestrande hatten, und er glaubte deshalb, in der Nähe des Polar-Meeres zu sein; aber immer noch dehnte sich die Ebene zu unübersehbarer Ferne aus.

Sie bot kein Anzeichen von Bewohntsein, weder Hütten, noch Cairns, noch Eskimohöhlen; offenbar waren unsere Reisenden die Ersten, welche dieses neue Land betraten; diejenigen Stämme der Grönländer, welche die arktischen Länder besuchen, drangen nie soweit hinauf, obgleich die Jagd hier reiche Ergebnisse diesen immer hungrigen Unglücklichen liefern mußte; manchmal bemerkte man Bären, die der kleinen Gesellschaft unter dem Winde folgten, aber keine Miene machten, sie anzugreifen; in der Ferne zeigten sich auch zahlreiche Heerden von Bisonochsen und Rennthieren, von welchen Letzteren der Doctor [437] gern einige Exemplare zur Verstärkung der Schlittenbespannung gehabt hätte, doch waren diese sehr scheu und machten es unmöglich, sie lebend zu fangen.


Altamont hat einen Bisonochsen erlegt. (S. 438.)

Am 29. tödtete Bell einen Fuchs, und Altamont war so glücklich, einen kleineren Bisonochsen zu erlegen, wobei er seinen Genossen eine hohe Meinung von seiner Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit abnöthigte; wirklich war er ein ausgezeichneter Jäger, und der Doctor, der sich darauf verstand, bewunderte ihn höchlich. Der Ochse ward ausgeweidet und lieferte reichlich frische Nahrung.

[438] Dieses zufällige Glück guter und nahrhafter Mahlzeiten wurde immer freudig begrüßt; auch wer weniger Feinschmecker war, mußte unwillkürlich einen Blick der Befriedigung auf diese Schnitten saftigen Fleisches werfen. Der Doctor selbst lachte, wenn er sich über der Bewunderung dieser köstlichen Stücken ertappte.



»Wir wollen den Mund nicht zu spitz machen, sagte er da, bei Nordpol-Expeditionen ist die Mahlzeit eine Sache von Bedeutung.

– Zumal, erwiderte Johnson, wenn sie von einem mehr oder weniger geschickten Schusse abhängt.


Beschwerliche Fahrt über Landeis. (S. 410.)

– Sie haben Recht, mein alter Johnson, versetzte der Doctor, wenn man den Kochtopf regelmäßig im Küchenofen brodeln sieht, denkt man weniger an's Essen.«

Am 30. wurde das Land ganz unerwartet sehr uneben, als wenn es durch eine vulkanische Bewegung gehoben wäre; kegelförmige und spitze Erhabenheiten wurden unzählig und erreichten große Höhen. Ein Südostwind begann mit Heftigkeit zu wehen und steigerte sich bald zum tüchtigen Orkane; er verfing sich an den schneebekrönten Felsen und zwischen den Eisbergen, die auf der Ebene die Form von Spitzhügeln und Eisinseln des Meeres nachahmten; ihre Anwesenheit auf diesen Hochebenen war ihnen unerklärlich, selbst dem Doctor, der doch sonst für Alles eine Deutung hatte.

Dem Sturme folgte warme, feuchte Witterung, ein wahrhaftes Thauwetter; [439] von allen Seiten erscholl das Krachen des Eises, das sich mit dem noch mächtigeren Donner der Lawinen mischte.

Die Reisenden vermieden sorgfältig, ihren Weg am Fuße der Hügel zu nehmen, ja sogar laut zu sprechen, denn schon das Geräusch der Stimme konnte durch die Bewegung der Luft Katastrophen herbeiführen; sie waren öfters Zeugen furchtbarer Stürze, vor denen sich zu schützen sie gar keine Zeit gehabt hätten; eine wesentlichste Eigenthümlichkeit der polaren Lawinen ist in der That deren erschreckende Schnelligkeit; sie unterscheiden sich damit [440] von denen in der Schweiz und in Norwegen; dort bildet sich zunächst eine Schneekugel, die zuerst wenig beträchtlich, durch den Schnee und wohl auch durch Felsstücke auf ihrem Wege an Größe zunnimmt, mit wachsender Schnelligkeit niederstürzt, Felder verwüstet und Dörfer zerstört, aber immerhin eine gewisse Zeit zum Niederrollen braucht; anders aber ist es in den von arktischem Froste erstarrten Gegenden; die Ortsveränderung von Eisblöcken geschieht hier völlig unerwartet, blitzartig. Ihr Sturz fällt mit dem Augenblicke des Losbrechens zusammen, und wer sie gerade auf sich zustürzen sieht, [441] wird von ihnen unrettbar zermalmt; die Kanonenkugel ist nicht schneller, der Blitz nicht sicherer. Sich ablösen, fallen und zerstören ist für die Lawinen der Polarländer ein und dasselbe, und das geschieht mit dem majestätischen Rollen des Donners und mit ganz fremdartigem, mehr kläglichem als geräuschvollem Echo.

Vor den Augen der Zuschauer vollzogen sich auch nicht selten merkwürdige Veränderungen der umgebenden Ansichten; das Land wandelte sich um; der Berg wurde unter dem Einflusse eines plötzlichen Thaues zur Ebene; oder, wenn das Regenwasser, das in die Sprünge großer Blöcke gedrungen war, durch den Frost einer einzigen Nacht gefror, sprengte es durch die unwiderstehliche Kraft der Expansion jedes Hinderniß, eine Macht, die sich bei der Eisbildung noch stärker erwies, als bei der Dampfbildung, und auch diese Erscheinung vollzog sich mit erschreckender Augenblicklichkeit.


Eissturz im Polarsommer. (S. 441.)

Dem Schlitten und seinen Führern drohte glücklicher Weise kein Unfall; in Folge ihrer Vorsichtsmaßregeln wurde jede Gefahr vermieden. Uebrigens hatte dieses durch Gebirgskämme und daran lagernde Anhöhen, durch Bergspitzen und Eisberge zerklüftete Land keine große Ausdehnung, und drei Tage darauf, am 3. Juli, befanden sich die Reisenden wieder auf bequemerer Ebene.

Da wurden sie aber durch eine andere Erscheinung in Erstaunen gesetzt, welche lange die mühsamsten Untersuchungen der Gelehrten beider Hemisphären erregte; die kleine Truppe folgte einer etwa fünfzig Fuß hohen Hügelkette, die sich mehrere Meilen weit zu erstrecken schien; ihr Abhang nach Osten war mit Schnee, aber mit vollkommen rothem Schnee bedeckt.

Man begreift das Erstaunen Aller, ihre Ausrufe der Verwunderung und selbst den etwas erschreckenden Eindruck dieses langen carmoisinrothen Abhangs. Der Doctor zögerte nicht, wenn nicht jenen zu heben, so doch wenigstens seine Gefährten zu unterrichten; er kannte das Wesen dieses rothen Schnees aus den darüber ausgeführten chemisch-analytischen Arbeiten Wollaston's, Candolle's und Bauer's; er erzählte also, daß sich dieser Schnee nicht allein in den arktischen Gegenden finde, sondern auch mitten in den Alpen der Schweiz. Saussure sammelte im Jahre 1760 eine beträchtliche Menge desselben, und später brachten auch die Kapitäne Roß, Sabine und andere Seefahrer von ihren Polar-Expeditionen ebensolchen mit.

Altamont befragte den Doctor über die Natur dieser außergewöhnlichen [442] Substanz, und dieser belehrte ihn, daß die Farbe derselben einzig durch die Anwesenheit organischer Körperchen bedingt sei. Lange waren die Forscher im Zweifel, ob dieselben thierischer oder pflanzlicher Natur seien, aber sie erkannten endlich, daß sie zu der großen Familie mikroskopischer Pilze, und zu der Art »Uredo« gehörten, welche Bauer »Uredo nivalis« zu nennen vorschlug.



Dann zeigte der Doctor seinen Genossen, indem er den Schnee mit seinem eisenbeschlagenen Stocke durchstieß, daß jene Scharlachkruste neun Fuß dick war, und gab ihnen zu berechnen auf, wieviel auf einen Raum von mehreren Meilen von diesen Pilzen, von denen die Gelehrten dreiundvierzigtausend auf einem Quadratcentimeter zählten, wohl vorhanden sein möchten.

Nach der Natur des Abhanges mußte diese Färbung schon sehr alt sein, denn diese Pilze zersetzen sich weder durch Verdunstung, noch durch das Schmelzen des Schnees, und ebenso ist ihre Farbe unveränderlich.

Das Phänomen blieb, wenn auch erklärt, doch nicht minder fremdartig; die rothe Farbe trifft man in der Natur nur selten in größerer Verbreitung an; der Widerschein der Sonnenstrahlen auf diesem Purpurteppich brachte eigenthümliche Effecte hervor; er verlieh den benachbarten Gegenständen, den Felsen wie den Menschen und Thieren, ein feuriges Aussehen, so als ob sie von einer inneren Gluth durchleuchtet wären, und als jener Schnee schmolz, schien es, als ob Bäche von Blut unter den Füßen der Reisenden dahinflössen.

[443] Der Doctor, welcher diese Substanz, als er sie auf den Crimson-Klippen der Bassins-Bai sah, nicht hatte untersuchen können, sammelte sie sich jetzt nach Gefallen und füllte sorgsam mehrere Flaschen damit an.

Dieser rothe Boden, dieses »Blutfeld«, wie er es nannte, wurde erst nach dreistündigem Marsche überschritten; dann nahm das Land sein gewöhnliches Aussehen wieder an.

Fußnoten

1 Eine eigenthümliche Erkrankung der Netzhaut, die durch den Widerschein des Schnees hervorgerufen wird.

20. Capitel
Zwanzigstes Capitel.
Abdrücke im Schnee.

Der 4. Juli verlief mitten in dichtem Nebel. Die Richtung nach Norden konnte nur mit größter Mühe eingehalten, und mußte jeden Augenblick durch den Compaß verbessert werden. Kein Unfall ereignete sich glücklicher Weise während dieser Finsterniß, nur verlor Bell seine Schneeschuhe, die er an einem Felsenvorsprunge zerbrach.

»Meiner Treu, sagte Johnson, ich glaubte, daß man, wenn man an der Mersey und der Themse bekannt ist, in Hinsicht der Nebel etwas schwer zu befriedigen sei, aber ich sehe, daß ich mich getäuscht habe.

– Nun, sagte Bell, wir sollten Fackeln anzünden, wie in London und Liverpool!

– Warum das nicht? versetzte der Doctor; wirklich, das ist eine Idee! Den Weg würden wir zwar nur wenig heller machen; doch wenigstens den Führer erkennen können, und besser in gerader Richtung vorwärts kommen.

– Aber, meinte Bell, wie sollen wir Fackeln herstellen?

– Durch Werg, welches mit Weingeist getränkt und an das Ende der Stöcke befestigt wird.

– Gut ausgedacht, erwiderte Johnson, und das wird nicht lange Zeit erfordern, um hergerichtet zu sein.«

Eine Viertelstunde später nahm die kleine Gesellschaft bei Fackelschein den Weg durch den feuchten Nebel wieder auf.


Fackelzug durch den Nebel. (S. 444.)

Wenn man nun aber auch mehr gerade vorwärts kam, so geschah das doch nicht schneller, und diese [444] dunkeln Dünste zerstreuten sich nicht vor dem 6. Juli; dann, als die Erde wieder kalt geworden war, verscheuchte ein frischer Nordwind den ganzen Nebel, wie Fetzen eines zerrissenen Stoffes.

Der Doctor nahm alsbald die Ortslage, wo sie sich befanden, auf und fand, daß sie während dieser dunstigen Tage nur acht Meilen im Mittel zurückgelegt hatten.

Am 6. beeilte man sich nun, die verlorene Zeit wieder einzuholen, und [445] man brach schon früh am Morgen auf. Altamont und Bell nahmen ihre Stelle als Vortrab wieder ein, sondirten das Terrain und spürten das Wild auf; Duk begleitete sie; das Wetter war in Folge seiner erstaunlichen Veränderlichkeit sehr klar und trocken geworden, und trotzdem, daß die Führer wohl zwei Meilen dem Schlitten voraus waren, entging dem Doctor doch keine einzige ihrer Bewegungen.

Er war daher nicht wenig erstaunt, sie plötzlich innehalten und mit offenbarem Erstaunen stehen bleiben zu sehen; sie schienen neugierig in die Ferne zu sehen, wie Leute, welche nach dem Horizonte ausschauen.

Dann bückten sie sich nieder, prüften aufmerksam den Boden und erhoben sich mit Zeichen des Erstaunens. Bell schien selbst vorwärts gehen zu wollen, aber Altamont hielt ihn zurück.

»Nun, was machen denn diese da? sagte der Doctor zu Johnson.

– Ich mustere sie ebenso, wie Sie, Herr Clawbonny, antwortete der alte Seemann, aber ich verstehe ihre Bewegungen nicht.



– Sie werden Spuren von Thieren gefunden haben, versetzte Hatteras.

– Das kann nicht sein, sagte der Doctor.

– Warum nicht?

– Weil Duk bellen würde.

– Es sind doch wohl Abdrücke im Schnee, die sie betrachten.

– Nun vorwärts nur, sagte Hatteras, so werden wir bald sehen, woran wir sind.«

[446] Johnson trieb die Hunde an, welche hintrabten.

Nach zwanzig Minuten waren die fünf Reisenden beisammen, und Hatteras, der Doctor und Johnson theilten die Verwunderung Altamont's und Bell's.

Wirklich zeigten sich auf dem Schnee deutliche, unzweifelhafte Fußspuren von Menschen, und zwar so frisch, als ob sie erst am Tage vorher entstanden wären.

»Das sind Eskimos, meinte Hatteras.

– In der That, antwortete der Doctor, da sind Abdrücke von ihren Schneeschuhen.

– Sie glauben ...? sagte Altamont.

– Gewiß.



– Nun, aber dieser Schritt hier? fragte Altamont weiter, auf eine sich mehrfach wiederholende Fußspur zeigend.

– Dieser Schritt?

– Meinen Sie, daß der auch einem Eskimo angehöre?«

Aufmerksam betrachtete ihn der Doctor mit größtem Erstaunen, der Abdruck eines europäischen Schuhes mit Nägeln, der Sohle und dem Absatze war tief in dem Schnee ausgehöhlt; ein Mann, und zwar ein Fremder war hier gegangen.

»Europäer hier! rief Hatteras aus.

– Unleugbar! sagte Johnson.

[447] – Und doch, fügte der Doctor hinzu, ist es so unglaublich, daß man zweimal hinsehen muß, bevor man das behauptet!«

Der Doctor prüfte die Fußtapfen zwei-, dreimal, er mußte aber ihren ganz außergewöhnlichen Ursprung anerkennen.

Der Held Daniel de Foës war gewiß nicht mehr erstaunt, im Sande seiner Insel eingedrückte Fußtapfen zu finden; Jener aber fürchtete sich deshalb, hier ärgerte sich Hatteras nicht wenig darüber. Ein Europäer, so nahe am Pol!

Man ging weiter, um diese Spuren zu deuten; eine Viertelmeile weit wiederholten sie sich, vermischt mit anderen Spuren von Schneeschuhen und Mocassins; dann verliefen sie sich nach Westen zu.

An diesem Punkte angelangt, fragten sich die Reisenden, ob sie jene Spuren noch weiter verfolgen sollten.

»Nein, entschied Hatteras. Vorwärts ...!«

Da unterbrach ihn ein Ausruf des Doctors, der aus dem Schnee einen noch überzeugenderen Gegenstand aufhob, über dessen Ursprung kein Zweifel sein konnte. Es war das Objectivglas eines Taschenfernrohres.

»Nun kann man freilich, sagte dieser, die Anwesenheit eines Fremden in diesem Lande nicht mehr in Zweifel ziehen! ...

– Vorwärts!« trieb Hatteras.

Er sprach dieses Wort so energisch aus, daß ihm Jeder folgte, und der Schlitten setzte sich nach kurzer Unterbrechung wieder in Bewegung.

Jeder sah gespannt nach dem Horizont, außer Hatteras, den ein stummer Zorn aufregte und der Nichts sehen wollte. Da man aber auf eine Abtheilung Reisender zu stoßen befürchten mußte, galt es, die nöthigen Vorsichtsmaßregeln zu treffen; wahrlich, das hieß doch wirklich ein schlimmes Spiel, sich jetzt auf diesem unbekannten Wege überholt zu sehen. Der Doctor, wenn er auch nicht den Zorn Hatteras' theilte, konnte sich doch, trotz seiner natürlichen Philosophie, eines gewissen Verdrusses nicht entschlagen. Altamont schien ebenso unangenehm berührt; Johnson und Bell murmelten drohende Worte zwischen den Zähnen.

»Nun wohlan, sagte endlich der Doctor, wir wollen gute Miene zum bösen Spiele machen.

– Ich muß gestehen, sagte Johnson, ohne von Altamont gehört zu werden, [448] es könnte Einem die ganze Lust zur Reise nach dem Pol nehmen, wenn der Platz schon in Besitz genommen wäre.


Eine stürmische Nacht. (S. 150.)

– Und doch, erwiderte Bell, ist daran fast gar nicht zu zweifeln.

– Nein, meinte der Doctor, wenn ich das Abenteuer noch einmal überlege, und mir immerhin sage, daß es unglaublich, daß es unmöglich ist, – wir müssen uns doch darein ergeben! Jener Schuh hat sich eben nicht in den Schnee eingedrückt, ohne an einem Beine zu sitzen, und ohne daß dieses Bein [449] einem menschlichen Körper angehörte. Wären hier Eskimos, ich ließe es noch hingehen, aber ein Europäer!

– Die Sache ist die, sagte Johnson, daß es sehr ärgerlich wäre, in der Herberge am Ende der Welt die Wohnung bereits in Besitz genommen zu finden.

– Gewiß, höchst ärgerlich, erwiderte Altamont.

– Nun, wir werden das ja am Ende sehen«, sagte der Doctor.

Man machte sich wieder auf den Weg.

Der Tag verlief, ohne daß ein neues Zeichen die Anwesenheit von Fremden in Neu-Amerika verrathen hätte, und man richtete sich endlich Abends zum Lagern ein.

Von Norden her hatte sich ein heftiger Wind erhoben, so daß für das Zelt ein geschützter Standort in einem Hohlwege gesucht werden mußte; drohend sah der Himmel aus; lang gezogene Wolken jagten schnell durch die Luft; fast streiften sie den Boden, und das Auge hatte Mühe, ihrem wirren Laufe zu folgen; manchmal hingen Fetzen dieser Nebelmassen wirklich bis zur Erde, und nur schwierig widerstand das Zelt dem tobenden Orkan.

