[7] Die Rache ist mein,
Ich will vergelten.
[7] Die Rache ist mein,
Ich will vergelten.
Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich. Der ganze Haushalt der Familie Oblonski war in Unordnung geraten. Die Hausfrau hatte erfahren, daß ihr Mann mit einer französischen Gouvernante, die sie früher im Hause gehabt hatten, ein Verhältnis unterhielt, und hatte ihm erklärt, sie könne nicht länger mit ihm unter einem Dache wohnen. Drei Tage schon währte nun dieser Zustand, und er wurde sowohl von den Ehegatten selbst wie auch von den übrigen Familienmitgliedern und dem Hausgesinde als eine Qual empfunden. Alle Familienmitglieder und das Hausgesinde hatten das Gefühl, daß ihr Zusammenleben gar keinen Sinn mehr habe und daß in jeder Herberge die Leute, die sich dort zufällig zusammenfänden, in engerer Beziehung untereinander stünden als sie, die Mitglieder und das Gesinde der Familie Oblonski. Die Hausfrau verließ ihr Zimmer nicht; der Hausherr war zwei Tage lang nicht nach Hause gekommen. Die Kinder liefen im ganzen Hause wie verloren umher; die englische Miß hatte sich mit der Wirtschafterin gezankt und einen Brief an eine Freundin geschrieben, ob sie ihr nicht eine andere Stelle verschaffen könne; der Koch war schon gestern vor dem Mittagessen davongegangen; die Küchenmagd und der Kutscher baten um ihren Lohn, um den Dienst zu verlassen. Am dritten Tage nach dem Streite erwachte Fürst Stepan Arkadjewitsch Oblonski (Stiwa, wie er von seinen Bekannten genannt wurde) zur gewohnten Stunde, das heißt um acht Uhr morgens, aber nicht im gemeinsamen Schlafzimmer, sondern in seinem Arbeitszimmer auf dem Ledersofa. Er wälzte seinen gut genährten und gepflegten Körper auf dem Sofa ein paarmal hin und her, als ob er noch weiterschlafen wolle, umfaßte das Kopfkissen fest von unten her und drückte die Wange dagegen; plötzlich aber fuhr er in die Höhe, setzte sich auf dem Sofa aufrecht hin und öffnete die Augen.
›Ja, ja, wie war das doch nur?‹ dachte er, indem er sich auf seinen Traum zu besinnen suchte. ›Ja, wie war das doch nur? [7] Ja! Alabin gab ein Diner in Darmstadt; nein, nicht in Darmstadt, es war irgendwo in Amerika. Ja, aber Darmstadt lag dabei in Amerika. Ja, Alabin gab ein Diner auf gläsernen Tischen, ja, – und da waren solche kleine Likörflaschen, die sangen: Il mio tesoro 1, oder vielmehr nicht Il mio tesoro, sondern ein noch schöneres Lied, und auf einmal waren die Likörflaschen Weiber‹, erinnerte er sich.
Stepan Arkadjewitschs Augen leuchteten fröhlich auf, und lächelnd überließ er sich seinen Gedanken. ›Ja, schön war es, sehr schön. Es war auch sonst noch viel Vergnügliches dabei; aber wenn man aufgewacht ist, kann man es sich nicht mehr in Gedanken klarmachen und es nicht mit Worten ausdrücken.‹ Und als er einen Lichtstreifen bemerkte, der sich an dem einen Fenster neben dem Stoffvorhang ins Zimmer stahl, hob er in heiterer Stimmung die Beine vom Sofa herunter, suchte mit ihnen nach den goldfarbenen Saffianpantoffeln, die ihm seine Frau gestickt und im vorigen Jahre zum Geburtstage geschenkt hatte, und streckte nach alter, neunjähriger Gewohnheit, ohne aufzustehen, die Hand nach der Stelle aus, wo im Schlafzimmer sein Schlafrock zu hängen pflegte. Dabei kam es ihm auf einmal zum Bewußtsein, daß und warum er nicht in dem gemeinsamen Schlafzimmer geschlafen hatte, sondern in seinem Arbeitszimmer; das Lächeln verschwand von seinem Gesichte, und er runzelte die Stirn.
»Ach, o weh, o weh!« stöhnte er, da ihm alles Vorgefallene wieder ins Gedächtnis kam. Und vor seinem geistigen Blicke erschienen wieder alle Einzelheiten seines Streites mit seiner Frau und die ganze Mißlichkeit seiner Lage und, was ihn am allermeisten quälte, seine eigene Schuld.
›Ja, das wird sie nicht verzeihen und kann sie nicht verzeihen. Und das Schauderhafteste dabei ist, daß ich selbst an alledem schuld bin; – ich bin an alledem schuld und kann doch eigentlich nichts dafür. Das ist das Tragische bei der Sache‹, dachte er. »O weh, o weh!« sagte er verzweifelt vor sich hin, in Erinnerung an jene Einzelheiten des Streites, die auf ihn den stärksten Eindruck gemacht hatten.
Am unangenehmsten war jener erste Augenblick gewesen, als er, heiter und zufrieden aus dem Theater heimkehrend, seine Frau, für die er eine gewaltig große Birne in der Hand trug, zu seinem Erstaunen weder im Salon noch in ihrem Zimmer vorgefunden und endlich im Schlafzimmer erblickt hatte, in der Hand den unglückseligen Brief, der alles verraten hatte.
Sie, die sonst stets sorglich geschäftige und seiner Ansicht nach etwas beschränkte Dolly, hatte mit dem Briefe in der Hand [8] regungslos dagesessen und den Eintretenden mit einer Miene des Schreckens, der Verzweiflung und des Zornes angeblickt.
»Was ist das hier? Was ist das?« hatte sie, auf das Schreiben deutend, ihn gefragt.
Als peinlich und beschämend empfand Stepan Arkadjewitsch bei dieser Erinnerung, wie das oft so geht, weniger den Vorfall selbst, als vielmehr die Art, wie er auf diese Worte seiner Frau geantwortet hatte.
Es war ihm in diesem Augenblick ergangen, wie es nicht selten Leuten ergeht, die unversehens auf einer recht schmählichen Tat ertappt werden. Er hatte es nicht verstanden, seine Miene der Lage anzupassen, in die er seiner Frau gegenüber durch die Aufdeckung seines Vergehens geraten war. Anstatt den Gekränkten zu spielen, zu leugnen, sich zu rechtfertigen, um Verzeihung zu bitten oder auch einfach nur gleichgültig zu bleiben (alles dies wäre besser gewesen als das, was er in Wirklichkeit getan hatte), statt dessen hatte sein Gesicht ganz unwillkürlich (›Reflexe des Gehirns‹, dachte Stepan Arkadjewitsch, der sich gern ein bißchen mit Physiologie abgab) sich zu seinem gewohnten gutmütigen und daher in diesem Falle dummen Lächeln verzogen.
Dieses dumme Lächeln konnte er sich nicht verzeihen. Beim Anblicke dieses Lächelns war Dolly wie infolge eines körperlichen Schmerzes zusammengezuckt, hatte mit der ihr eigenen Heftigkeit einen Strom scharfer Worte hervorgesprudelt und war aus dem Zimmer geeilt. Seitdem hatte sie ihren Mann nicht mehr sehen wollen.
›An alledem ist dieses dumme Lächeln schuld‹, dachte Stepan Arkadjewitsch.
›Aber was ist zu machen? Was ist zu machen?‹ fragte er sich in seiner Verzweiflung und fand keine Antwort darauf.
1 Mein Schatz.
Stepan Arkadjewitsch war sich selbst gegenüber stets aufrichtig und wahrheitsliebend. Er war unfähig, sich selbst zu betrügen und sich einzureden, daß er das Getane bereue. Zur Zeit war er nicht imstande, Reue darüber zu empfinden, daß er, ein vierunddreißigjähriger, hübscher, liebeslustiger Mann, nicht mehr in seine Frau verliebt war, die ihm fünf noch lebende und zwei bereits verstorbene Kinder geboren hatte und nur um ein Jahr jünger war als er selbst. Das einzige, was er bereute, war, daß er es nicht besser verstanden hatte, seiner Frau die Sache zu verheimlichen. Aber er empfand in vollem Umfange die [9] Mißlichkeit seiner Lage und bedauerte seine Frau, die Kinder und sich selbst. Vielleicht hätte er sich auch erfolgreicher bemüht, seine Sünden vor seiner Frau zu verbergen, wenn er geahnt hätte, daß diese Nachricht auf sie so stark wirken würde. Klar nachgedacht hatte er über diesen Punkt allerdings nie: aber er hatte die undeutliche Vorstellung gehabt, seine Frau ahne schon längst, daß er ihr untreu sei, sehe aber dabei durch die Finger. Er war sogar der Ansicht, eine schon so welke, gealterte, bereits unschöne Frau, die nichts Besonderes an sich habe, sondern lediglich eine einfache, brave Familienmutter sei, müsse aus einer Art von Gerechtigkeitsgefühl heraus sich nachsichtig zeigen. Und nun hatte er gerade das Gegenteil davon erlebt.
›Schauderhaft! O weh, o weh, schauderhaft!‹ sagte Stepan Arkadjewitsch einmal über das andere vor sich hin, ohne daß er einen Ausweg ersinnen konnte. ›Und wie nett war alles bisher, wie gut haben wir miteinander gelebt! Sie war zufrieden und glücklich über ihre Kinder; ich kam ihr in keiner Weise in die Quere und ließ sie bei den Kindern und beim Hauswesen herumwirtschaften, wie sie wollte. Freilich, daß »sie« in unserem Hause Gouvernante gewesen ist, das ist übel. Das ist übel. Es liegt immer etwas Gewöhnliches, Unwürdiges darin, wenn man einer Gouvernante der eigenen Kinder den Hof macht. Aber was ist diese Gouvernante auch für ein Weib!‹ (Er erinnerte sich lebhaft an Mademoiselle Rolands schwarze Schelmenaugen und an ihr reizendes Lächeln.) ›Aber solange sie bei uns im Hause war, habe ich mir ja auch nichts erlaubt. Das Schlimmste ist, daß sie jetzt ... Das muß auch alles wie mit Absicht gleichzeitig über mich hereinstürzen! O weh, o weh! Aber was in aller Welt soll ich nun tun?‹
Eine Antwort gab es darauf nicht außer jener allgemeinen Antwort, die das Leben auf alle Fragen gibt, selbst auf die verwickeltsten und unlösbaren. Und diese Antwort lautet: Man muß sein Leben ausfüllen mit dem, was der Tag bringt und fordert, das heißt, man muß dadurch zu vergessen suchen. Aber durch Schlafen und Träumen Vergessenheit zu suchen, das war nicht mehr möglich, wenigstens nicht vor der nächsten Nacht; es ging nicht mehr an, zu jenem musikalischen Genusse, dem Gesange der Likörflaschen, die dann auf einmal Weiber waren, zurückzukehren. Also mußte er Vergessenheit suchen in der Ablenkung, die das Leben mit sich brachte.
›Na, es wird sich ja bald zeigen‹, sagte Stepan Arkadjewitsch zu sich selbst, stand auf, zog den grauen, mit blauer Seide gefütterten Schlafrock an, schlang die in Quasten ausgehenden [10] Schnüre zu einem Knoten zusammen, sog in kräftigen Atemzügen die Luft in seinen breiten Brustkasten, trat mit dem gewohnten munteren Schritt der auswärts gerichteten Füße, die seinen vollen Körper so leicht trugen, zum Fenster, hob den Vorhang auf und klingelte laut. Auf das Klingeln trat sogleich sein altvertrauter Kammerdiener Matwei ins Zimmer, der die Kleider, die Stiefel und ein Telegramm brachte. Hinter Matwei kam auch der Barbier mit seinem Rasiergerät herein.
»Sind Akten von der Behörde gekommen?« fragte Stepan Arkadjewitsch, indem er das Telegramm nahm und sich vor den Spiegel setzte.
»Sie liegen im Eßzimmer auf dem Tische«, antwortete Matwei und richtete einen fragenden Blick voller Teilnahme auf seinen Herrn; dann, nach einer kurzen Pause, fügte er mit einem schlauen Lächeln hinzu: »Es ist jemand von dem Fuhrherrn hier gewesen.«
Stepan Arkadjewitsch gab keine Antwort und blickte nur im Spiegel nach Matwei hin; an den Blicken, mit denen sie sich im Spiegel trafen, konnte man sehen, wie gut sie einander verstanden. Stepan Arkadjewitschs Blick fragte gleichsam: ›Wozu sagst du das? Weißt du etwa nicht, wie's steht?‹
Matwei steckte die Hände in die Taschen seiner Jacke, setzte den einen Fuß ein wenig seitwärts und blickte schweigend, mit gutmütiger Miene und beinah mit einem Lächeln seinen Herrn an.
»Ich habe ihm gesagt, er möchte erst nächsten Sonntag wiederkommen und bis dahin weder Ihnen noch sich selbst unnötige Mühe machen«, antwortete er mit einem offenbar vorher zurechtgelegten Satze.
Stepan Arkadjewitsch erkannte, daß Matwei einen kleinen Scherz machen und die Aufmerksamkeit auf sich lenken wolle. Er riß das Telegramm auf, las es, wobei er die, wie stets, entstellten Worte sinngemäß verbesserte, und sein Gesicht leuchtete auf.
»Matwei, meine Schwester Anna Arkadjewna kommt morgen«, sagte er und hemmte für einen Augenblick die dicke, fettglänzende Hand des Barbiers, der dabei war, den rosigen Zwischenraum zwischen dem rechten und linken krausen Backenbart rein zu putzen.
»Gott sei Dank!« rief Matwei und zeigte durch diese Antwort, daß er die Bedeutung dieses Besuches ebensowohl zu würdigen wußte wie sein Herr, indem er nämlich zuversichtlich glaubte, daß Anna Arkadjewna, Stepan Arkadjewitschs Schwester, die dieser sehr liebte, eine Versöhnung zwischen Mann und Frau werde zustande bringen können.
[11] »Kommt die gnädige Frau allein oder mit dem Herrn Gemahl?« fragte Matwei.
Stepan Arkadjewitsch konnte nicht sprechen, da der Barbier mit seiner Oberlippe beschäftigt war, und hob einen Finger in die Höhe. Matwei nickte nach dem Spiegel hin mit dem Kopfe.
»Allein. Soll ich oben alles instand setzen lassen?«
»Melde es meiner Frau. Sie wird das Nötige anordnen.«
»Der Frau Gemahlin?« fragte Matwei wie im Zweifel, ob er richtig gehört habe.
»Ja, melde es ihr! Und da, nimm das Telegramm mit und gib es ihr, was sie wohl dazu sagt.«
›Das soll ein Fühler sein‹, dachte Matwei verständnisvoll; aber er antwortete nur: »Zu Befehl!«
Stepan Arkadjewitsch war schon gewaschen und gekämmt und wollte sich eben ankleiden, als Matwei, mit seinen knarrenden Stiefeln langsam daherkommend, das Telegramm in der Hand, wieder ins Zimmer trat. Der Barbier war nicht mehr da.
»Darja Alexandrowna hat befohlen, zu melden, daß sie wegfährt; sie sagte: ›Es kann alles eingerichtet werden, wie es ihm‹, das heißt Ihnen, ›genehm ist‹«, berichtete er; dabei lachte er nur mit den Augen, schob die Hände in die Taschen und blickte mit seitwärts geneigtem Kopfe seinen Herrn unverwandt an. Stepan Arkadjewitsch schwieg ein Weilchen. Dann erschien ein gutmütiges und etwas klägliches Lächeln auf seinem hübschen Gesichte.
»Nun, Matwei?« fragte er und wiegte den Kopf hin und her.
»Das ist weiter nicht schlimm, gnädiger Herr; es wird sich schon alles wieder einrenken«, erwiderte Matwei.
»Du meinst, es wird sich wieder einrenken?«
»Ganz gewiß.«
»Meinst du? Wer ist denn da?« fragte Stepan Arkadjewitsch, da er auf der anderen Seite der ein wenig geöffneten Tür das Rascheln von Frauenkleidern hörte.
»Ich bin es«, sagte eine fest und angenehm klingende weibliche Stimme, und in der Tür erschien das ernste, pockennarbige Gesicht der alten Kinderfrau Matrona Filimonowna.
»Nun, was gibt es, liebe Matrona?« fragte Stepan Arkadjewitsch, indem er zu ihr an die Tür trat.
Obgleich Stepan Arkadjewitsch seiner Frau gegen über durchaus im Unrecht war und dies selbst fühlte, waren doch fast alle im Hause auf seiner Seite, sogar die Kinderfrau, die sich mit Darja Alexandrowna außerordentlich gut stand.
[12] »Nun, was gibt es?« fragte er in bedrücktem Tone.
»Sie sollten doch noch einmal hingehen, gnädiger Herr, und sich schuldig bekennen. Vielleicht hilft Gott. Sie quält sich sehr, es ist kläglich anzusehen, und im Hause geht alles drunter und drüber. Die Kinder, gnädiger Herr, die Kinder können einem leid tun. Bekennen Sie sich schuldig, gnädiger Herr! Was können Sie auch sonst tun? Wenn man etwas erreichen will, darf man sich keine Mühe verdrießen lassen.«
»Aber sie wird mich gar nicht empfangen!«
»Tun Sie nur das Ihrige! Gott ist barmherzig; beten Sie zu Gott, gnädiger Herr, beten Sie zu Gott!«
»Na schön, geh nur!« antwortete Stepan Arkadjewitsch; er war auf einmal ganz rot geworden. »Nun, dann hilf mir beim Ankleiden«, wandte er sich an Matwei und warf mit einer entschlossenen Bewegung den Schlafrock ab.
Matwei hielt bereits das Hemd, von dem er etwas Unsichtbares wegblies, in Form eines Kumtes zum Überstreifen bereit und hüllte mit sichtlichem Vergnügen den wohlgepflegten Körper seines Herrn darin ein.
Nach dem Ankleiden besprengte sich Stepan Arkadjewitsch mit Parfüm, zupfte die Manschetten zurecht, steckte mit den ihm geläufigen Bewegungen in die einzelnen Taschen die Zigaretten, die Brieftasche, die Zündhölzer, die Uhr mit doppelter Kette und Berlocken, schüttelte das Taschentuch auseinander und fühlte sich nun sauber, wohlduftend, gesund und körperlich munter, trotz seinem Unglück. Auf jedem Bein sich ein wenig hin und her wiegend, ging er in das Eßzimmer, wo der Kaffee bereits auf ihn wartete und neben dem Kaffeegeschirr seine Briefe und die von der Behörde eingelaufenen Akten lagen.
Er las die Briefe. Einer darunter war ihm recht unwillkommen – von dem Händler, mit dem er wegen des Verkaufes eines Waldes auf dem Gute seiner Frau in Unterhandlung stand. Er mußte diesen Wald unbedingt verkaufen; aber jetzt, vor einer Versöhnung mit seiner Frau, konnte davon nicht die Rede sein. Am peinlichsten war ihm dabei, daß sich auf diese Weise Geldfragen in das bevorstehende Werk seiner Versöhnung mit seiner Frau hineinmischten. Und der Gedanke, daß es scheinen könnte, als lasse er sich von diesem Interesse leiten und als veranlasse ihn die Aussicht auf den Verkauf dieses Waldes, die Versöhnung mit seiner Frau anzustreben, dieser Gedanke hatte für ihn geradezu etwas Beleidigendes.
[13] Als Stepan Arkadjewitsch mit den Briefen fertig war, zog er die Akten zu sich heran, durchblätterte schnell zwei Sachen und machte darin mit einem großen Bleistift ein paar Bemerkungen. Darauf schob er die Akten wieder zur Seite und machte sich an seinen Kaffee; während des Kaffeetrinkens breitete er die noch feuchte Morgenzeitung auseinander und begann sie zu lesen.
Stepan Arkadjewitsch hielt und las eine liberale Zeitung, nicht ein extremes Blatt, sondern von der Richtung, zu der sich die Mehrheit des gebildeten Publikums bekannte. Und obgleich weder Wissenschaft noch Kunst, noch Politik ihn sonderlich interessierten, so hielt er doch auf allen diesen Gebieten energisch an den Anschauungen fest, denen die Mehrheit und seine Zeitung anhingen, und änderte diese Anschauungen nur dann, wenn auch die Mehrheit das gleiche tat, oder, richtiger gesagt, er änderte sie nicht, sondern sie änderten sich von selbst unvermerkt in seinem Geiste.
Stepan Arkadjewitsch wählte sich weder seine Grundsätze noch seine Ansichten aus, sondern diese Grundsätze und Ansichten kamen von selbst zu ihm, ganz ebenso, wie er die Formen seines Hutes oder seines Rockes nicht auswählte, sondern einfach die nahm, die allgemein getragen wurden. Und Ansichten zu haben, war für ihn, der in einem bestimmten gesellschaftlichen Kreise lebte und ein Verlangen nach einiger Denktätigkeit verspürte, wie es sich gewöhnlich in reiferen Lebensjahren herausbildet, – Ansichten zu haben, war für ihn ebenso eine Notwendigkeit, wie einen Hut zu haben. Wenn wirklich ein Grund vorhanden war, weshalb er die liberale Richtung der konservativen vorzog, der doch auch viele aus seinem Gesellschaftskreise anhingen, so lag dieser Grund jedenfalls nicht etwa darin, daß er die liberale Richtung für vernünftiger gehalten hätte, sondern darin, daß sie mit der Gestaltung seines eigenen Lebens mehr übereinstimmte. Die liberale Partei behauptete, in Rußland sei alles schlecht, und tatsächlich hatte Stepan Arkadjewitsch viele Schulden und konnte mit seinem Gelde absolut nicht auskommen. Die liberale Partei erklärte die Ehe für eine Einrichtung, die sich überlebt habe und unbedingt umgestaltet werden müsse, und wirklich machte das Eheleben Stepan Arkadjewitsch wenig Vergnügen und nötigte ihn dazu, zu lügen und sich zu verstellen, was doch seiner Natur sehr zuwider war. Die liberale Partei sagte oder, richtiger ausgedrückt, ließ als ihre Meinung durchblicken, daß die Religion nur ein Zügel für den ungebildeten Teil der Bevölkerung sei, und in der Tat vermochte Stepan Arkadjewitsch nicht einmal einen ganz kurzen Gottesdienst ohne Schmerzen in den Beinen [14] auszuhalten und konnte gar nicht begreifen, was dieses ganze großartige, hochtrabende Gerede von jener Welt für einen Zweck habe, da es sich doch auch auf dieser Welt sehr vergnüglich leben lasse. Außerdem fand Stepan Arkadjewitsch, der ein munteres Späßchen liebte, seine Freude daran, ab und zu einen harmlosen Menschen durch Äußerungen wie diese zu verblüffen: wolle man den Stolz auf die Abstammung einmal gelten lassen, so sei es nicht recht, bei Rurik stehenzubleiben und den ersten Stammvater, den Affen, zu verleugnen. Auf diese Weise war die liberale Richtung für Stepan Arkadjewitsch eine Sache der Gewohnheit geworden, und er liebte seine Zeitung wie die Zigarre nach dem Mittagessen wegen der leisen Benommenheit, die sie in seinem Kopfe hervorrief. Heute las er den Leitartikel, in dem auseinandergesetzt wurde, daß in unserer Zeit völlig ohne Grund ein Jammergeschrei erhoben werde, als drohe der Radikalismus alle konservativen Elemente zu verschlingen und als sei die Regierung verpflichtet, Maßregeln zur Überwältigung der revolutionären Hydra zu ergreifen. »Ganz im Gegenteil«, hieß es, »liegt unserer Ansicht nach die Gefahr nicht in der vermeintlichen revolutionären Hydra, sondern in der Starrköpfigkeit der Reaktionäre, die jeden Fortschritt hemmen.« Auch einen zweiten Artikel, finanziellen Inhalts, las er durch, in dem Bentham und Mill zitiert wurden und einige gegen das Ministerium gerichtete boshafte Sticheleien vorkamen. Mit der ihm eigenen Schnelligkeit der Auffassung verstand er die Bedeutung einer jeden dieser Sticheleien, von wem sie ausging und gegen wen sie gerichtet war und welcher Anlaß ihr zugrunde lag, und das machte ihm, wie immer, ein gewisses Vergnügen. Indes wurde heute dieses Vergnügen durch die Erinnerung an Matrona Filimonownas Ratschläge und an die unerfreulichen Umstände im Hause stark beeinträchtigt. Er las auch, daß Graf Beust, wie verlaute, nach Wiesbaden gereist sei, und eine Anzeige: »Keine grauen Haare mehr!«, und über den Verkauf einer leichten Equipage, und daß ein junges Mädchen eine Stellung suche; aber diese Nachrichten bereiteten ihm nicht das stille, ironische Vergnügen wie früher.
Als er mit der Zeitung, einer zweiten Tasse Kaffee und einer Buttersemmel fertig war, stand er auf, klopfte sich die Semmelkrümel von der Weste, reckte seine breite Brust und lächelte dabei heiter, nicht als ob ihm gerade besonders froh zumute gewesen wäre, vielmehr wurde das heitere Lächeln durch die gute Verdauung hervorgerufen.
Aber dieses heitere Lächeln brachte ihm auch sofort wieder die ganze Wirklichkeit zum Bewußtsein, und er wurde ernst und nachdenklich.
[15] Zwei Kinderstimmen (Stepan Arkadjewitsch erkannte die Stimmen seines jüngsten Sohnes Grigori und seines ältesten Töchterchens Tanja) wurden vom Nebenzimmer her durch die Tür vernehmbar. Die Kinder fuhren mit etwas umher, und es fiel etwas auf den Fußboden.
»Ich habe es dir doch gesagt: auf das Dach darfst du keine Fahrgäste setzen!« rief das kleine Mädchen auf englisch. »Nun kannst du sie auch aufheben!«
›Alles ist aus der gewohnten Ordnung gekommen‹, dachte Stepan Arkadjewitsch. ›Da laufen nun die Kinder ganz allein im Hause umher.‹ Er ging zur Tür und rief sie zu sich. Sie ließen die Schachtel, die einen Eisenbahnzug darstellte, liegen und kamen zu ihrem Vater herein.
Das Mädchen, des Vaters Liebling, lief dreist herein, umarmte ihn und hängte sich ihm lachend an den Hals; sie freute sich wie immer über den ihr wohlbekannten Duft des Parfüms, den sein Backenbart ausströmte. Nachdem sie endlich sein von der gebückten Haltung gerötetes und von Zärtlichkeit strahlendes Gesicht geküßt hatte, löste sie die Arme von seinem Halse und wollte wieder weglaufen; aber der Vater hielt sie zurück.
»Was macht Mama?« fragte er und strich mit der Hand über das glatte, zarte Hälschen seiner Tochter. »Guten Morgen!« sagte er lächelnd zu dem Knaben, der ihn begrüßte.
Er war sich dessen bewußt, daß er den Knaben weniger liebte, und gab sich stets Mühe, die Kinder gleichmäßig zu behandeln; aber der Knabe empfand das und erwiderte das kalte Lächeln des Vaters seinerseits nicht mit einem Lächeln.
»Mama? Die ist schon aufgestanden.«
Stepan Arkadjewitsch seufzte.
›Da hat sie also wieder die ganze Nacht nicht geschlafen‹, dachte er.
»Nun, und ist sie vergnügt?«
Das kleine Mädchen wußte, daß es zwischen Vater und Mutter einen Streit gegeben hatte, und daß die Mutter nicht vergnügt sein konnte, und daß der Vater das wissen mußte, und daß er sich verstellte, wenn er so leichthin danach fragte. Und sie errötete für ihren Vater. Er verstand das sofort und errötete nun gleichfalls.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Sie hat gesagt, wir sollten heute keinen Unterricht haben, sondern mit Miß Hull zu Großmama gehen«
»Na, dann geh, meine liebe kleine Tanja! Ja so, warte noch mal«, sagte er, indem er sie doch noch zurückhielt und ihr zartes Händchen streichelte.
