Bänkelbuch

Das Genre ist nicht groß. Es sind immer wieder dieselben sechs oder acht, die diese leichten Verse machen, dieselben, die Spaß am Spaß haben und Freude an der Ironie. Dergleichen ist bei uns nicht so übermäßig beliebt. Darüber ragt steil die Hornbrille einer verstandesmäßig kühlen Lyrik, die keine ist, darunter riecht es nach dem Humor des Bieres, dem Jargon der Ställe und der Klampfe des Freikorps, dem Jeist der Reichswehr – und ganz zu unterst nach Arnolt Bronnen. Wir andern stehen in der Mitte.

Da steht denn also auch ein niedliches Büchlein, das ›Bänkelbuch‹ (erschienen bei E. P. Tal in Wien); herausgegeben hat es Erich Singer, der in dem Büchlein auch mit hübschen Versen vertreten ist. Das Buch ist eine Anthologie. Weil wir grade bei der Vorrede sind: da hat der Herausgeber, wie ich meine, einen kleinen Schwupper gemacht. »Er bedauert es sehr, daß es keinen Verführungskünsten gelang, den prinzipiellen Widerstand der Herren Joachim Ringelnatz und Bert Brecht zu beseitigen.« In dem Bedauern ist ein Unterton, der mir nicht gefällt. Er hat sagen wollen: »Ich habe sie aufgefordert – sie gehören hier hinein«, aber es klingt anders. Nicht die Herren Ringelnatz und Brecht waren eingeladen, sondern in Wahrheit ist immer der Herausgeber einer Anthologie bei uns zu Gast, was also hier – mit einem leichten Seitenblick auf den Leser: »Wie finden Sie diese Leute?« – geschieht, ist etwa so, wie wenn jemand Krach macht, daß er dort und dort nicht eingeladen ist. Ich verstehe den Widerstand der beiden sehr gut. Erstens ist er durchaus ihre Sache; zweitens geht das häufig so, [127] daß die Leser nur die Anthologie, nicht aber die Bücher der vertretenen Autoren kaufen . . . und es ist das Recht Brechts und Ringelnatzens, die bänkelbedürftigen Leser auf ihre zu diesem Zweck angefertigten Bücher zu verweisen. Dies nebenbei.

A wie Adler. Hans Adler. Ist das lange her . . . Da habe ich hier, noch vor dem Kriege, den›Simplicissimus‹ gefragt, warum er denn nicht diese reizenden kleinen Verslein, die öfter in ihm zu finden waren, gesammelt herausgäbe. In der Tat ist das geschehen; das Buch heißt ›Affentheater‹, die Verse sind noch dieselben, aber inzwischen muß etwas passiert sein. Ist ja wohl auch. Es stimmt mächtig melancholisch, das zu lesen. Immerhin: ein paar Verse bleiben haften – wenn auch der große Feuerwerksschein jenes Vierzeilers:


Wem es bestimmt, der endet auf dem Mist
Mit seinem edelsten Bestreben . . .
Ich bin zum Beispiel immer noch Jurist.
So ist das Leben.

nicht mehr den abendlichen Garten erhellt – die Entfernung von Mist und Jurist hat sich inzwischen leicht vermindert. Aber es sind doch hübsche Gedichtchen.

Dann hätten wir da Hermann Hesse, aus jener Zeit, da er noch nicht jeden Morgen ein Täßchen Galle trank, so den nicht sehr heiteren Anblick eines bejahrten Primaners bietend, der im Alter von fünfzig Jahren die Nutte entdeckt. Auch er hat schöne Gedichte in diesem Buch; seine Prosa steht weit darüber – so etwas wie ›Ohne dich‹ gibt es nun bei dem alten Liliencron viel, viel besser (›Stammelverse nach durchwachter Nacht‹).

K wie Kästner. Brillant. Da ist ›Jahrgang 1899‹, ein kleines Gedicht, in dem eigentlich alles über diesen Fall ausgesagt ist – mehr kann man darüber gar nicht sagen:


Man hat unsern Körper und unsern Geist
ein wenig zu wenig gekräftigt.
Man hat uns zu viel, zu früh und zumeist
in der Weltgeschichte beschäftigt!

Das ist Nummer eins. Es sind einige sehr gute, wenn nicht die besten Gedichte aus seinen Bänden (›Herz auf Taille‹ und ›Lärm im Spiegel‹, bei C. Weller & Co. in Leipzig) ausgewählt.

Aus der Gesamterscheinung dieses Mannes kann ich nicht ganz klug werden. Die Verse sind wunderbar gearbeitet, mit der Hand genäht, kein Zweifel – aber irgend etwas ist da nicht in Ordnung. Es geht mir manchmal zu glatt, das sollte man einem deutschen Schriftsteller [128] nicht sagen, dieses Formtalent ist so selten! – also sagen wir lieber: die Rechnung geht zu gut auf; sechsunddreißig geteilt durch sechs ist sechs, gewiß, na und? Ich kenne kaum ein einzelnes Gedicht, gegen das ich Einwände zu machen hätte . . . Ist es die Jugend? Aber grade das, was mir auffällt, ist kein Anzeichen von Jugend: es ist so etwas wie mangelnde Kraft; der dahinter steht, ist mitunter selber ›Jahrgang 1899‹. Ich will mich gern getäuscht haben: so einer verdient Förderung, Ei-Ei und Weitermachen.