»Das wird eine abscheuliche Nacht werden, sagte Johnson nach dem Abendessen.

– Nicht kalt, aber geräuschvoll, erwiderte der Doctor, wir wollen auch vorsichtig sein und das Zelt durch große Steine sichern.

– Sie haben Recht, Herr Clawbonny; wenn der Sturm unsere schützende Leinwand entführte, weiß es Gott nur, wo wir sie wieder antreffen würden.«

Die sorgsamsten Vorsichtsmaßregeln wurden also getroffen, um diese Gefahr zu vermeiden, und dann versuchten die müden Wanderer zu schlafen.

Aber das war unmöglich; der Sturm hatte sich entfesselt und blies mit unglaublicher Heftigkeit von Norden nach Süden; die Wolken zerstreuten sich in der Luft, wie etwa die Dämpfe aus einem explodirten Dampfkessel. Unter den Stößen des Orkanes prasselten die letzten Lawinen nieder in die Hohlwege, und das Echo gab seinen dumpfen Wiederhall zurück; die Atmosphäre schien der Schauplatz eines entsetzlichen Kampfes zwischen Luft und Wasser zu sein, zwei Elemente, welche jedes allein furchtbar genug sind, und nur das Feuer fehlte noch bei dem Kampfe.

Das überreizte Ohr vernahm zwischen dem allgemeinen dumpfen Getöse noch eigenthümliche Töne; nicht das Gepolter herunterstürzender schwerer [450] Massen, sondern mehr den hellen Laut zerbrechender Körper. Man hörte deutlich das kurze und glatte Zerbrechen, wie von zerspringendem Stahl, mitten durch das lange Rollen in Begleitung des Sturmes.

Das Letztere fand seine natürliche Erklärung in den durch den Wirbelsturm hervorgerufenen Lawinenstürzen; das andere Geräusch aber wußte der Doctor zunächst nicht zu deuten.

In den Augenblicken beängstigenden Schweigens, in denen der Orkan nur Athem zu schöpfen schien, um desto heftiger zu wüthen, tauschten die Reisenden ihre Vermuthungen aus.

»Man hört die Stöße, sagte der Doctor, als ob Eisberge und Eisfelder gegeneinander stießen.

– Ja, bestätigte Altamont, es ist als ob die ganze Erdkruste ihre Lage veränderte. Geben Sie Acht! Hören Sie es?

– Wenn wir nahe dem Meere wären, fuhr der Doctor fort, so würde ich wirklich an einen Eisaufbruch denken.

– Wirklich, sagte Johnson, der Lärmen ist gar nicht anders zu deuten.

– Demnach wären wir also an der Küste angelangt? fragte Hatteras.

– Das wäre nicht unmöglich, antwortete der Doctor; hören Sie da, fuhr er nach einem furchtbaren Krachen, das eben auftrat, fort, sollte man das nicht für das Bersten von Eisschollen halten? Wir dürften wohl dem Ocean nahe sein.

– Wenn dem so ist, fiel Hatteras ein, würde ich keinen Augenblick zögern, über die Eisfelder vorwärts zu dringen.

– O, sagte der Doctor, die dürften denn doch wohl bei einem derartigen Sturme gesprengt sein. Wir werden morgen darüber Gewißheit haben; doch wie es auch sei, ich bedauere alle Diejenigen, welche in einer solchen Nacht zu reisen gezwungen sind, von ganzem Herzen.«

Zehn Stunden dauerte der Orkan ohne Unterbrechung fort, und Keiner der Inwohner des Zeltes konnte nur einen Augenblick schlafen; die Nacht verging in fortwährender Unruhe.

Jeder neue Unfall, ein Sturm, eine Lawine konnte unter den gegebenen Verhältnissen wichtige Verzögerungen herbeiführen; gern wäre der Doctor einmal hinausgegangen, um sich von dem Stande der Sachen zu überzeugen, aber sollte er sich bei diesem fessellosen Winde einer Gefahr aussetzen?

Mit den ersten Tagesstunden legte sich glücklicher Weise der Wind; endlich [451] konnte man das Zelt, welches tüchtig ausgehalten hatte, verlassen; der Doctor, Hatteras und Johnson wendeten sich nach einem etwa dreihundert Fuß hohen Hügel, den sie leicht erstiegen.

Ihre Blicke schweiften über ein gänzlich verändertes Land, das aus bloßliegenden Felsen und scharfen Spitzen bestand, aber gänzlich frei von Eis und Schnee war.


Der Sturm hat die Bahn freigeweht. (S. 452.)

Der Sommer folgte hier ohne Uebergangszeit dem von dem Sturme verjagten Winter; der Schnee, welcher durch den Orkan wie mit einer scharfen Klinge weggefegt war, hatte zum Schmelzen keine Zeit gehabt, und der Boden erschien in seiner ganzen ursprünglichen Rauhheit.

[452] Wohin sich aber Hatteras' Blicke fast gierig wendeten, das war der Norden. Der Horizont erschien dort in schwärzlichen Dünsten gehüllt.

»Dort, das könnte durch den Ocean hervorgebracht sein, sagte der Doctor.


Ueberschwemmung in Folge des Thauwetters. (S. 454.)

– Sie haben Recht, bemerkte Hatteras, dort muß das Meer sein.

– Das ist die Farbe, welche wir den ›Blinck‹ (Schimmer) des offenen Wassers nennen, erwähnte Johnson.

– Genau diese, versetzte der Doctor.

[453] – Nun denn, zum Schlitten, rief Hatteras, marschiren wir nach dem neuen Ocean!

– Das ist ja herzerfreuend, sagte Clawbonny zum Kapitän.

– Ja, ganz gewiß, erwiderte dieser mit Enthusiasmus. In Kurzem werden wir den Pol erreicht haben! Und Sie, mein guter Doctor, macht Sie diese Aussicht nicht auch etwas glücklich?

– Ich, ich bin immer glücklich, und vor Allem über das Glück Anderer.«

Die drei Engländer kehrten zu dem Hohlwege zurück, und man hob, nachdem der Schlitten in Stand war, das Lager auf; der Weg wurde fortgesetzt; noch fürchtete Jeder, die Spuren vom gestrigen Tage wiederzufinden; aber auf dem ganzen weiteren Wege fanden sich weder Fußtapfen von einem Ausländer, noch solche von Eingeborenen auf dem Boden. Drei Stunden später gelangte man an die Küste.

»Das Meer! das Meer! riefen Alle einstimmig.

– Und das eisfreie Meer!« setzte der Kapitän hinzu.

Es war um zehn Uhr Morgens.

Wirklich hatte der Orkan in dem polaren Bassin rein ausgefegt; nach allen Richtungen verschwanden die zerbrochenen Schollen. Die größten, welche Eisberge bildeten, »lichteten eben die Anker«, wie die Seeleute sagen, und schwammen im offenen Meere. Das Eisfeld war dem heftigen Anprall des Windes ausgesetzt gewesen; ein Hagel von spitzen Eiszapfen und eisigem Staube überdeckte die benachbarten Felsen. Das wenige Eis, welches noch an der Uferwand haftete, erschien morsch; an den der Brandung ausgesetzten Vorsprüngen hingen lange Seealgen und Büschel von entfärbtem Tang.

Der Ocean erstreckte sich über Sehweite hinaus, ohne daß eine Insel oder ein neues Land den Gesichtskreis beschränkte. Im Osten und im Westen bildete die Küste zwei Vorsprünge, die sich in sanfter Abdachung in den Wellen verloren; das Meer brach sich an ihrer Spitze, und ein seiner Schaum wurde gleich weißen Tüchern von den Flügeln des Windes fortgeführt; der Boden Neu-Amerikas verschwand also in dem Polarmeer, ohne Zuckung, ruhig und sanft abfallend; er rundete sich zu einer weit offenen Bai ab und bildete eine von den beiden Vorgebirgen begrenzte offene Rhede. Im Mittelpunkte bildete ein vorspringender Felsen einen natürlichen nach drei Richtungen hin geschützten Hafen, der mit der breiten Rinne eines Baches sich in das Land [454] hinein fortsetzte; der gewöhnliche Weg des Schneewassers nach dem Winter und jetzt ein reißender Sturzbach.


Eine freie Wasserstraße nach Norden. (S. 456.)

Nachdem Hatteras sich bezüglich der Küstenbildung unterrichtet hatte, beschloß er, noch denselben Tag die Weiterfahrt vorzubereiten, nämlich die Schaluppe auf's Meer zu setzen, den Schlitten zu entladen und diesen selbst zu späteren Ausflügen einzuschiffen.

Das erforderte wohl den Rest des Tages; das Zelt wurde also aufgeschlagen und nach einer kräftigenden Mahlzeit begannen die Arbeiten; während [455] dieser Zeit holte der Doctor die Meßinstrumente, um die hydrographische Lage eines Theils der Bai zu bestimmen.

Hatteras beeilte die Arbeit; er trieb zur Abreise; er wollte schon das feste Land verlassen und einen Vorsprung gewonnen haben, für den Fall, daß eine andere Gesellschaft an das Meer käme.

Um fünf Uhr Abends konnten Johnson und Bell die Arme in den Schoß legen. Graziös wiegte sich die Schaluppe in dem kleinen Hafen; ihr Mast war aufgerichtet, der Klüverbaum niedergeholt, und das Focksegel hing an den Leinen; die Nahrungsmittel und die auseinander genommenen Theile des Schlittens waren darin untergebracht; nur das Zelt und einige Lagergeräthe waren am andern Tage einzuschiffen.

Bei seiner Rückkehr fand der Doctor diese Zurüstungen beendigt. Als er die Schaluppe ruhig, vor dem Winde geschützt, erblickte, kam ihm der Gedanke, den kleinen Hafen zu benennen, und er schlug für ihn den Namen Altamont's vor.

Das erregte keine Schwierigkeiten, da es Jeder ganz gerechtfertigt fand.

Der Hafen wurde folglich »Altamont-Harbour« genannt.

Nach den Berechnungen des Doctors lag er 87°5' nördlicher Breite und 118°35' östlicher Länge von Greenwich, d.h. also nicht mehr drei Grade vom Pol entfernt. Von der Bai Victoria bis nach Altamont's Hafen hatten die Reisenden zweihundert Meilen zurückgelegt.

21. Capitel
Einundzwanzigstes Capitel.
Das offene Meer.

Am folgenden Morgen beschäftigten sich Johnson und Bell mit der Einschiffung der Lagergeräthe. Um acht Uhr war Alles zur Abfahrt bereit. In dem Augenblicke, da sie diese Küste verlassen wollten, erinnerte der Doctor seine Gefährten an das Auffinden jener Fußspuren, ein Ereigniß, das ihm doch gar nicht aus dem Sinne wollte.

[456] Wollten jene Menschen den Norden erreichen? Hatten sie irgend ein Hilfsmittel, das Polarmeer zu überschreiten, bei sich? Würde man ihnen auf diesem neuen Wege wieder begegnen?

Kein Anzeichen hatte seit drei Tagen auf die Anwesenheit jener Reisenden hingedeutet, und wer sie auch waren, gewiß waren sie in Altamont-Harbour nicht gewesen. Das war ein noch von keines Menschen Fuß betretener Ort.

Trotzdem wollte der Doctor, dem seine Gedanken keine Ruhe ließen, einen letzten Blick über die Landfläche werfen; er erklomm also eine etwa hundert Fuß hohe Anhöhe; dort konnte er nach Süden hin den ganzen Horizont übersehen.

Oben angekommen brachte er sein Fernrohr vor das Auge. Wie war er aber erstaunt, Nichts zu erkennen, nicht etwa weit draußen in den Ebenen, sondern auch nur auf einige Schritte Entfernung. Das war einzig in seiner Art; er versuchte es von Neuem, endlich sah er das Fernrohr selbst an ... das Objectivglas fehlte daran.



»Das Objectivglas!« rief er aus.

Man begreift, wie plötzlich es in seinem Geiste tagte; er stieß einen so lauten Schrei aus, daß seine Gefährten ihn hören konnten, und ihre Angst war groß, als sie ihn vollen Laufes den Hügel herabeilen sahen.

»Ei! Was ist das?« fragte Johnson.

Der athemlose Doctor konnte kein Wort hervorbringen. Endlich sagte er:

»Die Spuren ... die Schritte ... die Reisegesellschaft! ...

[457] – Nun, was? forschte Hatteras, ... Fremde hier!

– Nein! ... Nein! erwiderte der Doctor, das Objectiv ..., mein Objectiv ... mir ...«

Er zeigte das unvollständige Instrument.

»Ah, rief der Amerikaner, ... Sie hatten das verloren?

– Ja!

– Nun aber, die Fußtapfen ...

– Waren die unserigen, Freunde, die unserigen! rief der Doctor. Wir hatten uns im Nebel verirrt, sind im Kreise gegangen und auf unsere eigenen Spuren zurückgekommen.

– Aber dieser Abdruck von Schuhen? sagte Hatteras.

– Rührt von Bell's Schuhen, von Bell selbst her, der, nachdem er seine Schneeschuhe zerbrochen hatte, einen ganzen Tag durch den Schnee wanderte.

– Das ist wirklich wahr«, bekräftigte Bell.

Der Irrthum war so augenscheinlich, daß Alle laut auflachten, nur Hatteras nicht, der bei dieser Entdeckung doch sicher nicht der am wenigsten Glückliche war.

»Da haben wir uns recht lächerlich gemacht, fuhr der Doctor fort, als sich der Ausbruch der Heiterkeit legte. Hübsche Voraussetzungen, die wir machten! Fremde auf dieser Küste! Da sieht man, daß man sich erst überlegen soll, bevor man spricht. Doch da wir in dieser Hinsicht unserer Unruhe enthoben sind, bleibt uns nur übrig, abzufahren.

– Vorwärts denn!« befahl Hatteras.

Nach einer Viertelstunde hatte Jeder in der Schaluppe seinen Platz eingenommen, und diese verließ, als das Focksegel entfaltet und der Klüverbaum gehißt war, rasch Altamont-Harbour.

Diese Meerüberfahrt begann Mittwochs, am 10. Juli; die Schiffer befanden sich dem Pole sehr nahe, genau hundertfünfundsiebenzig Meilen. Für den Fall, daß an diesem Punkte der Erdkugel noch ein Land lag, mußte die Seefahrt also eine sehr kurze sein.

Der Wind war schwach, aber günstig; das Thermometer zeigte fünfzig Grad über Null (+ 10° hunderttheilig); es war ordentlich warm.

Die Schaluppe hatte durch den Schlittentransport nicht gelitten; sie war in vollkommen gutem Zustande und lenkte sich leicht. Johnson führte das Steuer. Der Doctor, Bell und der Amerikaner hatten sich mitten zwischen [458] den Reise-Effecten, die über und unter dem Deck verstaut waren, bestens eingerichtet. Hatteras, der vorn saß, heftete seinen Blick nach dem geheimnißvollen Punkte, nach dem er sich mit geheimer Kraft, wie die Magnetnadel nach ihrem Pole, hingezogen fühlte. Wenn irgend ein Ufer in Sicht käme, woll te er es zuerst entdecken. Diese Ehre verdiente er wohl vollkommen.

Er bemerkte übrigens, daß die Oberfläche des Polarmeeres solche kurze Wellen zeigte, wie sie auf den Binnenmeeren vorzukommen pflegen. Er sah darin ein Vorzeichen nicht zu fernen Landes, und der Doctor theilte in dieser Beziehung seine Meinung.

Man begreift unschwer, wie Hatteras so lebhaft wünschen mußte, einen Continent am Nordpole anzutreffen. Welche Enttäuschung harrte seiner, wenn da das unbeständige, unfaßbare Meer sich ausdehnte, wo ein Stückchen Land, und wenn es noch so klein war, dazu gehörte, seine Projecte zu krönen! Und wirklich, wie sollte man einem unbestimmten Meerestheile einen speciellen Namen geben? Wie sollte er auf offenem Wasser die Flagge seines Vaterlandes aufpflanzen? Wie endlich im Namen Ihrer huldvollen Majestät von einem Theile des flüssigen Elementes Besitz ergreifen?

So blickte denn auch Hatteras unverwandten Auges, die Bussole in der Hand, in äußerster Spannung nach dem Norden.

Nichts aber zeigte sich bis zum Horizonte, was die Fläche des Polar-beckens begrenzte; weit entfernt verschmolz es mit dem reinen Himmel dieser Gegenden. Einige in's weite Meer entfliehende Eisberge schienen den Schifffahrern freie Fahrt zu machen.

Der Anblick dieser Gegend war ein besonders fremdartiger. Machte er diesen Eindruck nur auf den hocherregten und überreizten Geist der Reisenden? Es ist das schwer zu entscheiden. Doch hat der Doctor in seinen Tagesnotizen die bizarre Physiognomie dieses Oceans gezeichnet; er spricht darüber, wie Penny, nach welchem diese Gegenden einen Anblick, »der im stärksten Contraste zu einem von Millionen lebender Wesen bevölkerten Meere« steht, bieten sollen.

Die Wasserfläche, welche in den unbestimmten Nuancen von Lasurblau gefärbt war, sah auffallend durchsichtig aus und hatte eine unglaubliche lichtzerstreuende Kraft, als ob sie aus Schwefelkohlenstoff bestände. Jene Durchsichtigkeit gestattete mit den Blicken in unmeßbare Tiefen zu dringen; es hatte den Anschein, als ob das Polarbecken, wie ein ungeheures Aquarium, [459] vom Boden aus beleuchtet wäre. Irgend ein im Meeresgrunde erzeugtes elektrisches Phänomen beleuchtete wohl auch die untersten Lagen; so schien die Schaluppe über einer bodenlosen Tiefe zu schweben.

Ueber der Oberfläche dieses wunderbaren Wassers flogen die Vögel in unzähligen Schaaren wie große dichte Sturmwolken. Zugvögel, Strandvögel, Meerhähne zeigten zusammen alle Arten jener großen Familie von Wasservögeln, von dem in südlichen Meeren so häufigen Albatros, bis zu dem Pinguin der arktischen Meere, aber mit riesenhaften Verhältnissen. Unaufhörlich [460] ertönte ihr betäubendes Geschrei. Bei ihrer Betrachtung ging dem Doctor seine Kenntniß in der Naturwissenschaft zu Ende; er wußte die Namen dieser merkwürdigen Arten nicht zu nennen, und ließ den Kopf sinken, wenn ihre Flügel mit unbeschreiblicher Gewalt die Lüfte peitschten.


