Auf dem Nachttisch
Graf A. Stenbock-Fermor ›Deutschland von unten‹ (bei J. Engelhorns Nachfolger in Stuttgart erschienen). Ein schönes und lehrreiches Buch. Gut illustriert ist es: auch bringt es erschütterndes Material über deutsche Heimarbeiter, über die Not des Landes, eine Not, die so gar nichts mit den ›Tributen‹ zu tun hat. Merkwürdig übrigens: wenn irgend ein nationaler Esel so ein Schlagwort in die Luft wirft, dann fangen es tausend andre auf. Also Stenbock.
Am besten hat mir das Kapitel über das Leuna-Werk gefallen.
Da hat er furchtbare Einzelheiten zusammengetragen: nämlich über die Ereignisse, die sich nach der Besetzung des Werkes durch die Weißen zugetragen haben. Die Weißen nannten sich »Vertreter der Ordnung«, und die Sache wurde so geordnet, daß drauf losgeprügelt, erschossen und kartätscht wurde – nach der Besetzung! nach der Gefangennahme der Leute! nachher! –, es war eine Lust zu leben. Untersuchungsausschuß des Preußischen Landtages: Sind Verstöße vorgekommen?
Und ob. Und ob. Jedoch ein Leutnant; »Ich habe meine Pflicht getan, aber wir sind alle Menschen.« Frage: Sind Erschießungen von Gefangenen vorgekommen? »Das ist bei mir nicht vorgekommen. Die es getan haben, müssen es verantworten und verantworten es auch.« Nämlich so: »Meine Herren, wenn Sie sich das durch den Kopf gehen lassen, wenn Sie sich in unsre Lage hineindenken wollen . . . und hinterher dieser Dank! Das tut weh, dann verliert man Lust und Liebe, in einer ähnlichen Angelegenheit vorzugehn.« Überschrift: Wenn wir [40] nicht tun dürfen, was wir wollen, dann macht uns der ganze Ordnungsdienst keinen Spaß. Den Arbeitern, denen man manches hat durch den Kopf gehn lassen, hats auch weh getan. Doch trösten wir uns:
Ein Abgeordneter: »Ich glaube, der Herr Zeuge ist über die Arbeit des Untersuchungsausschusses vollkommen im unklaren. Der Untersuchungsausschuß hat niemals Angriffe gegen die Schutzpolizei erhoben. Der Dank der Regierung wird sicherlich von dem ganzen Ausschuß geteilt, soweit wenigstens meine Partei in Frage kommt.« Na, dann ist ja alles in Ordnung. Auf Wiederschießen beim nächsten Mal!
Das nächste Mal wird gut vorbereitet, aber nicht so sehr von links, wie man dem Ausland gern glauben machen möchte, sondern durchaus und durchum von rechts her. ›Aufstand, Querschnitt durch den revolutionären Nationalismus‹. Herausgegeben von Goetz Otto Stoffregen. (Erschienen im Brunnen-Verlag Willi Bischoff in Berlin.) Erschienen und sogleich beschlagnahmt; wegen darin enthaltener Angriffe gegen die Justiz. Ich habe schon mal bösere Angriffe gelesen.
Eigentlich ist es nicht ritterlich, mit Gegnern zu polemisieren, die mundtot gemacht sind, wenigstens für diesen einzelnen Fall mundtot. Doch haben diese Jungen auf Ritterlichkeit keinen Anspruch – sie sinds ja auch nicht. Gegen solche Knaben kämpfe man mit der Holzkelle, nicht mit dem Florett.
In diesem Buch geht alles bunt durcheinander. Wirklich geistige Dinge und daneben der Jude Arnolt Bronnen; leeres Geschwätz und beachtliche Sätze über deutsche Kunst, alles nebeneinander. Auch etwas Lyrik. Die sieht so aus:
Haben Sie schon mal eine Fahne schlagen hören? Davor und dahinter völkische Theorie, und die lohnt anzusehn.
