Die Kegelschnitte Gottes

Doch welch grauenhafte Anspannung all diese Monate; immer in einen Block von ›Selbst‹ geschlossen – belagert von Gemeinheit, nie verströmend an ein Ebenbürtiges ausruhen dürfen . . .


Wie mir wohlwollende Bankdirektoren oft während einer Verdauungspause versichern, »schreit diese Zeit gradezu nach Satire«. Aber außer dem Geschrei »Juden raus!« und »Wie steht der Dollar?« habe ich noch nichts Rechtes gehört – wie genau ich auch in die Zeit hineingehorcht habe. Nein, nach Satire schreit diese Zeit nicht.

Aber wir schrieen, leidend unter der Zeit, bliebe uns nicht der Schrei im Halse stecken. Und schrieen wir auch, des Hasses voll gegen das, was ist, und voll der Liebe für das, was fern ist und nicht ist – was hülfe es bei uns? Nicht ganz allein zu sein, ist schon ein kleiner Trost. Solamen miserum socios habere malorum . . .


Da ist ein Buch von Sir Galahad erschienen: ›Die Kegelschnitte Gottes‹ (bei Albert Langen in München). Es ist das Stärkste, was gegen diesen Kontinent in der heutigen Literatur zu finden ist. (Das wird der Verlag auf die Reklameschleife setzen – auch dies ist europäisch.) Die lächelnden Satiriker, die kleinen Pätschesverteiler, Herr Sternheim, dieser stärkste Beweis gegen sich selbst: all das versinkt neben dem meisterhaften Werk.

Das im übrigen als mäßiger und verworrner Roman bürgerlich-literaturhistorisch angemeldet sein mag. Warum grade diese Kunstform gewählt wurde, weiß ich nicht. Schon, daß man das Gefühl hat, sie sei eben nur ›gewählt‹, spricht gegen sie. Aber vermutlich hätte [346] die reinen Essays, die darin enthalten sind, niemand gelesen. Die meisten Bekämpfer dieses Haufens Europa sind seine Bestandteile mit umgekehrten Vorzeichen. Dieser Sir ist ein andrer.

Vielleicht projiziert er seine Liebe auf Indien, an dem sich heute jeder kenntnislose Schmock die Finger abwischt – aber welche Pagode kann für Ewers und welcher Skiläufer für Edschmid? Man fotografiert das, und damit basta. Vieles gefällt mir nicht in dem Buch – aber das ist kein Einwand: daß dieser Horus manchmal ein wenig Jules-Verne-Held ist, und daß er ein bißchen zu vollkommen ist, daß es alles so klappt, und daß mitten im Buch ein neues anhebt – darauf kommt es kaum an. Der Erkennende ist größer als der Gestalter. Aber das ist gleichgültig.

Ein Asiate kommt nach Europa. Und sieht es mit seinen gebildeten, unverbildeten Augen.

Das ist hundertmal gemacht worden. Aber nie mit solcher Kühnheit, mit so göttlicher Frechheit, nie mit so erhabener und erhebender Ehrfurcht, mit so viel Liebe und mit so viel Haß.

Die Transplanierung gefühlter Wahrheiten in ein Kunstwerk ist der Einleitung nicht ganz gelungen – das Buch, das ich meine, hebt auf Seite 131 an:›Europa naht‹. Es naht in Gestalt von Policemen, die der Inder gar nicht für die Europäer hält, von denen er so viel gelesen hat: »Eigentlich war da nur ein Streifen Haut im Nacken übrig; wo der harte Stoffring dran rieb, hatte der eine ein aufbrechendes, der andre ein abheilendes Furunkel. Sonst war hinten nichts Lebendiges an ihnen frei sichtbar.« Und dann setzt Horus den Fuß auf den Boden dieser Welt.