Im offenen Polarmeere. (S. 459.)

Manche dieser Luftungeheuer hatten wohl bis zwanzig Fuß Flügelweite; sie bedeckten die Schaluppe vollständig, und hier waren legionenweise Vögel, deren Namen niemals im »Index Ornithologus« von London erschienen.

Der Doctor war wie betäubt davon, und jedenfalls erstaunt, seine Wissenschaft so lückenhaft zu finden.



Wenn dann sein Blick sich von den Wundern des Himmels weg nach der Oberfläche dieses friedlichen Oceans wandte, begegnete er nicht weniger wunderbaren Schöpfungen des Thierreichs; unter anderen Medusen, die eine Länge bis zu dreißig Fuß erreichten. Sie dienten dem beflügelten Volke als Hauptnahrung, und schwammen wie vollständige Inseln zwischen den gigantischen Algen und Meermoosen umher. Wie wunderbar war das! Welche Verschiedenheit von jenen mikroskopischen Medusen, welche Scoresby im Grönländischen Meere beobachtet hatte, und deren Anzahl auf einen Raum von zwei Quadratmeilen jener Seefahrer auf dreiundzwanzig Trilliarden, achthundertachtundachtzig Billiarden von Milliarden schätzte. 1

[461] Tauchte der Blick nun von der Oberfläche in das durchsichtige Wasser hinab, so war das Bild des von Tausenden von Thieren durchfurchten Wassers nicht minder übernatürlich; bald gingen diese Thiere schnell in die größten Tiefen des flüssigen Elementes, und das Auge sah sie nach und nach kleiner und weniger sichtbar werden, und zuletzt nach Art der Phantasmagorieen verschwinden; bald stiegen sie von unten auf und wuchsen, je nachdem sie sich der Oberfläche des Oceans näherten. Diese Seeungeheuer schienen über die Schaluppe nicht im Mindesten erschreckt; sie streiften sie im Vorüberschwimmen mit ihren enormen Flossen; da, wo Wallfischfahrer mit gutem Rechte erschrocken wären, hatten unsere Seefahrer gar keinen Gedanken an eine drohende Gefahr, trotzdem daß verschiedene dieser Meeresbewohner eine wahrhaft ungeheure Größe erreichten.

Junge Seekälber spielten umher; der Narwal, ebenso phantastisch wie das Seeeinhorn, verfolgte mit seiner langen geraden und konischen Waffe, die übrigens ein sehr nützliches Werkzeug ist, um Eisschollen zu zertheilen, die furchtsameren Wallfische, deren unzählige aus den Luftöffnungen Wasser und Schaumstrahlen auswarfen und die Luft mit eigenthümlichem Pfeifen erfüllten; der Nord-Kaper mit seinem zarten Schwanze und breiten Schwanzflossen durchschoß die Wogen mit unmeßbarer Schnelligkeit, wobei er im Laufe sich mit ebenso schnellen Thieren, wie Schellfischen und Makrelen, ernährte, während der trägere weiße Wallfisch stille Mollusken, die ebenso indolent waren wie er selbst, verschluckte.

Mehr in der Tiefe schwammen die Balenopteren mit spitziger Schnauze, die langen und schwärzlichen grönländer Anarnaks, riesige Pottfische, eine in allen Meeren weit verbreitete Species, zwischen Bänken von grauer Ambra, oder lieferten sich gewaltige Schlachten, die den Ocean mehrere Meilen weit rötheten. Die cylindrischen Blasenquallen, der große Tegusik von Labrador, Meerschweine, in Sandwellen liegend, die ganze Familie der Robben und Wallrosse, Meer-Hunde, -Pferde und -Bären, See-Löwen und -Elephanten schienen die feuchten Flächen des Oceans abzuweiden, und der Doctor konnte diese unzähligen Thiere eben so leicht bewundern, wie die Schalthiere und Fische durch die Glasbassins des Zoologischen Gartens.

Welche Schönheit, welche Mannigfaltigkeit, welche Machtfülle in der Natur! Wie erschien Alles seltsam und wunderbar im Innern dieser Polgegenden!

Die Luft war von übernatürlicher Reinheit; man hätte sagen können, sie [462] sei mit Sauerstoff überladen; mit Wonnegefühlen sogen die Seefahrer diese Luft ein, die ihnen eine größere Lebenswärme eingoß; ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, unterlagen sie einem schnelleren Verbrennungsprocesse, von dem man keine auch nur abgeschwächte Beschreibung geben kann; ihre geistigen Functionen, ebenso wie die der Verdauung und der Athmung, vollzogen sich mit übermenschlicher Energie; Gedanken entwickelte ihr überreiztes Gehirn bis in's Ungeheuerliche: in einer Stunde lebten sie das Leben eines ganzen Tages.

Mitten unter diesen staunenerregenden Wundern wiegte sich die Schaluppe friedlich bei mäßigem Winde.

Gegen Abend verloren Hatteras und seine Gefährten Neu-Amerika aus dem Gesicht. Die Stunden der Nacht schlugen wohl für die gemäßigten Zonen nicht anders, als für diese polaren; hier aber beschrieb die Sonne in immer weiteren Kreisen eine dem Umkreise des Meeres ganz parallele Bahn. Die von den schiefen Strahlen beschienene Schaluppe konnte diesen Mittelpunkt des Lichtes, der mit ihr fortrückte, nicht verlassen.

Dennoch fühlten die lebenden Wesen der hochnördlichen Regionen den Abend kommen, ebenso als ob das strahlende Gestirn unter den Horizont versunken wäre; Vögel, Fische und Wale verschwanden. Wohin? Wer könnte es sagen? Aber auf ihr Geschrei, Gepfeife, auf das Erschüttern der durch das Athmen der Seeungeheuer bewegten Wogen folgte bald eine schweigende Ruhe; die Wellen schliefen unter kaum fühlbarem Auf- und Niedersteigen ein, und die Nacht gewann trotz der Strahlen der Sonne ihren Frieden ausstreuenden Einfluß.

Seit der Abfahrt von Altamont-Harbour hatte die Schaluppe einen Breitegrad nach Norden zurückgelegt; am andern Tage erschien auch noch Nichts am Horizont; weder jene hohen Bergspitzen, welche schon von fern das Land melden, noch jene besonderen Zeichen, aus denen die Seefahrer die Nähe von Inseln oder Continenten schließen.

Der Wind blieb gut, ohne stark zu sein; das Meer war wenig unruhig; die Begleitung von Vögeln und Fischen erschien ebenso wie am Tage vorher; der Doctor, der sich nach dem Wasser hinauslehnte, konnte sehen, wie die Wale ihre tiefen Zufluchtsstätten verließen und allmälig zur Meeresoberfläche aufstiegen. Einige Eisberge und hier und da verstreute einzelne Schollen unterbrachen allein die ungeheure Eintönigkeit des Oceans.

[463] Im Ganzen war das Eis selten und konnte den Lauf des Schiffes nicht hindern; es sei hier bemerkt, daß die Schaluppe sich zehn Grad oberhalb des Kältepoles befand, und bezüglich der Linien gleicher Temperatur – Isothermen – war das dasselbe, als ob sie zehn Grad unterhalb desselben gewesen wäre.


Das Polarbecken als Fischbehälter. (S. 462.)

Es war demnach gar nicht zu verwundern, daß das Meer um diese Jahreszeit offen war, wie es etwa so in der Linie der Bai Disko im Bassins-Meere sein mußte. Ein Schiff würde da also während der Sommermonate freie Fahrt gehabt haben.

[464] Diese Beobachtung ist von großem praktischen Werthe; wenn die Wallfischfänger wirklich einmal, sei es vom Norden Amerikas oder Asiens aus, bis in das Polarbecken vorzudringen vermögen, können sie sicher sein, dort sehr bald eine volle Ladung zu bekommen; denn dieser Theil des Oceans scheint der Fischkasten der Erde, der Hauptaufenthaltsort der Wallfische, Robben und überhaupt aller Seethiere zu sein.



Zu Mittag fiel die Wasserlinie immer noch mit der des Himmels zusammen; der Doctor begann an dem Vorhandensein eines festen Landes in diesen hohen Breiten zu zweifeln.

Und doch, wenn er darüber näher nachdachte, war er fast gezwungen, an die Existenz eines solchen zu glauben. In den ersten Tagen der Erde nach

der Erkaltung ihrer Kruste mußte doch das durch den Niederschlag der in der Luft enthaltenen Dämpfe entstandene Wasser der Centrifugalkraft gehorchen und sich nach den Aequatorialgegenden hindrängen, woraus nothwendig das Emportauchen der dem Pole benachbarten Gegenden zu folgern ist.

Der Doctor fand diesen Schluß ganz richtig.

Und so erschien er auch Hatteras!

Immer suchten die Blicke des Kapitäns die Nebel am Horizont zu durchdringen. Das Fernrohr kam nicht mehr von seinen Augen weg. Aus der Farbe des Wassers, aus der Form der Wogen, aus dem Wehen des Windes suchte er die Nähe eines Landes zu erspähen. Seine Stirn war nach vorn [465] geneigt, und wer seine Gedanken nicht gekannt hätte, würde ihn doch bewundert haben, so sprachen sich in seiner ganzen Erscheinung die brennendsten Wünsche und die ängstlichsten Fragen aus!

Fußnoten

1 Diese Zahl entzieht sich ganz unserem Begriffsvermögen, deshalb sagte der englische Wallfischjäger, um sie anschaulicher zu machen, achtzigtausend Individuen würden von Erschaffung der Welt ab bis heute Tag und Nacht daran zu zählen haben.

22. Capitel
Zweiundzwanzigstes Capitel.
Annäherung an den Pol.

In dieser spannenden Ungewißheit verfloß die Zeit. An dem so klar gezeichneten Umkreis ließ sich nichts wahrnehmen: Nichts als Himmel und Meer; nicht einmal auf der Oberfläche des Wassers ein Hälmchen von Landgewächsen, wie es einst Columbus das Herz erfreute.

Hatteras schaute unablässig.

Endlich, gegen sechs Uhr Abends, zeigte sich über dem Meeresspiegel ein Dampf von unbestimmter Gestalt, aber merklich hoch aufsteigend, fast wie eine Rauchsäule. Bei völlig reinem Himmel konnte man's nicht für eine Wolke halten; mitunter verschwand er, dann kam er wieder zum Vorschein, wie in heftiger Bewegung.

Hatteras beobachtete die Erscheinung zuerst, richtete sein Fernrohr auf den unerklärlichen Dampf und beobachtete ihn eine volle Stunde unausgesetzt.

Plötzlich kam ihm vermuthlich ein sicheres Kennzeichen zur Anschauung; er streckte den Arm nach dem Horizont aus, und rief mit lauthallender Stimme:

»Land! Land!«

Bei diesem Wort sprang Jeder auf, wie von einem elektrischen Schlag getroffen.

Eine Art Rauch stieg merklich hoch über der Meeresfläche auf.

»Ich sehe es! Ich seh's! rief der Doctor aus.

– Ja! Gewiß! ... Ja, fiel Johnson ein.

– Eine Wolke, sagte Altamont.

– Land! Land!« erwiderte Hatteras mit unerschütterlicher Ueberzeugung.

[466] Die fünf Seemänner fuhren fort, mit gespanntester Aufmerksamkeit zu beobachten.

Aber wie es oft geschieht, wenn man der Entfernung wegen Gegenstände unbestimmt sieht, der beobachtete Punkt schien wieder verschwunden. Endlich konnten die Blicke ihn von Neuem wahrnehmen, und der Doctor glaubte sogar zwanzig bis fünfundzwanzig Meilen weit nordwärts einen flüchtigen Schimmer zu erkennen.

»Es ist ein Vulkan! rief er aus.

– Ein Vulkan? fragte Altamont.

– Ganz gewiß.

– Unter so hohem Breitegrad!

– Und warum nicht? fuhr der Doctor fort; ist nicht Island ein vulkanisches Land, und so zu sagen durch Vulkane entstanden?

– Ja! Island, versetzte der Amerikaner; aber so in der Nähe des Pols!

– Nun, hat nicht unser berühmter Landsmann, der Commandeur James Roß, festgestellt, daß es auf dem Südpol-Land unter 170° Länge und 78° Breite zwei Vulkane, Erebus und Terror, in voller Thätigkeit giebt? Warum sollten nicht ebenso am Nordpol Vulkane existiren?

– Wohl möglich, erwiderte Altamont.

– Ei! Nun sehe ich's deutlich, rief der Doctor, es ist ein Vulkan!

– Nun denn, sagte Hatteras, steuern wir gerade darauf los.

– Der Wind fängt an widrig zu werden.

– Ziehen Sie das Focksegel bei, so nahe wie möglich.«

Aber dieses Manöver führte die Schaluppe nur von dem beobachteten Punkt ab, und man konnte ihn mit den achtsamsten Blicken nicht wieder zu sehen bekommen.

Doch war an der Nähe der Küste nicht mehr zu zweifeln. Hier lag also das Reiseziel vor Augen, wenn es auch noch nicht erreicht war, und es sollte wohl keine vierundzwanzig Stunden mehr dauern, bis dieser neue Boden von eines Menschen Fuß betreten ward. Nachdem die Vorsehung den kühnen Seeleuten so nahe zu kommen gestattet, würde sie ihnen doch wohl das Landen nicht versagen.

Dennoch gab unter den gegenwärtigen Umständen Niemand eine solche Freude kund, wie sie solch' eine Entdeckung hervorrufen mußte; Jeder verschloß sich in seinem Innern, und fragte sich, was es wohl mit diesem Pol-[467] Land für eine Bewandtniß habe. Die Thiere schienen es zu meiden; am Abend sah man die Vögel, anstatt daselbst eine Zuflucht zu suchen, raschen Flugs nach dem Süden eilen! War's denn ein so ungastliches Land, daß eine Möve oder ein Ptarmigan daselbst keine Zuflucht fanden? Selbst die Wallfische sah man in den durchsichtigen Gewässern eilig von dieser Küste flüchten. Woher kam das Gefühl des Widrigen, wo nicht des Schreckens, wovon alle lebenden Wesen in dieser Weltgegend beseelt waren?



Unsere Seefahrer theilten die allgemeine Empfindung; sie gaben sich den Gefühlen ihrer Lage hin, und allmälig fand sich der Schlaf ein, ihre müden Augenlider zu schließen.

Hatteras hatte Wache zu halten! Er faßte das Steuer; der Doctor, Altamont, Johnson und Bell schliefen, auf die Bänke gelagert, einer nach dem andern ein, und waren bald in's Reich der Träume versenkt.


Ein plötzlicher Borealsturm. (S. 470.)

Hatteras bemühte sich, dem Schlaf zu widerstehen; er wollte nichts von dieser kostbaren Zeit verlieren; aber die langsame Bewegung der Schaluppe wiegte ihn allmälig ein, und er sank trotz aller Anstrengung in unwiderstehlich bewältigenden Schlummer.

Inzwischen kam das Fahrzeug kaum vorwärts; der Wind vermochte das ausgespannte Segel nicht zu schwellen. In der Ferne warfen einige unbewegliche Eisblöcke im Westen die Lichtstrahlen zurück, und bildeten auf dem Ocean glühende Streifen.

Hatteras versank in Träume. In raschem Flug schweifte sein Gedanke [468] über sein ganzes Dasein; er durchlief seine Lebensbahn mit der den Träumen eigenthümlichen Schnelligkeit, welche sich jeder Berechnung entzieht, dann warf er einen Rückblick über die letztverflossene Zeit, sein Winterlager, die Bai Victoria, das Fort Providence, das Doctors-House, das Auffinden des Amerikaners unter'm Eis.

Darauf kehrte er weiter in die Vergangenheit zurück; träumte von seinem Schiff, dem verbrannten Forward, seinen Genossen, den Verräthern, welche ihn im Stiche gelassen. Was war aus ihnen geworden? Er dachte an [469] Shandon, an Wall, den brutalen Pen. Wo mochten sie jetzt sein? War es ihnen gelungen, über die Eisflächen bis zum Bassins-Meer zu dringen?

Sodann schweifte seine träumende Phantasie noch weiter hinauf zu seiner Abfahrt aus England, seinen früheren Fahrten, seinen mißlungenen Versuchen, sei nen unglücklichen Erlebnissen. Da vergaß er seinen gegenwärtige Lage, sein nahes Gelingen, seine schon halbverwirklichten Hoffnungen. Aus der Freude verfiel er in Besorgnisse.

In solchen Träumen lag er zwei Stunden lang, dann führte ihn der Schwung seiner Gedanken wieder dem Pol zu, wie er endlich dieses englische Land betreten und die Flagge des Vereinigten Königreichs aufpflanzen sollte.

Während er so in träumendem Schlummer lag, stieg am Horizont ungeheures, olivengraues Gewölk auf und verdüsterte den Ocean.

Man kann sich kaum eine Vorstellung machen, wie blitzschnell in den arktischen Meeren die Orkane entstehen. Wenn die in den Gegenden des Aequators entstandenen Dünste über den unermeßlichen Eisflächen sich verdichten, strömen die zu ihrem Ersatz dienenden Luftmassen mit unwiderstehlicher Gewalt heran. Daraus erklärt sich das energische Auftreten der Polarstürme.

Beim ersten Windstoß raffte sich der Kapitän mit seinen Genossen aus dem Schlaf auf, zum Manövriren bereit.

Die Wellen thürmten sich hoch auf schwach entwickelter Basis; die Schaluppe, von heftigem Wogendrang hin- und hergeworfen, sank bald in tiefe Wasserschlünde hinab, bald schwebte sie oben auf spitzen Wellen in Winkeln von mehr als fünfundvierzig Grad geneigt.

Hatteras ergriff mit fester Hand das Steuer, das aber mitunter in Folge heftigen Gierschlags ihn zurückwarf und wider Willen krümmte. Johnson und Bell waren unablässig bemüht, das in die Schaluppe gedrungene Wasser wieder hinaus zu schaffen.

»Eines solchen Sturmes hatten wir uns doch nicht versehen, sagte Altamont, an seine Bank sich klammernd.

– Hier muß man auf Alles gefaßt sein«, erwiderte der Doctor.

So sprachen sie mitten unter'm Zischen der Luft und dem Getöse der Wellen, welche vom Sturm gepeitscht in Staub zerstoben; es wurde fast unmöglich sich zu verstehen.