[16] Er nahm vom Kaminsims eine Schachtel Konfekt herab, die er gestern dahin gestellt hatte, und gab ihr zwei Stückchen; er wählte solche, die sie am liebsten aß: eine Schokoladenpraline und einen Fruchtbonbon.
»Für Grigori?« fragte das Kind und zeigte auf die Praline.
»Ja, ja!« Nochmals streichelte er ihr die Schulter und küßte sie auf die Stirn beim Haaransatz und auf den Hals; dann ließ er sie fort.
»Der Wagen steht bereit!« meldete Matwei. »Es ist auch eine Bittstellerin da«, fügte er hinzu.
»Ist sie schon lange hier?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
»Etwa ein halbes Stündchen.«
»Wie oft habe ich dir befohlen, mir die Leute sofort zu melden!«
»Sie müssen doch Ihren Kaffee in Ruhe trinken können«, erwiderte Matwei in einem freundlich-groben Tone, über den sein Herr nicht zornig werden konnte.
»Na, dann bitte sie jetzt schnell herein«, sagte Oblonski, ärgerlich die Augenbrauen zusammenziehend.
Die Bittstellerin, eine Frau Hauptmann Kalinina, bat um etwas ganz Unmögliches und Unvernünftiges; aber nach seiner Gewohnheit ersuchte Stepan Arkadjewitsch sie, Platz zu nehmen, hörte ihr, ohne sie zu unterbrechen, aufmerksam zu und gab ihr ausführliche Ratschläge, an wen sie sich zu wenden habe und wie sie es angreifen müsse, und schrieb sogar in gewandtem, bündigem Stile mit seiner großen, sperrigen, hübschen, klaren Handschrift einen Brief für sie an die Persönlichkeit, die ihr behilflich sein konnte. Nachdem er die Frau Hauptmann entlassen hatte, nahm er seinen Hut und stand noch einen Augenblick da, um zu überlegen, ob er auch nichts vergessen habe. Er überzeugte sich, daß er nichts vergessen hatte außer dem einen, was er gern vergessen wollte, – seine Frau.
›Ach ja!‹ Er ließ den Kopf sinken, und sein hübsches Gesicht nahm einen sorgenvollen Ausdruck an. ›Soll ich zu ihr hingehen oder nicht?‹ erwog er. Und eine innere Stimme sagte ihm, es sei zwecklos, hinzugehen, es liefe doch alles nur auf Lüge hinaus; ihre gegenseitigen Beziehungen wiederherzustellen und in Ordnung zu bringen, sei unmöglich, weil es weder möglich sei, Dolly wieder zu einem anziehenden, reizenden Weibe noch sich selbst zu einem alten, der Liebe unfähigen Manne zu machen. Es war jetzt alles notwendigerweise voller Lüge und Unwahrhaftigkeit; Lüge und Unwahrhaftigkeit aber waren seiner Natur zuwider.
[17] ›Indessen, irgendeinmal muß es doch geschehen; so kann die Sache ja nicht bleiben‹, sagte er zu sich, bestrebt, sich Mut zu machen. Er reckte die Brust heraus, holte eine Zigarette hervor, zündete sie an, rauchte ein paar Züge, warf sie in das Aschenschälchen aus Perlmutter, durchmaß mit schnellen Schritten den Salon und öffnete die Tür zum Schlafzimmer seiner Frau.
Er fand Darja Alexandrowna in der Nachtjacke, die Flechten ihres bereits recht dünn gewordenen, früher so dichten schönen Haares am Hinterkopf aufgesteckt, mit verfallenem, hagerem Gesicht und großen, erschrockenen Augen, die infolge der Hagerkeit des Gesichts stark hervortraten. Sie stand mitten unter allerlei Sachen, die im Zimmer umhergeworfen waren, vor einem offenen Wäscheschrank, aus dem sie einzelnes heraussuchte. Als sie die Schritte ihres Mannes hörte, hielt sie inne und blickte nach der Tür, wobei sie sich ohne Erfolg bemühte, ihrem Gesichte einen strengen, verächtlichen Ausdruck zu verleihen. Sie fühlte, daß sie vor ihm Furcht hatte und sich vor der bevorstehenden Aussprache ängstigte. Eben erst hatte sie von neuem versucht, das zu tun, was sie schon zehnmal in diesen drei Tagen zu tun versucht hatte: von den Sachen der Kinder und von ihren eigenen das Notwendigste herauszusuchen, um es zu ihrer Mutter bringen zu lassen. Und wieder konnte sie sich nicht endgültig dazu entschließen; aber auch jetzt sagte sie sich ebenso wie bei den früheren Versuchen, daß dieser Zustand nicht fortdauern könne; sie müsse irgend etwas unternehmen, ihren Mann bestrafen, bloßstellen, sich an ihm rächen, indem sie ihm wenigstens einen kleinen Teil des Schmerzes antäte, den er ihr zugefügt habe. Sie sagte sich immer noch, daß sie ihn verlassen wolle, fühlte aber, daß das unmöglich sei; unmöglich aber war es deswegen, weil sie nicht davon lassen konnte, ihn als ihren Gatten zu betrachten und zu lieben. Außerdem sah sie voraus, daß, wenn sie schon hier, im eigenen Hause, mit der Pflege und Beaufsichtigung ihrer fünf Kinder kaum fertig wurde, diese dort, wohin sie sich mit ihnen allen begeben wollte, noch schlechter versorgt werden würden. War doch schon in diesen drei Tagen der Jüngste von schlechter Fleischbrühe, die er bekommen hatte, krank geworden, und die übrigen hatten gestern fast gar kein Mittagessen gehabt. Sie fühlte, daß es ihr unmöglich sei, von hier wegzugehen; aber sie täuschte sich trotzdem selbst etwas vor, suchte die Sachen zusammen und tat, als ob sie weg wolle.
[18] Als sie ihren Mann erblickte, versenkte sie die Hände in ein Fach des Wäscheschrankes, als ob sie etwas suchte, und sah sich nach ihm erst um, als er ganz dicht an sie herangetreten war. Aber ihr Gesicht, dem sie einen strengen, entschlossenen Ausdruck verleihen wollte, sprach nur von Ratlosigkeit und tiefem Leide.
»Dolly!« sagte er mit leiser, schüchterner Stimme. Er hatte den Kopf in die Schultern hineingezogen und wollte sich gern ein klägliches, demütiges Aussehen geben, aber dabei strahlte er doch von Frische und Gesundheit. Mit einem schnellen Blicke überschaute sie vom Kopf bis zu den Füßen seine prächtige, lebensfrohe Gestalt. ›Ja, er ist glücklich und zufrieden!‹ dachte sie. ›Aber ich? ... Und diese widerwärtige Gutmütigkeit, um derentwillen ihn alle lieben und loben; ich hasse an ihm diese Gutmütigkeit.‹ Ihr Mund preßte sich zusammen; die Wangenmuskeln auf der rechten Seite ihres bleichen, nervösen Gesichtes zuckten.
»Was wünschen Sie?« fragte sie schnell in unnatürlich klingendem Tone.
»Dolly«, sagte er noch einmal, und seine Stimme zitterte dabei. »Anna kommt heute her.«
»Was geht es mich an? Ich kann sie nicht empfangen!« schrie sie auf.
»Aber es wird doch nötig sein, Dolly ...«
»Gehen Sie weg, gehen Sie weg!« rief sie, ohne ihn anzublicken, als wäre dieser Aufschrei durch einen körperlichen Schmerz hervorgerufen.
Stepan Arkadjewitsch hatte wohl ruhig sein können, solange er an seine Frau nur dachte; da hatte er hoffen können, es werde sich alles, nach Matweis Ausdruck, wieder einrenken, und hatte in dieser Hoffnung ruhig seine Zeitung lesen und seinen Kaffee trinken können; als er aber jetzt ihr abgehärmtes Märtyrergesicht vor sich sah und diesen Ton ihrer Stimme hörte, aus dem ihre Ergebung in das Schicksal und ihre Verzweiflung herausklangen, da war es ihm, als wenn er ersticken müßte; es stieg ihm etwas in die Kehle, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Mein Gott, was habe ich getan, Dolly! Um Gottes willen! Ich habe ja ...« Er konnte nicht weiterreden; ein Schluchzen verschloß ihm die Kehle.
Sie schloß die Schranktür und blickte ihn an.
»Dolly, was kann ich sagen? Nur das eine: Verzeih mir! Denke zurück; können denn nicht neun Jahre des Zusammenlebens einige wenige Augenblicke aufwiegen, in denen ...«
[19] Sie hatte die Augen auf den Boden gerichtet und hörte ihm zu, als warte sie, was er wohl sagen werde, als flehe sie ihn an, sie irgendwie von seiner Schuldlosigkeit zu überzeugen.
»... einige wenige Augenblicke, in denen ich mich hinreißen ließ ...«, fuhr er fort und wollte weitersprechen; aber bei diesen Worten preßten sich ihre Lippen wieder wie infolge eines körperlichen Schmerzes zusammen, und wieder zuckten die Muskeln ihrer rechten Wange.
»Gehen Sie weg, gehen Sie weg von hier!« schrie sie noch durchdringender. »Und sprechen Sie zu mir nicht davon, daß Sie sich hätten hinreißen lassen, und nicht von dem, was Sie Schändliches getan haben!«
Sie wollte hinausgehen; aber sie wankte und faßte nach einer Stuhllehne, um sich zu stützen. Sein Gesicht zog sich in die Breite, seine Lippen wurden dicker, und die Tränen strömten ihm aus den Augen.
»Dolly!« sagte er schluchzend. »Um Gottes willen, denke an die Kinder; sie tragen ja keine Schuld. Ich bin der Schuldige; strafe mich, laß mich meine Schuld büßen. Womit ich sie nur zu büßen vermag, ich bin zu allem bereit! Ich habe gefehlt, und es ist gar nicht mit Worten zu sagen, wie schwer ich gefehlt habe! Aber dennoch, Dolly, verzeihe mir!«
Sie setzte sich hin. Er hörte ihr schweres, lautes Atmen und empfand ein unsägliches Mitleid mit ihr. Sie setzte mehrere Male an, etwas zu sagen, war aber dazu nicht imstande. Er wartete.
»Du denkst an die Kinder nur, um mit ihnen zu spielen; wenn ich aber an sie denke, so weiß ich dabei, daß sie jetzt zugrunde gehen müssen«, sagte sie; es war dies offenbar eine der Redewendungen, die sie sich im Laufe dieser drei Tage immer wieder vorgesprochen hatte.
Sie hatte du zu ihm gesagt, und darum blickte er sie voll Dankbarkeit an und machte eine Bewegung, um ihre Hand zu ergreifen; aber sie wich mit Abscheu vor ihm zurück.
»Ich denke an die Kinder, und deshalb würde ich alles tun, was menschenmöglich ist, um sie zu retten; aber ich weiß selbst nicht, wodurch ich sie retten kann: ob dadurch, daß ich sie von ihrem Vater wegnehme, oder dadurch, daß ich sie bei ihrem liederlichen Vater lasse, – jawohl, bei ihrem liederlichen Vater. Nun, sagen Sie selbst, ist es denn nach allem, was geschehen ist, überhaupt noch möglich, daß wir weiter miteinander leben? Ist das überhaupt noch möglich?« fragte sie noch einmal mit erhobener Stimme. »Nachdem mein Mann, der Vater meiner Kinder, sich in eine Liebschaft mit der Erzieherin seiner eigenen Kinder eingelassen hat ...«
[20] »Aber was ist nun zu machen? Was ist nun zu machen?« fragte er in kläglichem Ton; er wußte selbst nicht recht, was er sagte, und ließ den Kopf immer tiefer und tiefer herabsinken.
»Sie sind mir widerwärtig und ekelhaft!« schrie sie, immer mehr in Hitze geratend. »Ihre Tränen sind weiter nichts als Wasser! Sie haben mich nie geliebt; Sie besitzen weder ein Herz noch eine vornehme Gesinnung! Sie sind mir verhaßt und ekelhaft; Sie sind mir ein Fremder, ja, ein ganz Fremder!« Mit bitterem Schmerze und tiefem Ingrimm sprach sie dieses Wort ›ein Fremder‹ aus, das ihr selbst schrecklich erschien.
Er blickte sie an, und der Ingrimm, der auf ihrem Gesichte zum Ausdruck kam, versetzte ihn in Schrecken und Staunen. Er begriff nicht, daß gerade sein Mitleid mit ihr sie reizte. Sie bemerkte bei ihm nur ein Gefühl des Bedauerns für sie, aber keine Liebe. ›Nein, sie haßt mich; sie wird mir nicht verzeihen‹, dachte er.
»Das ist furchtbar, ganz furchtbar!« sprach er vor sich hin.
In diesem Augenblick fing im Nebenzimmer eines der Kinder, das wahrscheinlich hingefallen war, an zu schreien. Darja Alexandrowna horchte auf, und ihre Miene wurde plötzlich milder.
Es schien, als sammle sie einige Sekunden lang ihre Gedanken, wie wenn sie nicht recht wüßte, wo sie sich befinde und was sie zu tun habe. Dann stand sie schnell auf und ging zur Tür hin.
›Also liebt sie doch mein Kind‹, dachte er, da er die Veränderung ihres Gesichtes beim Schreien des Kindes bemerkt hatte. ›Sie liebt mein Kind; wie kann sie dann mich hassen?‹
»Dolly, noch ein Wort!« sagte er, ihr nachgehend.
»Wenn Sie mir folgen, so rufe ich die Leute und die Kinder! Mögen sie es alle hören, daß Sie ein Schurke sind! Ich verlasse noch heute dieses Haus, und Sie können dann hier mit Ihrer Mätresse zusammen wohnen!«
Damit ging sie hinaus und schlug die Tür heftig hinter sich zu.
Stepan Arkadjewitsch seufzte, trocknete sich die Tränen vom Gesichte und ging mit leisen Schritten zu der Tür, durch die er gekommen war. ›Matwei sagt, es wird sich wieder einrenken; aber wie? Ich sehe schlechterdings keine Möglichkeit. Ach, was für eine schreckliche Lage! Und in welcher gewöhnlichen Weise sie schrie! Was für Ausdrücke!‹ sagte er zu sich selbst in Erinnerung an ihr Schreien und an die Worte Schurke und Mätresse. ›Vielleicht haben es sogar die Dienstmädchen gehört! Furchtbar gewöhnlich, wahrhaftig!‹ Stepan Arkadjewitsch blieb noch einige Sekunden allein stehen, trocknete sich die Augen, nahm eine feste Haltung an und verließ das Zimmer.
[21] Es war Freitag, und im Eßzimmer zog gerade der deutsche Uhrmacher die Uhr auf. Stepan Arkadjewitsch erinnerte sich an einen Scherz, den er einmal über diesen pünktlichen, kahlköpfigen Uhrmacher gemacht hatte: dieser Deutsche sei wohl selbst einmal für das ganze Leben aufgezogen worden, um Uhren aufzuziehen. Und diese Erinnerung entlockte ihm ein Lächeln.
Stepan Arkadjewitsch liebte einen guten Witz. ›Vielleicht renkt es sich wieder ein! Ein hübscher Ausdruck das: Es renkt sich wieder ein‹, dachte er. ›Den muß ich weitererzählen.‹
»Matwei!« rief er und trug ihm auf, als er erschien: »Richte also mit Marja alles im Fremdenzimmer für Anna Arkadjewna her!«
»Zu Befehl.«
Stepan Arkadjewitsch zog seinen Pelz an und trat vor den Hauseingang hinaus.
»Werden Sie zu Hause speisen?« fragte Matwei, der ihn hinausbegleitete.
»Ich weiß noch nicht. Wie es sich gerade machen wird. Aber hier nimm das für Auslagen«, sagte er und händigte ihm aus seiner Brieftasche zehn Rubel ein. »Wird es reichen?«
»Es läßt sich vorher nicht sagen; jedenfalls werde ich es einzurichten suchen«, erwiderte Matwei, schlug den Kutschenschlag zu und trat auf die Stufen vorm Haustor zurück.
Darja Alexandrowna hatte unterdessen das Kind beruhigt, und als sie an dem Geräusche des Wagens merkte, daß ihr Mann weggefahren sei, kehrte sie in das Schlafzimmer zurück. Dies war immer ihre Zuflucht vor den häuslichen Sorgen; sobald sie diese Zuflucht verließ, stürmten die Sorgen stets wieder von allen Seiten auf sie ein. Auch jetzt, während sie die paar Minuten im Kinderzimmer gewesen war, hatten die Engländerin und Matrona Filimonowna die Gelegenheit benutzt, um ihr verschiedene Fragen vorzulegen, die keinen Aufschub duldeten und die sie allein entscheiden konnte: Was die Kinder zum Spaziergang anziehen sollten. Ob sie Milch bekommen sollten. Ob ein anderer Koch zur Aushilfe angenommen werden solle.
»Ach, laßt mich, laßt mich!« antwortete sie, kehrte in das Schlafzimmer zurück und setzte sich auf denselben Platz, auf dem sie mit ihrem Manne gesprochen hatte; sie preßte die abgemagerten Hände zusammen, an denen ihr die Ringe von den knochigen Fingern zu gleiten drohten, und ging in der Erinnerung das ganze vorhergehende Gespräch noch einmal durch. ›Er ist weggefahren! Aber wie mag er sich mit dieser Person auseinandergesetzt haben?‹ dachte sie. ›Ob er sie wohl noch [22] besucht? Warum habe ich ihn nicht danach gefragt? Nein, nein, eine Aussöhnung ist unmöglich. Und selbst wenn wir in demselben Hause bleiben, so werden wir doch einander fremd sein. Fremd für immer!‹ Auf dieses ihr so furchtbare Wort kam sie immer wieder mit besonderem Nachdruck zurück. ›Und wie habe ich ihn geliebt, o mein Gott, wie habe ich ihn geliebt, wie habe ich ihn geliebt! – Und liebe ich ihn denn nicht auch jetzt noch? Liebe ich ihn nicht noch mehr als früher? Das Schrecklichste ist ...‹ Aber sie beendete diesen angefangenen Gedanken nicht, da Matrona Filimonowna durch die Tür hereinblickte.
»Gestatten Sie doch, daß ich meinen Bruder holen lasse«, sagte sie. »Der kann das Mittagessen herrichten; sonst bekommen die Kinder wieder wie gestern bis sechs Uhr nichts zu essen.«
»Nun gut, ich komme gleich und werde alles, was nötig ist, anordnen. Ist nach frischer Milch ge schickt?«
Und Darja Alexandrowna versenkte sich in die Sorgen des Tages und betäubte dadurch für einige Zeit ihren Gram.
Stepan Arkadjewitsch hatte in der Schule dank seinen trefflichen Fähigkeiten gut gelernt, war aber träge und ausgelassen gewesen und infolgedessen bei der Entlassung in der Rangordnung einer der letzten geworden; aber trotz seinem allzeit lockeren Lebenswandel, trotz der Kürze seiner Dienstzeit und trotz seinem verhältnismäßig jugendlichen Lebensalter bekleidete er die angesehene, gut besoldete Stellung des Direktors einer Moskauer Verwaltungsbehörde. Diesen Posten hatte er durch Alexei Alexandrowitsch Karenin, den Gatten seiner Schwester Anna, erhalten, der eine der höchsten Stellen in dem Ministerium einnahm, dem jene Behörde unterstellt war. Aber auch wenn Karenin seinen Schwager nicht in diese Stelle gebracht hätte, so würde Stiwa Oblonski doch durch hundert andere Personen, durch Brüder, Schwestern, Vettern, Onkel und Tanten, diese oder eine andere, ähnliche Stelle mit etwa sechstausend Rubeln Gehalt bekommen haben; und eine solche Einnahme brauchte er recht nötig, da seine Geldverhältnisse trotz dem bedeutenden Vermögen seiner Frau sich in arger Zerrüttung befanden.
Halb Moskau und Petersburg war mit Stepan Arkadjewitsch verwandt oder befreundet. Er war mitten unter den Leuten geboren, die die Mächtigen dieser Welt waren oder wurden. Ein Drittel der hohen Regierungsbeamten, die älteren Männer, [23] waren Freunde seines Vaters gewesen und hatten ihn noch im Kinderkleidchen gekannt; das zweite Drittel stand mit ihm auf du und du; und das dritte waren gute Bekannte. Somit waren die Verteiler irdischer Güter, als da sind Ämter, Pachtungen, Konzessionen und dergleichen, sämtlich mit ihm befreundet und konnten ihn als einen der Ihrigen nicht übergehen; und Oblonski brauchte sich nicht sonderlich zu bemühen, um eine einträgliche Stelle zu erhalten; er brauchte eine solche nur nicht auszuschlagen, sich nicht mißgünstig zu zeigen, sich mit niemandem zu überwerfen, sich nicht gekränkt zu fühlen, was er auch sowieso zufolge der ihm eigenen Gutmütigkeit niemals tat. Es wäre ihm lächerlich erschienen, wenn man ihm gesagt hätte, er würde keine Stelle mit einem Gehalte, wie er es brauchte, erlangen, um so mehr, da er nichts Außerordentliches beanspruchte; er wollte nur das, was seine Standesgenossen meist erlangten, und einen derartigen Posten konnte er ebensogut ausfüllen wie jeder andere.
Stepan Arkadjewitsch war nicht nur bei allen, die ihn kannten, wegen seines gutmütigen, heiteren Charakters und seiner unzweifelhaften Ehrenhaftigkeit beliebt, sondern in seinem ganzen Wesen, in seiner schönen, glänzenden Erscheinung, den blitzenden Augen, den schwarzen Brauen und Haaren, dem frischen, gesunden Gesicht lag etwas, was schon durch die rein physische Wirkung alle, die mit ihm in Berührung kamen, für ihn einnahm und in eine fröhliche Stimmung versetzte. »Ah! Stiwa! Oblonski! Da ist er ja auch!« riefen fast immer die, die mit ihm zusammentrafen, mit vergnügtem Lächeln. Und wenn sie nach einem Gespräche mit ihm sich bewußt wurden, daß eigentlich nichts besonders Vergnügliches vorgekommen sei, so freuten sie sich doch am anderen und am dritten Tage alle wieder ganz ebenso bei einer Begegnung mit ihm.
Schon mehr als zwei Jahre bekleidete Stepan Arkadjewitsch den Direktorposten bei der Moskauer Verwaltungsbehörde und hatte sich während dieser Zeit wie die Zuneigung so auch die Achtung seiner Kollegen, Untergebenen und Vorgesetzten und aller, die mit ihm zu tun hatten, erworben. Die Eigenschaften, die hauptsächlich dazu beitrugen, ihm diese allgemeine Achtung in dienstlicher Hinsicht zu verschaffen, waren erstens seine außerordentliche Leutseligkeit, die bei ihm auf dem Bewußtsein seiner eigenen Mängel beruhte; zweitens seine durchaus liberale, fortschrittliche Gesinnung, nicht die, die er sich aus den Zeitungen zu eigen machte, sondern die, die ihm im Blute steckte und infolge deren er alle Menschen, ohne jede Rücksicht auf ihren Stand und Beruf, völlig gleich und unparteiisch behandelte; [24] drittens (und das war wohl die Hauptsache) seine vollständige Gemütsruhe gegenüber den Angelegenheiten, mit denen er sich zu beschäftigen hatte, so daß er sich niemals von Erregungen hinreißen ließ und keine Übereilungsfehler machte.
Als Stepan Arkadjewitsch heute in seinem Wagen zu der Stätte seiner dienstlichen Tätigkeit gelangt war, begab er sich, begleitet von dem ehrerbietigen Pförtner, der ihm die Aktenmappe trug, in sein kleines Arbeitszimmer, zog die Uniform an und trat in den Sitzungssaal. Die Schreiber und Beamten erhoben sich sämtlich und verbeugten sich mit freundlicher, achtungsvoller Miene. Stepan Arkadjewitsch ging wie immer schnellen Schrittes zu seinem Platze, drückte den Räten die Hand und setzte sich. Er scherzte und plauderte ein wenig mit ihnen, gerade so viel, wie schicklich war, und nahm dann die Arbeit in Angriff. Niemand verstand es besser als Stepan Arkadjewitsch, jene Grenzlinie zwischen harmlosem, schlichtem Benehmen und dienstlicher Haltung zu finden, deren Innehaltung für eine angenehme Amtstätigkeit erforderlich ist. Freundlich und achtungsvoll, wie sich eben alle in Stepan Arkadjewitschs Amtsbereich benahmen, trat der Sekretär mit einigen Schriftstücken zu ihm heran und sagte in dem freien, ungezwungenen Tone, den Stepan Arkadjewitsch eingeführt hatte:
»Wir haben doch noch von dem Gouvernement Pensa die Nachrichten erhalten. Hier, ist es Ihnen vielleicht gefällig ...«
»Haben wir sie endlich bekommen?« erwiderte Stepan Arkadjewitsch und schob einen Finger in das Aktenstück vor ihm an der Stelle, wo er es nachher aufschlagen wollte. »Nun, meine Herren ...« Und die Sitzung begann.
›Wenn die wüßten‹, dachte er, während er mit bedeutsamer Miene beim Anhören eines Berichtes den Kopf zur Seite neigte, ›welch ein zerknirschter Sünder noch vor einer halben Stunde ihr Vorsitzender gewesen ist!‹ Seine Augen lachten während der Verlesung des Berichtes. Bis zwei Uhr mußte nach der bestehenden Ordnung die Arbeit ohne Unterbrechung fortgeführt werden; um zwei Uhr kam dann eine Frühstückspause.
Es war noch nicht zwei Uhr, als die große Glastür des Sitzungssaales plötzlich geöffnet wurde und jemand hereinkam. Alle Beamten blickten, erfreut über eine kleine Ablenkung, zur Tür hin; aber der Türhüter, der dort seinen Posten hatte, wies den Eindringling sofort wieder hinaus und machte die Glastür hinter ihm wieder zu.
Als die Verlesung des gerade vorliegenden Schriftstückes beendet war, erhob sich Stepan Arkadjewitsch, reckte sich ein wenig, holte noch im Sitzungssaale, den fortschrittlichen [25] Anschauungen der modernen Zeit Rechnung tragend, eine Zigarette hervor und machte sich auf nach seinem Arbeitszimmer. Zwei seiner Kollegen, der bejahrte, bereits in hohem Dienstalter stehende Nikitin und der Kammerjunker Grinjewitsch, gingen mit ihm zusammen hinaus.
»Nach dem Frühstück werden wir schon mit der Sache zu Ende kommen«, bemerkte Stepan Arkadjewitsch.
»Mit Leichtigkeit!« versetzte Nikitin.
»Aber ein gehöriger Gauner muß doch dieser Fomin sein«, meinte Grinjewitsch mit Bezug auf eine der Personen, die an der zur Untersuchung stehenden Sache beteiligt waren.
Stepan Arkadjewitsch runzelte bei Grinjewitschs Worten die Stirn, womit er zu verstehen gab, daß es unpassend sei, vorzeitig ein Urteil auszusprechen, und gab ihm keine Antwort.
»Wer kam denn da vorhin herein?« fragte er den Türhüter.
»Ich kenne ihn nicht, Euer Exzellenz. Er drang, ohne zu fragen, ein, als ich gerade einmal einen Augenblick den Rücken kehrte. Er fragte dann nach Ihnen. Ich habe ihm gesagt: wenn die Herren herauskommen, dann ...«
»Wo ist er denn?«
»Er muß wohl eben auf den Flur hinuntergegangen sein; bis vor kurzem ist er immer hier auf und ab gewandert. Da ist er«, sagte der Türhüter und wies auf einen kräftig gebauten, breitschulterigen, krausbärtigen Mann, der, ohne seine Schaffellmütze abzunehmen, schnell und behend die abgetretenen Stufen der Steintreppe heraufgelaufen kam. Ein hagerer Beamter, der mit den übrigen, seine Aktenmappe unter dem Arm, die Treppe hinunterstieg, blieb stehen, warf einen mißbilligenden Blick auf die Beine des Laufenden und blickte dann fragend Oblonski an.