Das erste, was ihm auffällt, sind: die Augen. »In diesen Gesichtern war ein Blick: sauer und hölzern, der nicht sah. Als würde die ganze Umwelt absichtlich in den gelben Fleck der Netzhaut gerückt.« Vielleicht um all das nicht sehen zu müssen, fährt er fort – und nun folgt eine Schilderung unsrer Architektur, unsrer Straßen, unsrer Kleidung, wie ich sie geistvoller, ätzender, vernichtender noch nicht gelesen habe. Wunderbar, wie in diesem Gemisch von »Kolosseen, Kommis und Kulissen« in einer Galaprachtvorstellung der Sarah Bernhardt nur zwei Dinge als wirklich echt gepriesen werden: das Spinnennetz in einer Logenecke und das Kunstbein der Tragödin. Die glatt funktionierende Prothese als Natur in der Unnatur – das ist diabolisch. Und Horus geht durch die großen Hotels und die großen Städte. Und sieht.

Besseres ist gegen seelenlose Zivilisation nie gesagt worden. Eine Fülle von Erscheinungen im Brennglas gefangen, und über allen ein Spruch, dessen Essenz immer wiederkehrt: »Warum verwechselt der Europäer Grelle, Lärm und Gestank mit Freude?« Warum? Es wird gezeigt.

Wie die Zeitung diese Welt in die Zeitung einwickelt (»Den Raubmord [347] von heute gierig schwingend, den Raubmord von gestern achtlos um den Leberkäs gewickelt«) – wahr! wahr! Da hat neulich der Bericht eines aus dem Gefängnis entlassenen Volksschullehrers wörtlich so angefangen: »Sechs Monate ohne Zeitung . . . !« Das war offenbar das Schlimmste.

Wie Plakate die Seele vertreten (»An den Wänden lapidare Beflegelungen des Publikums«); wie ein artfremder Fetisch leere Sonntagsvormittagsstunden füllt (»Als alles vorbei war, schienen sie unsäglich befriedigt, sich zwei Stunden lang unbehaglich gefühlt zu haben«); und vor allem: wie entsetzlich unfrei das Ganze ist. Die Tragik eines Trottels im selbstgebauten Käfig kann nicht besser geschaut werden.

Die »Sklaventrauben vor den Tausenden von Schaltern« – Wie ist das gesehen! Mit welch unsäglicher Verachtung ist dieser lächerliche Amtsbetrieb größenwahnsinnig gewordener Spießer gemalt: »Im Polizeigebäude hingen an verwanzten Wänden schwachsinnige Zettel in Rahmen herum: ›Wir wollen helfen, nicht strafen‹ – und ähnlicher Fibelschund.« Wie großartig ist festgestellt, daß der vor dem Schalter und der hinter dem Schalter ja ein und derselbe sind – und daß jener auf diesen nur schimpft, weil er zufällig davor und nicht dahinter hockt. Wie ist die Verprügeltheit dieser ›Verwalteten‹ gesehen! Und wie ist die Freudlosigkeit dieses ganzen Betriebs aufgefangen – kann es kürzer und besser gesagt werden als so: »Frauen, Angst um anbrennende Milch in den Augen«? Horus durchwandert die große und die kleine Welt. Und sieht.

Sieht, wie die Mystik zahnbürstengleich verschleißt wird, wie sich statt echter Religiosität und Ehrfurcht im Vorderhaus Herr Keyserling und im Hinterhaus Okkultisten breit machen, wie alle glauben, alles durch den ›Betrieb‹, durch die ›Organisation‹ erreichen zu können, und wie keiner das erste, das einzige ahnt. »Cäsarenwahn des Mobs züchtet ihr, statt ihm zu sagen: anders werden, zuerst und vor allem um Gotteswillen anders werden, dazu wollen wir euch helfen, aber da flögt ihr schön aus euern Mandaten heraus!«