»Aufgabe der deutschen Nation in staatlicher Hinsicht ist es, den Raum zwischen Flandern und Burgund, Siebenbürgen und Dorpat zu gestalten und zu sichern und die ost- und südosteuropäischen Gebiete mit ihren« – hör zu! – »mit ihren zur Nationbildung ungeeigneten Völkern unter Wahrung des völkischen Eigendaseins ihrer Volkstümer dem politischen und wirtschaftlichen deutschen Machtbereich einzuordnen . . . Aufgabe des Reiches aber ist es, den Trägern der an keine Nation, kein Volk und keine Rasse gebundenen Deutschheit die Herrschaft zu übertragen, um das Erdreich Gottes zu gestalten.« Genau so dumm sagts die ›Tat‹ auch, nur mit ein bißchen andern Worten. Nun denke man sich einen völkischen Helden, der zufällig das Unglück hat, in der Tschechei geboren zu sein – dann gilt die ganze Volkheit nicht, denn sein Volk ist zur Bildung einer Nation nicht geeignet. Und das entscheiden jene mit ihrem schmutzigen Hals. Feine Leute. Schießen[41] zum Beispiel die belgischen Einwohner auf die Deutschen, so gehören sie an die Wand. Umgekehrt aber: »Der insurrektive Krieg ist die Grundlage einer Landesverteidigung, die den Einbruch des Feindes an der Grenze nicht sofort abfangen kann, sondern den eingedrungenen Heersäulen mit jedem Kilometer und von allen Seiten wachsende Gegenwehr entgegenstellen kann, so daß diese revolutionäre Landesverteidigung . . . « Und wundern sich, daß das Ausland ihr Vokabular nicht adoptiert, sondern das, was die Herren treiben und treiben wollen und treiben können, ganz anders benennt.
Soweit rechts. Von links: ›Wilhelm II.‹. Ein Film von Dosio Koffler (erschienen im Lucifer-Verlag in Berlin). Keine Sorge – dieser Film wird nie gespielt werden, der Autor weiß es. Denn das Kino ist eine Kleinkinderbewahranstalt, beaufsichtigt von Brillen, Stiftsdamen und einer Industrie, die niemals etwas gegen das Kapital spielen läßt. Das wäre ein Filmchen! Manches ist allzu eng nach Heinrich Manns ›Untertan‹ gearbeitet, so die Stelle auf Seite 29, wo sich der Untertan Willi und der Kaiser ansehn; manches ist weder filmisch noch gut, wie etwa die szenische Anmerkung: »Holsteins Amtsstube. Man hat das Gefühl dumpfer Hehlerluft.« Nee, eben nicht! Wie, glauben Sie, hats in dem Büro ausgesehn? Wie in jedem andern auch. Sehr gut ist der Abmarsch Wilhelms des Schicksalslosen über die holländische Grenze – ich hoffe, darüber das Nötige in einem Nekrolog sagen zu können. (Taktlos? Ich kann mich nicht besinnen, Herr Zwischenrufer, so zarter Rücksichtnahme bei der viehischen Ermordung Liebknechts begegnet zu sein. Taktlos? Wer geht denn mit uns sanft um?) In einem Nekrolog will ichs sagen. Den der liebe Gott noch lange hinausschieben möge, lang lebe der König! Denn dieser Mann kann gar nicht spät genug sterben; je später, um so unbeachteter wird er dahingehn. Sein Tod wird in seinem Leben das einzige sein, das er mit Napoleon gemeinsam hat: auch dessen Tod war, nach Talleyrand, kein Ereignis, er war eine Nachricht.
Fedor Vergin ›Das unbewußte Europa‹ (erschienen bei Heß & Co. in Wien). Ach, da gehts aber zu! So klug, und so freudianisch und überhaupt sehr gebildet aus zweiter Hand. Dabei stehen in diesem Essayband sehr vernünftige Bemerkungen über Europa – wenn nur für solche Art Schriftsteller Freud nicht gelebt hätte! Sehr gescheite Sätze über die Engländer: »Sie sind einfach da, ihr So-Sein genügt ihnen restlos. Sie streben gar nicht, anders zu sein. Sie reformieren im kleinen gern und mit Humor, sie doktern an sich immer ein wenig herum, aber sie werden niemals ihre psychischen Ideale aufgeben. Darin sind sie sich einig wie kein andres Volk auf Erden.« Und: »Der englische Humor der Selbstpersiflage, so kennzeichnend für den normalen Engländer, hat in einem so unkritischen Volk wie dem deutschen, das über sich selbst stets falsche Ansichten hegt, trotzdem es sich ständig ein Problem ist, die verheerende Wirkung ausgelöst, daß [42] man die englische Selbstkritik todernst nahm und generalisierte.« Und so noch manches Mal. Was hingegen über die Franzosen da steht, ist milder Wahnwitz. »Der sadistische Nordfranzose im Apachentanz, wobei eine Frau von einem Banditen mit dem Messer zerstochen wird . . . « also das ist Cabaret in Duisburg, sicher sehr schön, aber Duisburg. Auch daß der französische Sparsinn nichts als Sadismus sei, höre ich zum ersten Mal. »Der französische Nachkriegsnationalismus ist wesentlich sadistisch. Er ergötzt sich mangels Zahlungen von Reparationen an der Qual des Opfers . . . « Ich habe fünf Jahre in Frankreich verbracht, ich fahre fast jedes Jahr dorthin, ich habe mit den Leuten zusammengelebt, und ich darf aus tiefster Erfahrung sagen: dies ist heller Blödsinn und nichts als Stammtischgeschwätz, pseudowissenschaftlich frisiert. Merkwürdig bei einem Mann, der immerhin so viel politische Einsicht hat, daß er erkennt: »Die neuen Nationalstaaten Osteuropas sind seelische Nachfolger der altösterreichischen Politik, an der Deutschland naiv zugrunde ging. Der Franzose ahnt nicht, was eigentlich Mazedonien, was Siebenbürgen bedeutet.« Ah, das ist etwas anders. Die immense Schuld Frankreichs, insbesondere Clemenceaus, an diesem neuen, gefleckten und geflickten Europa – das ja. Aber Sadismus gegenüber Deutschland, das nein.