Stepan Arkadjewitsch stand oben an der Treppe. Sein gutmütig glänzendes Gesicht über dem gestickten Uniformkragen strahlte plötzlich noch heller auf, als er den Heraufkommenden erkannte.
»Wahrhaftig! Ljewin! Endlich einmal!« rief er mit einem freundschaftlichen, ein wenig spöttischen Lächeln, während er den zu ihm tretenden Ljewin musterte. »Wie hast du es nur über dich gewinnen können, mich in dieser Räuberhöhle aufzusuchen?« fuhr Stepan Arkadjewitsch fort und begnügte sich nicht mit einem Händedruck, sondern küßte seinen Freund herzlich. »Bist du schon lange in Moskau?«
»Ich bin eben erst angekommen und wollte dich gern sprechen«, antwortete Ljewin und blickte dabei schüchtern und zugleich ärgerlich und unruhig um sich.
[26] »Na, komm mit in mein Arbeitszimmer!« sagte Stepan Arkadjewitsch, der die empfindliche, leicht reizbare Schüchternheit seines Freundes kannte; er faßte ihn an der Hand und zog ihn mit sich, als ob er ihn durch drohende Gefahren hindurchgeleiten wollte.
Stepan Arkadjewitsch stand mit fast allen seinen Bekannten auf du und du: mit alten Männern von sechzig Jahren und mit jungen von zwanzig Jahren, mit Schauspielern, Ministern, Kaufleuten und Generaladjutanten, so daß sehr viele seiner Duzfreunde sich an den beiden entgegengesetzten Enden der gesellschaftlichen Stufenleiter befanden und sehr verwundert gewesen wären, zu erfahren, daß sie in Oblonski einen gemeinsamen Berührungspunkt hatten. Er duzte sich mit allen, mit denen er Champagner getrunken hatte, und Champagner trank er mit all und jedem. Traf er nun in Anwesenheit von Beamten, die ihm unterstellt waren, mit seinen ›kompromittierenden Duzfreunden‹, wie er im Scherze viele seiner Freunde nannte, zusammen, so verstand er es mit dem ihm eigenen Takte, den unangenehmen Eindruck abzuschwächen, den dies auf seine Untergebenen machen konnte. Ljewin gehörte nicht zu diesen kompromittierenden Duzfreunden; aber Oblonski merkte mit dem feinen Gefühl, das er für solche Dinge besaß, daß Ljewin glaubte, er, Oblonski, möge vor seinen Untergebenen nicht gern sein engeres Verhältnis zu ihm, Ljewin, bekunden; darum beeilte sich Oblonski, ihn in sein Arbeitszimmer zu führen.
Ljewin war beinah gleichen Alters mit Oblonski, und seine Duzfreundschaft mit ihm stammte nicht etwa nur vom Champagner her. Ljewin war schon in früher Jugend sein Kamerad und Freund gewesen. Sie mochten einander gern trotz der Verschiedenheit der Charaktere und Neigungen, wie eben Freunde einander gern haben, die sich in früher Jugend zusammengefunden haben. Aber trotzdem ging es auch bei ihnen, wie so oft bei Leuten, die sich für stark verschiedene Arten von Tätigkeit entschieden haben: obgleich ein jeder von ihnen der Tätigkeit des anderen bei genauerer Überlegung Gerechtigkeit widerfahren ließ, schätzte er sie doch im Grunde seiner Seele gering. Jedem schien das Leben, das er selbst führte, das einzig wahre Leben zu sein und das des Freundes nur eine Karikatur des Daseins. Oblonski konnte, sobald er Ljewin zu sehen bekam, ein leises, spöttisches Lächeln nicht unterdrücken. Wer weiß wie oft hatte er ihn nun schon von seinem Gute, wo er sich irgendwelcher Tätigkeit hingab, nach Moskau kommen sehen; aber was er dort eigentlich tat, das hatte Stepan Arkadjewitsch nie so recht begreifen können, und es interessierte ihn auch nicht [27] besonders. Wenn Ljewin nach Moskau kam, so war er immer stark aufgeregt, in großer Hast, ein wenig befangen und eben infolge dieser Befangenheit sehr reizbar, und meistens hatte er sich inzwischen irgendeine völlig neue, überraschende Anschauung über diesen oder jenen Gegenstand zu eigen gemacht. Stepan Arkadjewitsch lachte über das Wesen seines Freundes, hatte es aber doch gern. Ganz ebenso verachtete auch Ljewin im Grunde seiner Seele die städtische Lebensweise des anderen und seine dienstliche Tätigkeit, der er jeden Wert absprach, und machte sich darüber lustig. Aber ein Unterschied bestand darin, daß Oblonski, der so lebte wie alle anderen Menschen auch, wenn er über seinen Freund spottete, dies voll Selbstvertrauen und in gutmütiger Weise tat, Ljewin dagegen ohne rechtes Selbstvertrauen und mitunter in aufgebrachtem Tone.
»Wir haben dich schon lange erwartet«, sagte Stepan Arkadjewitsch beim Eintritt in sein Zimmer und ließ nun Ljewins Hand los, wie wenn er dadurch ausdrücken wollte, daß hier keine Gefahr mehr sei. »Ich bin sehr, sehr erfreut, dich wiederzusehen«, fuhr er fort. »Nun, was machst du? Wie geht es dir? Wann bist du angekommen?«
Ljewin schwieg und richtete seine Blicke auf die ihm unbekannten Gesichter der beiden Kollegen Oblonskis und namentlich auf die Hände des eleganten Grinjewitsch mit den langen, weißen Fingern, mit den langen, gelben, an den Spitzen gekrümmten Nägeln und den riesigen, blitzenden Manschettenknöpfen. Diese Hände nahmen augenscheinlich Ljewins ganze Aufmerksamkeit in Anspruch und ließen ihn an nichts anderes mehr denken. Oblonski bemerkte das sofort und lächelte.
»Ach ja, gestatten Sie, daß ich Sie miteinander bekannt mache«, sagte er. »Meine Kollegen: Filipp Iwanowitsch Nikitin, Michail Stanislawitsch Grinjewitsch«, und auf Ljewin deutend: »Ein Koryphäe der ländlichen Selbstverwaltung, ein moderner Landwirt, ein Athlet, der mit einer Hand anderthalb Zentner hebt, Viehzüchter, Jäger und mein Freund, Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin, ein Bruder von Sergei Iwanowitsch Kosnüschew.«
»Sehr angenehm«, sagte der alte Beamte.
»Ich habe die Ehre, Ihren Bruder Sergei Iwanowitsch zu kennen«, bemerkte Grinjewitsch und streckte ihm seine schmale Hand mit den langen Nägeln hin.
Ljewin zog ein finsteres Gesicht, reichte ihm kühl die Hand und wandte sich sofort Oblonski zu. Obgleich er seinen mit ihm von derselben Mutter stammenden Stiefbruder, einen in ganz Rußland bekannten Schriftsteller, sehr hoch schätzte, [28] konnte er es doch nicht leiden, wenn man ihn im Verkehr nicht als Konstantin Ljewin, sondern als den Bruder des berühmten Kosnüschew behandelte.
»Nein, ich beteilige mich nicht mehr an der ländlichen Selbstverwaltung. Ich habe mich mit allen überworfen und fahre nicht mehr zu den Versammlungen«, sagte er, zu Oblonski gewendet.
»Das ist einmal flink gegangen!« erwiderte Oblonski lächelnd. »Aber warum? Wie ist das gekommen?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ich will sie dir ein ander Mal erzählen«, antwortete Ljewin, begann aber mit der Erzählung doch sofort. »Nun, um es kurz zu machen, ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es eine ersprießliche ländliche Selbstverwaltung nicht gibt und nicht geben kann«, fing er an, und zwar mit einer Heftigkeit, als hätte ihn soeben jemand beleidigt. »Erstens ist es eine Spielerei, man spielt Parlament; ich bin aber weder jung genug noch alt genug, um an Spielereien Vergnügen zu finden. Und zweitens« (er begann zu stottern) »ist das für die feinen Leute im Kreise ein Mittel, um Geld herauszuschlagen. Früher dienten dazu die Vormundschaftsämter und Landschaftsgerichte, jetzt jedoch die Kreisverwaltung. Sie bereichern sich zwar nicht durch Annahme von Bestechungsgeldern, wohl aber durch Bezug von Gehältern, für die sie nichts leisten.« Er brachte das alles so hitzig vor, wie wenn einer der Anwesenden seine Ansicht bestritte.
»Ei sieh einmal! Du befindest dich ja, merke ich, wieder auf einer neuen Entwicklungsstufe; du bist jetzt konservativ«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Je doch, darüber sprechen wir später einmal.«
»Ja, ja, später. Aber ich habe notwendig mit dir zu reden«, versetzte Ljewin mit einem haßerfüllten Blick auf Grinjewitschs Hände.
Stepan Arkadjewitsch lächelte kaum merklich.
»Hast du nicht vor kurzem gesagt, du wolltest nie mehr europäische Kleidung tragen?« fragte er, während er Ljewins neuen Anzug, offenbar das Werk eines französischen Schneiders, musterte. »Ja, ja, ich sehe schon, eine neue Entwicklungsstufe!«
Ljewin errötete plötzlich, aber nicht so, wie erwachsene Leute erröten, nur so ein wenig und ohne sich dessen selbst bewußt zu werden, sondern so, wie Knaben erröten, die fühlen, daß sie durch ihre Befangenheit lächerlich erscheinen und die nun infolgedessen sich noch mehr schämen und noch mehr erröten, beinah bis zum Weinen. Der Anblick dieses klugen, männlichen Gesichtes in einem so kindlichen Zustande wirkte so befremdend, daß Oblonski die Augen davon wegwandte.
[29] »Also, wo wollen wir denn zusammenkommen? Ich muß nämlich notwendig, ganz notwendig mit dir reden«, sagte Ljewin.
Oblonski überlegte einen Augenblick.
»Wir könnten es so machen: wir fahren jetzt gleich zu Gurin, frühstücken da und reden dabei miteinander. Bis drei Uhr bin ich frei.«
»Das geht nicht«, antwortete Ljewin nach kurzem Nachdenken. »Ich habe jetzt noch eine notwendige Besorgung.«
»Nun gut, dann wollen wir zusammen Mittag essen.«
»Mittag essen? Etwas Besonderes habe ich dir eigentlich nicht zu sagen; es sind nur ein paar Worte; ich wollte dich etwas fragen. Nachher können wir ja miteinander plaudern.«
»So sage doch die paar Worte jetzt gleich; dann können wir uns bei Tische vollständig einer gemütlichen Unterhaltung widmen.«
»Die paar Worte sind nämlich die«, sagte Ljewin. »Übrigens ist es weiter nichts Besonderes.«
Sein Gesicht nahm plötzlich einen ärgerlichen Ausdruck an, der durch die Anstrengung hervorgerufen wurde, mit der er seiner Verlegenheit Herr zu werden suchte.
»Was machen denn Schtscherbazkis? Alles beim alten?« fragte er.
Stepan Arkadjewitsch, der schon lange wußte, daß Ljewin in seine, Stepans, Schwägerin Kitty verliebt war, lächelte leise, und seine Augen blitzten lustig.
»Da hast du nun also deine paar Worte gesagt; ich kann dir aber nicht mit ein paar Worten antworten, weil ... Entschuldige einen Augenblick!«
Ein Sekretär kam herein. Mit einer Art von achtungsvoller Vertraulichkeit und einem gewissen, bei allen Sekretären zu findenden bescheidenen Bewußtsein der eigenen Überlegenheit über den Dienstherrn, was Geschäftskenntnis anlangt, trat er mit einigen Aktenstücken in der Hand an Oblonski heran und begann, unter der Form einer Frage, irgendeine Schwierigkeit auseinanderzusetzen. Stepan Arkadjewitsch hörte ihn nicht bis zu Ende an, sondern unterbrach ihn, indem er ihm freundlich die Hand auf den Rockärmel legte.
»Nein, machen Sie das doch nur so, wie ich gesagt habe«, versetzte er, wobei er den Tadel, der in dieser Bemerkung lag, durch ein Lächeln milderte. Dann erklärte er ihm kurz, wie er die Sache auffasse, und schob die Papiere mit den Worten zurück: »So also machen Sie es, bitte, so, Sachar Nikitisch.«
Verlegen entfernte sich der Sekretär. Ljewin, der während der Erörterung mit dem Sekretär seine Befangenheit vollständig [30] überwunden hatte, stand mit beiden Händen auf eine Stuhllehne gestützt da, und auf seinem lächelnden Gesichte malte sich ein spöttisches Interesse.
»Mir unbegreiflich, mir unbegreiflich«, sagte er.
»Was ist dir denn unbegreiflich?« fragte Oblonski, gleichfalls heiter lächelnd, und holte eine Zigarette hervor. Er erwartete, daß Ljewin wieder einmal in besonderer Weise losbrechen werde.
»Es ist mir unbegreiflich, mit welchen Dingen ihr euch da abgebt«, erwiderte Ljewin achselzuckend. »Wie kannst du dergleichen nur ernsthaft betreiben!«
»Wieso?«
»Nun, weil es eigentlich doch eine Art Müßiggang ist.«
»Das denkst du so; aber wir sind mit Arbeit überhäuft.«
»Mit papierener Arbeit. Na ja, dafür hast du ja eine Begabung«, fügte Ljewin hinzu.
»Das heißt, du meinst, daß es mir anderweitig mangelt?«
»Kann schon sein«, versetzte Ljewin. »Aber trotzdem bewundere ich deine hervorragenden Eigenschaften und bin stolz darauf, einen so großen Mann zum Freunde zu haben. – Aber du hast mir auf meine Frage noch nicht geantwortet«, fügte er hinzu und blickte mit verzweifelter Anstrengung dem anderen gerade in die Augen.
»Na schön, schön! Warte nur, du kommst auch noch einmal auf unseren Standpunkt. Du bist ja gut dran mit deinen dreitausend Deßjatinen im Kreise Karasinsk und mit solchen Muskeln und mit solcher Lebensfrische wie ein zwölfjähriges Mädchen, – aber auch du wirst noch auf unsere Seite kommen. Ja, also was deine Frage betrifft: es hat sich da nichts geändert; aber schade, daß du so lange nicht hier gewesen bist.«
»Wieso?« fragte Ljewin erschrocken.
»Nun, es ist nichts Besonderes«, antwortete Oblonski. »Wir sprechen schon noch darüber. Aber zu welchem Zwecke bist du denn eigentlich hergekommen?«
»Ach, darüber können wir ja auch später noch sprechen«, erwiderte Ljewin und wurde wieder rot bis über die Ohren.
»Na schön, gewiß«, versetzte Stepan Arkadjewitsch. »Siehst du, ich würde dich gern zu mir einladen; aber meine Frau ist nicht recht wohl. Aber weißt du was? Wenn du die Schtscherbazkischen Damen sehen willst, die sind heute höchstwahrscheinlich von vier bis fünf im Zoologischen Garten. Kitty läuft da Schlittschuh. Fahre da hin; ich hole dich nachher ab, und wir essen dann zusammen irgendwo zu Mittag.«
»Ausgezeichnet! Also auf Wiedersehen!«
[31] »Aber denk auch daran! Daß du es ja nicht etwa vergißt oder wohl gar plötzlich aufs Land zurückfährst! Ich kenne dich!« rief Stepan Arkadjewitsch lachend.
»Nein, nein, du kannst dich auf mich verlassen.«
Erst als er an der Tür war, fiel es Ljewin ein, daß er ja vergessen hatte, sich von Oblonskis Kollegen zu verabschieden; hastig holte er das Versäumte nach und verließ das Zimmer.
»Wohl ein sehr energischer Herr?« bemerkte Grinjewitsch, als Ljewin hinausgegangen war.
»Ja, liebster Freund«, antwortete Stepan Arkadjewitsch, den Kopf hin und her wiegend, »das ist ein Glückskind! Dreitausend Deßjatinen im Kreise Karasinsk, das ganze Leben noch vor sich, und was für eine Frische! Nicht so wie unsereiner!«
»Sie wollen sich beklagen, Stepan Arkadjewitsch, Sie?«
»Ja, scheußlich geht es einem, gar zu schlimm!« antwortete Stepan Arkadjewitsch mit einem schweren Seufzer.
Als Oblonski an Ljewin die Frage gerichtet hatte, zu welchem Zwecke er denn eigentlich nach Moskau gekommen sei, war Ljewin rot geworden und ärgerte sich nun nachher eben darüber, daß er rot geworden war und es nicht fertiggebracht hatte, ihm zu antworten: ›Ich bin hergekommen, um deiner Schwägerin einen Heiratsantrag zu machen‹, wiewohl dies der einzige Zweck seiner Reise war.
Die Ljewins und die Schtscherbazkis waren alte Moskauer Adelsfamilien und hatten immer in nahen, freundschaftlichen Beziehungen zueinander gestanden. Diese Verbindung hatte sich während Ljewins Studienzeit noch mehr befestigt. Er hatte sich mit dem jungen Fürsten Schtscherbazki, dem Bruder von Dolly und Kitty, zusammen auf den Besuch der Universität vorbereitet und sie mit ihm zugleich bezogen. Zu jener Zeit verkehrte Ljewin viel im Schtscherbazkischen Hause und war in dieses Haus verliebt. So seltsam es auch scheinen mag, Konstantin Ljewin war geradezu in das Haus verliebt, in die Familie, besonders in die weibliche Hälfte der Familie Schtscherbazki. Ljewin selbst konnte sich seiner Mutter nicht entsinnen, und seine einzige Schwester war älter als er, so daß er im Schtscherbazkischen Hause zum ersten Male der Welt einer alten, gebildeten, ehrenhaften Adelsfamilie begegnete, die er im eigenen Hause infolge des Todes seines Vaters und seiner Mutter nicht hatte kennenlernen können. Alle Mitglieder dieser Familie, und [32] besonders der weibliche Teil, erschienen ihm wie von einem geheimnisvollen poetischen Schleier verhüllt, und er nahm an ihnen nicht nur keine Mängel wahr, sondern vermutete auch hinter diesem poetischen verhüllenden Schleier die edelsten Gesinnungen und alle nur denkbaren Vollkommenheiten. Weshalb diese drei jungen Damen tagelang Französich und Englisch sprechen mußten; weshalb sie zu bestimmten Stunden abwechselnd Klavier spielten (die Klänge des Instruments waren oben im Zimmer des Bruders zu hören, wo die beiden Studenten arbeiteten); weshalb alle diese Lehrer, für französische Literatur, für Musik, für Zeichnen, für Tanzen, ins Haus kamen; weshalb zu bestimmten Stunden die drei jungen Damen mit Mademoiselle Linon in der Kutsche nach dem Twerskoi-Boulevard fuhren, alle in ihren Atlaspelzen, und zwar Dolly in einem langen, Natalja in einem halblangen und Kitty in einem ganz kurzen, so daß ihre wohlgestalteten Beinchen in den straff sitzenden roten Strümpfen ganz zu sehen waren; warum sie in Begleitung eines Dieners mit einer goldenen Kokarde am Hute auf dem Twerskoi-Boulevard spazierengehen mußten: alles dies und vieles andere, was in ihrer geheimnisvollen Welt geschah, verstand Ljewin nicht; aber er wußte, daß alles, was dort geschah, vortrefflich war, und gerade das Geheimnisvolle all dieser Vorgänge lockte und reizte ihn.
Als Student hätte er sich beinah in Dolly, die Älteste, verliebt; jedoch verheiratete sich diese sehr bald mit Oblonski. Darauf wandte er der zweiten seine Neigung zu; er hatte gleichsam die Empfindung, daß er sich in eine der drei Schwestern verlieben müsse, und konnte sich nur nicht klarwerden, in welche nun eigentlich. Aber auch Natalja fand, gleich nachdem sie in die Gesellschaft eingeführt war, einen Gatten: den Diplomaten Lwow. Kitty war, als Ljewin die Universität verließ, noch ein Kind. Der junge Schtscherbazki, der zur Marine gegangen war, ertrank in der Ostsee, und Ljewins Verkehr mit der Familie Schtscherbazki wurde, trotz seiner Freundschaft mit Oblonski, seltener. Aber als Ljewin, nach einem einjährigen Aufenthalte auf seinem Gute, zu Anfang dieses Winters nach Moskau gekommen war und bei Schtscherbazkis einen Besuch machte, da ging ihm die Erkenntnis auf, in welche von den drei Schwestern sich zu verlieben ihm vom Schicksal bestimmt war.
Man hätte nun meinen sollen, es wäre nichts einfacher gewesen, als daß er, ein Mann von guter Herkunft, zweiunddreißig Jahre alt und eher reich als arm zu nennen, um die Hand der Prinzessin Schtscherbazkaja angehalten hätte; aller Wahrscheinlichkeit nach wäre er sofort als eine gute Partie erachtet und [33] angenommen worden. Aber Ljewin war verliebt, und daher hatte er die Vorstellung, Kitty sei in jeder Beziehung ein solcher Inbegriff von Vollkommenheit, ein so hoch über allem Irdischen stehendes Wesen, er selbst dagegen ein so irdisches, niedriges Geschöpf, daß gar nicht daran zu denken sei, daß andere und sie selbst ihn ihrer für würdig halten könnten.
Zwei Monate lebte er so in Moskau in einer Art von Benommenheit und traf während dieser Zeit fast täglich mit Kitty in Gesellschaften zusammen, die er zu besuchen begonnen hatte, um sie zu sehen; dann aber glaubte er auf einmal zu erkennen, daß die Sache ganz aussichtslos sei, und fuhr wieder aufs Land.
Ljewins Überzeugung von der Aussichtslosigkeit der Sache beruhte auf seiner Annahme, daß er in den Augen der Eltern als eine unvorteilhafte, der herrlichen Kitty unwürdige Partie erscheine und daß Kitty selbst ihn nicht lieben könne. Die Eltern mußten seiner Meinung nach daran Anstoß nehmen, daß er keine bestimmte Tätigkeit von einer der herkömmlichen Arten hatte und keine Stellung in der Welt einnahm, während seine früheren Kameraden jetzt, da er im Alter von zweiunddreißig Jahren stand, alle schon etwas waren: der eine Oberst und Flügeladjutant, ein anderer Professor, ein anderer Bank- oder Eisenbahndirektor oder Chef einer Regierungsbehörde wie Oblonski; er dagegen (er wußte sehr genau, wie andere mit Notwendigkeit über ihn urteilten), er war eben nur ein Gutsbesitzer, der sich mit Rinderzucht, Schnepfenjagd und Bauten beschäftigte, das heißt ein talentloser Mensch, aus dem nichts geworden war und der, nach den Begriffen der besseren Gesellschaft, eben das tat, was Leute tun, die zu nichts nütze sind.
Die geheimnisvolle, herrliche Kitty selbst aber konnte einen so unschönen Menschen, für den er sich selbst hielt, und ganz besonders einen so gewöhnlichen, in keiner Weise hervorragenden Menschen nicht lieben. Auch sein früheres Verhältnis zu Kitty, das Verhältnis eines Erwachsenen zu einem Kinde, hervorgerufen durch die Freundschaft mit ihrem Bruder, erschien ihm als ein weiteres Hindernis für seine Liebe. Einen unschönen, gutmütigen Menschen, wie er seiner Ansicht nach einer war, konnte man, meinte er, wohl als Freund lieben; aber um mit einer solchen Liebe geliebt zu werden, wie er selbst sie für Kitty empfand, mußte man ein schöner und namentlich ein bedeutender Mann sein.
Er hatte allerdings schon sagen hören, daß die Frauen oft auch zu unschönen, gewöhnlichen Männern Liebe empfänden; aber er glaubte das nicht, weil er nach seiner eigenen Person urteilte [34] und selbst nur schöne, geheimnisvolle, ausgezeichnete Frauen lieben konnte.
Nachdem er aber zwei Monate in der Einsamkeit auf dem Lande zugebracht hatte, gelangte er zu der Überzeugung, daß das, was er für Kitty empfand, denn doch von wesentlich anderer Art war als die Liebesregungen, die er in seiner ersten Jugendzeit durchgemacht hatte; daß dieses Gefühl ihm keine Minute Ruhe lasse; daß er nicht leben könne, wenn nicht die Frage entschieden werde, ob sie sein Weib werden wolle oder nicht; daß seine Verzweiflung nur aus allerlei willkürlichen Berechnungen entsprungen sei und daß er keinerlei Beweise dafür habe, daß er werde zurückgewiesen werden. So fuhr er denn diesmal nach Moskau mit dem festen Entschlusse, ihr seine Hand anzubieten und sie zu heiraten, wenn sie ihn möge. Andernfalls, – aber er vermochte sich gar nicht zu denken, was aus ihm werden sollte, wenn er abgewiesen würde.
Er kam mit dem Morgenzuge in Moskau an und stieg bei seinem ältesten Bruder mütterlicherseits, Kosnüschew, ab. Nachdem er sich umgekleidet hatte, ging er zu ihm in sein Arbeitszimmer mit der Absicht, ihm sofort zu erzählen, zu welchem Zwecke er hergereist sei, und ihn um seinen Rat zu bitten; aber er fand seinen Bruder nicht allein. Bei ihm saß ein namhafter Professor der Philosophie, der von Charkow nach Moskau vornehmlich in der Absicht herübergekommen war, einen Zwiespalt der Anschauungen aufzuklären, der zwischen ihnen beiden in einer sehr wichtigen philosophischen Frage entstanden war. Der Professor nämlich hatte einen heftigen Kampf gegen die Materialisten geführt; Sergei Kosnüschew aber hatte diesen Kampf mit Interesse verfolgt und, nachdem er den letzten Artikel des Professors gelesen, ihm brieflich seine Einwendungen mitgeteilt; darin hatte er dem Professor den Vorwurf allzu wichtiger Zugeständnisse an die Materialisten gemacht. Und nun war der Professor sofort zu ihm gekommen, um sich mit ihm auszusprechen. Es handelte sich um die zeitgemäße Frage: Gibt es eine Grenze zwischen den psychischen und physiologischen Erscheinungen in der Lebenstätigkeit des Menschen, und wo liegt diese Grenze?
Sergei Iwanowitsch begrüßte seinen Bruder mit dem freundlich-kühlen Lächeln, das ihm allen Leuten gegenüber zur Gewohnheit geworden war, machte ihn mit dem Professor bekannt und setzte dann das Gespräch mit diesem fort.
[35] Der Professor, ein kleines Männchen mit schmaler Stirn und mit einer Brille, hatte für einen Augenblick den Gegenstand des Gespräches verlassen, um den Ankömmling zu begrüßen, fuhr aber in seiner Darlegung fort, ohne Ljewin weiter zu beachten. Ljewin setzte sich hin und wollte warten, bis der Professor weg ginge; aber bald interessierte er sich für den Inhalt des Gespräches.
Ljewin hatte mitunter in Zeitschriften Aufsätze über das Thema gefunden, das hier augenblicklich erörtert wurde, und hatte sie gelesen, weil sie ihn als ein weiterer Ausbau der ihm von seinen naturwissenschaftlichen Universitätsstudien her bekannten Grundgedanken der Naturwissenschaft interessierten; aber niemals hatte er diese wissenschaftlichen Darlegungen über die Entstehung des Menschen als eines körperlichen Wesens, über Reflexe, über Biologie und Soziologie in Verbindung gebracht mit der Frage nach der Bedeutung des Lebens und Todes für ihn selbst, einer Frage, die ihm in letzter Zeit immer häufiger durch den Kopf gegangen war.