Gepeitscht wird diese Zivilisation. Am witzigsten wohl die Ärzteschaft, dieses überschätzteste Volk unter der europäischen Sonne. Alles, was Shaw jemals über sie geschrieben, ist matt wie eine Limonade gegen dieses hier. Eine alte fette Fürstin sagt als Räsonneurin das ihrige. »Unmöglich, eine andre als die momentan moderne Operation zu bekommen . . . In jedem Dampfbad können Sie an Art und Lagerung der Schnitte die ärztlichen Moden der letzten Generationen studieren. Jahresringe der Wissenschaft am Bauch der Frau.« Und dann dieses, das Schärfste vor allem: »Nu, und die Asepsis, Fürstin – wollen Sie auch nörgeln an unsrer Asepsis?« – »Nein, denn sie ersetzt den Juden den Katholizismus. Man muß das nur gesehen haben, was ihr da treibt, ihr profanen Pfaffen des Leibes – bei einem der [348] hohen Infektionsfeste: etwa Scharlach. Was da für ein hieratisches Zeremoniell entfaltet wird: die weißen Weiberröcke der zelebrierenden Ärzte – das Lysolopfer – der Bakterienexorzysmus – die symbolischen Waschungen. Wie Ostern in Rom.«

Satire? Er peitscht die Opfer zu Tode. In Europa darf nicht im Freien, sondern nur »im Unfreien« übernachtet werden, stellt Horus fest. Ein Säbel fällt in einen Spucknapf, wo er als »zuständige Waffe« stecken bleibt. Einer spricht ein »gepflegtes Galizianisch«. Ein Café wird geschildert, »wo Rudel halbwüchsiger Mädchen hereinlärmten, jede Geste ein: Hurra, wir sind defloriert; Ordinärität mit Temperament verwechselnd. Ab und zu kam eine Dämonin, totschwarz, entblößte einen Raubzahn, snobte auf Morphinistin, aß dann aber doch mit Behagen zweimal Schlackwurst mit Kraut« (also noch über der Orska). Von einem Ungarn wird gesagt: »Er aß schon mit den Händen, stahl aber offenbar noch mit allen Vieren.« Von jungen Mädchen auf dem Ball: »Die jungen Mädchen wanden sich im Tango wie Würmer an unsichtbarer Angelschnur, die von den Lorgnons der Mütter hing. Knapp vor dem Allerletzten schien diese Schnur immer mit einem Ruck anzuziehen, und die Begattung ging fehl.«

Und wie gezeigt wird, daß in diesem Trubel das einzig Echte die Tiere sind, weil sie fast unverbildet sich erhielten –! Fast schmerzhaft sind diese scharfen Formulierungen – sie dampfen vor Haß und sind fugenlos, aus härtestem Stahl gearbeitet. Da ist eine Schilderung der oberbayerischen Bevölkerung, ganz einzig und völlig jenes grausame Wort eines großen Malers rechtfertigend: »Der Münchner ist der Übergang vom Menschen zum Tiroler.« Und ist unser ganzer Ruhrrummel nicht in diesen Worten eingefangen: »Temperamentlose Wut aus eiskaltem Schweinespeck gebar zuerst Moralsadismus«?

Alles ist in diesem Buch: die irrsinnige Architektur und ihre Mißverständnisse (»Wäre ich eine Turbine, ließe ich mich von Peter Behrens einrichten«), diese sinnlose Überschätzung der Musik (»Der Blinde hört gut« und»Schlappschenklig sitzen, dösend rezipieren, ohne daß die dicken Augenlider dabei aufgehen müssen . . . «) – es gibt nichts, worauf diese Welt stolz ist, das hier nicht bis ins Mark getroffen wäre.

Und über allem ein Schrei: Sie sehen nicht! Sie sehen nicht! Alles sitzt im gelben Fleck der Netzhaut! Sie sehen nicht!


In diesem Buch ist eine tiefe Tragik.

Jene Zivilisation, die Sir Galahad so zerstäubt, leuchtet in den Anilinfarben der Euphorie. Sie ist nicht von einer tiefem Erkenntnis überwunden, sondern wird in Vergessenheit geraten, abgelöst von einer Barbarei, die nicht einmal zu sich selbst Mut hat, sondern sich die ethische Berechtigung mit Schlagworten einer alten Terminologie erborgt.