Es war schwer, die nördliche Richtung zu halten; die dichten Staubregen [470] gestatteten kaum einige Klafter weit den Blick über das Meer; jedes Merkzeichen verschwand.

Dieser plötzliche Sturm im Moment, wo man sich am Ziele sehen konnte, schien ernste Mahnungen zu enthalten; er erschien den aufgeregten Gemüthern wie ein Verbot, weiter vorzudringen. Wollte die Natur den Zugang zum Pol verwehren?

Doch sah man das energische Antlitz dieser Männer, so begriff man, daß sie Sturm und Wogen zu trotzen verstanden, um bis an's Ende auszuhalten.

So kämpften sie den ganzen Tag lang, jeden Augenblick dem Tode trotzend, ohne weiter nördlich zu kommen, aber auch nicht zurückgeworfen, vom Regen durchnäßt und von entgegenspritzenden Wellen triefend; durch die pfeifenden Lüfte vernahm man unheimliches Vogelgeschrei.

Endlich, gegen sechs Uhr Abends, legte sich plötzlich der Sturm, und das Meer zeigte sich so ruhig und eben, als wäre es seit zwölf Stunden nicht aufgeregt worden.

Der Grund dieses plötzlichen Wechsels lag in einem außerordentlichen Phänomen, wie es einst der Kapitän Sabine in den Meeren Grönlands erlebte.

Der Nebel ward, ohne aufzusteigen, in seltsamer Weise von Licht durchdrungen.

Die Schaluppe fuhr in einem Streifen elektrischen Lichtes; einem ungeheuren Sanct Elmsfeuer voll Glanz, aber ohne Wärme. Der Mast, das Segel, das Takelwerk hob sich schwarz auf dem phosphorescirenden Hintergrund des Himmels mit unvergleichlicher Klarheit ab. Die Schiffenden waren rings von durchsichtigen Strahlen umspielt, und ihre Gesichter färbten sich in feurigem Reflex.

Die plötzlich eintretende Windstille an dieser Stelle des Oceans rührte ohne Zweifel von der aufsteigenden Bewegung der Luftsäulen her, während der Sturm als eine Art Wirbelwind mit reißender Schnelligkeit rings um dieses stille Centrum fortwüthete.

Aber diese feurige Atmosphäre regte bei Hatteras einen anderen Gedanken an.

»Der Vulkan! rief er aus.

– Ist's möglich? sagte Bell.


Ein unerklärter Feuerschein. (S. 471.)

– Nein! Nein! entgegnete der Doctor; solche Flammen würden, wenn sie bis hierher drängen, uns ersticken.

[471] – Vielleicht ist's sein Widerschein im Nebel, äußerte Altamont.

– Ebensowenig. Man müßte denn annehmen, wir seien nahe dem Lande und in diesem Falle würden wir das Getöse des Ausbruchs vernehmen.

– Aber dann? ... fragte der Kapitän.

– Es ist ein kosmisches Phänomen, erwiderte der Doctor, welches bis jetzt noch wenig beobachtet worden ist! ... Fahren wir weiter, so werden wir bald aus dieser erleuchteten Sphäre heraus- und wieder in das Dunkel und das Sturmwetter hineinkommen.

[472] – Wie dem auch sein mag, vorwärts! versetzte Hatteras.

– Vorwärts!« stimmten seine Gefährten ein, und dachten nicht einmal daran, an dieser ruhigen Stelle sich zu erholen.

Das Segel mit feurigen Falten hing am funkensprühenden Mast herab; die Ruder tauchten in glühende Wogen und schienen Wellen von Funken aufzurühren, die aus hellleuchtenden Wassertropfen bestanden.

Hatteras schlug nach Maßgabe des Compasses wieder die nördliche Richtung ein; allmälig verlor der Nebel seinen Lichtgehalt, dann seine Durchsichtigkeit; [473] man hörte in der Nähe Windessausen, und bald kam die Schaluppe wieder in die Zone der Stürme.


Ausbruch eines Eisvulkans. (S. 474.)

Aber der Wind schlug glücklicher Weise südwärts um, und das Fahrzeug konnte mit dem Wind gerade auf den Pol zufahren, zwar mit Gefahr zu scheitern, aber mit unsinniger Schnelligkeit; jeden Augenblick konnte es auf eine Klippe, Felsen oder eine Eismasse stoßen, wodurch es unfehlbar in Stücke gehen mußte.

Inzwischen wurde die Nähe der Küste merkbar; es ergaben sich dafür auffallende Anzeichen. Plötzlich spaltete sich der Nebel wie ein Vorhang, den der Wind zerriß und man konnte einen Moment am Horizont eine ungeheure Flammensäule himmelwärts aufsteigen sehen.

»Der Vulkan! Der Vulkan! ...«

So rief's aus allen Kehlen, aber die phantastische Erscheinung verschwand wieder; der Wind schlug in Südost um, faßte das Fahrzeug quer, und trieb sie nochmals von diesem unnahbaren Lande zurück.

»Verdammt! rief Hatteras, und zog sein Segel ein; wir waren nur noch drei Meilen von der Küste!«

Hatteras vermochte der Gewalt des Sturmes nicht zu widerstehen; aber, ohne zu weichen, lavirte er im Wind, der mit unbeschreiblichem Ungestüm tobte. Mitunter ward die Schaluppe auf die Seite gelegt, daß zu befürchten war, ihr Kiel möge völlig emportauchen; doch gelang es mit Hilfe des Steuerruders, sie wieder aufzurichten.

Hatteras, mit flatternden Haaren, die Hand wie an's Steuerruder geschmiedet, schien die Seele der Barke zu sein.

Mit einem Mal bot sich ein schrecklicher Anblick seinen Augen dar.

Keine sechzig Fuß weit entfernt schaukelte ein Eisblock auf der Spitze hochgethürmter Wellen; gleich der Schaluppe wogte er auf und nieder; er drohte herabzustürzen, wobei er sie dann schon bei einer Berührung zertrümmern würde.

Aber neben dieser Gefahr, in den Grund hinabgerissen zu werden, zeigte sich noch eine andere, nicht minder schreckliche; denn dieser auf's gerathewohl treibende Block war mit weißen Bären besetzt, die wider einander gedrängt vor Schrecken betäubt waren.


Der Eisberg mit Bärenbesatzung. (S. 475.)

»Bären! Bären!« rief Bell mit stockender Stimme.

Und Jeder sah mit Entsetzen dasselbe.

[474] Der Eisblock schwankte erschrecklich; mitunter neigte er sich in so spitzen Winkeln, daß die Thiere in wildem Durcheinander wider einander rollten. Dann stießen sie ein Gebrumm aus im Wettstreit mit dem Toben des Sturmes, und es ließ sich ein furchtbares Concert von dieser schwimmenden Menagerie aus vernehmen.

Wenn dieses Eisfloß umstürzte, so würden die dem Fahrzeug zugeworfenen Bären auf dasselbe zu klimmen versuchen.

[475] Eine volle Viertelstunde lang wogten dergestalt die Schaluppe und der Eisblock neben einander, bald zwanzig Klafter weit auseinander weg geschleudert, bald nahe zum Zusammenstoßen; bald ragte der eine, bald der andere in die Höhe, und die Ungethüme brauchten nur sich fallen zu lassen. Die grönländer Hunde zitterten; Duk blieb unbeweglich.

Hatteras und seine Gefährten verhielten sich stumm; es kam ihnen gar nicht in den Sinn, mit Hilfe des Steuers aus dieser gefährlichen Nachbarschaft wegzukommen, und sie hielten unabänderlich strenge ihre Richtung ein.

[476] Ein unbestimmtes Gefühl, mehr Staunen wie Schrecken, hielt ihren Geist befangen.

Endlich kam der Block allmälig weiter ab, da der Wind ihn schneller trieb, als die Schaluppe.


Gefangen im Maelstrom. (S. 477.)

Jetzt erhob sich der Sturm mit doppelter Wuth zu einer unbeschreiblichen Entfesselung der Atmosphäre; das Fahrzeug, aus den Wogen gehoben, fing an mit schwindelhafter Schnelligkeit sich im Kreise zu drehen; sein Focksegel wurde losgerissen und entflatterte, wie ein Vogel; im Wirbel der Wellen bildete sich ein rundes Loch gleich einem Maelstrom; die Schiffenden wurden in diesen Wirbel hineingezogen und fuhren mit solcher Schnelligkeit, daß trotz dieser ihre Wasserlinien unbeweglich schienen. Allmälig wurden sie hineingedrängt. Im Mittelpunkt des Schlundes bildete sich eine mächtige Anziehung, die sie lebendig hinabzuziehen drohte.

Alle Fünf sprangen sie mit verstörtem Blick auf. Schwindel erfaßte sie mit unbeschreiblicher Gewalt. Plötzlich stellte sich die Schaluppe senkrecht auf. Ihr Vordertheil ward der Wirbelbewegung Meister; die eigene Geschwindigkeit warf sie aus dem Kreis der Anziehung heraus, und sie ward mit der Schnelle einer Kanonenkugel weggeschleudert.

Altamont, der Doctor, Johnson, Bell, wurden auf ihre Bänke niedergeworfen.

Als sie wieder aufstanden, war Hatteras verschwunden.

Es war um zwei Uhr früh.

23. Capitel
Dreiundzwanzigstes Capitel.
Die englische Flagge.

Ein vierfacher Schrei des Entsetzens entfuhr im ersten Moment der Brust der Männer.

»Hatteras! schrie der Doctor.

– Verschwunden! riefen Johnson und Bell.

– Verloren!«

[477] Sie blickten rings umher. Nichts war zu sehen auf den tobenden Wogen.

Duk bellte mit verzweifeltem Ton; er wollte mitten in die Fluthen springen, und Bell konnte ihn kaum zurückhalten.

»Treten Sie an's Steuerruder, Altamont, sagte der Doctor, daß wir Alles thun, unsern verunglückten Kapitän aufzufinden!«

Johnson und Bell setzten sich wieder auf ihre Plätze, Altamont faßte das Ruder, und die unstete Schaluppe kam wieder in die Richtung des Windes.

Johnson und Bell ruderten aus Leibeskräften; eine volle Stunde lang hielt man sich an der Stelle der Katastrophe und suchte, aber vergeblich! Hatteras war vom Sturme fortgerissen leider nicht aufzufinden.

Verloren! So nahe dem Pol! Das Ziel schon vor Augen!

Der Doctor rief, schrie, feuerte sein Gewehr ab; Duk heulte jammervoll; aber die Antwort blieb aus. Da ward Clawbonny von tiefem Schmerz ergriffen; sein Kopf sank ihm auf die Hände, und seine Genossen hörten ihn weinen.



In der That, so weit vom Lande entfernt, ohne Ruder, ohne ein Stück Holz, um sich daran zu halten, war es unmöglich, daß Hatteras die Küste erreichte, und wenn etwas von ihm an's Land gelangte, war's sein Leichnam.

Nachdem man eine Stunde lang gesucht, mußte man wieder nordwärts fahren im Kampf mit der Wuth des Sturmes.

Um fünf Uhr früh, am 11. Juli, legte sich der Wind; die Wellen wurden [478] allmälig ruhig; der Himmel ward wieder klar, und kaum drei Meilen weit sah man das Land in vollem Glanze vor Augen.

Dieses neue Land war nur eine Insel, oder vielmehr ein Vulkan, der einem Leuchtthurme gleich auf dem Nordpol emporragte.

Der Berg, in vollem Ausbruch, warf eine Masse brennenden Gesteins und glühender Felsstücke aus; es war, als keuche ein Riese unter krampfhafter Erschütterung wiederholter Stöße; die ausgeschleuderten Massen flogen himmelhoch in die Lüfte, inmitten mächtiger Flammenstrudel und Lava-Ergießungen die in reißenden Strömen sich seitwärts hinabwälzten: hier glühende Schlangen zwischen rauchenden Felsen; dort sprühende Kaskaden inmitten purpurnen Dampfes, und weiter abwärts ein Feuerstrom mit tausend funkelnden Zuflüssen durch die aufsprudelnde Mündung in's Meer stürzend.

Der Vulkan schien nur einen einzigen Krater zu haben, woraus die Feuersäule aufstieg, quer von leuchtenden Blitzen durchzuckt; ein deutlicher Beweis des Antheils elektrischer Wirkung bei dem prachtvollen Phänomen.

Ueber den keuchenden Flammen wogte eine ungeheure Rauchsäule empor, unten roth, oben schwarz. Diese stieg mit unvergleichlicher Majestät auf und wirbelte weithin in dichten Windungen.

Die Luft war himmelhoch aschfarbig; die während des Sturms verspürte Dunkelheit, welche der Doctor nicht zu erklären wußte, kam offenbar von Aschensäulen her, von welchen die Sonne wie von einem undurchdringlichen Vorhang verhüllt war.

Dieser enorme, feuerspeiende Felsen, der weit in's Meer vorsprang, maß tausend Klafter, eine Höhe, die ungefähr der des Hekla gleichkommt.

Die von seinem Gipfel zur Basis gezogene Linie bildete mit dem Horizont einen Winkel von etwa elf Grad.

Er schien, im Verhältniß wie die Schaluppe nahe kam, allmälig aus den Wellen aufzusteigen. Man sah keine Spur von Vegetation; selbst ein Uferrand ging ihm ab, und seine Seiten fielen senkrecht in's Meer ab.

»Werden wir landen können? fragte der Doctor.

– Der Wind treibt uns hin, erwiderte Altamont.

– Aber ich sehe kein Stückchen eines Uferrandes, worauf wir Fuß fassen könnten!

– Das scheint nur so von Weitem, erwiderte Johnson; aber es wird [479] nicht daran fehlen, um mit unserem Fahrzeug anzulegen, und mehr bedarf es nicht.

– Also voran!« versetzte Clawbonny traurig.

Der Doctor hatte kein Auge mehr für das merkwürdige Festland, welches vor seinen Blicken heraustrat. Wohl war nun hier das Pol-Land, aber nicht der Mann, welcher es entdeckt hatte!


Das nördliche Ende der Erdachse. (S. 479.)

Fünfhundert Schritte weit von dem Felsen war das Meer siedendheiß durch Einwirkung unterirdischer Feuer. Die Insel, welche es umfloß, mochte acht [480] bis zehn Meilen Umfang haben, mehr nicht, und, wie man schätzen konnte, lag sie dem Pol sehr nahe, sofern nicht die Erdachse genau hinein ablief.


Die Nachbarfelsen des Poles. (S. 482.)

Als die Schiffenden nahe waren, bemerkten sie eine kleine Bucht, die zum Einlaufen und Schutz des Fahrzeugs hinreichte; sie fuhren augenblicklich hinein, voll Besorgniß, den Leichnam des Kapitäns hier an's Land gespült zu finden.

Doch schien ein Leichnam schwerlich daselbst ruhig liegen zu können; flaches Ufer war nicht vor handen, und das Meer brach sich an steilen Felsen; dichte, [481] von keines Menschen Fuß betretene Asche bedeckte die Oberfläche des Landes, wo die Wellen aufhörten.

Endlich glitt die Schaluppe zwischen zwei Klippen, die an den Meeresspiegel reichten, durch ein schmales Fahrwasser, und fand sich da vollkommen geschützt gegen den Wellenschlag der Brandung.

Jetzt fing Duk an noch kläglicher, wie zuvor zu heulen; das arme Thier sehnte sich rührend nach dem Kapitän, verlangte ihn von diesem erbarmungslosen Meer, von seinen Felsen ohne Echo. Er bellte vergebens, und des Doctors liebkosende Hand vermochte ihn nicht zu beruhigen; das treue Thier, als wolle es seines Herrn Stelle vertreten, setzte mit einem mächtigen Sprung zuerst an's Land, und lief die Felsen hinan mitten durch die Asche, welche es wie ein Gewölk umgab.

»Duk! Ici, Duk!« rief der Doctor.

Aber Duk hörte nicht darauf und verschwand. Man schritt nun zur Landung: Clawbonny und seine drei Gefährten stiegen aus und die Schaluppe wurde festgeankert.

Altamont war im Begriff, einen ungeheuern Steinhaufen zu erklettern, als man Duk weithin ungewöhnlich laut bellen hörte; und dies Bellen hatte den Ausdruck des Schmerzes, nicht des Zorns.

»Hört! Hört! sagte der Doctor.

– Ein Thier, das nichts aufgespürt hat? fiel der Rüstmeister ein.

– Nein! Nein! entgegnete der Doctor zitternd, dieser Klageton bedeutet Jammer! Er hat die Leiche des Kapitäns gefunden!«

Auf diese Aeußerung stürzten die vier Männer seiner Spur nach mitten durch die Asche, die ihren Blick verdüsterte.

Sie gelangten in der Tiefe eines Fjords an eine zehn Fuß große Stelle, wo die Wellen unmerklich ihre Kraft verloren.

Hier bellte Duk neben einem von der Flagge Englands umhüllten Leichnam.

»Hatteras! Hatteras!« schrie der Doctor, und stürzte sich über den Körper seines Freundes.

Aber sogleich stieß er einen Schrei aus, der sich nicht schildern läßt.

Der blutige, dem Anschein nach entseelte Körper zuckte, als seine Hand ihn anrührte.

»Noch bei Leben! Bei Leben! rief er aus.

– Ja! sagte eine schwache Stimme, noch lebend auf dem Land des [482] Pols, wohin mich der Sturm geworfen hat! Lebend auf der Insel der König in!

– Hurrah für England! riefen die fünf Männer einstimmig.

– Und für Amerika!« fuhr der Doctor fort und reichte Hatteras die eine Hand, die andere dem Amerikaner.

Duk rief ebenfalls sein Hurrah in seiner eigenen Weise, die ebensoviel galt, wie eine andere.

In den ersten Augenblicken gaben sich diese wackeren Leute ganz dem Gefühl des Glücks hin, ihren Kapitän wieder zu haben; ihre Augen füllten sich mit Thränen.

Der Doctor vergewisserte sich über Hatteras' Zustand. Dieser war nicht schwer verwundet. Der Wind hatte ihn bis zur Küste getrieben, wo die Landung sehr gefährlich war; dem kühnen Seemann gelang es, nachdem er mehrmals zurückgeworfen worden war, endlich durch seine Energie sich an ein Felsstück anzuklammern und über die Wogen empor zu schwingen.

Hier verlor er, nachdem er sich in seine Flagge gehüllt, das Bewußtsein, und es kam ihm erst bei Duk's Liebkosungen, und als er dessen Bellen vernahm, wieder.

Die erste Pflege wirkte so gut, daß Hatteras wieder aufstehen und am Arm des Doctors nach der Schaluppe zurückgehen konnte.