Während er dem Gespräche seines Bruders mit dem Professor zuhörte, machte er die Beobachtung, daß sie Fragen der objektiven Wissenschaft mit Fragen des subjektiven Seelenlebens in Verbindung brachten, mehrere Male an diese Fragen sogar ganz dicht herankamen, aber jedesmal, wenn sie sich dem, was ihm als der Kernpunkt erschien, genähert hatten, sich sofort wieder eilig davon entfernten und sich wieder tief in feine Unterscheidungen, Verklausulierungen, Zitate, Andeutungen und Hinweise auf Autoritäten versenkten; nur mit Mühe begriff er, worum es sich handelte.
»Ich kann nicht zugeben«, sagte Sergei Iwanowitsch mit der ihm eigenen Klarheit, Knappheit und Eleganz des Ausdrucks, »ich kann unter keinen Umständen Keiß darin recht geben, daß meine gesamten Vorstellungen von der Außenwelt in Eindrücken ihren Ursprung haben sollen. Gerade den eigentlichen Grundbegriff des Daseins habe ich nicht durch Empfindung erlangt; denn ich besitze gar keinen besonderen Sinn für die Übermittelung dieses Begriffes.«
»Gewiß, aber die Gegner, Wurst, Knaust und Pripasow, antworten Ihnen darauf, daß Ihr Bewußtsein vom Dasein aus der Vereinigung aller Empfindungen entspringt, daß dieses Bewußtsein vom Dasein ein Erzeugnis der Empfindungen ist. Wurst sagt sogar geradezu, sobald es keine Empfindung gebe, könne es auch keinen Daseinsbegriff geben.«
»Ich sage aber im Gegenteil ...«, begann Sergei Iwanowitsch.
[36] Aber an dieser Stelle des Gespräches hatte Ljewin wieder den Eindruck, daß sie, dem eigentlichen Kernpunkt nahe gekommen, wieder im Begriff seien, sich von ihm zu entfernen, und er entschloß sich, dem Professor eine Frage vorzulegen.
»Mithin ist, wenn meine Sinnesempfindungen vernichtet sind, wenn mein Körper stirbt, auch keinerlei Dasein mehr möglich?« fragte er.
Ärgerlich und mit einer Art von seelischem Schmerzgefühl über diese Unterbrechung blickte der Professor nach dem sonderbaren Frager hin, der mehr den Eindruck eines gewöhnlichen Arbeitsmannes als eines Philosophen machte, und ließ dann seine Augen zu Sergei Iwanowitsch wandern, als ob er fragen wollte: Was soll man darauf antworten? Aber Sergei Iwanowitsch, der bei weitem nicht mit solchem Kampfeseifer und solcher Einseitigkeit sprach wie der Professor und dessen Kopf geräumig genug war, um sowohl mit dem Professor wissenschaftliche Erörterungen anzustellen wie auch den einfachen, natürlichen Gesichtspunkt zu verstehen, von dem aus jene Frage gestellt war, erwiderte lächelnd:
»Auf diese Frage eine bestimmte Antwort zu geben, sind wir noch nicht berechtigt.«
»Wir haben keine Unterlagen dazu«, bemerkte der Professor zustimmend und fuhr dann in seinen Darlegungen fort. »Nein«, sagte er, »ich möchte doch darauf hinweisen, daß, wenn auch, wie Pripasow es geradezu ausspricht, die Empfindung den Eindruck zu ihrer Grundlage hat, wir diese beiden Begriffe doch streng auseinanderhalten müssen.«
Ljewin hörte nicht weiter zu und wartete ab, daß der Professor wegginge.
Sobald der Professor gegangen war, wandte sich Sergei Iwanowitsch seinem Bruder zu.
»Ich freue mich sehr, daß du hergekommen bist. Bleibst du lange in Moskau? Was macht die Wirtschaft?«
Ljewin wußte, daß die Wirtschaft seinen älteren Bruder wenig interessierte und er sich nur aus freundlichem Entgegenkommen danach erkundigte; daher beschränkte er sich auf einige Mitteilungen über den Verkauf des Weizens und über Geldangelegenheiten.
Ljewin hatte dem Bruder von seinen Heiratsabsichten sagen und ihn um seinen Rat bitten wollen; er hatte es sich sogar ganz fest vorgenommen. Aber als er seinen Bruder gesehen und sein [37] Gespräch mit dem Professor mit angehört hatte und als er nun den unwillkürlich gönnerhaften Ton hörte, in dem sich der Bruder nach den Wirtschaftsangelegenheiten erkundigte (das Gut, das ihrer Mutter gehört hatte, war nicht geteilt worden, und Ljewin verwaltete beide Anteile), da fühlte er, daß er es nicht fertigbrächte, mit seinem Bruder über seine Absicht, sich zu verheiraten, zu reden. Er hatte die Empfindung, sein Bruder werde die Sache nicht so anschauen, wie es ihm erwünscht wäre.
»Nun, und was macht euere Kreisverwaltung?« fragte Sergei Iwanowitsch, der sich für diese Einrichtung lebhaft interessierte und ihr große Bedeutung beimaß.
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Aber bist du denn nicht Mitglied der Verwaltung?«
»Nein, ich bin nicht mehr Mitglied; ich bin ausgetreten«, erwiderte Ljewin. »Ich besuche auch die Versammlungen nicht mehr.«
»Das ist ja schade!« versetzte Sergei Iwanowitsch, die Stirn runzelnd.
Um sein Verhalten zu rechtfertigen, begann Ljewin zu erzählen, wie es bei diesen Versammlungen in seinem Kreise zugehe.
»Ja, so ist das doch immer!« unterbrach ihn Sergei Iwanowitsch. »Wir Russen sind immer so! Vielleicht ist das ja auch ein ganz guter Zug in unserem Charakter, daß wir einen Blick für das haben, was bei uns mangelhaft ist. Aber wir fassen diese Mängel zu schlimm auf und finden unser Vergnügen an einer ironischen Kritik, die uns immer auf der Zunge bereit liegt. Ich will dir nur sagen: wenn man die Rechte, mit denen unsere ländliche Selbstverwaltung ausgestattet ist, einem anderen europäischen Volke verliehe, – die Deutschen und die Engländer würden auf dem Grundpfeiler dieser Rechte das Gebäude ihrer Freiheit errichten; aber wir lachen und spotten nur.«
»Aber was ist zu machen?« erwiderte Ljewin etwas schuldbewußt. »Das war mein letzter Versuch. Und ich hatte ihn aus ganzem Herzen unternommen. Ich kann nicht mehr. Ich bin dazu unfähig.«
»Unfähig bist du dazu nicht«, sagte Sergei Iwanowitsch, »du betrachtest die Sache nur von einem falschen Standpunkte aus.«
»Mag sein«, antwortete Ljewin bedrückt.
»Weißt du auch schon: unser Bruder Nikolai ist wieder hier.«
Dieser Nikolai war Konstantin Ljewins älterer rechter Bruder, Sergei Iwanowitschs Stiefbruder, ein verkommener Mensch, der den größten Teil seines Vermögens durchgebracht hatte, in ganz [38] sonderbarer, schlechter Gesellschaft verkehrte und mit seinen Brüdern zerfallen war.
»Was sagst du da?« rief Ljewin erschrocken. »Woher weißt du das?«
»Prokofi hat ihn auf der Straße gesehen.«
»Hier in Moskau? Wo ist er? Weißt du es?« Ljewin sprang vom Stuhle auf, als ob er sogleich zu Nikolai hineilen wolle.
»Es tut mir schon leid, daß ich dir etwas davon gesagt habe«, erwiderte Sergei Iwanowitsch und schüttelte den Kopf über das aufgeregte Benehmen seines jüngeren Bruders. »Ich habe Erkundigungen einziehen lassen, wo er wohnt, und ihm den Wechsel, den er diesem Menschen, dem Trubin, ausgestellt hatte und den ich eingelöst habe, zugesandt. Hier ist die Antwort, die er mir geschickt hat.«
Sergei Iwanowitsch nahm unter dem Briefbeschwerer einen Zettel hervor und reichte ihn seinem Bruder hin. Dieser las folgendes, was in einer sonderbaren, ihm so wohlvertrauten Handschrift geschrieben war: »Ich bitte ergebenst, mich in Ruhe zu lassen. Das ist das einzige, was ich von meinen lieben Brüdern verlange. Nikolai Ljewin.«
Als Ljewin dies durchgelesen hatte, blieb er, ohne den Kopf aufzurichten, mit dem Zettel in der Hand vor Sergei Iwanowitsch stehen.
In seiner Seele kämpften miteinander der Wunsch, den unglücklichen Bruder jetzt zu vergessen, und das Bewußtsein, daß dies eine Schlechtigkeit wäre.
»Er will mich offenbar beleidigen«, fuhr Sergei Iwanowitsch fort, »aber mich zu beleidigen ist er nicht imstande; ich wünschte von ganzem Herzen, ihm zu helfen; aber ich weiß, daß das ein Ding der Unmöglichkeit ist.«
»Jawohl, jawohl«, versetzte Ljewin. »Ich verstehe und achte dein Benehmen ihm gegenüber; aber ich meinerseits will doch zu ihm gehen.«
»Wenn du dazu Lust hast, so gehe hin; aber raten kann ich dir nicht dazu«, erwiderte Sergei Iwanowitsch. »Das heißt, für mich selbst habe ich dabei keine Besorgnis; er wird dich nicht mit mir entzweien; aber in deinem Interesse möchte ich dir raten, lieber nicht hinzugehen. Zu helfen ist ihm nicht. Handle jedoch, wie du willst.«
»Vielleicht ist ihm wirklich nicht zu helfen; aber ich fühle, und ganz besonders in diesem Augenblicke – aber das ist eine andere Sache –, ich fühle, daß ich sonst nicht ruhig sein kann.«
»Nun, dafür habe ich kein rechtes Verständnis«, sagte Sergei Iwanowitsch. »Eines aber weiß ich«, fügte er hinzu, »es ist dies [39] für uns eine Lehre in der Demut. Ich habe über das, was man Gemeinheit nennt, anders und nachsichtiger zu urteilen angefangen, seitdem unser Bruder Nikolai das geworden ist, was er jetzt ist. Du weißt, was er getan hat.«
»Ach, es ist schrecklich, ganz schrecklich!« seufzte Ljewin.
Nachdem Ljewin sich von Sergei Iwanowitschs Diener die Wohnung des Bruders hatte angeben lassen, stand er schon im Begriffe, sofort zu ihm zu fahren; aber nach kurzer Überlegung entschied er sich dafür, diesen Besuch bis zum Abend zu verschieben. Vor allen Dingen mußte er, um sein seelisches Gleichgewicht wiederzuerlangen, die Angelegenheit zur Entscheidung bringen, um derentwillen er nach Moskau gekommen war. Daher fuhr er von seinem Bruder Sergei zu Oblonski nach dessen Dienstgebäude, und nachdem er von diesem Auskunft über Schtscherbazkis erhalten hatte, fuhr er dorthin, wo er nach Oblonskis Angabe Kitty zu treffen hoffte.
Um vier Uhr stieg Ljewin, der sein Herz heftig klopfen fühlte, am Zoologischen Garten aus der Droschke und ging auf einem Fußweg zur Rodelbahn und zur Eisbahn; er wußte zuverlässig, daß er Kitty dort finden werde, da er den Schtscherbazkischen Wagen beim Eingangstor gesehen hatte.
Es war ein heller Frosttag. Am Eingangstor standen in langen Reihen Wagen, vornehme Schlitten und einfache Schlittendroschken; Polizisten führten die Aufsicht. Von gutgekleideten Menschen, deren Hüte im hellen Sonnenscheine glänzten, wimmelte es am Eingange und auf den gesäuberten Fußwegen zwischen den russischen Häuschen mit den geschnitzten Firstbalken; die alten krausen Birken des Gartens ließen, vom Schnee beschwert, alle Zweige herabhängen und sahen aus, als ob sie in neue Festgewänder gekleidet seien.
Während er auf dem Fußwege zur Eisbahn ging, sagte er zu sich selbst: ›Ich darf mich nicht aufregen; ich muß ruhig sein. Warum klopfst du so?‹ redete er sein Herz an. ›Was hast du? Sei still, du dummes Ding!‹ Aber je mehr er sich bemühte, ruhig zu werden, um so schwerer wurde ihm das Atmen. Ein Bekannter begegnete ihm und rief ihn an; aber Ljewin erkannte nicht einmal, wer es war. Er näherte sich der Rodelbahn, wo die Ketten der auf und ab fahrenden Schlitten klirrten, die hinabsausenden Schlitten laut auf dem Eise knirschten und fröhliche Stimmen erklangen. Nun ging er noch einige Schritte weiter, und vor ihm [40] breitete sich die Eisbahn aus, und sofort erkannte er unter all den Schlittschuhläufern Kitty.
Er erkannte, daß sie da war, an dem Gefühle der Freude und zugleich der Angst, von dem sein Herz ergriffen wurde. Sie stand, im Gespräch mit einer Dame begriffen, am entgegengesetzten Ende der Eisbahn. Anscheinend war weder an ihrer Kleidung noch an ihrer Haltung etwas Auffallendes; aber für Ljewin war es ebenso leicht, sie aus diesem Menschenschwarm herauszufinden wie einen Rosenstrauch aus Nesseln. Alles wurde von ihr erleuchtet; sie war das Lächeln, das alles umher in heiterem Glanze erstrahlen ließ. ›Kann ich mich wirklich aufs Eis hinunter begeben und zu ihr hingehen?‹ überlegte er. Die Stelle, wo sie stand, erschien ihm als ein unnahbares Heiligtum, und einen Augenblick war er nahe daran, wieder wegzugehen; so bange war ihm zumute. Er mußte sich erst gewaltsam zusammennehmen und sich sagen, daß sich ja dort in ihrer Nähe allerlei Leute bewegten und auch er selbst ja hergekommen sein konnte, um Schlittschuh zu laufen. So stieg er auf das Eis hinunter, vermied es aber, wie man das bei der Sonne tut, Kitty lange anzusehen; aber er sah sie, wie die Sonne, auch ohne hinzublicken.
Auf dem Eise pflegten an diesem Wochentage und zu dieser Tageszeit Angehörige eines bestimmten Gesellschaftskreises zusammenzukommen, die alle untereinander bekannt waren. Da waren Meister im Schlittschuhlaufen, die mit ihrer Kunst glänzten, Anfänger hinter Stuhlschlitten, mit ängstlichen, ungeschickten Bewegungen, neben ganz jungem Volke auch alte Leute, die ihrer Gesundheit wegen liefen; sie alle betrachtete Ljewin als auserwählte Günstlinge des Glückes, weil ihnen vergönnt war, hier in Kittys Nähe zu sein. Aber alle diese Schlittschuhläufer, schien es, waren dabei von der größten Seelenruhe, holten sie ein, überholten sie, redeten sogar mit ihr und vergnügten sich ganz ohne Rücksicht auf sie, indem sie sich das vorzügliche Eis und das schöne Wetter mit Lust zunutze machten.
Nikolai Schtscherbazki, ein Vetter Kittys, saß in kurzer Jacke und engen Hosen, die Schlittschuhe an den Füßen, auf einer Bank und rief, sobald er Ljewin erblickte, ihm zu:
»Sieh da, der erste Schlittschuhläufer Rußlands! Sind Sie schon lange hier? Prächtiges Eis! Schnallen Sie doch die Schlittschuhe an!«
»Ich habe gar keine mit«, antwortete Ljewin und wunderte sich selbst, daß er sich in ihrer Gegenwart so dreist und ungezwungen zu benehmen vermochte; er verlor sie keine Sekunde aus den Augen, obwohl er nicht zu ihr hinblickte. Er fühlte, [41] daß seine Sonne sich ihm näherte. Kitty hatte in einer Ecke gestanden und kam nun, die schmalen Füßchen in den hohen Stiefelchen in stumpfem Winkel aufsetzend, mit augenscheinlicher Zaghaftigkeit auf ihn zugelaufen. Ein Knabe in russischer Tracht, der wie ein Verzweifelter die Arme umherwarf und sich tief vornüber bückte, überholte sie. Sie lief nicht sehr sicher; daher hatte sie die Hände aus dem kleinen, an einer Schnur hängenden Muff herausgezogen und hielt sie in Bereitschaft; sie blickte Ljewin, den sie erkannt hatte, an und lächelte ihm freundlich zu, wobei sie zugleich ihr eigene Ängstlichkeit belächelte. Als sie die erforderliche Schwenkung glücklich ausgeführt hatte, gab sie sich mit dem federnden Füßchen einen kleinen Stoß und glitt gerade auf Schtscherbazki zu; sie ergriff ihn am Arme und nickte Ljewin lächelnd zu. Sie war noch schöner als das Bild, das ihm vorgeschwebt hatte.
Wenn er an sie gedacht hatte, hatte er sich ihr ganzes Persönchen lebhaft vorstellen können, namentlich den stillen Reiz dieses kleinen, blonden Köpfchens mit dem Ausdruck kindlicher Unschuld und Herzensgüte, das so frei auf den wohlgeformten, jungfräulichen Schultern saß. Die Kindlichkeit ihres Gesichtsausdruckes im Verein mit der schlanken Schönheit ihrer Gestalt bildete an ihr einen besonderen Reiz, für den Ljewin durchaus Verständnis hatte; aber was ihn an ihr immer wie etwas Unerwartetes überraschte, das war der Ausdruck ihrer Augen, dieser sanften, ruhigen, ehrlichen Augen, und ganz besonders ihr Lächeln, das ihn immer in eine Zauberwelt versetzte, in der er sich so gerührt und so weich gestimmt fühlte, wie er es nach seiner Erinnerung nur an einigen wenigen Tagen seiner frühesten Kindheit gewesen war.
»Sind Sie schon lange hier?« fragte sie, ihm die Hand reichend. »Danke schön!« fügte sie hinzu, als er das Taschentuch aufhob, das ihr aus dem Muff gefallen war.
»Ich? Ich bin eben erst ... gestern ... das heißt, heute bin ich angekommen«, antwortete Ljewin, der vor Aufregung ihre Frage nicht sogleich verstanden hatte. »Ich wollte bei Ihnen einen Besuch machen«, fuhr er fort, und da ihm in demselben Augenblick einfiel, welche Absicht ihn zu ihr führte, wurde er verlegen und errötete. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie auch Schlittschuh laufen; und Sie laufen sehr gut.«
Sie blickte ihn aufmerksam an, als wollte sie die Ursache seiner Verlegenheit erforschen.
»Ihr Lob ist mir sehr wertvoll. Es hat sich hier eine Überlieferung erhalten, daß Sie der beste Schlittschuhläufer sind«, antwortete sie und klopfte mit ihrer kleinen, in einem schwarzen [42] Handschuh steckenden Hand die Reifnadeln ab, die auf ihren Muff gefallen waren.
»Ja, ich lief früher mit Leidenschaft; ich wollte es zur Meisterschaft bringen.«
»Es scheint, Sie tun alles mit Leidenschaft«, versetzte sie lächelnd. »Ich würde Sie sehr gern einmal laufen sehen. Schnallen Sie sich doch Schlittschuhe an; dann können wir ja zusammen laufen.«
›Zusammen laufen! Ist das denn wirklich möglich?‹ dachte Ljewin, indem er sie anblickte.
»Ich will mir sofort welche anschnallen«, sagte er.
Und er ging hin, um Schlittschuhe anzuschnallen.
»Sie sind ja lange nicht bei uns gewesen, gnädiger Herr«, sagte der Eisbahnpächter, während er seinen Fuß hielt und den Schlittschuh festschraubte. »Nach Ihnen haben wir keinen so guten Läufer hier gehabt. Wird es so gut sein?« fragte er beim Festziehen des Riemens.
»Ja, es ist ganz gut; nur schnell, nur schnell!« antwortete Ljewin und unterdrückte nur mit Mühe ein glückseliges Lächeln, das unwillkürlich auf sein Gesicht trat. ›Ja‹, dachte er, ›das ist Leben, das ist Glück! »Zusammen« hat sie gesagt; »wir können zusammen laufen.« Ob ich es ihr gleich jetzt sage? Aber ich scheue mich gerade deswegen, es ihr zu sagen, weil ich jetzt so glücklich bin, glücklich wenigstens in der Hoffnung. Und später? Aber ich muß es tun, ich muß, ich muß! Weg mit der Schwäche!‹
Ljewin stellte sich auf die Füße, legte den Überzieher ab, nahm auf dem rauhen Boden beim Häuschen einen Anlauf und lief dann auf das glatte Eis hinaus; dort glitt er ohne Anstrengung dahin, wie wenn er durch den bloßen Willen seinen Lauf beschleunigte, verlangsamte und lenkte. Zaghaft näherte er sich ihr; aber wieder beruhigte ihn ihr Lächeln.
Sie reichte ihm die Hand, und nun liefen sie mit gesteigerter Geschwindigkeit nebeneinander her, und je schneller sie liefen, um so fester drückte sie seine Hand.
»Mit Ihnen würde ich es rasch lernen«, sagte sie zu ihm. »Ich habe ein so großes Vertrauen zu Ihnen.«
»Und ich gewinne gleich an Selbstvertrauen, wenn Sie sich auf mich stützen«, erwiderte er, erschrak aber sogleich über das, was er gesagt hatte, und wurde rot. Und wirklich: kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da verlor auch schon ihr Gesicht, wie wenn die Sonne sich hinter dunklem Gewölk verbirgt, all seine Freundlichkeit, und Ljewin bemerkte an ihr das ihm wohlbekannte Mienenspiel, das stets ein Zeichen ernsten Nachdenkens war: auf ihrer glatten Stirn trat ein kleines Fältchen hervor.
[43] »Ist Ihnen etwas unangenehm?« sagte er schnell. »Ich habe allerdings kein Recht, danach zu fragen ...«
»Wieso! Aber nein, es ist mir nichts unangenehm«, antwortete sie kühl und fügte sogleich hinzu: »Haben Sie Mademoiselle Linon nicht begrüßt?«
»Nein, noch nicht.«
»Laufen Sie doch zu ihr hin; sie hat Sie so sehr gern.«
›Was ist das? Ich habe sie erzürnt. Herrgott, steh mir bei!‹ dachte Ljewin und lief zu der alten Französin mit den grauen Löckchen hin, die auf einer Bank saß. Lächelnd und ihre falschen Zähne zeigend, begrüßte sie ihn wie einen alten Freund.
»Ja, ja, so wachsen wir und werden älter«, sagte sie zu ihm, mit den Augen auf Kitty deutend. »Tiny bear 1 ist schon hübsch groß geworden«, fuhr die Französin lachend fort und erinnerte ihn damit an einen Scherz, den er einstmals über die drei Fräulein gemacht hatte: er hatte sie nach den drei Bären in dem englischen Märchen benannt. »Erinnern Sie sich wohl, daß Sie sie früher einmal so genannt haben?«
Er stellte entschieden in Abrede, sich dessen zu entsinnen; aber die Französin lachte schon zehn Jahre über diesen Scherz und fand ihn hübsch.
»Nun, gehen Sie, und laufen Sie weiter! Aber unsere Kitty hat ganz gut laufen gelernt, nicht wahr?«
Als Ljewin wieder zu Kitty hingelaufen kam, war ihre Miene nicht mehr so streng, und auch die Augen blickten offen und freundlich. Aber es schien ihm, als liege in ihrer Freundlichkeit ein besonderer, geflissentlich ruhiger Ton. Und es wurde ihm schwer ums Herz. Nachdem sie ein Weilchen über ihre alte Erzieherin und deren Absonderlichkeiten gesprochen hatte, fragte sie ihn nach seiner Lebensweise.
»Langweilen Sie sich denn im Winter auf dem Lande gar nicht?« fragte sie.
»Nein, ich langweile mich nicht, ich habe viel zu tun«, erwiderte er und fühlte dabei, daß sie ihn durch ihren ruhigen Ton in Schranken hielt und daß er jetzt ebensowenig imstande sein werde, diese Schranken zu durchbrechen, wie er es zu Anfang des Winters gekonnt hatte.
»Sind Sie zu längerem Aufenthalte nach Moskau gekommen?« fragte ihn Kitty.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er, ohne zu überlegen, was er sagte. Es kam ihm der Gedanke, wenn er sich wieder diesem ruhig-freundschaftlichen Tone fügte, so werde er auch diesmal abreisen müssen, ohne eine Entscheidung erreicht zu haben; daher beschloß er, sich dagegen aufzulehnen.
[44] »Aber das müssen Sie doch wissen!«
»Nein, ich weiß es nicht. Das wird von Ihnen abhängen«, versetzte er und erschrak sogleich über diese Antwort.
Ob sie nun seine Worte nicht gehört hatte oder nicht hatte hören wollen – sie schien zu straucheln, stampfte zweimal mit dem Füßchen auf und lief eilig von ihm fort. Sie lief zu Mademoiselle Linon hin, sagte ihr etwas und schlug dann die Richtung nach dem Häuschen ein, wo die Damen sich die Schlittschuhe an- und abschnallen ließen.
›Mein Gott, was habe ich getan! Herr, mein Gott! Steh mir bei; gib mir ein, was ich tun soll!‹ betete Ljewin im stillen. Und da er gleichzeitig ein Bedürfnis nach starker Bewegung empfand, so nahm er einen Anlauf und beschrieb Spiralen nach außen und nach innen zu.
In diesem Augenblick trat ein junger Mann, der beste der neueren Schlittschuhläufer, mit einer Zigarette im Munde und Schlittschuhen an den Füßen aus dem Kaffeehäuschen heraus, nahm einen Anlauf und sprang auf den Schlittschuhen mit Gepolter die Treppenstufen hinab. Unten angelangt, glitt er, ohne auch nur die ungezwungene Haltung der Arme zu verändern, auf dem Eise dahin.
»Aha, das ist ein neues Kunststück«, sagte Ljewin und lief sofort nach oben, um es gleichfalls auszuführen.
»Brechen Sie sich nicht den Hals! Das muß man geübt haben!« rief ihm Nikolai Schtscherbazki zu.
Ljewin stieg die Stufen hinan, nahm oben einen möglichst großen Anlauf und sprang hinunter, wobei er sich bei der ungewohnten Bewegung mit den Armen im Gleichgewicht hielt. Bei der letzten Stufe strauchelte er; jedoch berührte er das Eis dabei kaum mit der Hand; durch eine kräftige Bewegung brachte er sich wieder in die Höhe und lief lachend auf den Schlittschuhen über die Eisfläche weiter.
›Ein lieber, prächtiger Mensch‹, dachte Kitty, die in diesem Augenblicke mit Mademoiselle Linon aus dem Häuschen heraustrat und mit einem stillen, freundlichen Lächeln nach ihm wie nach einem lieben Bruder hinblickte. ›Bin ich wirklich schuld? Habe ich denn etwas Schlimmes getan? Die Leute reden immer von Gefallsucht. Ich weiß, daß ich ihn nicht liebe; aber doch macht mir das Zusammensein mit ihm soviel Vergnügen, und er ist ein so prächtiger Mensch. Aber warum hat er das nur gesagt?‹ dachte sie.
Als Ljewin sah, daß Kitty und ihre Mutter, die auf den Stufen mit ihr zusammengetroffen war, von der Eisbahn weggingen, blieb er, ganz rot von der schnellen Bewegung, stehen und [45] überlegte. Er schnallte die Schlittschuhe ab und holte Mutter und Tochter am Ausgange des Gartens ein.
»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen«, sagte die Fürstin. »Unser Empfangstag ist immer noch der Donnerstag.«
»Also heute?«
»Wir werden sehr erfreut sein, Sie bei uns zu sehen«, erwiderte die Fürstin in trockenem Tone.