[349] Aber man schämt sich fast, gegen dieses Judentum, gegen diese Marke Zivilisation, gegen diese Maschinenethik anzugehen, da sie noch Edelwuchs und feinster Adel sind gegen das, was da auf der andern Seite heraufzieht. Die ›Kegelschnitte Gottes‹ sind weit, weit darüber hinaus – die andern sind ja noch nicht einmal so weit wie die Objekte dieser Satire. Der ärgste Kapitalist ist eine Rettung gegen das andre.

Dieses Reich, das über kurz oder lang zerfallen dürfte und sich in eine Reihe mühselig konstruierter Kleinstaaten auflösen wird, die ihrerseits gemütvolles deutsches Mittelalter mit schlecht funktionierenden Wasserklosetts spielen werden, dieser Haufe von Statisten aus einer Wagner-Oper, denen die gebügelten Hosen aus den Kostümen herausgucken – all das steht ja weit, weit hinter dieser mit Recht so bespöttelten Zivilisation. Wir sind ein Agrarstaat: und die Kartoffel wuchert in den Gehirnen. Wir sind ein Industriestaat – und die Maschine scheppert in den Adern. Und diese neuen Kleinstaaten, die sich sehr bald Regierungen zulegen werden, wie sie dem Geisteszustand ihrer Bewohner entsprechen, werden sich zu dem Deutschland des Überkommis Wilhelm mit seinen Marmortoiletten Kempinskis verhalten wie die finstersten Kongo-Neger zu einem Inka-Reich der Sonne, Warte nur, balde –!

Das versucht heute, mit Sport die mißgestalteten Körper zu verbessern. Aber aus freiem Spiel ist eine Sportbörse geworden, wo die Rekorde wie die Papiere steigen und fallen. Es mag ja, opportunistisch betrachtet, sehr ›förderlich‹ sein, wenn der Buchhalter seinen ausgesogenen Körper sonntags etwas auslüftet: ich kann mir nur bei einem vereinsmäßig erfaßten und behördlich überwachten Spiel nicht viel denken – der stabspringende Versicherungsbeamte und der diskuswerfende Prokurist spielen angeblich ein griechisches ›Stadion‹.

Nicht mehr Asien und noch nicht Amerika – nie mehr Asien und wahrscheinlich nie Amerika, belastet mit Gemüt und unbeschwert von Seele, nicht niedergefahren zur Hölle, nicht wiederauferstanden, taumelnd und bewegungslos, ewig brüllend und nichts sagend, dumpf, aber nie schweigend, stagnierend, aber nicht wachsend – so geht dieser Erdteil seinem Schicksal entgegen. Die Pausen werden durch die Spenglers ausgefüllt. Warte nur, balde –!

Die Wahrheiten dieses Buches leuchten. Sie sind echt und adelig geboren. Einer, der den Sir Galahad gut kennt, sagte mir einst: »Alles an ihm ist schön – sein Schreiten und sein Tun, seine Bewegungen und sein Ruhen.« Ich habe manchmal an ihm herumgenörgelt – für dieses Buch bitte ich ihm alles ab. Wäre es so verständlich geschrieben, daß man es auch in Pommern lesen könnte: vom Verlag Albert Langen stünde kein Stein mehr auf dem andern.

Der Haß der Minderbemittelten gegen die Vollkommenen ist [350] gigantisch. »Als schön«, steht in dem Buch zu lesen, »vermag der optisch Ungebildete nur den eignen Komparativ zu begreifen, lediglich, was einer im größern Grade als er selbst besitzt.« Jene selbstzufriedenen Rationalisten aber, die mit solchen Kritiken Laxin für ihre eigne Verstopfung einnehmen, sind gebeten, fern zu bleiben. Nein, auch ich gehe nicht so, wie ich gehen müßte. Auch ich lebe nicht so, wie ich leben müßte.

Selbsthaß ist der erste Schritt zur Besserung.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1923. Die Kegelschnitte Gottes. Die Kegelschnitte Gottes. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6578-8