»Der Pol! Der Nordpol! sprach er unterwegs.

– Nun sind Sie glücklich! sagte der Doctor zu ihm.

– Ja! Glücklich! Und Sie mein Freund, haben Sie keine Empfindung für dieses Glück, diese Freude, daß wir uns hier befinden? Dieses Land, auf welchem wir jetzt wandeln, ist das Land des Pols! Dieses Meer, welches wir durchschifft haben, ist das Meer des Pols! Diese Luft, welche wir einathmen, ist die Luft des Pols! O! Der Nordpol! Der Nordpol!«

Indem Hatteras dieses sprach, war er von heftiger Aufregung fortgerissen. Es war eine Art Fieber, und der Doctor versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen. Seine Augen strahlten von einem außergewöhnlichen Glanz und seine Gedanken sprudelten im Gehirn. Clawbonny schrieb diesen Zustand der Ueberreizung dem Umstande zu, daß der Kapitän eben die fürchterlichsten Gefahren bestanden hatte.

Hatteras bedurfte offenbar der Erholung und man war bemüht, ihm eine Lagerstelle zu suchen.

[483] Altamont fand bald eine natürliche Felsengrotte; Johnson und Bell brachten die Lebensmittel dahin und ließen die grönländer Hunde frei.

Gegen elf Uhr war Alles für eine Mahlzeit fertig; das Segel diente als Tischtuch; das Frühstück, bestehend aus Pemmican, gesalzenem Fleisch, Thee und Kaffee, wurde auf dem Boden aufgetischt; man brauchte nur zuzulangen und zu verzehren.

Zuvor aber begehrte Hatteras, daß die Lage der Insel aufgenommen werde; er wollte genau wissen, wie er damit daran war.


[484]
Festmahl am Ziele der Reise. (S. 485.)

Der Doctor und Altamont nahmen darauf ihre Instrumente, und nach angestellter Beobachtung erhielten sie für die Lage der Grotte 89°59'15'' Breite. Die Länge war bei dieser Höhe der Breite nicht mehr von Belang, denn einige hundert Fuß weiter oben liefen alle Meridiane zusammen.

Demnach lag die Insel wirklich unter'm Nordpol und der neunzigste Breitegrad war nur noch fünfundvierzig Secunden von da entfernt, gerade dreiviertel Meile, d.h. beim Gipfel des Vulkans.

Als Hatteras das Ergebniß erfuhr, begehrte er, daß darüber ein Protokoll in zwei Exemplaren ausgefertigt und an der Küste in einem Cairn niedergelegt werde.

Der Doctor ergriff also augenblicklich die Feder und redigirte das folgende Document, wovon gegenwärtig ein Exemplar sich im Archiv der königlichen Geographischen Gesellschaft zu London befindet:


»Am 11. Juli 1861 ward unter 89°59'15'' nördlicher Breite die ›Insel der Königin‹ beim Nordpol entdeckt vom Kapitän Hatteras, Commandanten der Brigg Forward aus Liverpool, welcher sammt seinen Genossen hier unterzeichnet hat.

Wer dieses Document auffinden wird, ist gebeten, es der Admiralität zu Handen zu stellen.

Unterzeichnet: John Hatteras, Commandant des Forward; Doctor Clawbonny, Arzt; Altamont, Commandant des Porpoise; Johnson, Rüstmeister; Bell, Zimmermann.«

– »Und jetzt, Freunde, zu Tische!« sagte fröhlich der Doctor.

24. Capitel
Vierundzwanzigstes Capitel.
Eine Lection in der polaren Kosmographie.

Es verstand sich von selbst, daß man sich zum Tafeln auf die Erde setzte. »Aber, sagte Clawbonny, wer gäbe nicht alle Tafeln und alle Speisesäle [485] der Welt hin, um unter neunundachtzig Grad, neunundfünfzig Minuten und fünfzehn Secunden nördlicher Breite zu speisen!«

Aller Gedanken waren natürlich auf die gegenwärtige Lage gerichtet. Die Idee des Nordpols beherrschte alle Geister. Der Erfolg ohne Gleichen ließ alle Gefahren vergessen, die bestanden wurden, um dies Ziel zu erreichen, und die noch zu bestehen waren, um zurückzukehren.

Es war vollbracht, was bis jetzt weder das Alterthum, noch die Neuzeit, weder Europa, noch Amerika, noch Asien zu Stände zu bringen vermocht hatten.

Daher hörten auch dem Doctor seine Gefährten gerne zu, wenn er Alles erzählte, was seine Wissenschaft und sein unerschöpfliches Gedächtniß ihm in Beziehung auf die gegenwärtige Lage an die Hand gaben.

Mit wahrem Enthusiasmus wurde sein Vorschlag aufgenommen, vor Allem dem Kapitän einen Toast zu bringen.

»Es lebe John Hatteras! rief er.

– John Hatteras lebe! riefen einstimmig seine Gefährten.

– Dieses Glas dem Nordpol!« erwiderte der Kapitän, mit einer Betonung, die bei diesem Charakter auffallen mußte, der bisher so kalt, so verschlossen war und nun einer beherrschenden Aufregung sich hingab.

Man stieß an mit den Tassen, und auf die Toaste folgte warmer Handschlag.

»Das ist nun, sagte der Doctor, doch das allerbedeutendste geographische Ereigniß unserer Epoche! Wer hätte denken können, daß diese Entdeckung der des Innern Afrikas oder Australiens vorausgehen würde. Wahrhaftig, Hatteras, Sie gehen über Sturt und Livingstone, über Burton und Barth! Ihr Ruhm sei gepriesen!

– Sie haben Recht, Doctor, erwiderte Altamont; die Schwierigkeiten der Unternehmung ließen vermuthen, der Nordpol werde die letzte der Entdeckungen auf der Erde sein. An dem Tage, wo die Regierung den entschiedenen Willen hätte, das Innere Afrikas kennen zu lernen, würde sie durch Opfer an Menschen und Geld das Ziel erreichen; hier aber war der Erfolg höchst unsicher, und man konnte auf absolut unüberwindliche Hindernisse stoßen.

– Unüberwindliche! rief Hatteras heftig, unüberwindliche Hindernisse [486] giebt's nicht; es bedarf nur mehr oder minder energischer Willenskraft, das ist Alles!

– Genug, sagte Johnson, wir sind jetzt glücklicher Weise hier. Aber schließlich, Herr Clawbonny, wollten Sie die Güte haben, mir zu erklären, was es für eine besondere Bewandtniß mit dem Pol hat?

– Was für eine Bewandtniß, mein wackerer Johnson? Der Pol ist der einzige unbewegliche Punkt des Erdballs, während alle anderen Punkte sich mit äußerster Schnelligkeit umdrehen.

– Aber ich merke gar nichts davon, erwiderte Johnson, daß wir hier unbeweglicher sind, wie zu Liverpool!

– Ebenso wenig, als Sie zu Liverpool von Ihrer Bewegung etwas merken; das kommt daher, daß in beiden Fällen Sie selbst an dieser Bewegung oder Ruhe Theil nehmen! Aber die Thatsache ist darum nicht minder gewiß. Es wohnt der Erdkugel eine Rundbewegung um sich selbst inne, die binnen vierundzwanzig Stunden vor sich geht, und man nimmt an, diese Bewegung geschehe um eine Achse, deren äußerste Enden zum Nord- und Südpol werden. Nun, jetzt befinden wir uns an einem solchen Ende, und diese Achse ist nothwendig unbeweglich.

– Also, sagte Bell, während unsere Landsleute sich rasch umdrehen, bleiben wir ruhig?

– Beinahe, denn wir befinden uns nicht gerade auf dem Pol!

– Sie haben Recht, Doctor, sagte Hatteras ernst und mit Kopfschütteln, es fehlen noch fünfundvierzig Secunden, um gerade auf dem Punkt zu sein!

– Das macht nicht viel aus, erwiderte Altamont, und wir können uns schon als unbeweglich ansehen.

– Ja, fuhr der Doctor fort, während die Bewohner des Aequators an jedem Punkt dreihundertsechsundneunzig (franz.) Meilen in der Stunde zurücklegen!

– Und dabei werden sie nicht müde! sagte Bell.

– Richtig! erwiderte der Doctor.

– Aber, fuhr Johnson fort, unabhängig von dieser Achsenbewegung hat die Erde doch noch eine andere um die Sonne herum?

– Ja! Eine Fortbewegung im Verlauf eines Jahres.

– Ist diese schneller, als die andere? fragte Bell.

[487] – Unendlich rascher, und ich muß sagen, daß sie uns, obwohl wir uns am Pol befinden, gleich allen anderen Erdbewohnern mit fortreißt. So ist also unsere angebliche Unbeweglichkeit nur ein Hirngespinst: unbeweglich sind wir in Beziehung auf andere Punkte der Erdkugel, nicht aber in Beziehung auf die Sonne.

– Schau, sagte Bell, mit komischem Bedauern, ich meinte doch, ich sei so ruhig! Diese Täuschung muß ich aufgeben! Man kann wahrhaftig in dieser Welt nicht einen Augenblick in Ruhe sein!

– So ist's, Bell, erwiderte Johnson; und wollen Sie, Herr Clawbonny, uns lehren, wie groß diese Fortbewegung ist?

– Sehr bedeutend, versetzte der Doctor; die Erde läuft um die Sonne mit einer Schnelligkeit, die sechsundsiebenzig Mal größer ist, als die einer vierundzwanzigpfündigen Kugel, die doch in der Secunde hundertundfünfundneunzig Klafter zurücklegt; Sie sehen, das ist wohl etwas anderes, als die Bewegung der Punkte des Aequators.

– Teufel! sagte Bell, das ist nicht zu glauben, Herr Clawbonny! Mehr als sieben Meilen in der Secunde, und es wäre doch so leicht gewesen, unbeweglich zu bleiben, wenn Gott nur gewollt hätte!

– Gut! sagte Altamont, stellen Sie sich vor, Bell, dann gäb's auch weder Tag noch Nacht, weder Frühling noch Sommer, Herbst oder Winter!

– Ohne ein ganz entsetzliches Ergebniß in Anschlag zu bringen! fuhr der Doctor fort.

– Und was für eins? fragte Johnson.

– Wir würden auf die Sonne gefallen sein!

– Auf die Sonne gefallen! entgegnete Bell voll Staunen.

– Allerdings. Wenn diese Fortbewegung aufhörte, würde die Erde binnen vierundsechzig und einem halben Tage auf die Sonne stürzen.

– Ein Fallen in vierundsechzig Tagen! erwiderte Johnson.

– Nicht mehr, noch minder, versetzte der Doctor; denn es ist eine Entfernung von achtunddreißig Millionen französischen Meilen zurückzulegen.

– Was hat denn die Erdkugel für ein Gewicht? fragte Altamont.


Des Doctors Vortrag über die Schwerkraft. (S. 489.)

– Es beträgt fünftausendachthunderteinundachtzig Quadrillionen Tonnen.

– Gut! sagte Johnson; das sind aber Zahlen, welche dem Ohre nichts mittheilen! Man versteht sie nicht mehr!

[488] – So will ich Ihnen, mein wackerer Johnson, zur Vergleichung zwei Ausdrücke geben, die in Ihrem Geist haften werden. Erinnern Sie sich, daß auf das Gewicht der Erde fünfundsiebenzig Monde kommen, und auf die Sohne kommt dreihundertundfünfzigtausend Mal das Gewicht unserer Erdkugel.

– Dies alles ist überwältigend! sagte Altamont.

– Ueberwältigend, das ist das richtige Wort, erwiderte der Doctor; aber ich komme wieder auf den Pol, weil eine kosmographische Belehrung [489] über diesen Theil der Erde jetzt mehr wie je an der Stelle ist, sofern es Sie nicht langweilt.

– Fahren Sie nur fort, Doctor! sagte Altamont.

– Ich habe Ihnen gesagt, fuhr der Doctor fort, dem es ebenso viel Vergnügen machte, seine Gefährten zu belehren, als diesen, belehrt zu werden, – ich habe gesagt, der Pol sei ein unbeweglicher Punkt im Verhältniß zu den anderen Punkten der Erde. Dies ist aber nicht völlig richtig.

– Wie, sagte Bell, man muß noch einen Abzug machen?

– Ja, Bell, der Pol nimmt, genau genommen, nicht immer dieselbe Stelle ein; ehemals ist der Polarstern weiter vom Himmelspol entfernt gewesen, wie jetzt. Unser Pol hat also eine gewisse Bewegung für sich; er beschreibt binnen etwa sechsundzwanzigtausend Jahren einen Kreis. Das kommt vom Fortrücken der Tag-und Nacht-Gleichen – Aequinoctien – worauf ich gleich zu reden kommen werde.

– Aber, sagte Altamont, wäre es nicht möglich, daß der Pol einmal seine Stelle in einem weiteren Verhältniß ändert?

– Ei, lieber Altamont, erwiderte der Doctor, Sie rühren da an eine sehr bedeutende Frage, worüber die Gelehrten in Folge einer ganz besonderen Entdeckung lange Zeit stritten.

– Was für eine Entdeckung?

– Hören Sie. Im Jahre 1774 fand man den Leichnam eines Rhinoceros an den Gestaden des Eismeeres, und im Jahre 1799 den eines Elephanten an den Küsten Sibiriens. Wie kam es, daß diese Vierfüßler aus den heißen Zonen unter einem solchen Breitegrad sich vorfanden? Daraus entstand ein seltsamer Lärm unter den Geologen, die nicht so gescheit waren, wie späterhin ein Franzose, Elie de Beaumont, welcher den Satz aufstellte, daß diese Thiere bereits unter höheren Breitegraden lebten, und daß ihre Leichname ganz einfach von Strömen und Flüssen dahin gefördert wurden, wo man sie fand. Aber bevor diese Erklärung gegeben war, was meinen Sie, worauf die Phantasie der Gelehrten kam?

– Die Gelehrten sind zu Allem fähig, sagte Altamont lachend.

– Ja, zu Allem, um eine Thatsache zu erklären. So stellten sie die Vermuthung auf, der Pol der Erde sei ehemals am Aequator gewesen, und der Aequator an den Polen.

[490] – Gerade so, wie ich sagte, und in vollem Ernst. Nun aber, wäre das der Fall gewesen, so würden, weil die Erde an den Polen um mehr als fünf Lieues abgeplattet ist, die Meere durch die centrifugale Kraft nach dem neuen Aequator getrieben, Gebirge von doppelter Höhe des Himalaya überschwemmt haben; alle Länder in der Nähe des Polarkreises, Schweden, Norwegen, Rußland, Sibirien, Grönland, Neu-Britannien, würden fünf Lieues unter Wasser gesetzt worden sein, während die Aequatorial-Gegenden, an den Pol verpflanzt, fünf Lieues hohe Plateaux bildeten.

– Was für eine Umänderung! sagte staunend Johnson.

– O! Die Gelehrten erschraken gar nicht davor.

– Und wie erklärten sie diese Umkehrung? fragte Altamont.

– Durch Zusammenstoßen mit einem Kometen. Der Komet muß für Alles aushelfen. Altamont, wenn man auf dem Gebiet der Kosmographie in Verlegenheit geräth, ruft man den Beistand eines Kometen an. Dieses Gestirn ist dann so gefällig, auf den ersten Wink eines Gelehrten sich einzufinden, um Alles in seine Fugen zu bringen!

– Also, sagte Johnson, Ihrer Ansicht nach, Herr Clawbonny, ist so eine Umänderung nicht möglich.

– Unmöglich!

– Und wenn der Fall doch einträte?

– Dann würde der Aequator in vierundzwanzig Stunden zu Eis gefroren sein!

– Richtig! Und wenn die Aenderung jetzt vorginge, sagte Bell, wäre man im Stande zu sagen, wir seien gar nicht bis zum Pol gekommen.

– Seien Sie ruhig, Bell. Um wieder auf die Unbeweglichkeit der Erdachse zu kommen, so ergiebt sich daraus Folgendes. Befänden wir uns während des Winters an dieser Stelle, so sähen wir die Sterne einen vollständigen Kreis um uns herum beschreiben. Die Sonne würde zur Zeit des Frühlings-Aequinoctiums, 22. März, uns erscheinen (die Strahlenbrechung nicht in Anschlag gebracht), als sei sie vom Horizont gerade in zwei Theile zerschnitten, und steige in sehr langen Curven allmälig aufwärts; hier aber tritt der merkwürdige Fall ein, daß sie, nachdem sie aufgegangen, nicht mehr untergeht und sechs Monat lang sichtbar bleibt; hernach streift ihre Scheibe zur Zeit des Herbst-Aequinoctiums, 22. September, abermals auf dem [491] Horizont, und sobald sie untergegangen ist, sieht man sie den ganzen Winter über nicht mehr.

– Sie sprachen vorhin von der Abplattung der Erde an den Polen, sagte Johnson; haben Sie doch, Herr Clawbonny, die Güte, mir dies zu erklären.

– Damit verhält sich's so, Johnson. Als in den ersten Tagen der Welt die Erde flüssig war, so mußte, begreifen Sie wohl, die Achsenbewegung einen Theil ihrer beweglichen Masse nach dem Aequator hin drängen, wo die centrifugale Kraft stärker wirkte. Hätte die Erde unverändert ihre Stelle eingenommen, so wäre sie eine vollständige Kugel geblieben; aber in Folge der vorhin geschilderten Erscheinung hat sie die Form einer Ellipsoide, und die Punkte des Pols stehen etwa fünf und ein Drittel Lieues dem Centrum der Erde näher als die Punkte des Aequators.

– Also, sagte Johnson, wenn unser Kapitän uns zum Mittelpunkt der Erde führen wollte, hätten wir einen um fünf Lieues kürzeren Weg dahin zu machen?

– So ist's, mein Freund.

– Ei nun! Kapitän, dann hätten wir um so viel einen Vorsprung! Die Gelegenheit wäre wohl zu benutzen ...«

Hatteras gab keine Antwort. Offenbar folgte er nicht dem Faden der Unterhaltung, oder er hörte wohl zu, ohne aufzumerken.

»Wahrhaftig! erwiderte der Doctor, hört man gewisse Gelehrten, so läge in diesem Umstand wohl ein Grund, diese Unternehmung zu wagen.

– Wirklich! sagte Johnson.