Diesen trockenen Ton empfand Kitty peinlich, und sie konnte sich des Verlangens nicht erwehren, das kühle Wesen der Mutter wiedergutzumachen. Daher wandte sie den Kopf zu Ljewin zurück und sagte lächelnd:
»Auf Wiedersehen!«
Zu derselben Zeit war Stepan Arkadjewitsch, den Hut schief auf dem Kopfe, mit strahlendem Gesichte und blitzenden Augen, wie ein froher Sieger, im Garten erschienen. Aber als er seiner Schwiegermutter begegnete, beantwortete er mit trauriger, bedrückter Miene deren Fragen nach Dollys Gesundheit. Er führte dieses Gespräch mit leiser Stimme und in niedergeschlagener Haltung; aber sobald die Damen weggefahren waren, richtete er sich wieder selbstbewußt auf und faßte Ljewin unter den Arm.
»Nun, wie ist's? Wollen wir fahren?« fragte er. »Ich habe fortwährend an dich gedacht und bin sehr froh, daß du hierher nach der Eisbahn gekommen bist«, sagte er und blickte ihm bedeutsam in die Augen.
»Schön, schön, fahren wir!« antwortete der glückliche Ljewin, dem immer noch so war, als höre er den Ton der Stimme, die zu ihm ›Auf Wiedersehen!‹ gesagt hatte, und als sähe er das Lächeln, mit dem diese Worte gesprochen worden waren.
»Nach dem Hotel d'Angleterre oder nach der Eremitage?«
»Mir ganz gleich.«
»Na, dann nach dem Hotel d'Angleterre«, entschied Stepan Arkadjewitsch.
Er wählte dieses Restaurant deswegen, weil er da mehr schuldig war als in der Eremitage. Aus diesem Grunde hielt er es für unpassend, dieses Hotel zu meiden. »Hast du eine Droschke? Das ist ja vortrefflich; ich habe nämlich meinen Wagen wieder nach Hause geschickt.«
Während der ganzen Fahrt schwiegen die beiden Freunde. Ljewin dachte darüber nach, was jener Wechsel des Ausdrucks auf Kittys Gesicht wohl zu bedeuten gehabt habe, und gab sich bald dem Glauben hin, daß er hoffen dürfe, bald geriet er in Verzweiflung und sah klar ein, daß seine Hoffnung sinnlos sei, fühlte sich aber trotzdem als ein ganz anderer Mensch, völlig [46] unähnlich dem, der er vor ihrem Lächeln und vor den Worten »Auf Wiedersehen!« gewesen war.
Stepan Arkadjewitsch stellte unterwegs in Gedanken die Speisenfolge des Mittagsmahles zusammen.
»Du ißt doch wohl gern Steinbutt?« fragte er Ljewin, als sie an dem Restaurant vorfuhren.
»Was?« erwiderte Ljewin. »Steinbutt? Ja, Steinbutt esse ich leidenschaftlich gern.«
1 (engl.) unser kleiner Bär.
Als Ljewin mit Oblonski in das Hotel trat, drängte sich jenem die Wahrnehmung auf, daß Oblonskis Gesicht und gesamte Gestalt einen ganz besonderen Eindruck machten, gleichsam den Eindruck eines verhaltenen strahlenden Leuchtens. Oblonski legte den Überzieher ab und ging, den Hut schief auf einem Ohr, in den Speisesaal. Während des Gehens erteilte er den tatarischen Kellnern, die im Frack, das Tellertuch unter dem Arm, ihn umdrängten und begleiteten, seine Befehle. Indem er sich nach rechts und links gegen Bekannte verbeugte, die er auch hier in Menge fand und die ihn wie überall freudig begrüßten, ging er an den Schanktisch, trank einen Schnaps, aß ein Stückchen Fisch dazu und machte zu der geschminkten, mit Bändern, Spitzen und Haarwickeln aufgeputzten Französin, die als Kassiererin dasaß, eine Bemerkung, worüber diese laut lachen mußte. Ljewin hingegen verzichtete nur deswegen auf einen Schnaps, weil ihm diese Französin, die ganz aus falschem Haar, poudre de riz und vinaigre de toilette 1 zusammengesetzt zu sein schien, gar zu widerwärtig war. Wie von einem unsauberen Orte trat er schnell von ihr weg. Seine ganze Seele war von der Erinnerung an Kitty erfüllt, und in seinen Augen leuchtete ein Lächeln des Triumphes und des Glückes.
»Bitte, hierher, Euer Durchlaucht; hier werden Euer Durchlaucht ungestört sein«, sagte ein mit besonderer Beflissenheit sich an sie herandrängender alter Tatar mit blassem Gesichte und breiten Hüften, über denen die Frackschöße auseinanderklafften. »Bitte, Euer Durchlaucht«, sagte er auch zu Ljewin; denn zum Zeichen besonderer Verehrung für Stepan Arkadjewitsch wollte er auch dessen Gast achtungsvoll behandeln.
Im Nu hatte er ein frisches Tuch über einen bereits gedeckten runden Tisch unter einem bronzenen Wandleuchter gebreitet und die Samtsessel herangerückt; dann stellte er sich, das Tellertuch und die Speisekarte in den Händen, vor Stepan Arkadjewitsch hin und erwartete seine Bestellungen.
[47] »Wenn Euer Durchlaucht ein besonderes Kabinett befehlen, es wird sofort eines frei werden: Fürst Golizün mit einer Dame. Wir haben frische Austern bekommen.«
»Ah, Austern!«
Stepan Arkadjewitsch überlegte.
»Sollen wir den Kriegsplan ändern, Ljewin?« fragte er. Er hatte den Finger auf die Speisekarte gesetzt, und auf seinem Gesicht lag der Ausdruck ernsten Zweifels. »Sind die Austern auch gut? Nimm dich in acht!«
»Flensburger, Euer Durchlaucht; Ostender haben wir nicht.«
»Ob Flensburger oder andere, darauf kommt es nicht an; aber sind sie auch frisch?«
»Wir haben sie gestern bekommen.«
»Nun also, wie wär's? Wollen wir mit Austern anfangen und demgemäß dann den ganzen Plan umändern? Wie?«
»Mir ganz gleich. Ich äße am liebsten Kohlsuppe und Grütze; aber so etwas gibt es hier ja nicht.«
»Befehlen Sie Grütze à la russe?« fragte der Tatar und beugte sich über Ljewin wie eine Wärterin über ein kleines Kind.
»Nein, ohne Scherz, was du auswählst, wird mir recht sein. Ich bin Schlittschuh gelaufen und habe tüchtigen Appetit. Und du brauchst nicht zu glauben«, fügte er hinzu, als er auf Oblonskis Gesicht eine gewisse Unzufriedenheit bemerkte, »daß ich deine Auswahl nicht werde nach Gebühr zu würdigen wissen. Es wird mir großes Vergnügen bereiten, gut zu speisen.«
»Es wäre auch schlimm, wenn's nicht der Fall wäre!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch. »Man mag sagen, was man will, das ist einer der schönsten Lebensgenüsse. Nun also, Freundchen, dann gib uns Austern, zwei, oder nein, das ist ein bißchen wenig, drei Dutzend; Suppe mit allerlei Grünzeug darin ...«
»Printanière«, schaltete der Tatar ein. Aber Stepan Arkadjewitsch wollte ihm offenbar nicht den Gefallen tun, die Gerichte französisch zu benennen.
»Mit allerlei Grünzeug darin, verstehst du wohl? Dann Steinbutt mit einer so dicken Tunke, dann – Roastbeef; und sorge dafür, daß es gut ist. Dann Kapaun, nicht wahr? Na, und natürlich Kompott.«
Der Tatar, der sich inzwischen erinnert hatte, daß es eine Eigenheit Stepan Arkadjewitschs war, die Gerichte nicht mit den auf der französischen Speisekarte angegebenen Namen zu bezeichnen, hatte ihm nicht mehr die einzelnen Namen französisch nachgesprochen, machte sich aber nun zum Schluß das Vergnügen, die ganze Bestellung nach der Speisekarte zu wiederholen: »Soupe printanière, turbot sauce Beaumarchais, rosbif à [48] l'anglaise, poularde à l'estragon, macédoine de fruits. 2« Unmittelbar darauf legte er, als ob seine Bewegungen durch innerlich angebrachte Federn geregelt würden, die eine buchförmig eingebundene Karte, die Speisekarte, hin, ergriff die andere, die Weinkarte, und reichte diese Stepan Arkadjewitsch.
»Was wollen wir trinken?«
»Ich trinke, was du willst, nur nicht zuviel; meinetwegen Champagner«, erwiderte Ljewin.
»Was, gleich von Anfang an? Aber du hast recht; meinetwegen! Trinkst du gern weißgesiegelten?«
»Cachet blanc 3«, schaltete der Tatar ein.
»Na, dann bring uns zu den Austern diese Marke; nachher wollen wir weiter sehen.«
»Zu Befehl. Und welchen Tischwein befehlen Sie?«
»Bring uns Nuits! Oder nein, lieber einen recht guten Chablis!«
»Zu Befehl. Und den Käse, den Euer Durchlaucht auch sonst immer nehmen?«
»Na ja, Parmesan. Oder bevorzugst du einen anderen?«
»Nein, mir ist es ganz gleich«, erwiderte Ljewin, ohne ein Lächeln unterdrücken zu können.
Der Tatar lief mit flatternden Frackschößen hinaus und kam nach fünf Minuten mit einer Schüssel voll geöffneter Austern in ihren perlmutterglänzenden Schalen und mit einer Flasche zwischen den Fingern wieder hereingeflogen.
Stepan Arkadjewitsch zerknitterte das gestärkte Mundtuch, steckte es mit einem Zipfel unter die Weste, legte in aller Ruhe die Arme auf den Tisch und machte sich an die Austern.
»Nicht übel«, sagte er, während er die Austern mit dem silbernen Gäbelchen aus der schillernden Schale löste und eine nach der anderen verschluckte. »Nicht übel«, wiederholte er und richtete seine feucht schimmernden, glänzenden Augen bald auf Ljewin, bald auf den Tataren.
Ljewin aß gleichfalls von den Austern, obwohl ihm Weißbrot mit Käse mehr zugesagt hätte; aber es machte ihm Vergnügen, seinem Tischgenossen zuzusehen. Sogar der Tatar, der den Pfropfen aus der Flasche gezogen und den schäumenden Wein in die schlankfüßigen, weitschaligen Gläser gegossen hatte, blickte mit merkbarem Lächeln auf Stepan Arkadjewitsch, während er seine weiße Krawatte wieder zurechtschob.
»Du bist wohl kein besonderer Freund von Austern?« sagte Stepan Arkadjewitsch und trank sein Glas aus. »Oder hast du Sorgen, wie?«
Er hätte Ljewin gern fröhlich gesehen. Aber dieser war nicht eigentlich trübe gestimmt, sondern fühlte sich vielmehr in [49] Verlegenheit. Mit dem, was er auf dem Herzen hatte, war ihm sonderbar und unbehaglich zumute in einem solchen Restaurant, zwischen Kabinetten, wo mit Damen gespeist wurde, mitten in diesem Gelaufe und Getreibe; diese ganze Einrichtung mit Bronzefiguren, Spiegeln, Gaskronen und tatarischen Kellnern, all dies war ihm geradezu widerwärtig. Er fürchtete, das zu beflecken, was seine ganze Seele erfüllte.
»Ich? Ja, Sorgen habe ich; aber außerdem macht mich hier die ganze Umgebung verlegen«, antwortete er. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie fremdartig jemandem, der immer auf dem Lande lebt, das alles vorkommt, zum Beispiel auch die Fingernägel des Herrn, den ich bei dir traf.«
»Ja, ja, ich habe es wohl gesehen, daß die Nägel des armen Grinjewitsch dich sehr interessieren«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch lachend.
»Ich kann das nicht vertragen«, antwortete Ljewin. »Versuche doch einmal, dich in meine Seele hineinzuversetzen; stelle dich auf den Standpunkt eines Mannes vom Lande! Wir auf dem Lande geben uns Mühe, unsere Hände in eine solche Verfassung zu bringen, daß sich bequem mit ihnen arbeiten läßt. Darum schneiden wir unsere Nägel kurz und streifen uns manchmal die Ärmel auf. Aber hier lassen die Leute absichtlich ihre Nägel so lang wachsen, wie es nur irgend möglich ist, und befestigen an den Handwurzeln, angeblich als Hemdknöpfe, kleine Schüsseln, um nur ja nicht imstande zu sein, mit den Händen etwas vorzunehmen.«
Stepan Arkadjewitsch lächelte vergnügt.
»Das soll eben eine Andeutung sein, daß er keine grobe Arbeit zu verrichten braucht. Er arbeitet mit dem Kopfe.«
»Mag sein. Aber fremdartig bleibt es mir dennoch, ebenso wie es mir jetzt seltsam vorkommt, daß, während wir auf dem Lande uns möglichst schnell satt zu essen suchen, um wieder an unsere Arbeit gehen zu können, wir beide hier es darauf anlegen, möglichst lange zu essen, ohne satt zu werden, und zu diesem Zwecke Austern essen.«
»Selbstverständlich tun wir das«, warf Stepan Arkadjewitsch dazwischen. »Aber darin besteht ja gerade das Ziel der Bildung: sich aus allem einen Genuß zu bereiten.«
»Nun, wenn das das Ziel ist, dann möchte ich lieber ein Wilder sein.«
»Du bist ja auch ein Wilder. Ihr Ljewins seid alle Wilde.«
Ljewin seufzte. Er dachte an seinen Bruder Nikolai, und Scham und Traurigkeit überkamen ihn, so daß seine Miene sich verfinsterte; aber Oblonski leitete das Gespräch auf einen [50] Gegenstand, der ihn sofort diese trüben Gedanken vergessen ließ.
»Nun, wie ist's? Kommst du heute abend zu meinen Verwandten, ich meine, zu Schtscherbazkis?« fragte er, indem er die leeren, rauhen Austernschalen von sich schob, sich den Käse heranzog und bedeutsam mit den Augen zwinkerte.
»Ja, ich werde bestimmt hinkommen«, antwortete Ljewin, »obgleich ich den Eindruck hatte, daß die Fürstin mich nur ungern aufforderte.«
»Wie kannst du das denken! So ein Unsinn! Das ist nun einmal ihre Manier so. – Na, nun bring uns die Suppe, lieber Freund! – Das ist so ihre Art, grande dame«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Ich komme auch hin, muß aber vorher erst noch zu der Gräfin Bonina zu einer Gesangsprobe. Na, kannst du bestreiten, daß du ein Wilder bist? Wie ist es denn sonst zu erklären, daß du vor ein paar Monaten urplötzlich aus Moskau verschwandest? Schtscherbazkis haben mich unaufhörlich nach dir gefragt, als müßte ich Bescheid wissen. Und ich weiß doch nur das eine, daß du immer gerade das tust, was sonst niemand tut.«
»Ja«, erwiderte Ljewin langsam und in sichtlicher Erregung. »Du hast recht: ich bin ein Wilder. Nur hat sich das nicht darin gezeigt, daß ich damals wegfuhr, sondern darin, daß ich jetzt wiedergekommen bin. Ich bin jetzt wiedergekommen ...«
»Oh, was bist du für ein glücklicher Mensch!« unterbrach ihn Stepan Arkadjewitsch und blickte ihm in die Augen.
»Weswegen?«
deklamierte Stepan Arkadjewitsch. »Du hast noch alles vor dir.«
»Hast du denn schon alles hinter dir?«
»Nein, wenn auch nicht gerade das. Aber du hast noch die Zukunft; ich dagegen habe nur die Gegenwart, und die ist nur soso, halb süß, halb sauer.«
»Wieso denn?«
»Eine verdrießliche Geschichte. Na, aber ich wollte ja nicht von mir reden und könnte dir sowieso nicht alles auseinandersetzen«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. »Also warum bist du denn nach Moskau gekommen? – He du, räum das hier weg!« rief er dem Tataren zu.
[51] »Kannst du es nicht erraten?« versetzte Ljewin, ohne die Augen, in denen ein tiefinnerliches Leuchten lag, von Stepan Arkadjewitsch wegzuwenden.
»Ich errate es schon, kann aber doch nicht anfangen, davon zu reden. Schon danach kannst du beurteilen, ob ich richtig oder nicht richtig rate«, sagte Stepan Arkadjewitsch und blickte Ljewin mit einem feinen Lächeln an.
»Nun, was kannst du mir darüber sagen?« fragte Ljewin mit zitternder Stimme; er fühlte, daß in seinem Gesicht alle Muskeln zitterten. »Wie siehst du die Sache an?«
Stepan Arkadjewitsch trank langsam sein Glas Chablis aus, ohne die Augen von Ljewin wegzuwenden.
»Ich?« erwiderte er. »Ich würde nichts sehnlicher wünschen, nichts sehnlicher! Das wäre das beste, was überhaupt geschehen könnte.«
»Aber bist du auch nicht in einem Irrtum befangen? Du weißt doch, wovon wir sprechen?« fragte Ljewin und blickte seinen Tischgenossen in unruhiger Spannung starr an. »Du meinst also, daß es möglich wäre?«
»Das meine ich allerdings. Warum sollte es nicht möglich sein?«
»Nein, meinst du wirklich, daß es möglich wäre? Nein, sage mir alles, was du darüber denkst! Nun aber, wenn ... wenn mich eine abschlägige Antwort erwartet? – Ich bin sogar überzeugt ...«
»Warum denkst du denn das?« sagte Stepan Arkadjewitsch, über Ljewins Aufregung lächelnd.
»Es scheint mir bisweilen so. Das wäre ja entsetzlich, sowohl für mich wie für sie.«
»Na, für ein junges Mädchen ist jedenfalls nichts Entsetzliches dabei. Jedes junge Mädchen ist auf einen Heiratsantrag stolz.«
»Ja, jedes junge Mädchen, aber nicht sie.«
Stepan Arkadjewitsch lächelte. Er verstand Ljewins Gefühl sehr wohl und wußte, daß für diesen jetzt alle jungen Mädchen auf der Welt in zwei Klassen zerfielen: die eine Klasse umfaßte alle jungen Mädchen auf der Welt außer ihr, und diese jungen Mädchen hatten sämtlich menschliche Schwächen und waren eben junge Mädchen von ganz gewöhnlichem Schlage; die andere Klasse wurde von ihr allein gebildet, von ihr, die keinerlei Schwächen an sich hatte und hoch über allem stand, was Mensch hieß.
»Warte mal, nimm doch Sauce!« sagte er und hielt Ljewins Hand fest, der die ihm dargereichte Sauce zurückwies.
Gehorsam nahm Ljewin, ließ aber Stepan Arkadjewitsch nicht zum Essen kommen.
[52] »Nein, warte mal, warte mal!« sagte er. »Mach dir doch klar, daß es sich bei dieser Frage für mich um Leben und Tod handelt. Ich habe noch nie mit jemand davon gesprochen und kann auch mit niemand als mit dir davon sprechen. Wir beide, du und ich, sind ja in jeder Beziehung verschieden geartet; anderer Geschmack, andere Anschauungen, alles verschieden; aber ich weiß, daß du mich gern hast und mich verstehst, und darum empfinde ich auch eine so starke, herzliche Zuneigung zu dir. Aber ich beschwöre dich, sei ganz aufrichtig!«
»Was ich für meine Person glaube, habe ich dir schon gesagt«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch lächelnd. »Ich will dir aber noch mehr sagen: Meine Frau ist ein im höchsten Grade bewundernswertes Wesen ...«, hier seufzte Stepan Arkadjewitsch in Erinnerung an sein Verhältnis zu seiner Frau und fuhr erst nach kurzem Stillschweigen fort: »Sie besitzt die Gabe, in die Zukunft zu sehen. Sie durchschaut die Menschen durch und durch; und damit nicht genug, sie weiß auch voraus, was geschehen wird, namentlich auf dem Gebiete der Heiraten. So hat sie zum Beispiel vorhergesagt, daß Fräulein Schachowskaja diesen Herrn Brenteln heiraten werde. Kein Mensch wollte es glauben, und doch kam es so. Und sie steht ganz auf deiner Seite.«
»Inwiefern?«
»Insofern, als sie dich nicht nur gut leiden kann, sondern auch erklärt, Kitty werde ganz sicher deine Frau werden.«
Bei diesen Worten überzog auf einmal ein strahlendes Lächeln Ljewins Gesicht, ja es waren ihm die Tränen der Rührung ganz nahe.
»Das sagt sie?« rief er aus. »Ich habe es ja immer gesagt, daß deine Frau ein herrliches Weib ist. Nun, aber jetzt genug davon, genug!« fügte er hinzu und stand von seinem Platze auf.
»Schön, schön! Aber bleib doch sitzen!«
Jedoch zum Sitzen hatte Ljewin in diesem Augenblick keine Ruhe. Zweimal durchmaß er mit seinen festen Schritten das Zimmer wie einen Käfig und zwinkerte mit den Augen, damit die Tränen nicht zu sehen wären; dann erst setzte er sich wieder an den Tisch.
»Du mußt wissen«, sagte er, »daß das nicht nur so einfach Liebe ist. Verliebt bin ich auch sonst schon mitunter gewesen; aber dies ist etwas ganz anderes. Es ist gar nicht wie mein eigenes Gefühl, sondern als ob eine Art von äußerer Gewalt sich meiner bemächtigt hätte. Ich bin ja damals weggefahren, weil ich zu der Überzeugung gelangt war, daß diese Sache schlechterdings unmöglich sei, verstehst du, unmöglich wie ein [53] Glück, das es auf Erden nicht gibt; aber ich habe mit mir selbst gerungen und sehe ein, daß, wenn ich dies nicht erreiche, es für mich kein Leben gibt. Und nun muß es zur Entscheidung kommen!«
»Warum bist du denn damals eigentlich abgereist?«
»Warte doch nur, warte! Ach, wie viele Gedanken jetzt auf mich einstürmen! Wie vielerlei muß ich dich noch fragen! Höre zu! Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, was für eine Wohltat du mir mit dem erwiesen hast, was du mir sagtest. Ich bin so glücklich, daß ich sogar schlecht geworden bin; denn ich habe alles andere darüber vergessen. Ich habe heute erfahren, daß mein Bruder Nikolai ... weißt du, er ist jetzt hier ... auch den habe ich ganz vergessen. Ich habe die Vorstellung, daß auch er glücklich ist. Das ist bei mir wie eine Art Irrsinn. Aber eines ist mir schrecklich. – Du hast dich ja auch verheiratet und wirst dieses Gefühl kennen. – Schrecklich ist mir das Bewußtsein, daß wir keine neuen, reinen Menschen mehr sind, daß wir schon eine Vergangenheit haben, nicht in der Liebe, sondern in der Sünde. – Und nun nähern wir uns auf einmal einem reinen, unschuldigen Wesen. Das ist ab scheulich, und darum muß man sich mit Notwendigkeit unwürdig fühlen.«
»Na, du wirst ja nicht gar so viele Sünden begangen haben.«
»Ach, trotzdem«, sagte Ljewin, »trotzdem! ›Mit Ekel schaue ich auf mein Leben zurück, das ich mit Zittern und Beben verwünsche und bitterlich beklage‹, heißt es in jenem Gebete. Ja.«
»Was ist da zu machen? Es ist in der Welt einmal nicht anders«, antwortete Stepan Arkadjewitsch.
»Es gibt nur einen Trost, wie es in dem Gebete steht, das ich immer so gern gemocht habe: ›Vergib mir nicht nach meinem Verdienst, sondern nach deiner Barmherzigkeit.‹ Auch sie kann mir nur so vergeben.«
Ljewin trank sein Glas aus, und beide schwiegen eine Weile.
»Eines muß ich dir noch mitteilen. Kennst du Wronski?« fragte Stepan Arkadjewitsch darauf seinen Freund.
»Nein, ich kenne ihn nicht. Warum fragst du?«
»Bring noch eine Flasche!« wandte sich Stepan Arkadjewitsch an den Tataren, der die Gläser wieder gefüllt hatte und sich um die beiden gerade dann zu schaffen machte, wenn seine Anwesenheit nicht erwünscht war.
»Du solltest Wronski deswegen kennen, weil er einer deiner Nebenbuhler ist.«
[54] »Wer ist dieser Wronski?« rief Ljewin, und der kindlich-schwärmerische Ausdruck seines Gesichtes, über den sich Oblonski soeben noch gefreut hatte, verwandelte sich plötzlich in einen grimmigen, feindseligen.
»Wronski ist einer der Söhne des Grafen Kirill Iwanowitsch Wronski und einer der hervorragendsten Vertreter der Petersburger jeunesse dorée 1. Ich habe ihn in Twer kennengelernt, als ich dort angestellt war und er zur Rekrutenaushebung hinkam. Er ist furchtbar reich, ein schöner Mann, hat viele gute Beziehungen, Flügeladjutant, und dabei zugleich ein sehr liebenswürdiger, guter Kerl. Aber er ist mehr als nur so ein guter Kerl. Nach dem, wie ich ihn hier kennengelernt habe, ist er ein gebildeter, sehr gescheiter Mensch; er wird es noch einmal weit bringen.«
Ljewin zog ein finsteres Gesicht und schwieg.
»Na also, der erschien hier bald nach deiner Abreise, und soviel ich weiß, ist er in Kitty bis über die Ohren verliebt, und du begreifst wohl, daß die Mutter ...«
»Entschuldige, aber ich begreife gar nichts«, sagte Ljewin mit düsterer Stirn. Und zugleich fiel ihm sein Bruder Nikolai ein und wie schlecht er selbst sei, daß er diesen hatte vergessen können.
»Halt, warte einmal!« sagte Stepan Arkadjewitsch lächelnd und berührte seine Hand. »Ich habe dir mitgeteilt, was ich weiß, und ich wiederhole: in dieser heiklen, zarten Angelegenheit sind, soweit sich dergleichen vorher beurteilen läßt, meines Erachtens die Aussichten auf deiner Seite.«
Ljewin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück; sein Gesicht war ganz blaß geworden.
»Ich würde dir aber raten, die Sache möglichst bald zur Entscheidung zu bringen«, fuhr Oblonski fort und füllte ihm das Glas wieder.
»Nein, ich danke, ich kann nicht mehr trinken«, lehnte Ljewin ab und schob das Glas zurück. »Ich würde betrunken werden. – Nun, und du, wie geht es dir denn?« fragte er, offenbar mit dem Wunsche, das Thema zu wechseln.
»Nur noch ein Wort: auf jeden Fall rate ich dir, die Frage mit möglichster Beschleunigung ins reine zu bringen; aber heute schon davon zu reden, dazu würde ich nicht raten«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Mach morgen vormittag dort in der nun einmal üblichen Form einen Besuch und halte um ihre Hand an. Und Gott möge dich segnen!«
»Du wolltest mich doch immer einmal zur Jagd auf dem Lande besuchen? Komm doch in diesem Frühjahr!« erwiderte Ljewin.
[55] Er bereute es jetzt in tiefster Seele, mit Stepan Arkadjewitsch dieses Gespräch begonnen zu haben. Sein Gefühl, ein Gefühl, das nach seiner Meinung ganz eigenartig dastand, war entweiht durch das Gespräch über die gleichen Bemühungen irgendeines Petersburger Offiziers und durch Stepan Arkadjewitschs Mutmaßungen und Ratschläge.
Stepan Arkadjewitsch lächelte. Er begriff völlig, was in Ljewins Seele vorging.
»Ich komme schon noch einmal«, antwortete er. »Ja, liebster Freund, die Weiber, das ist doch der Angelpunkt, um den sich alles dreht. Auch mir geht es schlimm, recht schlimm. Und alles kommt von den Weibern her. Sage mir doch mal ganz aufrichtig deine Meinung«, fuhr er fort – in der einen Hand hielt er eine Zigarre, die er hervorgeholt hatte, die andere Hand hatte er am Weinglase – »und gib mir einen Rat!«
»In welcher Angelegenheit denn?«
»Hör zu! Nehmen wir an, du wärest verheiratet und liebtest deine Frau, hättest aber eine Leidenschaft zu einem anderen weiblichen Wesen gefaßt ...«
»Entschuldige, aber ich verstehe durchaus nicht, wie jemand ... ebenso wie ich nicht verstehe, was mich veranlassen könnte, jetzt, da ich völlig gesättigt bin, aus einem Bäckerladen im Vorbeigehen einen Kringel zu stehlen.«
Stepan Arkadjewitschs Augen glänzten noch heller als gewöhnlich.