Über Deutschland vermeldet der Autor gute Sachen. »Antisemitismus würde beispielsweise fortbestehen, wenn es längst keinen Juden mehr in Deutschland gäbe. Seelisch fühlt sich das große Kind immer haßerfüllt gegen einen fiktiven Eindringling und Bedroher seiner Mutter: dem nationalen Gebiet . . . Das vom Nationalismus benötigte Haßobjekt sind Juden oder Nachbarvölker, die natürlich immer bedrohen.« Sehr gut diese Bemerkung – hört es, ihr völkischen Beobachter! –: »Jeder, der anno 1914 gut bürgerliche, also gesittete Frauen in allen Kulturländern beobachten konnte, wie sie sich über Nacht in Prostituierte der Begeisterung verwandelten . . . « das sollte man sich merken. Sehr gut auf Seite 308 eine fundierte Darlegung dessen, was man auch bei einem Richter und einem Staatsanwalt als ›Seele‹ bezeichnet. »Man straft so gern andere für das, was man sich selbst nicht gönnt.« Das Buch hat Perspektiven, keine großen, viele falsche, aber immerhin.
Bliebe als vorletztes ein merkwürdiges Ding von einem Buch. ›Erlebtes. Erstrebtes. Erreichtes‹ von Franz Oppenheimer (erschienen im Welt-Verlag zu Berlin). Ganz so schlimm, wie ich es mir nach dem Vorabdruck gedacht habe, ist es nicht geworden – aber peinlich ist es immer noch. Es bleibe gänzlich außer Betracht, was dieser Nationalökonom in seinem Fach bedeutet, das steht auf andern Blättern. Er gibt hier seine Lebensgeschichte.
Dieser Mann – und nur deshalb bespreche ich das Buch – besitzt in höchstem Maße etwas, was ich die ›indirekte Eitelkeit‹ nennen möchte.
Er sagt, außerhalb seines Faches, niemals: Ich bin ein großer Mann, [43] ich bin ein fabelhafter Kerl, – wenigstens sagt er das nicht direkt. Aber er hat auf allen seinen Freunden Reflektoren angebracht, die ihn beleuchten, und er hat nur bedeutende Freunde. Kennt ihr solche Menschen, die ununterbrochen im Munde führen: »Mein Freund Leopold, einer der größten Halsärzte Frankfurts . . . «? Andre als größte kennt diese Sorte gar nicht. Was in das Lichtfeld von Oppenheimers Leben tritt, ist: der bedeutendste, der größte, der bekannte, der beste, der schönste . . . merkwürdig. Von diesen Schwänen aber mag ein gut Teil Gänse sein. Ich habe diese Art von Eitelkeit schon öfters angetroffen. Hermann Bahr hatte sie im höchsten Grade; Rathenau, in einer andern Kulör, auch, nur war der zu kalt, um mit seiner Eitelkeit Menschen zu begnaden, er spiegelte sich in Sachen. Es ist jene Eitelkeit, die den eignen Freundeskreis lächerlich aufbläht und seine Bedeutung auf das unsinnigste überschätzt. Wenn nun eines dieser Privat-Genies auch außerhalb des Kreises nur einen kleinen Erfolg hat, so nuckeln alle mit dem Kopf: »Na natürlich. Das haben wir ja immer gewußt. Unser Anton . . . aber das ist doch ein Genie, wußten Sie das nicht?« Und dann wird auch der mittlere Erfolg des Herrn Anton vergrößert und aufgepustet und bis an die Wolken gehoben; sie können sich gar nicht lassen vor Entzücken, daß einer der ihren nun wirklich Privatdozent ist oder Regierungsrat, oder daß er einen Orden bekommen hat . . . sie machen aus Serienfabrikaten handwerkliche Prachtstücke. Und es ist alles nicht wahr.