– Doch lassen Sie mich zu Ende reden, fuhr der Doctor fort, ich will Ihnen dies später erzählen; zuvor will ich Ihnen zeigen, wie die Abplattung der Grund des Vorrückens der Aequinoctien ist, d.h. weshalb alljährlich das Frühlings-Aequinoctium um einen Tag früher eintritt, als es der Fall sein würde, wenn die Erde vollständig rund wäre. Das rührt ganz einfach daher, daß die Anziehung der Sonne in verschiedener Weise auf den unter dem Aequator befindlichen höher gehobenen Theil des Erdballs wirkt, welcher dann eine Bewegung rückwärts erleidet. In Folge dessen verändert der Pol ein wenig seine Stelle, wie ich vorhin gesagt habe. Aber unabhängig von dieser Wirkung, müßte die Abplattung eine noch merkwürdigere und persönlichere [492] haben, welche wir wahrnehmen würden, wenn wir einen empfänglichen mathematischen Sinn hätten.

– Was meinen Sie damit? fragte Bell.

– Daß wir hier mehr Schwere haben, als zu Liverpool.

– Mehr Schwere?

– Ja! Wir, unsere Hunde, unsere Gewehre, unsere Instrumente!

– Ist's möglich?

– Ohne Zweifel, und aus zwei Gründen: erstens, weil wir dem Mittelpunkt der Erde näher sind.

– Wie! sagte Johnson, in allem Ernst, wir haben also nicht an allen Orten das nämliche Gewicht?

– Nein, Johnson; nach Newton's Gesetz ziehen sich die Körper an in directem Verhältniß der Massen und in umgekehrtem Verhältniß des Quadrats der Entfernungen. Hier bin ich schwerer, weil ich dem Mittelpunkt der Anziehung näher bin, und auf einem anderen Planeten würde ich mehr oder weniger Gewicht haben, je nach der Masse des Planeten.

– Wie? sagte Bell, auf dem Mond? ...

– Auf dem Mond würde mein Gewicht, welches zu Liverpool zweihundert Pfund beträgt, nicht mehr als zweiunddreißig ausmachen!

– Und auf der Sonne?

– O! Auf der Sonne würde ich über fünftausend Pfund wiegen!

– Großer Gott! rief Bell aus, da wäre also eine Winde erforderlich, um Ihre Beine aufzuheben!

– Vermuthlich! erwiderte der Doctor, über Bell's Verwunderung lachend; aber hier ist die Differenz nicht merkbar, und bei Entwickelung einer entsprechenden Muskelkraft wird Bell eben so hoch springen, als auf den Quais der Mersey.

– Ja! Aber auf der Sonne? fragte Bell abermals, indem er nicht davon loskommen konnte.

– Lieber Freund, erwiderte ihm der Doctor, aus alledem ergiebt sich, daß wir da, wo wir uns befinden, wohl aufgehoben sind, und nicht anderswohin zu eilen brauchen!

– Sie sagten vorhin, fuhr Altamont fort, es sei vielleicht der Mühe werth, einen Ausflug nach dem Mittelpunkt der Erde hin zu machen! Hat man jemals den Gedanken gehabt, eine solche Reise vorzunehmen?

[493] – Ja, und damit will ich beschließen, was ich Ihnen in Beziehung auf den Pol zu sagen habe. Es giebt auf der Welt keinen Punkt, der zu mehr Hypothesen und Hirngespinsten Anlaß gegeben hätte! Die Alten, sehr unwissend in der Kosmographie, verlegten dahin den Garten der Hesperiden. Im Mittelalter meinte man, die Erde ruhe auf Thürmchen, die sich auf den Polen befänden, und worauf sie sich umdrehe; aber als man sah, daß sich die Kometen frei in den Regionen um den Pol herum bewegten, mußte man auf diese Art von Stütze verzichten. Später fand sich ein französischer Astronom, Baily, der behauptete, das gebildete verloren gegangene Volk der Atlantiden, wovon Plato spricht, habe daselbst gelebt. Endlich hat man in unseren Tagen behauptet, es sei an den Polen eine ungeheure Oeffnung, wo sich der Glanz der Nordlichter entwickele, und durch welche man in's Innere der Erde dringen könne. Sodann bildete man sich ein, in der hohlen Erdkugel befänden sich zwei Planeten, Pluto und Proserpina, und eine Luft, die in Folge starken Druckes leuchte.

– Das Alles hat man gesagt? fragte Altamont.

– Und man hat's in vollem Ernst geschrieben. Der Kapitän Synnes, unser Landsmann, hat Humphry Davy, Humboldt und Arago den Vorschlag gemacht, die Reise zu wagen! Sie lehnten aber ab.

– Und das war wohl gethan!

– Ich glaub's wohl. Wie dem auch sein mag, Sie sehen, meine Freunde, daß die Einbildungskraft in Hinsicht auf den Pol freien Spielraum hatte und daß man früher oder später auf die einfache Wahrheit zurück kam.

– Uebrigens werden wir's wohl sehen, sagte Johnson, der an seinen Ideen festhielt.

– Dann, sagte der Doctor, Excursionen auf morgen, – dabei lächelte er, daß er den alten Seemann nicht überzeugen konnte, – und wenn es eine besondere Oeffnung giebt, um in's Innere der Erde zu dringen, so wollen wir mit einander dabei sein!«

[494]
25. Capitel
Fünfundzwanzigstes Capitel.
Der Berg Hatteras.

Nach dieser gehaltvollen Unterredung richtete sich Jeder in der Grotte so gut wie möglich ein und sank bald in Schlaf.

Nur Hatteras nicht. Was raubte dem außerordentlichen Manne den Schlaf?

Hatte er nicht seinen Lebenszweck erreicht? Hatte er nicht die kühnen Entwürfe, welche ihm so sehr am Herzen lagen, in Erfüllung gebracht? Weshalb wurde die Unruhe dieser glühenden Seele nun nicht gestillt? Hätte man nicht glauben sollen, Hatteras werde nach Ausführung seiner Projecte in eine Art Abspannung verfallen, und seine gespannten Nerven nach Ruhe trachten?

Aber nein. Er zeigte sich nur noch mehr aufgeregt. Doch war's nicht der Gedanke an die Rückkehr, welcher ihn so unruhig machte. Wollte er noch weiter dringen? Fand er die Welt zu klein, weil er bis an ihr Ende gedrungen war?

Wie dem auch sein mochte, er konnte nicht schlafen. Und doch war diese erste am Pol verbrachte Nacht rein und ruhig. Die Insel war völlig unbewohnt: kein Vogel in der vulkanischen Luft, kein Thier auf dem aschebestreuten Boden, kein Fisch in seinem siedenden Gewässer; nur in der Ferne vernahm man das dumpfe Getöse des Berges, aus dessen Gipfel glühende Rauchsäulen empordrangen.

Als Bell, Johnson, Altamont und der Doctor aufwachten, fanden sie Hatteras nicht in ihrer Nähe. Sie verließen unruhig die Grotte und sahen den Kapitän auf einem Felsen stehen, den Blick unverwandt auf den Gipfel des Vulkans gerichtet. Er hielt seine Instrumente in der Hand und hatte offenbar eine genaue Aufnahme des Berges vorgenommen.

Der Doctor ging auf ihn zu und redete ihn mehrmals an, ehe er ihn aus seiner Gedankenvertiefung ziehen konnte. Endlich schien der Kapitän ihn zu verstehen.

»Vorwärts! sagte der Doctor zu ihm, der ihn aufmerksam betrachtete, vorwärts; wir wollen unsere Insel ganz durchstreifen; wir sind zu unserm letzten Ausflug bereit.

[495] – Dem letzten, sagte Hatteras mit der Betonung von Leuten, welche laut träumen; ja, dem letzten, wirklich. Der ist aber auch, fuhr er mit großer Lebhaftigkeit fort, der merkwürdigste!«

Indem er so sprach, strich er mit beiden Händen über seine Stirn, um die Wallungen im Innern zu beruhigen.

In diesem Augenblick kamen Altamont, Johnson und Bell dazu, und Hatteras schien aus seinem Traumzustande heraus zu kommen.

»Meine Freunde, sprach er mit gerührter Stimme, ich danke für Ihren Muth, Ihre Ausdauer, Ihre übermenschlichen Anstrengungen, durch welche es uns möglich geworden ist, dies Land zu betreten!

– Kapitän, sagte Johnson, wir haben nur gehorcht, und Ihnen allein gebührt die Ehre.

– Nein! Nein! fuhr Hatteras mit leidenschaftlicher Wärme fort, Euch Allen gleich mir! Altamont ebenso wie uns Allen! Wie dem Doctor selbst! O, lassen Sie mein Herz seine Empfindungen ausgießen! Es kann seine Freude und Erkenntlichkeit nicht mehr zurückhalten!«

Hatteras drückte seinen Gefährten auf's Herzlichste die Hand. Er ging unruhig hin und her und war nicht mehr Herr seines Geistes.

»Wir haben nur als Engländer unsere Schuldigkeit gethan, sagte Bell.

– Unsere Freundespflicht, erwiderte der Doctor.

– Ja! fuhr Hatteras fort, aber diese Pflicht haben nicht Alle zu erfüllen verstanden. Einige sind erlegen! Doch muß man ihnen verzeihen, denen, welche Verrath geübt haben, wie denen, welche sich zum Verrath fortreißen ließen! Die Armen! Ich verzeihe ihnen. Sie verstehen mich, Doctor!

– Ja, erwiderte dieser, ernstlich beunruhigt durch die erhöhte Geistesspannung Hatteras'.

– Auch will ich nicht, fuhr der Kapitän fort, daß das kleine Vermögen, um dessenwillen sie die weite Fahrt unternahmen, ihnen verloren sei. Nein! Nichts soll an meinen Verfügungen geändert werden, und sie sollen reich sein ... wenn sie jemals nach England zurück kommen!«

Man konnte sich der Rührung nicht erwehren, wenn man den Ton hörte, womit Hatteras diese Worte sprach.

»Aber, Kapitän, sagte Johnson, der zu scherzen suchte, man sollte meinen, Sie machen Ihr Testament.

– Vielleicht, erwiderte Hatteras ernst.

[496] – Doch haben Sie ein schönes und langes Leben voll Ruhm vor Augen, versetzte der alte Seemann.

– Wer weiß!« sagte Hatteras.

Langes Schweigen folgte auf diese Aeußerung. Der Doctor wagte nicht den Sinn dieser letzten Worte zu deuten.

Aber Hatteras ließ bald die Deutung finden; mit hastiger, kaum zurückgehaltener Stimme fuhr er fort:

»Meine Freunde, hören Sie mich an. Bis jetzt haben wir viel geleistet, und doch bleibt noch viel zu thun übrig.«

Mit tiefem Erstaunen sahen die Gefährten des Kapitäns einander an.

»Ja, wir sind am Land des Pols, aber noch nicht am Pol selbst!

– Wie so? fragte Altamont.

– Das wäre! rief der Doctor, mit ahnender Besorgniß.

– Ja! fuhr Hatteras mit Nachdruck fort. Ich habe gesagt, ein Engländer werde den Fuß auf den Pol des Erdballs setzen; das hab' ich gesagt, und ein Engländer wird es ausführen.

– Was? ... erwiderte der Doctor.

– Wir sind noch fünfundvierzig Secunden von dem unbekannten Punkt entfernt, fuhr Hatteras mit zunehmendem Feuer fort, und da, wo er ist, werd' ich hindringen!

– Aber der Gipfel dieses Vulkans ist's, sagte der Doctor.

– Ich dringe hin!

– Ein unzugänglicher Kegel!

– Ich gehe hin.

– Ein klaffender Krater in Gluth und Flammen!

– Ich dringe hinein.«

Die energische Ueberzeugung, womit Hatteras diese letzteren Worte sprach, läßt sich nicht darstellen. Seine Freunde waren voll Bestürzung; sie blickten mit Schrecken auf den Berg, welcher rauchende Feuersäulen in die Lüfte schoß.

Der Doctor ergriff darauf wieder das Wort; er setzte Hatteras dringend zu, auf sein Vorhaben zu verzichten; er sagte Alles, was sein Herz ihm einzugeben vermochte, von dringender Bitte bis zu freundlicher Drohung; aber er vermochte nichts über die reizbare Seele des Kapitäns.

Es gab nur noch Mittel der Gewalt, um den Wahnsinnigen abzuhalten, daß er sich nicht in's Verderben stürze. Da er aber einsah, daß sie zu großen [497] Unordnungen führen würden, wollte der Doctor nur im äußersten Nothfall dazu schreiten.

Er hoffte übrigens, daß Hatteras durch physische Unmöglichkeit, unübersteigliche Hindernisse sich werde an der Ausführung seines Vorhabens hindern lassen.

»Weil dem so ist, sagte er, wollen wir Sie begleiten.

– Ja! erwiderte der Kapitän, bis zur Hälfte der Bergeshöhe! Weiter nicht! Müßt Ihr nicht das Duplicat des Protokolls über unsere Entdeckung nach England bringen, falls ...?

– Doch ....

– Abgemacht, erwiderte Hatteras mit unerschütterlichem Ton, und weil die Bitten des Freundes nicht ausreichen, befiehlt der Kapitän.«

Der Doctor wollte ihm nicht länger zusetzen, und nach einer kleinen Weile setzte sich die kleine Truppe, für eine schwierige Besteigung gerüstet, Duk voran, in Bewegung.

Der Himmel glänzte im Widerschein. Das Thermometer zeigte zweiundfünfzig Grad (+ 11° hunderttheilig). Die Atmosphäre war reichlich von der klaren Helle durchdrungen, welche jenen hohen Breitegraden eigenthümlich ist. Es war um acht Uhr früh.

Hatteras mit seinem braven Hund ging voran; Bell und Altamont, der Doctor und Johnson folgten ihm unmittelbar.

»Es ist mir angst, sagte Johnson.

– Nein, nein, es ist nichts zu befürchten, erwiderte der Doctor, wir sind ja dabei.«

Das Inselchen hatte etwas sehr Eigenthümliches von neuem, jugendlichem Charakter; der Vulkan schien nicht alt zu sein.

Die über einander gewürfelten Felsen hielten sich wie durch ein Wunder im Gleichgewicht. Der Berg bestand, genau genommen, nur aus einer Zusammenhäufung herabgefallener Steine. Nichts von Erde, nicht das kleinste Moos, nicht die magerste Flechte, keine Spur von Vegetation. Die vom Krater ausgespieene Kohlensäure hatte noch nicht Zeit gehabt, sich mit dem Wasserstoff des Wassers, noch mit dem Ammonium der Wolken zu vereinigen, um unter Einwirkung des Lichtes organisirte Stoffe zu bilden.

Diese im Meere verlorene Insel war lediglich durch allmälige Anhäufung vulkanischer Auswürfe entstanden, gleich dem Aetna, welcher bereits eine [498] weit beträchtlichere Menge Lava ausgeworfen hat, als seine eigene Masse beträgt.

Diese Steinhaufen, welche die Insel der Königin bildeten, waren offenbar aus dem Innern der Erde ausgeworfen worden; jene hatte den plutonischen Charakter im höchsten Grad. An ihrer Stelle befand sich früher das unermeßliche Meer, welches in der Urzeit durch Verdichtung der Wasserdämpfe auf dem erkalteten Erdball entstanden ist; aber in dem Verhältniß, wie die Vulkane der alten und neuen Welt erloschen, oder besser gesagt, verstopft wurden, mußten sie durch neue feuerspeiende Krater ersetzt werden.

In der That kann man die Erde mit einem ungeheuren Kessel vergleichen, worin durch Wirkung des Centralfeuers unermeßliche Quantitäten von Dünsten entstehen, welche in einem umschlossenen Raum bis zu einer Spannung von vielen Tausend Atmosphären getrieben, den Erdball auseinandersprengen würden, wenn nicht nach außen hin Sicherheitsventile angebracht wären.

Diese Ventile nun sind die Vulkane; wenn einer sich schließt, öffnet sich ein anderer, und an den Polen, wo ohne Zweifel in Folge der Abplattung die Erdrinde minder dick ist, kann es nicht auffallend sein, daß sich durch eine Erhebung des Erdkerns unter der Fluth unvermuthet ein neuer Vulkan bildet.

Der Doctor nahm, während er Hatteras folgte, diese auffallenden Eigenthümlichkeiten wahr; sein Fuß betrat einen vulkanischen Tuff und Bimssteine, die aus Schlacken sich bildeten, Asche, ausgeworfene Steine, gleich den Syeniten und Graniten Islands.

Den fast modernen Ursprung des Eilands nahm er deshalb an, weil das sedimentäre Terrain noch nicht Zeit gehabt hatte, sich zu bilden.

An Wasser fehlte es gänzlich. Wäre die Insel der Königin schon mehrere Jahrhunderte alt, so würden heiße Quellen, wie sie in der Nähe der Vulkane häufig sind, aus ihrem Innern gesprudelt sein. Nun aber fand man hier nicht allein kein Tröpfchen Wassers, sondern die Dünste, welche aus Lavaströmen entstanden, schienen durchaus ohne Wassergehalt zu sein.

Also war diese Insel neuerer Bildung, und so wie sie eines Tages zum Vorschein kam, so konnte sie eines anderen Tages wieder verschwinden und von Neuem in die Tiefe des Oceans versinken.

Im Verhältniß, wie man höher kam, wurde das Besteigen schwieriger die Seiten des Berges waren fast senkrecht, und man mußte äußerst vorsichtig [499] sein, um ein Zusammenstürzen zu vermeiden. Ost wirbelten Aschensäulen um die Reisenden, und drohten sie zu ersticken, oder Lavaströme versperrten ihnen den Weg. An einigen horizontalen Stellen waren die Ströme eben erkaltet und fest geworden, während unter dieser Rinde noch siedende Lava floß, so daß also Jeder sondiren mußte, um nicht plötzlich in solchen glühenden Stoff einzusinken.


Hatteras am Ziele seines Strebens. (S. 502.)

Von Zeit zu Zeit spie der Krater Felsstücke aus, welche in brennendem Gas rothglühend geworden; manche von diesen Massen zerplatzten wie [500] Bomben in der Luft, und ihre Trümmer zerstreuten sich weit und breit in allen Richtungen.

Man begreift, wie diese Besteigung des Berges mit unzähligen Gefahren verbunden war, und nur von einem Narren vorgenommen werden konnte.


Allein auf dem Drehpunkt des Erdballs! (S. 503.)

Doch Hatteras stieg mit auffallender Behendigkeit immer weiter, und klomm, die Stütze seines eisenbeschlagenen Stockes verschmähend, die schroffsten Abhänge hinan.