»Warum nicht? Ein Kringel duftet manchmal so gut, daß man nicht widerstehen kann.
Bei diesen Worten lächelte Stepan Arkadjewitsch fein und listig. Auch Ljewin vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken.
»Ja, aber nun ohne Scherz«, fuhr Oblonski fort. »Verstehst du: ein Mädchen, ein gutes, sanftes, liebendes Wesen, hat einem Manne alles geopfert und steht nun arm und einsam da. Soll nun jetzt, nachdem die Tat bereits geschehen ist, verstehst du wohl, soll der Mann sie nun im Stiche lassen? Allerdings, er wird sich von ihr trennen müssen, um sein Familienleben nicht zu zerstören; aber soll er sie nicht bemitleiden, sie nicht wirtschaftlich sicherstellen, ihren Kummer mildern?«
»Du mußt mich schon entschuldigen. Du weißt, für mich zerfallen alle Frauen in zwei Klassen – das heißt, nein – richtiger [56] so: es gibt Frauen, und es gibt ... Ich habe unter den gefallenen Weibern noch keine reizenden Geschöpfe gesehen und werde solche wohl auch nie unter ihnen sehen; dergleichen Weiber, wie die geschminkte Französin da an der Kasse, mit den Papilloten, das ist in meinen Augen widerwärtiges Geschmeiß, und alle Gefallenen sind von dieser selben Sorte.«
»Und die Sünderin im Evangelium?«
»Ach, fang nicht damit an! Christus hätte jene Worte nie gesprochen, wenn er gewußt hätte, wie sie mißbraucht werden würden. Aus dieser ganzen Geschichte werden immer nur diese Worte angeführt. Übrigens ist das bei mir nicht sowohl Sache des Verstandes wie Sache des Gefühls. Ich habe einen Widerwillen gegen gefallene Weiber. Du ekelst dich vor Spinnen und ich mich vor diesem Geschmeiß. Und dabei hast du die Spinnen gewiß nicht studiert und bist mit ihrem Charakter nicht bekannt; mit mir steht es ebenso.«
»So zu reden wie du, ist kein Kunststück; du verfährst gerade wie jener Herr bei Dickens, der alle schwierigen Fragen mit der linken Hand über die rechte Schulter wirft. Aber die Daseinsberechtigung einer Tatsache ableugnen, das ist noch keine Antwort. Was ist in solcher Lage zu tun? Das sage mir: Was ist zu tun? Deine Frau altert, und du selbst bist noch voll Lebenslust. Ehe du dich dessen versiehst, fühlst du auch schon, daß du deine Frau nicht mehr lieben kannst, wenn du sie auch noch so sehr achtest und verehrst. Und auf einmal steht wie aus dem Boden gewachsen eine wirkliche Liebe da, und du bist verloren, verloren!« stöhnte Stepan Arkadjewitsch niedergeschlagen und verzweifelt.
Ljewin verzog das Gesicht zu einem Lächeln.
»Jawohl, verloren!« fuhr Oblonski fort. »Aber was ist da zu tun?«
»Man darf keine Kringel stehlen.«
Stepan Arkadjewitsch lachte auf.
»O du Moralprediger! Aber mach dir das doch nur klar: Da sind zwei Frauen: die eine kann sich nur auf ihr Recht berufen, und nach diesem Rechte steht ihr deine Liebe zu, die du ihr doch nicht zu geben vermagst; die andere bringt dir alles zum Opfer, ohne irgend etwas zu fordern. Was mußt du da tun? Wie mußt du dich verhalten? Das ist die furchtbare Tragik dieser Lage.«
»Wenn du meine aufrichtige Meinung darüber wissen willst, muß ich dir sagen: ich glaube gar nicht, daß dabei irgendwelche Tragik vorkommen kann. Der Grund ist der: Nach meiner Ansicht dient die Liebe – oder genauer: die beiden Arten der Liebe, die, wie du dich wohl erinnerst, Plato in seinem ›Gastmahl‹ [57] unterscheidet –, also die beiden Arten der Liebe dienen als Prüfstein für die Menschen. Manche Menschen besitzen nur für die eine, manche nur für die andere Art Verständnis. Diejenigen, die nur für die nichtplatonische Art der Liebe Verständnis besitzen, haben kein Recht, von Tragik zu reden. Bei dieser Art der Liebe kann überhaupt keine Tragik vorkommen. Da heißt es: ›Ich danke ergebenst für das genossene Vergnügen und empfehle mich‹, und damit ist die Sache erledigt. Bei der platonischen Liebe aber ist Tragik deswegen unmöglich, weil bei einer solchen Liebe alles klar und rein ist und weil ...«
In diesem Augenblicke fielen ihm aber seine eigenen Sünden und der Seelenkampf ein, den er durchgemacht hatte. Und er fügte ohne Zusammenhang mit dem, was er vorher gesagt hatte, hinzu:
»Es mag übrigens auch sein, daß du recht hast. Sehr möglich ... Aber ich weiß es nicht, ich weiß es schlechterdings nicht.«
»Ja, siehst du wohl«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch, »du bist ein durchaus einheitlicher Mensch. Das ist an dir ein Vorzug und zugleich ein Mangel. Du selbst bist ein einheitlicher Charakter und möchtest nun, daß sich auch das ganze Leben aus einheitlichen Erscheinungen zusammensetze, – aber das geht eben nicht an. Da verachtest du zum Beispiel unsere Tätigkeit im Staatsdienste, weil du möchtest, daß diese Tätigkeit sich stets mit ihrem Ziele im Einklang befinde; aber das ist nicht möglich. Du möchtest auch, daß die Tätigkeit eines jeden einzelnen Menschen immer ein bestimmtes Ziel habe und daß Liebe und Eheleben immer zusammenfielen; aber das ist unmöglich. Die ganze bunte Mannigfaltigkeit, der ganze Reiz, die ganze Schönheit des Lebens setzt sich aus Licht und Schatten zusammen.«
Ljewin seufzte und erwiderte nichts darauf. Er hatte seine eigenen Gedanken und hörte nicht auf das, was Oblonski sagte.
Und auf einmal fühlten sie beide, daß, obgleich sie Freunde waren und obgleich sie zusammen gespeist und Wein getrunken hatten, was sie eigentlich einander hätte noch näherbringen müssen, daß dennoch ein jeder von ihnen nur an sich selbst dachte und sich um den anderen herzlich wenig grämte. Oblonski hatte schon mehr als einmal diese Erfahrung gemacht, daß nach einem gemeinsamen guten Mittagessen statt der zu erwartenden Annäherung vielmehr eine Entfremdung eintritt, und wußte, was in solchen Fällen zu tun sei.
»Die Rechnung!« rief er und begab sich dann in den anstoßenden Saal, wo er auch sogleich einen ihm bekannten Adjutanten traf und sich mit ihm in ein Gespräch über eine Schauspielerin und ihren Liebhaber einließ. Und bei dieser Unterhaltung mit [58] dem Adjutanten fühlte Oblonski sofort, daß ihm leichter zumute wurde und er sich von dem Gespräche mit Ljewin erholte, der ihn immer zu einer übermäßigen geistigen und seelischen Anspannung veranlaßte.
Der Tatar erschien mit der Rechnung im Betrage von sechsundzwanzig Rubeln und einigen Kopeken, wozu dann noch das Trinkgeld kam; aber Ljewin, der als Bewohner des platten Landes zu anderer Zeit einen gewaltigen Schreck über eine Rechnung bekommen hätte, bei der auf sein Teil vierzehn Rubel entfielen, beachtete dies jetzt gar nicht, bezahlte und begab sich nach Hause, um sich umzukleiden und dann zu Schtscherbazkis zu fahren, wo sich sein Schicksal entscheiden sollte.
1 (frz.) der vornehmen jungen Leute von Petersburg.
Die Prinzessin Kitty Schtscherbazkaja war achtzehn Jahre alt; es war der erste Winter, in dem sie Gesellschaften besuchte. Ihre Erfolge auf diesem Gebiete waren größer als die ihrer beiden älteren Schwestern, sogar größer, als die Fürstin erwartet hatte. Nicht nur, daß die tanzenden jungen Männer auf den Moskauer Bällen fast sämtlich in Kitty verliebt waren, sondern es hatten sich auch gleich im ersten Winter zwei ernstliche Bewerber für sie gefunden: Ljewin und unmittelbar nach dessen Abreise Graf Wronski.
Ljewins Erscheinen in der Moskauer Gesellschaft zu Anfang des Winters, seine häufigen Besuche und seine augenscheinliche Liebe zu Kitty gaben Kittys Eltern den ersten Anlaß, miteinander ernsthaft über die Zukunft ihrer Tochter zu reden, wobei es zwischen dem Fürsten und der Fürstin zum Streit kam. Der Fürst stand auf Ljewins Seite und erklärte, er könne sich für Kitty gar keinen besseren Mann wünschen. Die Fürstin dagegen äußerte sich nach der den Frauen eigenen Gewohnheit, den Kernpunkt einer Frage zu umgehen, dahin, daß Kitty noch zu jung sei, daß Ljewin durch nichts ernste Absichten erkennen lasse, daß Kitty keine Neigung für ihn empfinde, und was es an derartigen Gründen mehr gab; ihren Hauptgrund aber sprach sie nicht aus, daß sie nämlich für ihre Tochter auf eine bessere Partie hoffe, daß Ljewin ihr unsympathisch sei und daß sie ihn in seinem ganzen Wesen nicht verstehe. Als nun Ljewin urplötzlich abreiste, freute sich die Fürstin darüber geradezu und sagte triumphierend zu ihrem Manne: »Siehst du wohl, ich hatte recht!« Und als darauf Wronski erschien, war sie noch viel mehr erfreut, da sie sich immer mehr in ihrer Meinung bestärkt sah, [59] daß Kitty nicht etwa nur eine gute, sondern eine glänzende Partie machen müsse.
Nach der Anschauung der Mutter waren Wronski und Ljewin gar nicht miteinander zu vergleichen. Der Mutter mißfielen an Ljewin sowohl seine seltsamen, schroffen Urteile auf vielen Gebieten wie auch sein unbeholfenes Wesen im gesellschaftlichen Verkehr, das nach ihrer Annahme auf Stolz beruhte; dann sein nach ihren Begriffen ungebildetes Leben auf dem Lande, wo er nur mit dem Vieh und den Bauern zu tun habe; ihr starkes Mißfallen erregte es auch, daß er, der doch in ihre Tochter verliebt war, anderthalb Monate lang bei ihnen im Hause verkehrte und dabei anscheinend irgend etwas abwartete und Beobachtungen anstellte, als ob er fürchte, der Familie durch einen Heiratsantrag eine gar zu große Ehre anzutun, und endlich, daß er kein Verständnis dafür hatte, daß er die Pflicht habe, sich zu erklären, wenn er so auffällig in einem Hause verkehrte, wo ein heiratsfähiges junges Mädchen war. Und dann war er auf einmal abgereist, ohne sich erklärt zu haben. ›Es ist nur recht gut, daß er so wenig Einnehmendes hat, daß Kitty sich nicht hat in ihn verlieben können‹, dachte die Mutter.
Wronski hingegen entsprach durchaus allen Anforderungen der Mutter. Er war sehr reich, klug, angesehen, auf bestem Wege zu einer glänzenden militärisch-höfischen Laufbahn und eine bezaubernde Persönlichkeit. Etwas Besseres zu wünschen, war einfach unmöglich.
Wronski machte auf den Bällen Kitty offenkundig den Hof, tanzte viel mit ihr und verkehrte im Hause; somit war an der Ernsthaftigkeit seiner Absichten nicht zu zweifeln. Aber trotzdem befand sich die Mutter diesen ganzen Winter über in arger Unruhe und Aufregung.
Bei der eigenen Verheiratung der Fürstin vor dreißig und etlichen Jahren hatte eine Tante das Amt der Vermittlerin übernommen. Der Freier, über den man schon vorher alles Erforderliche in Erfahrung gebracht hatte, erschien im Hause, nahm das junge Mädchen in Augenschein, um das er sich bewerben wollte, und wurde seinerseits prüfend betrachtet; die vermittelnde Tante erhielt von einer jeden Partei Mitteilung über den empfangenen Eindruck und gab diese Mitteilung an die andere Partei weiter; der Eindruck war auf beiden Seiten gut; darauf wurde an einem festgesetzten Tage den Eltern der erwartete Antrag gemacht und von ihnen angenommen. Alles war sehr glatt und einfach vonstatten gegangen. Wenigstens schien es jetzt der Fürstin so. Aber bei ihren eigenen Töchtern mußte sie die Erfahrung machen, wie schwer und knifflig die anscheinend [60] so einfache Aufgabe, die Töchter zu verheiraten, in Wirklichkeit sei. Schon bei der Verheiratung der beiden älteren Töchter, Darja und Natalja, wieviel Angst hatte sie dabei ausgestanden, wieviel sorgenvolle Gedanken in ihrem Kopfe umhergewälzt, wieviel Geld darangewendet, wieviel Meinungsverschiedenheiten mit ihrem Manne durchgekämpft! Und jetzt, da die Jüngste in die Gesellschaft eintrat, wiederholten sich dieselben Befürchtungen, dieselben Zweifel, und die Streitigkeiten mit ihrem Manne gestalteten sich noch erheblich schärfer als die wegen der älteren Töchter. Der alte Fürst war, wie alle Väter, besonders peinlich in der Sorge für den reinen, ehrenhaften Ruf seiner Töchter; er war auf die Töchter in unvernünftiger Weise eifersüchtig, namentlich auf Kitty, die sein Liebling war, und machte der Fürstin alle Augenblicke unangenehme Szenen, weil sie die Tochter ins Gerede bringe. Die Fürstin war das schon gewohnt geworden, als es sich noch um die ersten Töchter gehandelt hatte; aber jetzt fühlte sie, daß zu der Peinlichkeit, wie sie der Fürst an den Tag legte, mehr Grund vorhanden sei. Sie sah, daß sich in der letzten Zeit gar manches in den Gebräuchen der Gesellschaft geändert hatte und die Pflichten einer Mutter noch schwerer geworden waren. Sie sah, daß Kittys Altersgenossinnen allerlei Vereine bildeten, allerlei Vorlesungen besuchten, mit Männern in freierer Form umgingen, ohne Begleitung durch die Stadt fuhren, großenteils den Knicks abgeschafft hatten und, was die Hauptsache war, alle fest davon überzeugt waren, daß die Wahl eines Gatten für sie ihre eigene Angelegenheit, nicht die der Eltern sei. ›Heutzutage geht es bei der Eheschließung nicht mehr so zu wie früher‹, dachten und sagten alle diese jungen Mädchen und sogar alle älteren Leute. Aber wie man es heutzutage mit der Verheiratung der Töchter zu halten habe, das konnte die Fürstin von niemandem in Erfahrung bringen. Die französische Sitte, bei der die Eltern über das Schicksal der Kinder entscheiden, hatte in Rußland keinen Eingang gefunden und wurde so gut wie allgemein verworfen. Die englische Sitte, den jungen Mädchen völlige Freiheit zu lassen, war gleichfalls nicht angenommen worden und erschien in der russischen Gesellschaft als unmöglich. Und die russische Sitte der Heiratsvermittelung galt als abgeschmackt, und alle machten sich darüber lustig, auch die Fürstin selbst. Wie nun aber die Töchter und die Eltern sich in dieser wichtigen Sache zu verhalten hatten, das wußte kein Mensch zu sagen. Alle, mit denen die Fürstin darüber ins Gespräch kam, sagten zu ihr nur: »Aber ich bitte Sie, in unserer Zeit ist es doch wahrhaftig angezeigt, diesen veralteten Brauch aufzugeben. Die jungen Leute sollen ja [61] die Ehe eingehen und nicht die Eltern; also muß man auch die jungen Leute sich versorgen lassen, wie sie selbst wollen.« Aber die, die keine Töchter hatten, konnten leicht so reden; die Fürstin dagegen mußte sich sagen, daß bei freier Möglichkeit der Annäherung ihre Tochter sich auch in einen Mann verlieben könne, der gar nicht beabsichtigte, sie zu heiraten, oder auch in einen solchen, der nicht zum Gatten für sie tauge. Und mochte man auch der Fürstin mit noch so starken Gründen zu beweisen suchen, daß in unserer Zeit die jungen Leute sich ihr Schicksal selbst gestalten müßten, sie vermochte das ebensowenig zu glauben, wie sie hätte glauben können, daß irgendwann in Zukunft für fünfjährige Kinder das beste Spielzeug geladene Pistolen wären. Und daher beunruhigte sich die Fürstin um Kitty mehr, als sie es bei ihren älteren Töchtern getan hatte.
Jetzt fürchtete sie, Wronski könnte sich darauf beschränken, ihrer Tochter lediglich die Kur zu machen. Sie sah, daß Kitty sich bereits in ihn verliebt hatte; aber sie tröstete sich damit, daß er ein Ehrenmann sei und sich deshalb ein solches Verhalten nicht werde zuschulden kommen lassen. Aber zugleich entging ihr nicht, wie leicht es bei der heutigen Freiheit des Verkehrs sei, einem jungen Mädchen den Kopf zu verdrehen, und wie leichtfertig im allgemeinen die Männer über eine solche Schuld denken. In der vergangenen Woche hatte Kitty ihrer Mutter ein Gespräch erzählt, das sie mit Wronski bei einer Masurka gehabt hatte. Durch das Gehörte hatte sich die Fürstin allerdings teilweise beruhigt gefühlt; aber ganz ruhig vermochte sie nicht zu sein. Wronski hatte zu Kitty gesagt, er und sein Bruder seien beide so daran gewöhnt, sich in allen Stücken ihrer Mutter unterzuordnen, daß sie nie etwas Wichtiges unternehmen würden, ohne vorher ihren Rat eingeholt zu haben. »Auch jetzt erwarte ich die Ankunft meiner Mutter aus Petersburg wie ein besonderes Glück«, hatte er gesagt.
Kitty hatte das ihrer Mutter erzählt, ohne diesen Worten besondere Bedeutung beizumessen. Aber die Mutter faßte es anders auf. Sie wußte, daß die Ankunft der alten Gräfin von Tag zu Tag erwartet wurde, und wußte, daß diese über die von ihrem Sohne getroffene Wahl erfreut sein werde; sie wunderte sich freilich, daß er aus Furcht, seine Mutter zu kränken, bisher noch keinen Antrag gemacht hatte; jedoch wünschte sie so sehnlich sowohl diese Ehe selbst wie auch in allererster Linie endlich die Befreiung von all diesen Sorgen und Unruhen, daß sie an die in Wronskis Worten anscheinend liegende Begründung seines Verhaltens glaubte. Wie schmerzlich es auch jetzt für die Fürstin war, das Unglück ihrer ältesten Tochter Dolly mit ansehen zu [62] müssen, die eine Trennung von ihrem Manne vorhatte, so drängte doch die Aufregung über das demnächst sich entscheidende Schicksal der jüngsten Tochter alle anderen Gefühle bei ihr zurück. Der heutige Tag hatte ihr durch Ljewins plötzliches Wiedererscheinen eine neue Beunruhigung gebracht. Sie fürchtete, daß ihre Tochter, die früher, wie es ihr vorgekommen war, gegen Ljewin eine freundliche Gesinnung gehegt hatte, aus übertriebener Ehrlichkeit Wronski einen Korb geben und überhaupt Ljewins Ankunft die dem Abschluß schon so nahe Angelegenheit verwirren oder verzögern könnte.
»Ist er schon vor längerer Zeit angekommen?« fragte die Fürstin mit Bezug auf Ljewin, als sie nach Hause zurückfuhren.
»Heute, maman.«
»Ich möchte dir nur das eine sagen ...«, begann die Fürstin, und an ihrem ernsten, eine lebhafte Erregung bekundenden Gesichte erriet Kitty, wovon die Rede sein sollte.
»Mama«, sagte sie, indem sie sich schnell zu ihr hinwandte und blutrot wurde, »bitte, bitte, sprechen Sie nicht von dieser Sache! Ich weiß alles, alles weiß ich!«
Sie wünschte dasselbe, was die Mutter wünschte; aber die Gründe, die die Mutter zu diesem Wunsche veranlaßten, versetzten sie in Entrüstung.
»Ich wollte nur sagen, nachdem du dem einen Hoffnung gemacht hast ...«
»Mama, liebste Mama, ich bitte Sie inständig, sprechen Sie nicht davon! Es ist so schrecklich, davon zu sprechen.«
»Nun, nun, dann will ich es lassen«, erwiderte die Mutter, als sie Tränen in Kittys Augen sah. »Nur eines, mein Herzchen: du hast mir versprochen, keine Geheimnisse vor mir zu haben. Wirst du deinem Versprechen treu bleiben?«
»Niemals werde ich Ihnen etwas verheimlichen, Mama, nichts, nichts!« antwortete Kitty errötend und blickte der Mutter gerade in die Augen. »Aber ich habe Ihnen jetzt nichts mitzuteilen ... Ich ... ich ... beim besten Willen weiß ich nicht, was ich Ihnen sagen könnte, und wie ... ich weiß nicht ...«
›Nein, mit diesen Augen kann sie keine Unwahrheit sagen‹, dachte die Mutter und lächelte über die Aufregung und das Glück ihres Kindes. Sie lächelte darüber, wie großartig und bedeutungsvoll der armen Kleinen das erschien, was jetzt in ihrem Herzen vorging.
[63]Kitty machte in der Zeit nach dem Mittagessen bis zum Abend ähnliche Empfindungen durch wie ein Jüngling vor einer Schlacht. Ihr Herz pochte stark, und sie konnte mit ihren Gedanken bei keinem Gegenstande verweilen.
Sie fühlte, daß der heutige Abend, an dem die beiden jungen Männer, die sich um ihre Gunst bemühten, zum ersten Male miteinander zusammentreffen sollten, ihr die Entscheidung ihres Schicksals bringen mußte. Und unaufhörlich stellte sie sich die beiden Nebenbuhler vor, bald einen jeden einzeln für sich, bald beide zusammen. Wenn sie an die Vergangenheit dachte, so verweilte sie mit Vergnügen und Rührung bei der Erinnerung an ihre Beziehungen zu Ljewin. Die Kindheitserinnerungen und die Erinnerungen an Ljewins Freundschaft mit ihrem verstorbenen Bruder verliehen ihrem Verhältnis zu ihm einen besonderen poetischen Reiz. Seine Liebe zu ihr, von der sie fest überzeugt war, schmeichelte ihr und bereitete ihr Freude. So konnte sie bei der Erinnerung an Ljewin leichten, freudigen Herzens sein. Dagegen mischte sich in die Erinnerung an Wronski immer eine Art von unbehaglichem Gefühl, obgleich er ein außerordentlich weltgewandtes, durchaus ruhiges Wesen hatte; als ob irgend etwas Unwahres nicht sowohl in ihm – denn er war überaus schlicht und herzlich – wie vielmehr in ihr selbst wäre, während sie sich Ljewin gegenüber völlig klar und unbefangen fühlte. Dafür aber trat ihr, sobald sie an die Zukunft an Wronskis Seite dachte, ein Bild voll Glanz und Glück vor Augen; an Ljewins Seite erschien ihr die Zukunft wie von einem Nebelschleier verhüllt.
Als sie sich in das obere Stockwerk begeben hatte, um sich umzukleiden, und dort in den Spiegel blickte, bemerkte sie mit Freude, daß sie einen ihrer guten Tage hatte und sich im Vollbesitz aller ihrer Kräfte befand, – und das war ja auch so nötig für alles, was ihr bevorstand. Sie fühlte sich imstande, die äußere Ruhe zu bewahren und sich mit freier Anmut zu bewegen.
Als sie um halb acht Uhr in den Salon trat, meldete der Diener: »Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin.« Die Fürstin befand sich noch in ihrem Zimmer, auch der Fürst war noch nicht im Salon. ›Also jetzt kommt es!‹ dachte Kitty, und alles Blut strömte ihr zum Herzen. Sie erschrak über ihre Blässe, als sie in den Spiegel blickte.
Jetzt war sie sich ganz klar darüber, daß er nur deshalb so früh gekommen war, um sie allein zu treffen und ihr einen [64] Antrag zu machen. Und jetzt zum ersten Male erschien ihr die ganze Sache auch von einer ganz anderen, neuen Seite. Erst jetzt begriff sie, daß die Frage nicht sie allein anginge – wen sie liebe und mit wem sie glücklich werden solle –, sondern daß sie im nächsten Augenblick genötigt sein werde, einen Menschen, den sie gern hatte, zu verletzen, und aufs grausamste zu verletzen. Und wofür? Dafür, daß dieser gute Mensch sie liebte, in sie verliebt war. Aber es war nicht zu vermeiden, es ging nicht anders, es mußte sein.
›Mein Gott, muß ich es ihm wirklich selbst sagen?‹ dachte sie. ›Soll ich ihm sagen, daß ich ihn nicht gern habe? Das wäre eine Unwahrheit. Was soll ich ihm denn nur sagen? Soll ich ihm sagen, daß ich einen anderen liebe? Nein, das kann ich unmöglich. Ich will weggehen, ja, ich will weggehen!‹
Sie war schon dicht an der Tür, als sie seine Schritte hörte. ›Nein, das wäre nicht ehrenhaft. Warum soll ich mich fürchten? Ich habe nichts Böses getan. Was sein muß, muß sein! Ich werde die Wahrheit sagen. Und ihm gegenüber kann mir das nicht peinlich sein. – Da ist er!‹ sagte sie zu sich selbst, als sie seine kräftige und dabei doch schüchterne Gestalt mit den glänzenden, auf sie gerichteten Augen erblickte. Sie sah ihm offen ins Gesicht, als wollte sie ihn um Schonung anflehen, und reichte ihm die Hand.
»Ich komme zu unrichtiger Zeit, es scheint noch zu früh zu sein«, sagte er, sich in dem leeren Salon um blickend. Als er sah, daß seine Erwartung eingetroffen war und ihn nichts hinderte, sich auszusprechen, wurde sein Gesicht tiefernst.
»Oh, nicht doch!« erwiderte Kitty und setzte sich an den Tisch.
»Gerade das hatte ich gewünscht, Sie allein zu treffen«, begann er, ohne sich zu setzen und ohne sie anzusehen, um nicht den Mut zu verlieren.
»Mama kommt sofort. Sie war gestern sehr müde. Gestern ...«
Sie sprach, ohne selbst zu wissen, was ihre Lippen redeten, und ohne ihren flehenden, traulich-freundlichen Blick von ihm abzuwenden.
Er sah sie an; sie errötete und verstummte.
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich nicht wüßte, ob ich für längere Zeit hierher nach Moskau gekommen sei und daß das von Ihnen abhängen werde ...«
Sie senkte den Kopf immer tiefer und tiefer hinab und wußte jetzt selbst nicht, was sie auf die herannahende Frage antworten werde.
»... daß das von Ihnen abhängen werde«, sagte er noch einmal. »Ich wollte sagen ... ich wollte sagen ... Ich bin nach [65] Moskau gekommen, um ... um ... Werden Sie mein Weib!« kam es auf einmal heraus, ohne daß er selbst gewußt hätte, was er sprach; aber da er fühlte, daß das Schrecklichste nun gesagt war, hielt er inne und blickte sie an.