Einige alte schöne Verse Kerrs. Einige alte, schöne Verse Klabunds – darunter jenes Gedicht, das, soweit ich mich erinnere, den Stil Blandine Ebingers bestimmt hat. »Und ick baumle mit die Beene, mit die Beene hin und her . . . « Blandinchen, du hast bei mir auf dem Tisch gesessen und hast es vorgemacht, und der kluge Friedrich Hollaender hat es gleich gesagt: »Sie hat ihren Stil gefunden.«

Alfred Lichtenstein, in Klammern Wilmersdorf: getötet im Jahre 1914.›Der Türke‹ und ›Der Fall in den Fluß‹ – diesen Fall von Lenchen Levi in den tiefen Fluß höre ich und sehe ich immer so, wie Kate Kühl ihn einmal gestaltet hat.

M wie Mehring – die stärksten Verse des Buches. Darüber haben wir uns neulich schon unterhalten.

Schickele . . . ja, wäre in Deutschland die ›kleine Form‹ nicht so verachtet: wer weiß, ob dieser nicht unser bester deutscher Journalist geworden wäre.›Schreie auf dem Boulevard‹ ist heute noch das weitaus überragendste, was in den letzten zwanzig Jahren über Paris geschrieben worden ist, und unter diesen Versen hier ist zum Beispiel ›Tragödie‹ – das ist Form, Kraft, Stärke, was ihr wollt.


Am Nebentisch im Café Anglais:
»Ich kann bloß leben in deiner Näh!«
– Det versteh ick nich.
»Für mich ist dein ältester Anzug neu.
Du gehst mit andern, ich bin dir treu.«
– Det versteh ick nich.

Schade, daß das nicht von mir ist.

T wie Tiger; darunter einige Jugendsünden, aber wir wollen sie lassen stahn.

Gleich dahinter das schönste ernste Gedicht des Bändchens: ›Einsam‹ von Berthold Viertel (zuerst veröffentlicht in der ›Fackel‹).


Wenn der Tag zu Ende gebrannt ist,
ist es schwer, nach Hause zu gehn,
wo viermal die starre Wand ist
und die leeren Stühle stehn.

[129] W wie Wedekind . . . wie sag ichs meinem älteren Abonnenten? Die Hälfte ist mausetot. Wer hats gleich gesagt? Franz Blei. Ja, aber Dunnerkiel, es hat doch Jugendgedichte von ihm gegeben, Gedichte, bei denen man das Blut in den Ohren rauschen hörte – . . . wenn aber dies hier einer liest, der nichts weiß von Herodes, der liest es nicht. Es liegt auch an der Auswahl. Es gibt stärkere Liköre auf dieser Schnapsorgel – wie kann man so etwas auslassen:


In der Esse fliegt der Hammer
im Cylinder auf und ab;
Gottfried in der Mädchenkammer
fliegt nicht minder auf und ab –

wenn einer ein Bänkelbuch macht: dies ist ein Bänkelsang.

W wie Weichberger, ein Dichter, den A. R. Meyer entdeckt hat, und daran hat er recht getan. Es gibt von ihm unter den alten ›Lyrischen Flugschriften‹ erschütternd komische Dinge; hier ist mein allerliebstes Lieblingsgedicht, eines, darin die deutsche Sprache selber dichtet, man hört ihr Herz puppern; das ist überhaupt nicht auf Papier geschrieben, das ist in den Blumentöpfen eines Balkons gewachsen . . .


Laß du doch das Klavier in Ruhe;
es hat dir nichts getan;
nimm lieber deine Gummischuhe
und bring mich an die Bahn –

Das wärs. Ein hübsches Buch.

Das Genre ist nicht groß. Daher denn auch alle Kritiker, die uns in die Finger bekommen, jeden, aber auch ausnahmslos jeden von uns mit Heine vergleichen. Das stimmt, für die Art – das stimmt gar nicht, im Größenverhältnis. Man tut Herrn Kästner oder Herrn Tiger auch keinen Gefallen damit. Denn es ist nicht mal ein Kompliment, sie mit Heine zu vergleichen – es ist einfach ein Zeichen literarischer Unbildung. Herr Kästner und Herr Tiger sind Talente: Heinrich Heine aber ist ein Jahrhundertkerl gewesen. Einer, dessen Liebes-Lyrik – mit Ausnahme der letzten Lieder – dahin ist; aber einer, der das Schwert und die Flamme gewesen ist, eine Flamme, die bis zu Nietzsche hinaufloderte. Wie schwach entwickelt muß der Bänkelsang bei den Deutschen sein, daß sie die Gesellen mit dem Meister vergleichen, der den Schmerz und die Todesahnung, die Wut und den Haß, die Liebe zur Heimat und den Abscheu vor dem Vaterland in Versen gesagt hat, die wie Flaumfedern flogen und wie schwere Minen einschlugen – nein, wie Verse! Die Zahl der deutschen Kriegerdenkmäler zur Zahl der deutschen Heine-Denkmäler verhält sich hierzulande wie die Macht zum Geist.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1929. Bänkelbuch. Bänkelbuch. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-64C3-6