Er gelangte bald zu einem kreisrunden Felsen, der eine Art von Plateau [501] von zehn Fuß Breite bildete; ein glühender Strom floß um denselben herum, nachdem er an der Spitze eines höheren Felsens sich gabelförmig getheilt hatte, so daß nur ein schmaler Weg dazwischen blieb, welchen Hatteras tollkühn betrat.

Hier blieb er stehen, und seine Gefährten konnten ihn einholen. Darauf schien er mit den Augen den Raum zu messen, welcher ihm noch zu steigen blieb; horizontal befand er sich noch über hundert Klafter vom Krater, d.h. vom mathematischen Punkt des Pols entfernt; aber vertical waren noch über fünfzehnhundert Fuß zu ersteigen.

Bereits seit drei Stunden war man im Aufsteigen begriffen; Hatteras schien noch nicht müde; seine Gefährten waren schon fast erschöpft.

Der Gipfel des Vulkans schien unzugänglich zu sein. Der Doctor entschloß sich, Hatteras um jeden Preis vom Weitersteigen abzuhalten. Zuerst versuchte er's mit der Güte, aber die Aufregung des Kapitäns steigerte sich bis zum Wahnsinn; bereits während des Steigens hatte er alle Anzeichen wachsenden Irrsinns wahrnehmen lassen, und wer ihn kannte, wer ihn durch alle Phasen seines Lebens begleitete, konnte es nicht überraschend finden. Im Verhältniß wie Hatteras höher über den Meeresspiegel drang, wuchs seine Ueberspannung; er lebte nicht mehr in der Menschenregion.

»Hatteras, sagte zu ihm der Doctor, nun ist's genug! Weiter können wir nicht.

– So bleibet, erwiderte der Kapitän mit auffallendem Ton, ich steige höher hinauf!

– Nein! Das wäre auch unnöthig! Hier sind Sie am Pol der Erde!

– Nein! Nein! Noch höher!

– Mein Freund! Ich, der Doctor Clawbonny, rede zu Ihnen! Kennen Sie mich nicht?

– Höher! Höher! rief er wiederholt im Wahnsinn.

– Nein! Nein! Wir dulden's nicht ...«

Ehe noch der Doctor diese Worte zu Ende gesprochen, sprang Hatteras mit übermenschlicher Anstrengung über den Lavastrom, von seinen Gefährten getrennt, welche nicht zu ihm gelangen konnten.

Diese schrieen laut auf, in der Meinung, Hatteras sei in den siedenden Strom gestürzt; aber der Kapitän war jenseits hingesunken, und Duk, der ihn nicht verlassen wollte, sprang ihm nach.

[502] Er verschwand hinter einer Hülle von Rauch, und man hörte seine Stimme, die in der Entfernung immer schwächer tönte:

»Nordwärts! Nordwärts! schrie er. Zum Gipfel des Hatteras-Berges! Gedenken Sie des Hatteras-Berges!«

Den Kapitän einzuholen, daran war nicht zu denken; es waren zwanzig Gründe dafür, daß man an der Stelle blieb, welche er mit dem Glück und der Geschicklichkeit, wie sie Narren eigen ist, verlassen hatte; den feurigen Strom zu überspringen war unmöglich; ebenso unmöglich, ihn zu umgehen. Altamont versuchte vergeblich über ihn hinüber zu kommen; wollte man über den Lavastrom dringen, so hätte man sein Leben daran gesetzt; wider Willen mußten seine Gefährten zurückbleiben.

»Hatteras! Hatteras!« rief der Doctor.

Aber der Kapitän gab keine Antwort, und nur das kaum vernehmliche Bellen Duks verhallte im Gebirge.

Inzwischen sah man Hatteras in Zwischenräumen mitten durch Rauchsäulen und unter dem Aschenregen. Bald ragte sein Arm, bald sein Kopf aus dem Wirbel heraus. Dann verschwand er wieder den Blicken und zeigte sich höher oben auf den Felsen. Seine Figur sah immer kleiner aus, je höher er hinauf kam.

Dumpfes Getöse des Vulkans füllte die Luft; es tobte in dem Berge gleich wie in einem siedenden Kessel. Hatteras ließ sich nicht aufhalten, von Duk begleitet.

Von Zeit zu Zeit rutschte hinter ihm das Gestein, und ein Felsblock stürzte mit wachsender Schnelligkeit an den Spitzen abprallend bis zum Grund des Polarmeeres hinab.

Hatteras wendete sich nicht einmal um. Sein Stab diente ihm als Schaft, um die englische Flagge daran zu befestigen. Voll Schrecken verfolgten seine Gefährten alle seine Bewegungen, während seine Gestalt sich mehr und mehr verkleinerte; Duk schien nicht mehr größer, als eine Ratte.


Hatteras will die Flagge Altenglands aufpflanzen. (S. 503.)

Einen Moment verdeckte sie der Wind mit einem feurigen Vorhang. Der Doctor erhob ein Angstgeschrei; doch kam Hatteras wieder zum Vorschein, wie er aufrecht stand und seine Flagge schwang.

Ueber eine Stunde lang dauerte das Schauspiel dieser erschrecklichen Besteigung. Eine Stunde des Ringens mit wackelnden Felsen, mit tiefen Aschenschichten, worin der Heros des Unmöglichen bis zu halbem Leibe einsank.

[503] Bald kletterte er, mit den Knieen und Hüften wider die Spalten sich stemmend, bald hing er mit den Händen an einem Grat, und flatterte im Winde gleich einem trockenen Büschel.

Endlich langte er auf dem Gipfel des Vulkans an, unmittelbar an des Kraters Mündung. Da schöpfte der Doctor Hoffnung, der Unglückliche, nachdem er an seinem Ziele angelangt, werde vielleicht nun zurückkehren, und hätte dann nur noch das Gefährliche des Herabsteigens zu bestehen.

Er schrie aus voller Brust und zum letzten Mal auf:

[504] »Hatteras! Hatteras!«

Des Doctors Rufen drang dem Amerikaner bis auf den Grund der Seele.

»Ich will ihn retten«, rief Altamont.

Dann setzte er mit einem gewaltigen Sprunge über den feurigen Strom, mit Gefahr hinein zu fallen, und verschwand in der Mitte der Felsen.

Clawbonny hatte nicht Zeit ihn aufzuhalten.



Inzwischen drang Hatteras, als er auf dem Gipfel ankam, über den Schlund hinaus auf einen überhängenden Felsen. Die Steine regneten um ihn herum. Duk sprang ihm stets zur Seite. Das arme Thier schien bereits vom Schwindel ergriffen. Hatteras schwang sein Banner im Widerschein der Gluth, und das geröthete Tuch flatterte in langen Streifen beim Luftstrom des Kraters.

Mit der einen Hand schwang es Hatteras hin und her. Mit der anderen wies er im Zenith auf den Pol der Himmelskugel. Inzwischen schien er zu zaudern. Er suchte nach dem mathematischen Punkt, wo alle Meridiane des Erdballs zusammenlaufen, auf den er in erhabenem Starrsinn den Fuß setzen wollte.

Plötzlich wankte der Fels unter seinen Füßen; er verschwand. Ein fürchterliches Geschrei seiner Gefährten drang bis zum Gipfel hinan. Clawbonny hielt seinen Freund für verloren und auf ewig begraben in den Tiefen des Vulkans. Aber Altamont war noch da, auch Duk. Der Mann und der [505] Hund erfaßten den Unglücklichen im Moment, wo er in den Abgrund stürzte. Hatteras war gerettet, gerettet wider Willen, und eine Viertelstunde nachher lag der Kapitän des Forward bewußtlos in den Armen seiner verzweifelnden Freunde.

Als er wieder zu sich kam, fragte der Doctor in stummer Befürchtung seinen Blick. Aber dieser bewußtlose Blick, gleich dem eines Blinden, der ohne zu sehen anschaut, antwortete ihm nicht.

»Großer Gott! sagte Johnson, er ist blind!

– Nein, erwiderte Clawbonny, nein! Meine armen Freude, wir haben nur den Körper gerettet! Hatteras' Seele ist auf dem Gipfel des Vulkans geblieben! Seine Vernunft ist gestorben!

– Wahnsinnig! riefen Johnson und Altamont voll Bestürzung.

– Wahnsinnig!« antwortete der Doctor.

Und Thränen rannen aus ihren Augen.

26. Capitel
Sechsundzwanzigstes Capitel.
Rückkehr nach dem Süden.

Drei Stunden nach diesem traurigen Ausgange der Abenteuer des Kapitän Hatteras fanden sich Clawbonny, Altamont und die beiden Matrosen in der Grotte am Fuße des Vulkans zusammen. Clawbonny wurde ersucht, seine Meinung über das, was nun geschehen solle, abzugeben.

»Meine Freunde, sagte er, wir können auf der Insel der Königin nicht lange verweilen: das Meer vor uns ist frei, wir haben hinreichenden Proviant, und werden in aller Eile nach Fort Providence zurückkehren müssen, um dort bis nächsten Sommer zu überwintern.

– Das ist auch meine Ansicht, sagte Altamont, der Wind ist günstig und morgen wollen wir wieder zur See gehen.«

In tiefer Niedergeschlagenheit verging vollends der Tag. Die Geistesstörung des Kapitäns erschien von schlimmer Vorbedeutung, und als Johnson, [506] Bell und Altamont ihre Gedanken bezüglich der Rückkehr austauschten, erschraken sie über ihre Verlassenheit und die weite Entfernung. Hatteras' unerschrockene Seele fehlte ihnen.

Doch als geistesstarke Männer rüsteten sie sich, um von Neuem gegen die Elemente und gegen sich selbst zu kämpfen, wenn sie sich schwach fühlen sollten.

Am anderen Tage, Sonnabend den 13. Juli, wurden die Lagergeräthschaften eingeschifft, und bald war Alles zur Abfahrt bereit.

Bevor sie aber diesen Felsen auf Nimmerwiedersehen verließen, ließ der Doctor, um Hatteras' Absichten zu entsprechen, an dem Punkte, wo der Kapitän an der Insel gelandet war, einen Cairn errichten, der, aus großen, übereinander gelagerten Blöcken gebildet, ein leicht sichtbares Merkzeichen darstellte, vorausgesetzt, daß er von den Folgen der Eruptionen verschont blieb.

In einen der Seitensteine grub Bell mit dem Meißel die einfache Inschrift:


John Hatteras.

1861.


Im Innern des Cairn und in einem vollkommen geschlossenen Blechcylinder wurde eine Abschrift des Documentes niedergelegt, und so ruhte das Zeugniß der großen Entdeckung verlassen unter den wüsten Felsen.

Dann schifften sich die vier Männer und der Kapitän, – ein armer Körper ohne Seele – sammt dem treuen Duk, der jetzt so traurig war, zur Rückkehr ein. Es war um zehn Uhr des Morgens. Aus der Leinwand des Zeltes wurde ein neues Segel hergestellt. Die Schaluppe verließ, den Wind im Rücken, die Insel der Königin und am Abend warf der Doctor, auf seiner Bank stehend, einen letzten Blick zurück nach dem Mount-Hatteras, der noch am Horizonte Flammen sprühte.

Die Ueberfahrt ging sehr schnell von Statten; das überall freie Meer erleichterte die Schifffahrt, und es schien wirklich, es sei angenehmer, dem Pole zu entfliehen, als sich ihm zu nähern.

Nur Hatteras verstand nicht, was um ihn her vorging. Er lag in der Schaluppe mit stummem Munde, gebrochenem Blicke, die Arme über der Brust gekreuzt und Duk zu seinen Füßen. Vergeblich richtete der Doctor das Wort an ihn, – Hatteras verstand ihn nicht.

[507] Während achtundvierzig Stunden blieb der Wind sehr günstig und das Meer ziemlich ruhig. Clawbonny und seine Genossen ließen den Nordwind gewähren.

Am 15. Juli bekamen sie im Süden Altamont-Harbour in Sicht; da aber das Polarmeer der ganzen Küste frei war, beschlossen sie, statt sich über Neu-Amerika hinweg des Schlittens zu bedienen, dieses bis zur Bai Victoria zu umsegeln.

Dieser Weg war schneller und kürzer. In der That hatten die Reisenden [508] denselben Weg, zu dem sie mittels Schlitten vierzehn Tage gebraucht hatten, unter Segel in kaum acht Tagen zurückgelegt, und waren dabei noch der durch Fjorde unterbrochenen Küste gefolgt, deren Entwicklung sie bestimmten. Montag Abends, am 23. Juli, erreichten sie die Bai Victoria.


Zum Zeugniß für Nachfolger. (S. 507.)

Die Schaluppe wurde am Ufer sicher verankert, und man begab sich nach Fort Providence. Aber welche Verwüstung zeigte sich da! Doctors-House, die Magazine, die Pulverkammer und die Befestigungen waren unter den Strahlen der Sonne zu Wasser zerflossen; die Vorräthe von reißenden Thieren beraubt.

Ein trauriger, trostloser Anblick!

Die Seefahrer waren mit ihren Lebensmitteln fast zu Ende und hofften sie in Fort Providence zu erneuern. Die Unmöglichkeit, jetzt einen Winter hier zuzubringen, lag auf der Hand. Als Leute, die gewöhnt waren, einen schnellen Entschluß zu fassen, entschieden sie sich, das Bassins-Meer auf kürzestem Wege zu gewinnen zu suchen.

»Wir können keinen anderen Ausweg ergreifen, sagte der Doctor; das Bassins-Meer ist kaum sechshundert Meilen entfernt. So lange unserer Schaluppe das Wasser nicht mangelt, können wir segeln, den Jones-Sund und von da aus die dänischen Niederlassungen erreichen.

– Gut, antwortete Altamont, so wollen wir den Rest der Provision sammeln und abreisen.«

Bei genauerem Nachsuchen fand man einige da und dorthin verschleppte Kisten mit Pemmican und zwei Fässer condensirtes Fleisch, die der Zerstörung entgangen waren, zusammen Proviant für sechs Wochen, und einen Ueberfluß an Pulver. Alles wurde sorgfältig gesammelt; man benutzte den Tag noch, die Schaluppe zu kalfatern und in Stand zu setzen, und am folgenden Tage, am 24. Juli, stach man wieder in See.

Unter dem dreiundachtzigsten Breitengrade fiel das Land nach Osten ab, und es war nicht unmöglich, daß es mit den unter den Namen Grinnel-Land, Ellesmeer und Nord-Lincoln bekannten Ländern, welche die Küste der Bassins-Bai bilden, in Verbindung stand. Man konnte demnach als ziemlich sicher ansehen, daß der Jones-Sund sich wie die Lancaster-Straße nach den inneren Meeren zu öffne.

Die Schaluppe segelte von nun an ohne besondere Schwierigkeiten; die schwimmenden Eisblöcke waren leicht zu vermeiden. Der Doctor setzte jedoch [509] mit Rücksicht auf unvorhergesehene Verzögerungen seine Gefährten auf halbe Speiserationen; dennoch kamen diese dabei nicht sonderlich von Kräften und blieben bei guter Gesundheit.

Uebrigens konnten sie auch wiederholt von den Gewehren Gebrauch machen; sie erlegten Enten, Gänse und Taucherhühner, die ihnen frische und gesunde Nahrung lieferten. Ihr Wasserbedarf ward leicht durch Süßwasserschollen, deren sie genug antrafen, gedeckt, denn sie achteten immer darauf, sich nicht zu weit von der Küste zu entfernen, da sie es nicht wagten, mit der Schaluppe in das ganz freie Meer zu steuern.

Zu dieser Jahreszeit hielt sich das Thermometer durchschnittlich schon immer unter dem Gefrierpunkte; das Wetter, das anfangs sehr regnerisch gewesen war, neigte sich zum Schneien und wurde düster; die Sonne begann den Horizont zu streifen und tagtäglich wurde ein größerer Theil ihrer Scheibe verdeckt. Am 30. Juli verloren sie die Reisenden zum ersten Male aus dem Gesicht, d.h. sie hatten eine wenige Minuten dauernde Nacht.



Inzwischen segelte die Schaluppe recht gut und legte in vierundzwanzig Stunden manchmal sechzig bis fünfundsechzig Meilen zurück; nicht einen Augenblick wurde angehalten. Man wußte aus Erfahrung, welche Anstrengungen zu erleiden, welche Hindernisse zu überwinden waren, wenn man gezwungen wäre, auf das Land zurückzukehren; schon bildete sich hier und da junges Eis. Unter jenen hohen Breiten folgt der Winter ganz plötzlich dem Sommer; es [510] giebt weder Frühling noch Herbst, die Uebergangszeiten fehlen. Man mußte sich also beeilen.

Am 31. Juli bemerkte man, da der Himmel bei Sonnenuntergang heiter war, die ersten Sterne von den Sternbildern im Zenith. Von diesem Tage ab herrschte aber ein fortdauernder Nebel, der die Schifffahrt sehr behinderte.

Der Doctor wurde, da er die Vorzeichen des Winters sich häufen sah, sehr unruhig. Er wußte, welche Schwierigkeiten Sir John Roß vorgefunden hatte, nachdem er sein Schiff verlassen, die Bassins-Bai zu erreichen; und zuletzt war dieser kühne Seefahrer, nachdem er einmal versucht hatte das Eis zu überschreiten, doch gezwungen gewesen, nach seinem Fahrzeuge zurückzukehren und ein viertes Mal zu überwintern; er hatte aber für die schlechte Jahreszeit doch wenigstens ein Obdach, Proviant und Heizmaterial.

Wenn den Ueberlebenden vom Forward ein ähnliches Unglück zustieß, wenn sie gezwungen waren, anzuhalten oder gar umzukehren, so waren sie verloren. Der Doctor theilte seinen Gefährten seine Beunruhigung zwar nicht mit, aber er trieb, soviel als möglich nach Osten zu gelangen.

Am 15. August endlich, nach einer schnellen dreißigtägigen Fahrt, nachdem sie achtundvierzig Stunden gegen sich häufende Eisschollen gekämpft, nachdem sie hundertmal ihre zerbrechliche Schaluppe in Gefahr gesetzt hatten, sahen sich die Schifffahrer vollkommen festgehalten, ohne weiter vorwärts zu können; das Meer war nach allen Seiten in Fesseln geschlagen, und das Thermometer zeigte im Mittel nur fünfzehn Grade unter Null (– 9° hunderttheilig).

Uebrigens war nach Norden und Westen hin die Nähe einer Küste an den platten und abgerundeten kleinen Steinen, welche die Wellen so an den Ufern abreiben, zu erkennen; auch dem Süßwasser-Eise begegnete man immer häufiger.

Altamont machte mit größter Sorgfalt eine Ortsaufnahme, und erhielt als Resultat 77°15' Breite bei 85°2' östlicher Länge.