Sie atmete schwer, ohne ihn anzusehen. Ein Wonnegefühl durchströmte sie; ihre ganze Seele war übervoll von Glücksempfindung. Sie hatte nie erwartet, daß ein Liebesgeständnis von einer Seite auf sie einen so gewaltigen Eindruck machen werde. Aber dies dauerte nur einen Augenblick. Dann tauchte bei ihr der Gedanke an Wronski auf. Sie hob ihre hellen, ehrlichen Augen zu Ljewin in die Höhe, und als sie die Verzweiflung in seinem Gesichte las, antwortete sie hastig:
»Es kann nicht sein. – Verzeihen Sie mir!«
Wie nahe hatte sie ihm noch einen Augenblick vorher gestanden, welche wichtige Stellung hatte sie in seinem Leben eingenommen! Und wie fremd, wie fern war sie ihm jetzt auf einmal!
»Es konnte nicht anders kommen«, sagte er, ohne sie anzusehen.
Er verbeugte sich und wollte fortgehen.
Aber in diesem Augenblick trat die Fürstin ein. Ein Erschrecken malte sich auf ihrem Gesichte, als sie die beiden so allein und ihre erregten Mienen sah. Ljewin verbeugte sich vor ihr, ohne ein Wort zu sagen; Kitty schwieg und hob die Augen nicht empor. ›Gott sei Dank, sie hat ihm einen Korb gegeben‹, dachte die Mutter, und auf ihrem Gesichte strahlte das gewöhnliche Lächeln auf, mit dem sie an jedem Donnerstage ihre Gäste begrüßte. Sie setzte sich und begann Ljewin über sein Leben auf dem Lande auszufragen. Er hatte gleichfalls wieder Platz genommen und wartete nur auf die Ankunft anderer Gäste, um dann unbemerkt wegzugehen.
Fünf Minuten darauf trat eine Freundin Kittys ein, die sich im vorigen Winter verheiratet hatte, eine Gräfin Northstone.
Dies war eine trockene, gelbliche, kränkliche, nervöse Dame mit schwarzen, glänzenden Augen. Sie mochte Kitty sehr gern, und diese freundschaftliche Gesinnung gegen sie äußerte sich, wie das bei der Freundschaft verheirateter Frauen mit jungen Mädchen stets der Fall ist, in dem Wunsche, Kitty in einer ihrem eigenen Ideale von Glück entsprechenden Weise unter die Haube zu bringen. Sie strebte danach, daß Kitty den Grafen Wronski [66] zum Manne bekäme. Ljewin, den sie zu Anfang des Winters häufig bei Schtscherbazkis getroffen hatte, war ihr immer unsympathisch gewesen. Eine stete Lieblingsbeschäftigung von ihr beim Zusammentreffen mit ihm war es, sich über ihn lustig zu machen.
›Ich habe es gern, wenn er von seinem erhabenen Gipfel auf mich herabblickt und entweder im Gespräch mit mir seine klugen Auseinandersetzungen abbricht, weil ich ihm doch zu dumm dafür bin, oder auch zu mir herabsteigt. Das habe ich ganz besonders gern, dieses Herabsteigen! Ich freue mich sehr darüber, daß er mich nicht leiden kann‹, so pflegte sie sich über ihn zu äußern.
Sie hatte recht, da Ljewin sie in der Tat nicht leiden konnte und sie gerade wegen derjenigen Eigenschaften geringschätzte, auf die sie stolz war und die sie sich als Vorzug anrechnete, nämlich wegen ihrer Nervosität und wegen ihrer blasierten Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber allem Unverfeinerten und Schlicht-Realistischen.
Zwischen der Gräfin Northstone und Ljewin hatte sich ein in den Kreisen der höheren Gesellschaft nicht selten zu findendes Verhältnis herausgebildet, daß nämlich zwei Menschen zwar äußerlich in freundlicher Form miteinander verkehren, dabei aber sich gegenseitig in dem Maße geringschätzen, daß sie einan der nicht einmal ernst nehmen können und sogar einer sich vom anderen nicht beleidigt fühlen kann.
Die Gräfin Northstone fiel sogleich über Ljewin her.
»Ah, Konstantin Dmitrijewitsch! Sind wir wieder einmal nach unserem sittenlosen Babel gekommen?« sagte sie und reichte ihm ihre winzig kleine, gelbe Hand; sie zitierte damit einen Ausdruck, den er zu Anfang des Winters einmal gebraucht hatte, daß Moskau ein Babel sei. »Nun, hat sich das Babel gebessert, oder haben Sie sich verschlechtert?« fügte sie hinzu und sah mit spöttischem Lächeln zur Seite nach Kitty hin.
»Es ist mir sehr schmeichelhaft, Gräfin, daß Sie meine Worte so gut im Gedächtnis haben«, entgegnete Ljewin, dem es nun schon einigermaßen gelungen war, seine Fassung wiederzugewinnen, und der nun sofort seine herkömmlichen scherzhaft-feindlichen Beziehungen zu der Gräfin Northstone wieder aufnahm. »Offenbar haben sie Ihnen einen starken Eindruck gemacht.«
»Das versteht sich! Ich schreibe mir alles auf. Nun, Kitty, bist du wieder Schlittschuh gelaufen?«
Sie begann eine Unterhaltung mit Kitty. So wenig es sich auch für Ljewin schicken mochte, jetzt wegzugehen, so fand er es doch [67] leichter, diese Ungeschicklichkeit zu begehen, als den ganzen Abend dazubleiben und Kitty zu sehen, die bisweilen nach ihm hinschaute, aber seinem Blick auswich. Er wollte gerade aufstehen, da wandte die Fürstin, die bemerkt hatte, daß er schwieg, sich ihm zu.
»Sind Sie auf längere Zeit nach Moskau gekommen? Sie sind ja wohl bei der Kreisverwaltung tätig und können darum nicht lange fort?«
»Nein, Fürstin, bei der Kreisverwaltung bin ich nicht mehr tätig«, antwortete er. »Ich bin auf ein paar Tage hergekommen.«
›Es muß etwas Besonderes mit ihm los sein‹, dachte die Gräfin Northstone, der sein ernster, strenger Gesichtsausdruck auffiel. ›Er läßt sich heute gar nicht zu einer seiner gewohnten Auseinandersetzungen verleiten. Aber ich werde ihn schon herauslocken. Es macht mir das größte Vergnügen, ihn in Kittys Gegenwart zum Narren zu halten. Das will ich auch heute tun.‹
»Konstantin Dmitrijewitsch«, redete sie ihn wieder an, »bitte, erklären Sie mir doch einen wunderlichen Fall, der uns vorgekommen ist; Sie verstehen sich ja auf all diese Dinge: Auf unserem Gute im Gouvernement Kaluga haben die sämtlichen Bauern mit ihren Weibern alles, was sie besaßen, vertrunken und bezahlen uns jetzt nichts. Wie soll man das auffassen? Sie loben ja die Bauern immer so sehr.«
In diesem Augenblick trat noch eine Dame ins Zimmer, und Ljewin stand auf.
»Entschuldigen Sie mich, Gräfin, aber ich verstehe wirklich nichts davon und kann Ihnen nichts darüber sagen«, entgegnete er und blickte zu einem Offizier hin, der hinter der Dame eintrat.
›Das muß Wronski sein‹, dachte Ljewin und schaute, um Gewißheit zu haben, zu Kitty hin. Diese hatte den Eintretenden bereits erblickt und sah sich jetzt nach Ljewin um. Und aus diesem einen Blicke ihrer unwillkürlich aufleuchtenden Augen erkannte Ljewin, daß sie diesen Mann liebte, und erkannte es mit solcher Sicherheit, wie wenn sie es ihm mit Worten mitgeteilt hätte. Aber was für ein Mann war dieser Wronski?
Jetzt konnte Ljewin, mochte es nun wohlgetan sein oder nicht, sich nicht dazu entschließen, wegzugehen; er mußte feststellen, was für ein Mann das war, den sie lieben konnte.
Es gibt Leute, die, wenn sie mit jemandem zusammentreffen, der auf irgendeinem Gebiete ihr glücklicher Nebenbuhler ist, sofort geneigt sind, von allem, was Gutes an ihm ist, die Augen wegzuwenden und nur das Schlechte zu sehen. Und wiederum gibt es Leute, die in ganz entgegengesetztem Verfahren eifrig [68] danach verlangen, an diesem glücklichen Nebenbuhler diejenigen Eigenschaften herauszufinden, durch die er ihnen den Rang abgelaufen hat, und die an ihm nur das Gute suchen, mag ihnen auch der Schmerz fast das Herz abdrücken. Ljewin gehörte zu dieser Art. Und es wurde ihm nicht schwer, bei Wronski das Gute und Anziehende herauszufinden. Es sprang ihm sofort in die Augen. Wronski war ein Mann von mäßiger Größe, kräftig gebaut, brünett, mit einem hübschen, gutmütigen Gesichte, das einen außerordentlich ruhigen, festen Ausdruck trug. In seinem Gesicht und an seiner ganzen Gestalt, von dem kurz geschorenen dunklen Haar und dem frisch rasierten Kinn bis zu der bequem sitzenden nagelneuen Uniform, war alles an ihm einfach und zugleich vornehm. Wronski ließ zunächst die mit ihm ziemlich gleichzeitig eingetretene Dame zur Fürstin hingehen und trat dann selbst zu dieser und darauf zu Kitty heran.
In dem Augenblicke, als er zu ihr trat, leuchtete in seinen Augen eine besondere Zärtlichkeit auf; mit einem ganz leisen, glücklichen, bescheiden triumphierenden Lächeln (so schien es Ljewin) beugte er sich in respektvoller, ruhiger Bewegung zu ihr hinab und streckte ihr seine kleine, aber breite Hand entgegen.
Nachdem er alle Anwesenden begrüßt und mit jedem ein paar Worte gesprochen hatte, setzte er sich hin, ohne Ljewin auch nur angesehen zu haben, der seinerseits kein Auge von ihm verwandte.
»Gestatten die Herren, daß ich Sie miteinander bekannt mache«, sagte die Fürstin, auf Ljewin weisend. »Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin, Graf Alexei Kirillowitsch Wronski.«
Wronski stand auf, blickte Ljewin freundlich in die Augen und drückte ihm die Hand.
»Ich sollte ja wohl in diesem Winter einmal mit Ihnen zusammen an einem Diner teilnehmen«, sagte er mit seinem offenen, ungekünstelten Lächeln. »Aber Sie waren ganz unerwartet wieder aufs Land gereist.«
»Konstantin Dmitrijewitsch verachtet und haßt die Stadt und uns Städter«, bemerkte die Gräfin Northstone.
»Meine Worte müssen auf Sie einen starken Eindruck gemacht haben, da Sie sie so gut im Gedächtnis bewahren«, erwiderte Ljewin, errötete aber sofort, da ihm einfiel, daß er dasselbe schon vorhin gesagt hatte.
Wronski blickte Ljewin und die Gräfin Northstone an und lächelte.
»Sie leben immer auf dem Lande?« fragte er. »Ich denke mir, im Winter ist es da recht langweilig.«
[69] »Wenn man seine Tätigkeit hat, ist es nicht langweilig; auch langweile ich mich nie, wenn ich mit mir allein bin«, versetzte Ljewin in etwas scharfem Tone.
»Ich liebe das Landleben«, sagte Wronski, der Ljewins Ton wohl bemerkte, aber tat, als ob ihm nichts auffiele.
»Aber Sie würden sich hoffentlich nicht dazu verstehen, immer auf dem Lande zu leben, Graf?« fragte die Gräfin Northstone.
»Das weiß ich nicht. Auf längere Zeit habe ich es noch nicht versucht. Ich habe einmal eine seltsame Empfindung durchgemacht«, fuhr er fort. »Ich habe mich nach dem Landleben, nach einem russischen Dorfe mit seinen Bauern und Bastschuhen nirgends so gesehnt wie in Nizza, wo ich mit meiner Mutter einen Winter zubrachte. Nizza ist ja an und für sich langweilig, wie Sie wissen, auch Neapel und Sorrent; schön sind sie nur bei kurzem Aufenthalt. Und gerade dort kommt einem besonders lebhaft die Erinnerung an Rußland und besonders an unsere Dörfer. Sie sind gleichsam ...«
Während er sprach, wandte er sich sowohl an Kitty wie auch an Ljewin und ließ seinen ruhigen, freundlichen Blick von einem zum anderen gleiten; er redete offenbar, wie es ihm gerade in den Sinn kam.
Als er bemerkte, daß die Gräfin Northstone etwas sagen wollte, hielt er inne, ohne den begonnenen Satz zu Ende zu bringen, und hörte ihr aufmerksam zu.
Das Gespräch stockte keinen Augenblick, so daß die alte Fürstin, die für den Fall etwa eintretenden Stoffmangels immer zwei schwere Geschütze in Reserve hielt, den Vergleich der klassischen Bildung mit der Realbildung und die allgemeine Wehrpflicht, diese nicht ins Treffen zu bringen brauchte und die Gräfin Northstone keine Gelegenheit fand, Ljewin aufzuziehen.
Ljewin wünschte wohl, sich an dem allgemeinen Gespräche zu beteiligen, war aber nicht dazu imstande. Jeden Augenblick sagte er sich: ›Jetzt will ich gehen‹, ging aber doch nicht, als wenn er noch auf etwas wartete.
Es war auf Tischrücken und Geister die Rede gekommen, und die Gräfin Northstone, die an den Spiritismus glaubte, begann von wunderbaren Vorgängen zu erzählen, die sie mit angesehen habe.
»Ach, Gräfin, zu den Leuten müssen Sie mich jedenfalls einmal mit hinnehmen, ich bitte Sie um alles in der Welt, nehmen Sie mich mit hin! Ich habe noch nie etwas Übernatürliches gesehen, obgleich ich überall danach suche«, sagte Wronski lächelnd.
[70] »Nun gut, also nächsten Sonnabend«, antwortete die Gräfin Northstone. »Wie steht es mit Ihnen, Konstantin Dmitrijewitsch, glauben Sie daran?« wandte sie sich an Ljewin.
»Warum fragen Sie mich? Sie wissen ja, was ich sagen werde.«
»Aber ich möchte gern Ihre Ansicht hören.«
»Meine Ansicht ist nur die«, antwortete Ljewin, »diese tanzenden Tische beweisen, daß die sogenannte gebildete Gesellschaft in geistiger Hinsicht nicht höher steht als die Bauern. Die Bauern glauben an den bösen Blick und an Behexung des Viehs und an Liebeszauber, und wir ...«
»Also Sie glauben nicht daran?«
»Ich kann nicht daran glauben, Gräfin.«
»Aber wenn ich es doch mit eigenen Augen gesehen habe?«
»Die Bauersfrauen erzählen auch, daß sie mit eigenen Augen Hauskobolde gesehen haben.«
»Sie meinen also, daß ich die Unwahrheit sage?«
Sie lachte ärgerlich und gereizt.
»Nicht doch, Mascha; Konstantin Dmitrijewitsch sagt doch nur, daß er nicht daran glauben kann«, suchte Kitty zu vermitteln. Sie errötete aus Teilnahme für Ljewin, und dieser, der das richtig verstand, wollte eben, nun noch mehr gereizt, eine Antwort geben, da kam Wronski mit seinem offenen, heiteren Lächeln dem Gespräche, das unerfreulich zu werden drohte, zu Hilfe.
»Sie stellen also die Möglichkeit völlig in Abrede?« fragte er. »Warum denn? Wir geben doch das Vorhandensein der Elektrizität zu, deren Wesen uns gleichfalls dunkel ist; warum könnte es nicht eine neue, uns noch unbekannte Kraft geben, die ...«
»Als die Elektrizität entdeckt wurde«, unterbrach ihn Ljewin erregt, »wurde zunächst nur ihre äußere Erscheinungsform entdeckt; welches der Ursprung der Elektrizität sei und welche Wirkungen sie hervorbringe, das blieb unbekannt, und Jahrhunderte vergingen, ehe man daran dachte, sie praktisch zu verwenden. Die Spiritisten dagegen begannen damit, daß sie die Tische schreiben und die Geister zu Besuch kommen ließen, und sagten dann erst, das sei eine unbekannte Kraft.«
Wronski hörte, wie er das immer tat, aufmerksam zu und interessierte sich augenscheinlich für das, was Ljewin sagte.
»Ja, aber die Spiritisten sagen: ›Jetzt wissen wir noch nicht, was für eine Kraft das ist; aber eine Kraft ist da, und man sieht, unter welchen Bedingungen sie wirkt. Mögen die Gelehrten erforschen, worin diese Kraft besteht.‹ Nein, ich kann nicht sagen, warum das nicht eine neue Kraft sein könnte, wenn sie ...«
[71] »Darum nicht«, unterbrach ihn Ljewin wieder, »weil bei der Elektrizität jedesmal, wenn Sie ein Stück Harz an Wolle reiben, eine bestimmte Erscheinung eintritt, hier aber nicht jedesmal; folglich liegt keine Naturerscheinung vor.«
Wronski, der wohl das Gefühl hatte, daß das Gespräch einen für einen Salon zu ernsten Charakter annahm, erwiderte nichts weiter, sondern wandte sich in der Absicht, das Gesprächsthema zu wechseln, mit heiterem Lächeln den Damen zu.
»Lassen Sie uns doch gleich einmal einen Versuch anstellen, Gräfin!« fing er an; aber Ljewin wollte seinen Gedanken gern erst noch vollständig aussprechen.
»Ich bin der Meinung«, fuhr er fort, »daß dieser Versuch der Spiritisten, ihre Wunder durch irgendeine neue Kraft zu erklären, ganz erfolglos ist. Sie reden geradeheraus von einer unkörperlichen Kraft und suchen ihr doch durch das materielle Experiment beizukommen.«
Alle warteten darauf, daß er schlösse, und er fühlte das.
»Ich glaube, Sie würden ein vorzügliches Medium sein«, sagte die Gräfin Northstone. »Sie haben so etwas Schwärmerisches an sich.«
Ljewin öffnete den Mund und wollte etwas erwidern; aber er errötete und schwieg.
»Wollen wir es gleich einmal mit dem Tischrücken versuchen, Prinzessin?« sagte Wronski. »Sie erlauben es doch, Fürstin?«
Er stand auf und suchte mit den Augen nach einem Tischchen.
Kitty erhob sich, um ein Tischchen zu beschaffen, und als sie bei Ljewin vorbeiging, begegneten sich ihre Blicke. Er tat ihr in tiefster Seele leid, um so mehr, als sie selbst die Ursache des Unglücks war, um dessentwillen sie ihn bemitleidete. ›Wenn für mich Verzeihung möglich ist, so verzeihen Sie mir!‹ sagte ihr Blick. ›Ich bin so glücklich.‹
›Ich hasse alle Menschen, auch Sie und mich selbst‹, antwortete sein Blick, und er griff nach sei nem Hute. Es war ihm aber nicht beschieden, davonzukommen. Gerade als die anderen sich um ein Tischchen gruppierten und Ljewin fortgehen wollte, trat der alte Fürst ein und wandte sich, nachdem er die Damen begrüßt hatte, Ljewin zu.
»Ah!« rief er erfreut. »Sind Sie schon lange hier in Moskau? Ich wußte gar nicht, daß du hier bist. Sehr erfreut, Sie wiederzusehen!«
Der alte Fürst nannte Ljewin manchmal du, manchmal Sie. Er umarmte ihn und beachtete, während er mit ihm sprach, Wronski nicht, der aufgestanden war und ruhig wartete, bis sich der Fürst ihm zuwenden würde.
[72] Kitty fühlte, wie drückend nach dem, was vorgefallen war, für Ljewin die Liebenswürdigkeit ihres Vaters sein müsse. Sie bemerkte auch, wie kühl ihr Vater endlich Wronskis Verbeugung erwiderte und wie Wronski mit freundlicher Verwunderung ihren Vater anblickte und sich vergebens bemühte, zu begreifen, was wohl der Grund einer unfreundlichen Stimmung gegen ihn sein könne, und sie errötete.
»Überlassen Sie uns Konstantin Dmitrijewitsch, Fürst!« sagte die Gräfin Northstone. »Wir möchten gern ein Experiment vornehmen.«
»Was für ein Experiment? Wohl Tischrücken? Na, nehmen Sie es mir nicht übel, meine Damen und Herren, aber meiner Ansicht nach ist das Ringspiel weit vergnüglicher«, sagte der alte Fürst und blickte dabei Wronski an, in dem er den Anstifter erriet. »Im Ringspiel liegt doch noch ein Sinn.«
Wronski sah mit einem festen Blick den Fürsten erstaunt an und begann dann sofort mit einem kaum merklichen Lächeln sich mit der Gräfin Northstone von dem großen Balle zu unterhalten, der in der nächsten Woche bevorstand.
»Ich hoffe, daß auch Sie dort sein werden«, wandte er sich an Kitty.
Sobald sich der Fürst von ihm weggewandt hatte, ging Ljewin unbemerkt hinaus, und der letzte Eindruck, den er von dieser Abendgesellschaft mit sich nahm, war Kittys lächelndes, glückliches Gesicht, mit dem sie Wronskis Frage nach dem Balle beantwortete.
Nachdem die Abendgesellschaft ihr Ende gefunden hatte, erzählte Kitty ihrer Mutter ihr Gespräch mit Ljewin, und trotz allem Mitleid, das sie für ihn empfand, machte ihr doch der Gedanke Freude, daß sie ›einen Antrag gehabt habe‹. Sie war nicht im geringsten im Zweifel, daß sie gehandelt habe, wie sie eben habe handeln müssen. Aber im Bett konnte sie lange Zeit nicht einschlafen. Ein bestimmter Eindruck wollte gar nicht aus ihrer Erinnerung weichen. Es war Ljewins Gesicht mit den zusammengezogenen Brauen und den finster und traurig darunter hervorblickenden guten Augen, wie er dastand und ihrem Vater zuhörte und nach ihr und Wronski hinblickte. Und er tat ihr so leid, daß ihr die Tränen in die Augen traten. Aber im nächsten Augenblick erinnerte sie sich an den, für den sie ihn hingegeben hatte. Lebhaft stellte sie sich dieses männliche, feste Gesicht vor, diese vornehme Ruhe, und die Herzensgüte, die aus [73] seinem ganzen Benehmen gegen alle und jedermann hervorleuchtete; sie dachte daran, wie der, den sie liebte, sie wieder liebte, und es wurde ihr wieder froh ums Herz, und mit glückseligem Lächeln drückte sie den Kopf in das Kissen. ›Er tut mir leid, er tut mir leid; aber was sollte ich tun? Ich habe keine Schuld‹, sagte sie zu sich selbst; aber eine innere Stimme sprach anders zu ihr. Ob sie bereute, Ljewin an sich gezogen oder ihn zurückgewiesen zu haben, das wußte sie selbst nicht. Aber ihr Glück war durch Zweifel getrübt. »Herr, erbarme dich; Herr, erbarme dich; Herr, erbarme dich!« sprach sie im Einschlafen vor sich hin.
Zu derselben Zeit spielte sich unten in dem kleinen Arbeitszimmer des Fürsten eine jener Szenen ab, wie sie sich häufig wegen der Lieblingstochter zwischen den Eltern wiederholten.
»Was ich damit sagen will? Das will ich sagen!« rief der Fürst; dabei fuchtelte er mit den Armen umher, schlug dann aber gleich wieder seinen mit Eichhornfell gefütterten Schlafrock übereinander. »Daß Sie keinen Stolz, keine Würde besitzen, daß Sie unsere Tochter bloßstellen und unglücklich machen durch diese nichtswürdige, dumme Ehestifterei!«
»Aber ich bitte dich, um Gottes willen, Fürst, was habe ich denn getan?« rief die Fürstin, beinahe in Tränen ausbrechend.
Glücklich und zufrieden war sie nach dem Gespräche mit ihrer Tochter zum Fürsten gekommen, um ihm wie gewöhnlich gute Nacht zu sagen; zwar von Ljewins Antrage und Kittys abschlägiger Antwort hatte sie ihrem Mann nichts sagen wollen; aber sie hatte ihm doch angedeutet, daß sie die Angelegenheit mit Wronski als ganz sicher betrachte und daß sie zur Entscheidung kommen werde, sobald seine Mutter einträfe. Bei diesen Worten war der Fürst plötzlich aufgefahren und hatte in derben Ausdrücken zu schelten angefangen.
»Was Sie getan haben? Das liegt auf der Hand: Erstens haben Sie einen Freier angelockt, und ganz Moskau wird darüber reden, und mit Fug und Recht. Wenn Sie Abendgesellschaften veranstalten, dann sollten Sie allerlei Leute einladen und nicht nur ausgewählte Heiratskandidaten. Laden Sie alle diese Windhunde ein« (so nannte der Fürst die jungen Männer von Moskau), »nehmen Sie einen Klavierspieler an und lassen Sie sie tanzen; aber nicht so wie heute, nur Heiratskandidaten, um etwas zusammenzukuppeln. Mir ist es ekelhaft, das mit anzusehen, geradezu ekelhaft; aber Sie haben es erreicht, dem Kinde den Kopf zu verdrehen. Ljewin ist ein tausendmal wertvollerer Mensch. Dagegen dieser Petersburger Geck, solche Dutzendware, alle nach derselben Schablone, und sämtlich Schund. Aber wenn [74] er auch ein Prinz von Geblüt wäre, meine Tochter hat es nicht nötig, sich einen Freier verschaffen zu lassen!«
»Aber was habe ich denn getan?«
»Sie hören es ja!« schrie der Fürst zornig.
»Soviel ich weiß«, unterbrach ihn die Fürstin, »wenn es nur nach dir ginge, würden wir unsere Tochter niemals verheiraten. Dann könnten wir auch lieber aufs Land hinausziehen.«
»Das wäre auch das beste!«
»So höre doch nur! Bin ich etwa entgegenkommend gewesen? Doch nicht im entferntesten. Ein junger Mann, und ein sehr netter junger Mann, hat sich in sie verliebt, und es scheint, daß sie ...«
»Jawohl, jetzt heißt es: ›Es scheint!‹ Aber wenn sie sich nun wirklich in ihn verliebt und er ans Heiraten ebensowenig denkt wie ich? – Ich mag dieses Getue gar nicht ansehen! ›Ah, der Spiritismus! Ah, Nizza! Ah, auf dem Balle!‹« Der Fürst versuchte, die Rolle seiner Frau zu spielen, und knickste bei jedem Worte. »So führen wir Kittys Unglück herbei, und sie setzt sich wirklich in den Kopf, daß dieser Mensch ...«
»Wieso glaubst du denn das von ihm?«
»Ich glaube es nicht, ich weiß es; für so etwas haben wir Männer Blick und ihr Weiber nicht. Ich sehe da einen jungen Mann, der ernste Absichten hat, das ist Ljewin; und ich sehe da einen hohlen Patron, diesen lockeren Zeisig, der sich nur amüsieren will.«
»Du hast dich nun einmal in diese Vorstellung verrannt ...«
»Du wirst schon noch an das denken, was ich gesagt habe, aber wenn's zu spät ist; gerade wie bei der armen Dolly.«
»Nun gut, gut, wir wollen nicht weiter davon reden«, fiel ihm die Fürstin ins Wort, der die Erinnerung an die unglückliche Dolly zu schmerzlich war.
»Na schön, dann gute Nacht!«
Die Gatten bekreuzten und küßten einander; aber sie fühlten beim Auseinandergehen, daß jeder von ihnen bei seiner Meinung blieb.
Die Fürstin war vorher fest davon überzeugt gewesen, daß der heutige Abend über Kittys Geschick entschieden habe und daß an Wronskis Absichten kein Zweifel möglich sei; aber die Worte ihres Mannes hatten sie doch in dieser Überzeugung wankend gemacht. Und als sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, wiederholte sie, ganz wie Kitty, in banger Sorge vor der unbekannten Zukunft, mehrmals im stillen: ›Herr, erbarme dich; Herr, erbarme dich; Herr, erbarme dich!‹
[75]Wronski hatte niemals ein Familienleben gekannt. Seine Mutter war in ihrer Jugend eine glänzende Weltdame gewesen und hatte während ihrer Ehe, besonders aber nachher, mancherlei Liebesverhältnisse gehabt, die der gesamten feineren Gesellschaft bekannt waren. Seinen Vater hatte er kaum gekannt; er war im Pagenkorps erzogen worden.