Eine facettierte Eitelkeit, von Oppenheimer bis herunter zu den weiblichen wiener Schmöcken, es ist immer dieselbe: »Ich kann Ihnen in Oslo meinen Freund Gunnar empfehlen, das ist der bedeutendste norwegische Journalist.« Und dann bist du in Oslo, und dann ist Herr Gunnar ein braver und brauchbarer Mann, wie zehn andre auch. Oppenheimer ist ein Narziß, der sich in Menschen spiegelt.
Er hat also den Krieg erlebt. »Ich war dicht daran, mich als alter Alpinist bei einem Alpenkorps zu melden. Aber ich war damals zwanzig Jahre aus aller Praxis heraus (Oppenheimer ist früher Arzt gewesen) und hätte mindestens einige Monate auf Wiederholungskurse verwenden müssen, um nicht mehr Schaden als Nutzen zu stiften; denn ich hätte selbstverständlich die Leitung eines Lazaretts übernehmen müssen.« Warum? Warum hätte er nicht in bescheidener Weise wie hunderttausend andre mitmachen können? Dann hätte ihm der ganze Krieg keinen Spaß gemacht.
So ging er damals umher, verfertigte Denkschriften, machte sich, wie er angibt, nützlich, und, wie er nicht angibt, recht wichtig, und das Ganze ist und bleibt peinlich. Bis zu diesen letzten Kapiteln kann man nicht sagen, daß dieser ehemals aktive Burschenschafter so etwas wie das Kreuz seines Judentums mit sich schleppe – aber dann schleppt ers eben doch. »Zur Rechten Hindenburgs saß der greise General, der den [44] Liebesgabenzug hergebracht hatte, zu seiner Linken ich als der Altere von uns beiden, mir zur Linken Ludendorff und an dessen Seite mein Kollege Bodenheimer. Mir gegenüber saß ein Herzog von Sachsen, ganz unten an der langen Tafel der jüngste Prinz von Preußen unter den Leutnants.« O du seliger Untertan.
Kommt hinzu, daß diese gradezu groteske Eitelkeit eigentümliche Wellen schlägt. Der Mann spricht immer von »seinem« Berlin; »mein Freiburg«, sagt er, »mein Liliencron« und einmal sogar, von der Erfindung: »mein elektrisches Licht«. Er erinnert in manchem an diese geblähten Privatdozenten aus Heidelberg oder Göttingen; wenn man denen zuhört, wundert man sich immer, daß es überhaupt noch so etwas wie ein Welträtsel gibt, es ist doch alles schon längst gelöst, nämlich von dem Betreffenden, oder von seinem Freund oder eben von ›seinem Kreis‹, Und dann kommst du hin, und dann ist es gar nichts oder wenig, und die Welt pfeift auf Göttingen und auf Heidelberg, und es ist, wie Salomo sagt, alles eitel.
Zum Schluß wollen wir uns ein Bildermäppchen ansehn.
›Blutproben‹. Zehn Stiche von Johannes Wüsten (erschienen bei der Volksbühnen-Verlags- und Vertriebs-G. m. b. H., wie kann man nur so heißen! in Berlin NW 40, Platz der Republik 7). Das Heftchen enthält Reproduktionen. Schade, daß sie so nackt herausgekommen sind; das kleine Motto, das Wüsten jedem Blatt vorangesetzt hat, ist allemal sehr treffend – aber textieren hätte das Erich Kästner sollen. Es ist wie für ihn gemacht.
Man denke sich eine Mischung von: Willi Geiger, Grosz, Kubin . . . so etwa. Und doch durchaus eigenartig. Und böse, herrlich böse – böse aus enttäuschter Güte. Die drei Betschwestern sind eine blanke Freude; die Trauung ist ein Juwel; das Blatt›Tot‹ reicht in sehr mysteriöse Tiefen, und die›Elegie‹ habe ich mir einrahmen lassen. Hier eben fehlt Kästner. Es ist ganz großartig.
Leicht hat es Wüsten nicht. Er lebt in Görlitz; seine Radierungen waren dort ausgestellt, aber plötzlich zog die Museumsleitung drei Blätter zurück. Die hießen, wie der Zufall spielt: ›Andacht‹ und›Trauung‹ und ›Heilsarmee‹, indem den Görlitzern etwas Religion erhalten bleiben muß. Wüsten schreibt mir: »Man liest oft, daß der Künstler in der Provinz noch so etwas wie eine kulturelle Aufgabe habe. Wer die erfüllen will, muß jetzt Wartburgbilder malen und die Königin Luise verehren.« Wüsten malt weder das eine noch verehrt er die andre, und das macht nicht beliebt.
Der Mann verdiente bekannter zu sein, als er es ist – in dem steckt etwas. Laßt euch das Heftchen einmal kommen. Es wird euch viel Freude machen.