»Nun, dann ist unsere Lage also bestimmt, sagte der Doctor; wir haben Nord-Lincoln erreicht, und zwar genau am Cap Eden. Wir treten jetzt in den Jones-Sund ein; mit etwas mehr Glück hätten wir diesen bis zum Bassins-Meere offen gefunden. Doch wir dürfen nicht klagen; wenn mein armer Hatteras zuerst ein so leicht zugängliches Meer gefunden hätte, wäre er schnell bis zum Pol gelangt; seine Mannschaft hätte ihn nicht verlassen, und [511] er hätte nicht unter dem Einfluß so schrecklicher Gemüthsbewegungen den Verstand verloren!

– Nun, sagte Altamont, so haben wir keine andere Wahl, als die Schaluppe zu verlassen und die Ostküste von Lincoln mittels Schlitten zu erreichen.

– Die Schaluppe verlassen und wieder zum Schlitten greifen, ja wohl, antwortete der Doctor; aber statt über Lincoln zu fahren, schlage ich vor, über den Jones-Sund zu setzen und auf dem Eise Nord-Devon zu erreichen.

– Und warum?

– Weil wir, je mehr wir uns dem Lancaster-Sund nähern, desto mehr Aussicht haben, Wallfischfängern zu begegnen.

– Sie haben Recht, Doctor; doch glaube ich nicht, daß das Eis schon fest genug sein wird, uns den Uebergang zu gestatten.

– Wir werden es versuchen«, erwiderte Clawbonny.

Die Schaluppe wurde entladen; Bell und Johnson setzten den Schlitten wieder zusammen, dessen Theile alle in gutem Zustande waren; andern Tags wurden die Hunde wieder angeschirrt und man zog längs der Küste hin, um das Eisfeld zu erreichen.

Nun begann diese schon so oft beschriebene, ermüdende und langsame Reise wieder. Altamont hatte Recht gehabt, der Haltbarkeit des Eises zu mißtrauen, man konnte nicht über den Jones-Sund setzen und mußte sich an der Küste von Lincoln halten.

Am 21. August schnitten die Reisenden schräg zu und gelangten an den Eingang der Glacier-Meerenge; dort begaben sie sich nun auf das Eisfeld und erreichten andern Tags die Insel Cobourg, die sie in weniger als zwei Tagen trotz andauernder Schneestürme durchzogen.

Von hier aus konnten sie wieder den bequemeren Weg über das Eisfeld nehmen und setzten den Fuß endlich, am 24. August, auf Nord-Devon.

»Nun haben wir, sagte der Doctor, nur noch dieses Land zu durchziehen und Cap Warender am Eingange des Lancaster-Sund zu erreichen.«

Das Wetter wurde aber nun abscheulich und sehr kalt; Schneewehen und Wirbelstürme gewannen ihre winterliche Heftigkeit wieder; die Reisenden waren mit ihren Kräften zu Ende. Die Nahrungsmittel gingen auf die Neige und Jeder mußte sich mit einer Drittelration begnügen, um den Hunden ein ihren Anstrengungen entsprechendes Futter zu sichern.

[512] Die Natur des Bodens steigerte die Strapazen der Reise; dieses Land, Nord-Devon, war ungemein zerklüftet; man mußte das Trauter-Gebirg durch kaum zugängliche Schluchten überschreiten, und das im fortwährenden Kampfe gegen die entfesselten Elemente. Der Schlitten, die Menschen und die Hunde hätten beinahe nicht weiter gekonnt, und mehr als einmal bemächtigte sich die Verzweiflung der kleinen Truppe, welche doch so abgehärtet und an die Anstrengungen einer Polarexpedition gewöhnt war. Ohne sich davon Rechenschaft zu geben, waren diese armen Leute moralisch und physisch gebrochen; nicht ungestraft verträgt man achtzehn Monate lang unausgesetzte Anstrengungen und einen nervenzerrüttenden unaufhörlichen Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung. Zudem ist nicht zu vergessen, daß die Hinreise mit einem Feuereifer, einer Ueberzeugung, einem Glaubensmuthe ausgeführt wurde, welche der Rückreise abgingen. So schleppten sich auch die Unglücklichen nur mit Mühe vorwärts; man könnte sagen, sie marschirten aus Gewohnheit, getrieben durch ein Ueberbleibsel thierischer, von ihrem Willen unabhängiger Energie.



Erst am 30. August kamen sie aus jenem Chaos von Bergen heraus, von denen die Orographie niederer Breitegrade keine Idee giebt, aber sie kamen her aus halb todt und halb erfroren. Der Doctor war nicht mehr im Stande, seine Genossen aufrecht zu erhalten, er fühlte selbst seine zunehmende Schwäche.

Die Trauter-Berge reichten bis zu einer zerrissenen und zerklüfteten Ebene.

Dort mußte man wohl oder übel einige Tage ausruhen; die Wanderer konnten nicht mehr einen Fuß vor den anderen setzen; zwei Zughunde waren auch schon vor Erschöpfung verendet.

[513] Man suchte also, bei einer Kälte von zwei Grad unter Null (– 19° hunderttheilig) hinter einigen Eisschollen Schutz; Niemand hatte den Muth, das Zelt aufzuschlagen.

Die Lebensmittelvorräthe waren sehr zusammen geschmolzen und konnten trotz der äußersten Sparsamkeit bei den Rationen nur noch auf acht Tage hinreichen; das Wild wurde auch selten, indem es sich für den Winter in mildere Gegenden zurückgezogen hatte. Der Hungertod nahte drohender den erschöpften Opfern.

Altamont, der eine große Ergebung und wahrhafte Selbstverleugnung bewies, raffte seine letzten Kräfte zusammen, um seinen Genossen mittels der Jagd einige Nahrungsmittel zu verschaffen.

Er nahm seine Flinte, rief Duk zu sich und wandte sich zu den Ebenen im Norden; fast gefühllos sahen ihn der Doctor, Johnson und Bell sich entfernen. Während einer Stunde vernahmen sie keinen einzigen Flintenschuß und sahen ihn auch zurückkehren, ohne daß er einen solchen abgegeben hätte; der Amerikaner lief aber wie Jemand, der von Entsetzen ergriffen ist.

»Was giebt es? fragte ihn der Doctor.

– Da unten! Unter dem Schnee! antwortete Altamont mit dem Ausdruck des Entsetzens, indem er nach einem Punkt am Horizonte zeigte.

– Was denn?

– Eine ganze Gesellschaft Menschen.

– Lebende?

– Todt .... erfroren .... und sogar ...«

Der Amerikaner wagte seinen Gedanken nicht zu vollenden, aber sein Ausdruck verrieth ein unsägliches Entsetzen.

Der Doctor, Johnson und Bell, die durch diesen Zwischenfall wieder aufgerüttelt wurden, erhoben sich und zogen, den Spuren Altamont's nachgehend, nach jenem Theile der Ebene, den Letzterer ihnen durch Handbewegungen bezeichnete.

Bald gelangten sie, im Grunde eines tiefen Hohlwegs, an eine enge Stelle – aber da – welches Schauspiel bot sich ihren Blicken!

Halb unter dem weißen Leichentuche begrabene Cadaver sahen da und dort nach aus dem Schnee hervor; hier ein Arm, dort ein Bein, weiterhin runzlich gewordene Hände, Köpfe mit dem noch erhaltenen Gesichtsausdruck der Drohung und Verzweiflung.

[514] Der Doctor ging näher, aber schnell eilte er, erblaßt und mit entstellten Zügen zurück, während Duk ein dumpfes, wie erschrockenes Bellen hören ließ.

»Entsetzlich! Grauenhaft! rief er.

– Nun, was? fragte der Rüstmeister.


Das Grab der Meuterer vom Forward. (S. 515.)

– Sie haben sie nicht wiedererkannt? versetzte der Doctor mit dem Ton der Bestürzung.

– Was sagen Sie?

– Sehen Sie nur hin!«

[515] Der Hohlweg war unlängst der Schauplatz eines letzten Kampfes von Menschen gegen das Klima, gegen die Verzweiflung, ja gegen den Hunger gewesen; denn an einigen entsetzlichen Resten sah man, daß die Unglücklichen durch menschliche Cadaver ihr Leben gefristet, vielleicht noch zuckendes Fleisch gegessen hatten, und unter ihnen hatte der Doctor Shandon, Pen und die übrige nichtswürdige Mannschaft vom Forward erkannt. Kräfte und Lebensmittel waren diesen Unglücklichen ausgegangen; ihre Schaluppe war wahrscheinlich durch Lawinen zertrümmert worden oder in eine Schlucht gestürzt, so daß sie das Meer nicht hatten zur Schifffahrt benutzen können. Es war ja auch möglich, daß sie sich mitten in jenen Continenten verirrt hatten. Dazu kommt, daß Leute, welche unter der Aufregung der Empörung davongingen, doch nicht lange Zeit in solcher Einigkeit leben konnten, welche allein es möglich macht, große Thaten zu vollbringen. Ein Anführer von Aufwieglern hat immer nur eine zweifelhafte Macht in den Händen. Ohne Zweifel wuchsen die Anderen Shandon bald über den Kopf.

Doch wie dem auch sei, jedenfalls hatte die Mannschaft tausend Qualen, tausendfache Verzweiflung zu bestehen und brachte es doch nur bis zu dieser schrecklichen Katastrophe. Aber die geheime Geschichte ihrer Leiden ist für immer mit ihnen unter dem Schnee des Poles eingesargt.

»Entfliehen wir! Fort!« rief der Doctor.

Er zog seine Genossen weit weg von dem Orte des Schreckens. Das Entsetzen verlieh ihnen eine augenblickliche Energie wieder. – Sie setzten ihre Reise weiter fort.

27. Capitel
Siebenundzwanzigstes Capitel.
Schluß.

Warum sollte ich bei den Leiden, welche unablässig die Ueberlebenden der Expedition trafen, lange verweilen? Sie selbst vermochten niemals sich an alles Einzelne wieder zu erinnern, was sie in den acht Tagen nach der [516] gräßzlichen Entdeckung der Reste der Mannschaft zu erleben hatten. Indessen gelangten sie am 9. September durch wunderhafte Energie zum Cap Horsburg, am Ende von Nord-Devon.



Sie waren ausgehungert bis zur Erschöpfung: seit achtundvierzig Stunden waren sie ohne Nahrung und ihre letzte Mahlzeit hatte aus dem letzten Stück Fleisch ihrer Eskimohunde bestanden. Bell konnte nicht weiter, und der alte Johnson fühlte sich dem Tode nahe.

Sie befanden sich am Ufer des Bassins-Meeres, das zum Theil fest gefroren war, also auf dem Wege nach Europa. Drei Meilen von der Küste ab brandeten die eisfreien Wogen mit Getöse an den Spitzen des Eisfeldes.

Man mußte auf das zufällige Vorüberkommen eines Wallfischfahrers warten, und wie lange konnte dies dauern? ...

Aber der Himmel erbarmte sich der Unglücklichen, denn am folgenden Tage gewahrte Altamont deutlich ein Segel am Horizont.

Man weiß, welche angstvolle Spannung herrscht, wenn ein Schiff sich zeigt, welche Furcht vor einer Täuschung dieser Hoffnung! Das Fahrzeug scheint bald näher zu kommen, bald sich wieder zu entfernen, in schrecklichem Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung, und es geschieht nicht selten, daß ein am Horizont erblicktes Schiff wieder in der Ferne verschwindet.

Der Doctor und seine Gefährten hatten alle diese Prüfungen zu bestehen; sie waren, indem sie sich einander trugen und schoben, am westlichen Ende [517] des Eisfeldes angelangt, und sahen allmälig das Schiff wieder verschwinden, ohne daß es ihre Anwesenheit gewahrt hatte. Sie riefen es an, doch vergebens!

Da kam dem Doctor zum letzten Mal ein sinnreicher Gedanke, wie sie diesem erfinderischen Kopf bisher so oft zu Statten kamen.

Ein Eisblock, der in der Strömung trieb, stieß wider das Eisfeld.

»Dieser Eisblock!« rief er, und wies mit der Hand darauf hin.

Man verstand ihn nicht.

»Fahren wir auf ihm! Fahren wir mit!« rief der Doctor.

Es war ein Hoffnungsstrahl für Alle.

»Ach! Herr Clawbonny, Herr Clawbonny!« rief Johnson, und drückte dem Doctor die Hände.

Bell eilte mit Hilfe Altamont's zum Schlitten, holte daraus einen Pfosten, steckte ihn wie einen Mast auf den Eisblock und band ihn mit Stricken fest; aus dem abgerissenen Zeltdach machte man wohl oder übel ein Segel. Der Wind war günstig; die armen Verlassenen stürzten sich auf das zerbrechliche Fahrzeug und fuhren in's weite Meer hinaus.

Schon nach zwei Stunden unerhörter Anstrengungen wurden die letzten der Mannschaft des Forward an Bord des dänischen Wallfischfahrers Hans Christian, welcher nach der Davis-Straße zurückkehrte, aufgenommen.

Der Kapitän empfing diese Gespenster, welche kaum noch wie Menschen aussahen, als ein Mensch von Gemüth; beim Anblick ihrer Leiden begriff er ihre Geschichte; durch die sorgfältigste Pflege gelang es ihm, sie am Leben zu erhalten.

Zehn Tage darauf stiegen Clawbonny, Johnson, Bell, Altamont und der Kapitän Hatteras zu Korsör, auf Seeland, in Dänemark, an's Land; ein Dampfboot brachte sie weiter nach Kiel; von hier begaben sie sich über Altona und Hamburg nach London, wo sie am 13. desselben Monats ankamen, nachdem sie sich kaum von ihren langen Prüfungen erholt hatten.

Vor allen Dingen erbat sich der Doctor von der königlich Geographischen Gesellschaft zu London die Erlaubniß, ihr eine Mittheilung zu machen; in der Sitzung des 15. Juli wurde ihm diese Gelegenheit zu Theil.

Man denke sich das Erstaunen dieser gelehrten Gesellschaft, welche nach Verlesung der Urkunde Hatteras' enthusiastischen Beifall spendete.

Diese Reise, einzig in ihrer Art, die in den Annalen der Geschichte ihres [518] Gleichen nicht hatte, begriff alle früheren, in den Polarregionen gemachten Entdeckungen in sich; sie verband miteinander die Expeditionen von Parry, Roß, Franklin, Mac Clure; sie vervollständigte zwischen dem hundertsten und hundertfünfzehnten Meridian die Karte der hohen Nordlande, und endlich, sie führte bis zu dem bisher unzugänglichen Punkte des Erdballs, dem Pol selbst.

Niemals, noch niemals hat eine so unerwartete Neuigkeit das staunende England überrascht.

Die Engländer haben eine leidenschaftliche Empfänglichkeit für so große geographische Thatsachen; man begrüßte sie mit Theilnahme und Stolz, vom Lord bis zum Cockney, vom größten Kaufmann bis zum Arbeiter der Docks.

Blitzschnell verbreitete sich die große Entdeckung mittels der Telegraphendrähte durch das Vereinigte Königreich; die Journale verehrten an der Spitze ihrer Spalten den Namen Hatteras' als eines Märtyrers, und England erhob ihn mit gerechtem Stolz.

Der Doctor und seine Gefährten wurden mit öffentlichen Festen geehrt, und sie wurden vom Lord-Kanzler in feierlicher Audienz Ihrer Königlichen Majestät vorgestellt.

Die Regierung bestätigte die Benennungen: Königin-Insel für den Felsen des Nordpols, Hatteras-Berg für den Vulkan, und Altamont-Hafen für den Hafen Neu-Amerikas.

Altamont trennte sich nicht mehr von den Genossen seines Elends und Ruhmes, welche seine Freunde geworden; er begleitete den Doctor, Bell und Johnson nach Liverpool, wo sie bei ihrer Rückkehr mit jubelndem Beifall begrüßt wurden, nachdem man sie längst für todt und im ewigen Eisgrabe bestattet glaubte.


Ein dänischer Wallfischfahrer nimmt die Reisenden auf. (S. 518.)

Aber der Doctor Clawbonny wies diesen Ruhm beständig dem zu, welcher ihn überall verdiente. In seinem Reisebericht: »Die Engländer und der Nordpol«, welcher im folgenden Jahre von der königlich Geographischen Gesellschaft herausgegeben wurde, führte er John Hatteras unter den größten Reisenden auf, als Nacheiferer der kühnen Männer, welche sich ganz dem Fortschritt der Wissenschaft als Opfer hingaben.

Indessen lebte dieses traurige Opfer einer erhabenen Leidenschaft friedlich im Genesungshause zu Sten-Cottage, nächst Liverpool, wohin sein Freund, der Doctor, ihn selbst gebracht hatte. Sein Irrsinn war von milder Art, [519] aber er sprach nicht, es mangelten die Begriffe, und mit der Vernunft schien ihm auch die Fähigkeit zu reden geschwunden zu sein. Ein einziges Gefühl knüpfte ihn noch an die Außenwelt, seine Freundschaft für Duk, der ihm ein treuer Gesellschafter war.

Diese Krankheit nahm dann ihren ruhigen Verlauf, ohne irgend ein besonderes Symptom, als dem Doctor Clawbonny, der seinen armen Kranken oft besuchte, sein Benehmen auffiel.

Seit einiger Zeit machte der Kapitän Hatteras in Begleitung seines [520] treuen Hundes, der ihn mit sanftem und traurigem Blick ansah, täglich stundenlang Spaziergänge, aber diese Gänge hatten unabänderlich dieselbe Richtung in einer gewissen Allee zu Sten-Cottage. War er am Ende der Allee angekommen, so kehrte er rücklings zurück. Wollte ihn Jemand anhalten, in wies er mit dem Finger auf einen bestimmten Punkt am Himmel. Wollte man ihn nöthigen umzukehren, so wurde er zornig, und Duk, der seine Gefühle theilte, bellte wüthend.


Auf der Heimfahrt durch den Belt. (S. 518.)

Der Doctor beobachtete achtsam diese bizarre Manie, und der Grund [521] dieser sonderbaren Hartnäckigkeit ward ihm klar; er errieth, weshalb dieser Spaziergang sich standhaft in derselben Richtung, so zu sagen, unter Einwirkung einer magnetischen Kraft er hielt:

Der Kapitän John Hatteras bewegte sich unabänderlich in nördlicher Richtung.

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TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Reisen und Abenteuer des Kapitän Hatteras. Reisen und Abenteuer des Kapitän Hatteras. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-7596-1