Nachdem er das Korps als ein sehr junger, glänzender Leutnant verlassen hatte, geriet er sogleich in die Kreise der reichen Offiziere Petersburgs hinein. Seine Liebesgeschichten spielten alle außerhalb der vornehmen Petersburger Gesellschaft, obgleich er ab und zu auch dort verkehrte.
In Moskau lernte er nach dem üppigen, rohen Petersburger Leben zum ersten Male den Reiz des Umgangs mit einem liebenswürdigen, unschuldigen Mädchen aus guter Familie kennen, das ihn liebgewonnen hatte. Es kam ihm nicht im entferntesten in den Sinn, daß in seinem Verhältnisse zu Kitty irgend etwas Schlechtes liegen könne. Auf den Bällen tanzte er vorzugsweise mit ihr; er verkehrte im Hause ihrer Eltern. Er redete mit ihr so, wie man gewöhnlich in Gesellschaft redet, allerlei unbedeutendes Zeug; aber unwillkürlich verlieh er diesem unbedeutenden Zeuge für Kitty einen bedeutsamen Unterton. Obwohl er nichts zu ihr sagte, was er nicht hätte vor aller Ohren sagen können, fühlte er doch, daß sie immer mehr und mehr in eine gewisse Abhängigkeit von ihm hineingeriet, und je deutlicher er das merkte, um so angenehmer war seine Empfindung dabei und um so zärtlicher wurde sein Gefühl für sie. Er wußte nicht, daß eine Handlungsweise wie die seinige Kitty gegenüber einen bestimmten Namen trägt, daß das, ohne die Absicht, sie zu heiraten, eine Betörung junger Mädchen ist und daß solche Betörung zu den schlechten Streichen gehört, wie sie bei vornehmen jungen Männern wie ihm nur zu gewöhnlich sind. Er hatte die Vorstellung, als sei er der erste, der dieses Vergnügen entdeckt habe, und freute sich dieser seiner Entdeckung.
Hätte er hören können, was Kittys Eltern an diesem Abend miteinander sprachen, hätte er erfahren, wie die Sache vom Standpunkte der Familie aus betrachtet wurde, daß er Kitty unglücklich machen würde, wenn er sie nicht heiratete, so hätte er sich höchlich gewundert und es nicht geglaubt. Er konnte nicht glauben, daß das, was ihm und namentlich auch ihr ein so großes, schönes Vergnügen bereitete, etwas Schlechtes sei. Und noch weniger hätte er glauben können, daß es seine Pflicht sei, sie zu heiraten.
[76] Daß er sich verheiraten werde, war ihm überhaupt noch nie als möglich erschienen. Das Familienleben hatte für ihn nichts Verlockendes; ja, mit dem Begriffe der Familie und besonders des Ehemannes verband er, in Übereinstimmung mit der in der Junggesellenwelt, in der er lebte, allgemein üblichen Anschauung, die Vorstellung von etwas Fremdartigem, Feindlichem und namentlich von etwas Lächerlichem. Aber obgleich Wronski nicht die geringste Ahnung von dem Inhalte des elterlichen Gespräches hatte, so fühlte er doch, als er an diesem Abende von Schtscherbazkis wegging, daß das geheime seelische Band, das zwischen ihm und Kitty vorhanden war, durch den heutigen Abend so sehr an Festigkeit zugenommen habe, daß er etwas unternehmen müsse. Aber was er unternehmen könne oder müsse, das vermochte er sich nicht zu sagen.
›Das ist ja eben das Reizvolle‹, dachte er, als er auf dem Heimwege von Schtscherbazkis begriffen war und, wie immer, von ihnen ein angenehmes Gefühl der Reinheit und Frische mitnahm (das allerdings zum Teil auch davon herrührte, daß er den ganzen Abend über nicht geraucht hatte) und zugleich ein ihm neues Gefühl der Rührung über Kittys Liebe zu ihm, › ... das ist ja eben das Reizvolle, daß weder von meiner noch von ihrer Seite bis jetzt etwas ausgesprochen ist und wir einander doch bei diesem geheimen Gespräche der Blicke und des Stimmklanges verstanden haben; und auf diese Art hat sie mir heute deutlicher als sonst je gesagt, daß sie mich liebt. Und wie lieb, wie schlicht und wie zutraulich kam es heraus! Ich fühle, daß ich ein Herz habe und daß viel Gutes in mir lebt. O diese lieben, verliebten Augen, als sie sagte: »und sehr«! – Na, und was ist dabei? Nichts, gar nichts. Mir macht es Vergnügen und ihr auch.‹ Und nun überlegte er, wo er wohl diesen Abend beschließen könne.
Er ging in Gedanken die Orte durch, wo er hingehen könnte. ›In den Klub? Eine Partie Besik und eine Flasche Champagner mit Ignatow? Nein, dahin mag ich nicht. Ins Château des fleurs? Da träfe ich Oblonski. Aber Couplets und Cancan? Nein, das ist mir jetzt zuwider geworden. Gerade darum verkehre ich so gern bei Schtscherbazkis, weil ich da selbst ein besserer Mensch werde. Ich will nach Hause fahren!‹ Er ging im Hotel Dussot geradenwegs auf sein Zimmer, ließ sich ein Abendessen dorthin bringen, kleidete sich dann aus und hatte den Kopf kaum auf das Kissen gelegt, als er auch schon in festen Schlaf versank.
[77]Am anderen Morgen um elf Uhr fuhr Wronski nach dem Bahnhofe der Petersburger Eisenbahn, um seine Mutter abzuholen, und der erste, den er auf den Stufen der großen Treppe traf, war Oblonski, der mit demselben Zuge seine Schwester erwartete.
»Ah, Euer Erlaucht!« rief Oblonski. »Wen erwartest du denn?«
»Ich erwarte meine Mutter«, antwortete Wronski und lächelte, wie eben alle Leute zu lächeln pflegten, die mit Oblonski zusammentrafen; er drückte ihm die Hand und ging mit ihm zusammen weiter die Treppe hinauf. »Sie muß mit diesem Zuge aus Petersburg eintreffen.«
»Bis zwei Uhr habe ich in dieser Nacht auf dich gewartet. Wo bist du denn von Schtscherbazkis hingefahren?«
»Nach Hause«, erwiderte Wronski. »Offen gestanden, ich war gestern nach dem Besuche bei Schtscherbazkis in so vergnügter Stimmung, daß ich keine Lust hatte, noch anderswohin zu fahren.«
deklamierte Stepan Arkadjewitsch, geradeso wie tags zuvor bei dem Zusammensein mit Ljewin.
Wronski lächelte dazu mit einer Miene, als wollte er das nicht gerade ableugnen, ging aber sofort zu einem anderen Gegenstande über.
»Und wen willst du denn abholen?« fragte er.
»Ich? Eine sehr hübsche Frau«, erwiderte Oblonski.
»Ei, sieh mal!«
»Honny soit qui mal y pense 1! Meine Schwester Anna.«
»Ah so! Das ist Frau Karenina?« fragte Wronski.
»Du kennst sie doch?«
»Ich glaube wohl. Oder doch nicht? – Ich besinne mich wirklich nicht«, antwortete Wronski zerstreut; der Name Karenina rief bei ihm eine dunkle Vorstellung von etwas Pedantischem, Langweiligem hervor.
»Aber meinen berühmten Schwager Alexei Alexandrowitsch wirst du doch sicherlich kennen. Den kennt ja die ganze Welt.«
»Ja, das heißt, ich kenne ihn par renommée 2 und von Ansehen. Ich weiß, daß er ein kluger, gelehrter Mann, so etwas ganz [78] Großartiges ist. Aber du weißt, dergleichen ist nicht in meiner – not in my line 3«, versetzte Wronski.
»Ja, er ist ein sehr bedeutender Mensch; ein bißchen sehr konservativ, aber ein prächtiger Mensch«, bemerkte Stepan Arkadjewitsch, »ein ganz prächtiger Mensch.«
»Nun, das ist ja schön für ihn«, sagte Wronski lächelnd. »Ah, du bist ja auch hier!« wandte er sich an den alten Diener seiner Mutter, einen Mann von großer Gestalt, der an der Tür stand. »Komm nur mit hinein!«
Wronski fühlte sich in der letzten Zeit – ganz abgesehen von der Anziehungskraft, die Oblonskis sympathisches Wesen auf alle Leute ausübte – zu ihm auch deshalb hingezogen, weil er immer in ihm Kittys Schwager sah.
»Nun, wie steht's? Werden wir nächsten Sonntag das Souper zu Ehren der Diva zustande bringen?« fragte er ihn lächelnd und faßte ihn unter den Arm.
»Unzweifelhaft. Ich sammle Unterschriften dazu. – Da fällt mir ein: hast du gestern meinen Freund Ljewin kennengelernt?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
»Gewiß. Aber er ging sehr früh fort.«
»Ein ganzer Prachtkerl«, fuhr Oblonski fort. »Nicht wahr?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Wronski, »woher das kommt, daß alle Moskauer – die, mit denen ich jedesmal rede, selbstverständlich ausgenommen«, schob er scherzend ein – »eine eigentümliche Schroffheit an sich haben. Es ist immer, als ob sie sich auf die Hinterbeine stellten, als ob sie sich ärgerten und es einem gehörig geben wollten.«
»Ja, so ist es, wahrhaftig, das stimmt«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch heiter lachend.
»Nun, kommt der Zug bald?« wandte sich Wronski an einen Bahnbeamten.
»Er ist schon gemeldet«, antwortete dieser.
Das Herannahen des Zuges machte sich durch mancherlei Anzeichen immer mehr bemerkbar: Bahnbeamte waren in eifriger Bewegung, um die Vorbereitungen zu seinem Empfange zu treffen, Gepäckträger liefen hierhin und dorthin, es erschienen Gendarmen und die höheren Stationsbeamten, es fand sich ein zahlreiches Publikum ein, um Ankommende abzuholen. Durch den Kältedunst hindurch sah man Arbeiter in kurzen Pelzen und weichen Filzstiefeln über die Schienen der sich mannigfach miteinander verschlingenden Gleise laufen. Man hörte das Pfeifen einer Lokomotive auf einem vom Bahnsteige weiter ab liegenden Gleise und wie eine schwere Masse in Bewegung gesetzt wurde.
[79] »Nein«, sagte Stepan Arkadjewitsch, der die größte Lust verspürte, Wronski etwas von Ljewins Absichten auf Kitty zu erzählen, »nein, du hast meinen lieben Ljewin doch nicht richtig beurteilt. Er ist ein sehr nervöser Mensch und wird manchmal unangenehm, das ist ja wahr; aber dafür ist er auch zu anderen Zeiten außerordentlich nett. Er ist ein durchaus ehrenhafter, aufrichtiger Charakter und hat ein goldenes Herz. Gestern lagen allerdings ganz besondere Gründe vor«, fuhr Stepan Arkadjewitsch mit vielsagendem Lächeln fort; er hatte das aufrichtige Mitgefühl, das er tags zuvor für seinen Freund empfunden hatte, vollständig vergessen und empfand jetzt etwas ganz Ähnliches, aber für Wronski. »Ja, es war ein Grund vorhanden, aus dem er entweder besonders glücklich oder besonders unglücklich sein konnte.«
Wronski blieb stehen und fragte geradezu: »Was meinst du für einen Grund? Hat er etwa deiner Schwägerin einen Heiratsantrag gemacht?«
»Leicht möglich«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch. »Ich hatte gestern den Eindruck, als ob er so etwas vor hätte. Und wenn er früh wegging und übler Laune war, so wird es wohl so gewesen sein. Er ist schon so lange in sie verliebt und tut mir außerordentlich leid.«
»Sieh, sieh! – Ich glaube übrigens, daß sie auf eine bessere Partie rechnen kann«, sagte Wronski, nahm eine selbstbewußte Haltung an und setzte seine Wanderung auf dem Bahnsteige fort. »Übrigens kenne ich ihn zu wenig«, fügte er hinzu. »Ja, das ist wohl eine unangenehme Lage! Darum ziehen auch die meisten den Umgang mit Damen der Halbwelt vor. Ein Mißerfolg bei einer solchen beweist nur, daß man nicht genug Geld hatte; aber hier liegt man mit seinem persönlichen Werte auf der Waagschale. – Aber da kommt der Zug.«
Wirklich pfiff in der Ferne bereits die Lokomotive. Nach einigen Augenblicken erzitterte der Bahnsteig, und keuchend ihren Dampf ausstoßend, den die Kälte sogleich herunterdrückte, rollte die Lokomotive heran, mit dem langsam und taktmäßig sich zusammenbiegenden und ausstreckenden Hebel des Mittelrades und mit dem grüßenden, dick vermummten, reifbedeckten Maschinisten. Und hinter dem Tender, immer langsamer und mit immer stärkerer Erschütterung des Bahnsteiges, glitt der Wagen mit dem Gepäck und mit einem winselnden Hunde vorüber; endlich folgten die Personenwagen und blieben mit einem letzten Zittern stehen.
Der Zugführer, eine hübsche, männliche Erscheinung, hatte noch während des Fahrens seine Signalpfeife ertönen lassen [80] und sprang nun ab; unmittelbar nach ihm stiegen ungeduldige Fahrgäste einzeln aus: ein Gardeoffizier in sehr gerader Haltung, mit strenger Miene um sich blickend, ein vergnügt lächelnder junger, beweglicher Kaufmann mit einer Handtasche, ein Bauer mit einem Quersack auf der Schulter.
Wronski, der neben Oblonski stand, betrachtete die Wagen und die Aussteigenden und hatte seine Mutter vollständig vergessen. Was er soeben über Kitty er fahren hatte, regte ihn auf und freute ihn. Unwillkürlich hob sich seine Brust, und seine Augen leuchteten. Er fühlte sich als Sieger.
»Die Gräfin Wronskaja befindet sich in jenem Abteil dort«, sagte der forsche Zugführer, der an Wronski herantrat.
Diese Worte des Zugführers rüttelten ihn aus seinen Gedanken auf und brachten ihm wieder seine Mutter und das bevorstehende Wiedersehen mit ihr in Erinnerung. Im Grunde seines Herzens hegte er keine besondere Verehrung für seine Mutter und auch keine Liebe, ohne sich über den Grund dafür eigentlich klar zu sein; jedoch konnte er, in Übereinstimmung mit den Anschauungen der Kreise, in denen er lebte, und infolge seiner Erziehung, sich gar kein anderes Verhältnis zu seiner Mutter vorstellen als das des unbedingten Gehorsams und der größten Hochachtung, und er bekundete Gehorsam und Hochachtung nach außen hin mit um so größerer Beflissenheit, je weniger er seine Mutter im Herzen verehrte und liebte.
Wronski folgte dem Zugführer zu dem Wagen und blieb am Eingang des Abteils stehen, um eine aussteigende Dame vorüberzulassen.
Mit dem erfahrenen Urteile des Weltmannes hatte Wronski beim ersten Blicke auf die äußere Erscheinung dieser Dame ihre Zugehörigkeit zur besten Gesellschaft festgestellt. Er entschuldigte sich und schickte sich nun an, in den Wagen einzusteigen, fühlte sich jedoch veranlaßt, sich noch einmal nach ihr umzusehen, nicht deshalb, weil sie sehr schön war, auch nicht wegen ihrer vornehmen Erscheinung und bescheidenen Anmut, die in ihrer ganzen Gestalt zur Erscheinung kam, sondern weil in dem Ausdrucke des lieblichen Gesichtes, als sie an ihm vorbeiging, etwas ganz besonders Angenehmes und Freundliches gelegen hatte. Als er sich umschaute, wandte sie gleichfalls den Kopf zurück. Die glänzenden grauen, durch die dichten Wimpern schwarz erscheinenden Augen richteten sich mit prüfender [81] Aufmerksamkeit und freundlichem Ausdrucke auf sein Gesicht, als ob sie in ihm einen Bekannten erkenne, wandten sich dann aber sofort von ihm ab und der vorüberströmenden Menge zu, als wenn sie dort jemand suchten. Dieser kurze Blick hatte Wronski doch die verhaltene Lebhaftigkeit erkennen lassen, die wie ein Schimmer auf ihrem Gesichte spielte und zwischen den glänzenden Augen und den roten, leise lächelnden Lippen hin und her huschte. Es war, als schlösse ihr Wesen eine solche Überfülle von Lebenslust ein, daß diese sich unwillkürlich bald in dem Glanze der Augen, bald in dem Lächeln des Mundes bekunden müsse. Und wenn sie diesen Glanz in den Augen absichtlich dämpfte, so leuchtete er wider ihren Willen in dem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf.
Wronski stieg in den Wagen. Seine Mutter, eine hagere alte Dame mit schwarzen Augen und schwarzen Löckchen, betrachtete ihren Sohn mit zusammengekniffenen Augen und lächelte dann ein wenig mit den schmalen Lippen. Darauf erhob sie sich von dem Polstersitze, übergab der Kammerjungfer eine kleine Reisetasche und streckte ihrem Sohne ihre kleine, trockene Hand zum Kusse hin; dann hob sie seinen Kopf von ihrer Hand in die Höhe und küßte ihn auf die Wangen.
»Hast du mein Telegramm erhalten?« fragte sie. »Bist du gesund? Ja? Nun, Gott sei Dank!«
»Hatten Sie eine gute Fahrt?« fragte der Sohn seinerseits, indem er sich neben sie setzte und unwillkürlich nach einer weiblichen Stimme vor der Tür hinhorchte. Er wußte, daß es die Stimme der Dame war, der er beim Hereinkommen begegnet war.
»Ich kann trotzdem nicht darauf eingehen«, sagte die Stimme der Dame.
»Das ist so eine Petersburger Anschauung, gnädige Frau.«
»Nicht eine Petersburger Anschauung, sondern einfach eine weibliche.«
»Schade, nun, dann gestatten Sie mir, Ihnen die Hand zu küssen.«
»Auf Wiedersehen, Iwan Petrowitsch! Bitte, sehen Sie sich doch einmal um, ob mein Bruder nicht da ist, und schicken Sie ihn zu mir her!« sagte die Dame dicht an der Tür und kam wieder in das Abteil herein.
»Nun, haben Sie Ihren Bruder gefunden?« fragte die Gräfin Wronskaja, sich zu der Dame wendend.
Wronski wurde sich jetzt darüber klar, daß dies Frau Karenina sein müsse.
»Ihr Bruder ist hier«, sagte er und erhob sich. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht sogleich erkannt habe; aber unsere Bekanntschaft [82] ist ja nur so kurz gewesen«, fuhr er mit einer Verbeugung fort, »daß Sie sich meiner gewiß gar nicht erinnern.«
»O doch«, versetzte sie, »und ich hätte Sie auch wiedererkannt, da Ihre liebe Mutter und ich auf der ganzen Reise fast nur von Ihnen gesprochen haben.« Bei diesen Worten ließ sie endlich ihre bisher zurückgedämmte Lebhaftigkeit in einem Lächeln zum Ausdruck kommen. »Aber meinen Bruder sehe ich trotz dem nicht.«
»Rufe ihn doch, Alexei!« sagte die alte Gräfin.
Wronski trat auf den Bahnsteig hinaus und rief: »Oblonski! Hier!«
Aber Frau Karenina wartete nicht so lange, bis ihr Bruder herankam, sondern stieg, sobald sie ihn erblickte, mit festem, leichtem Schritte aus dem Wagen. Und sobald der Bruder zu ihr trat, legte sie mit einer Bewegung, von deren Entschiedenheit und Anmut Wronski überrascht war, ihm den linken Arm um den Hals, zog den Bruder rasch an sich und küßte ihn herzhaft. Wronski blickte unverwandt zu ihr hin und lächelte, ohne selbst recht zu wissen, worüber. Aber da erinnerte er sich, daß seine Mutter auf ihn wartete, und stieg wieder in den Wagen.
»Nicht wahr, eine allerliebste Frau?« sagte die Gräfin mit Bezug auf Frau Karenina. »Ihr Mann hat sie zu mir in dieses Abteil gebracht, und ich habe meine rechte Freude an ihr gehabt. Auf der ganzen Fahrt haben wir uns miteinander unterhalten. Nun, und du, wie man hört ... vous filez le parfait amour. Tant mieux, mon cher, tant mieux 1.«
»Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen, maman«, antwortete der Sohn in trockenem Tone. »Aber wenn's Ihnen recht ist, maman, wollen wir jetzt gehen.«
Frau Karenina kam wieder in den Wagen herein, um von der Gräfin Abschied zu nehmen.
»Sehen Sie wohl, Gräfin, Sie haben jetzt Ihren Sohn gefunden und ich meinen Bruder«, sagte sie heiter. »Und mein Vorrat an Geschichten war auch vollständig erschöpft; weiter hätte ich nichts mehr zu erzählen gehabt.«
»Oh, nicht doch!« erwiderte die Gräfin und faßte sie bei der Hand. »Mit Ihnen könnte ich rund um die Welt reisen und würde mich nicht langweilen. Sie gehören zu jenen liebenswürdigen Frauen, mit denen es sich angenehm bald einmal plaudern, bald einmal schweigen läßt. Und über Ihren Sohn machen Sie sich nur, bitte, keine Gedanken; immer bei einem Kinde zu bleiben, ist ja doch nicht möglich.«
Frau Karenina stand da, ohne sich zu bewegen, in sehr gerader Haltung; ihre Augen lächelten.
[83] »Anna Arkadjewna«, bemerkte die Gräfin erklärend zu ihrem Sohne, »hat ein Söhnchen, ich glaube von acht Jahren; sie hat sich bisher noch nie von ihm getrennt und grämt sich nun darüber, daß sie ihn verlassen hat.«
»Ja, die Gräfin und ich haben die ganze Zeit über von unseren Söhnen gesprochen, sie von dem ihrigen und ich von dem meinigen«, sagte Frau Karenina, und wieder erhellte ein Lächeln ihr Gesicht, ein freundliches Lächeln, das Wronski galt.
»Das hat Sie höchstwahrscheinlich sehr gelangweilt«, antwortete er, indem er diesen Ball der Koketterie, den sie ihm zuwarf, sofort im Fluge auffing. Aber sie hatte offenbar keine Lust, das Gespräch in diesem Tone fortzusetzen, und wandte sich wieder der alten Gräfin zu:
»Ich danke Ihnen sehr. Die Reise ist mir so schnell vergangen, daß ich es gar nicht gemerkt habe. Auf Wiedersehen, Gräfin!«
»Leben Sie wohl, meine Beste!« erwiderte die Gräfin. »Lassen Sie mich Ihr liebes Gesichtchen küssen. Als alte Frau sage ich Ihnen einfach und geradezu, daß ich Sie sehr liebgewonnen habe.«
Wie herkömmlich auch diese Redensart war, Frau Karenina hielt sie offenbar für aufrichtig gemeint und freute sich herzlich darüber. Sie errötete, beugte sich ein wenig hinab und bot ihre Wangen den Lippen der Gräfin dar; dann richtete sie sich wieder auf und gab mit jenem Lächeln, das bei ihr so oft zwischen Lippen und Augen hin und her wanderte, Wronski die Hand. Er drückte diese kleine Hand und empfand mit innigem Vergnügen, wie einen besonderen Genuß, den kräftigen Druck, mit dem sie fest und ungezwungen die seine schüttelte. Dann verließ sie das Abteil mit dem raschen Gange, der ihren ziemlich vollen Körper mit so erstaunlicher Leichtigkeit trug.
»Eine allerliebste Frau!« sagte die alte Dame.
Dasselbe dachte auch ihr Sohn. Er folgte ihr mit den Augen, bis ihre anmutige Gestalt verschwunden war, und sein Gesicht behielt den lächelnden Ausdruck bei. Durch das Fenster sah er noch, wie sie zu ihrem Bruder trat, ihre Hand auf seinen Arm legte und ein lebhaftes Gespräch mit ihm begann, das offenbar auf ihn, Wronski, keinerlei Bezug hatte, und das verdroß ihn.
»Also, maman, Sie sind ganz wohlauf?« fragte er noch einmal, zu seiner Mutter gewendet.
»Vollkommen, es geht alles vorzüglich. Alexander war sehr liebenswürdig. Und Warja ist sehr hübsch geworden. Sie hat etwas überaus Interessantes.«
Damit begann sie wieder von den Dingen zu erzählen, die sie am meisten interessierten: von der Taufe ihres Enkels, zu der sie [84] nach Petersburg gereist war, und von der außerordentlich gnädigen Gesinnung des Kaisers gegen ihren ältesten Sohn.
»Da ist auch Lawrenti«, sagte Wronski, durch das Fenster hinausblickend. »Wenn es Ihnen gefällig ist, wollen wir jetzt gehen.«
Der alte Haushofmeister, der die Gräfin auf der Reise begleitet hatte, erschien im Wagen mit der Meldung, daß alles bereit sei, und die Gräfin erhob sich, um zu gehen.
»Gehen wir!« sagte Wronski. »Jetzt ist es nicht mehr so voll auf dem Bahnsteig.«
Das Mädchen nahm die Reisetasche und das Hündchen, der Haushofmeister und ein Gepäckträger das übrige Handgepäck. Wronski reichte der Mutter den Arm; aber als sie eben aus dem Wagen gestiegen waren, liefen plötzlich einige Männer mit erschrockenen Gesichtern an ihnen vorbei, darunter auch der Stationsvorsteher mit seiner grellfarbigen Mütze. Offenbar war etwas Ungewöhnliches vorgefallen. Alles lief vom Zuge weg nach hinten.
»Was gibt es? – Was ist los? – Wo? – Er ist umgestoßen worden. – Überfahren!« wurde unter den Vorübereilenden gerufen.
Stepan Arkadjewitsch und seine Schwester, die ihn untergefaßt hatte, kamen ebenfalls mit erschrockenen Gesichtern wieder zurück und blieben, um aus dem Gedränge herauszukommen, an der Tür des Wagens stehen.
Die Damen stiegen wieder in den Wagen ein; Wronski und Stepan Arkadjewitsch aber folgten dem Menschenschwarm, um Näheres über den Unfall zu erfahren.
Ein Bahnwärter hatte, mochte er nun betrunken oder wegen der starken Kälte zu sehr eingemummt gewesen sein, einen Zug, der beim Rangieren zurückgeschoben wurde, nicht gehört und war zermalmt worden.
Noch ehe die beiden Herren zurückkehrten, erfuhren die Damen diese Einzelheiten durch den Haushofmeister.
Oblonski und Wronski hatten beide den entstellten Leichnam gesehen. Oblonski litt offenbar sehr unter diesem Eindrucke. Er hatte die Stirn gerunzelt und schien dem Weinen nahe zu sein.
»Ach, wie schrecklich! Ach, Anna, wenn du das gesehen hättest! Ach, wie schrecklich!« rief er einmal über das andere.
Wronski schwieg; sein hübsches Gesicht war ernst, aber vollkommen ruhig.
»Ach, wenn Sie das gesehen hätten, Gräfin!« redete Stepan Arkadjewitsch weiter. »Auch seine Frau ist dabei. – Es war schrecklich, sie anzusehen. Sie warf sich über den Leichnam hin. [85] Die Leute sagten, der Mann wäre der einzige Ernährer einer sehr großen Familie gewesen. Ja, es ist schrecklich!«
»Läßt sich denn nichts für die Frau tun?« fragte Frau Karenina flüsternd in heftiger Erregung.
Wronski blickte sie an und verließ sofort den Wagen.
»Ich komme gleich wieder, maman«, sagte er dabei, indem er sich in der Tür umdrehte.
Als er nach ein paar Minuten zurückkam, erzählte Stepan Arkadjewitsch der Gräfin bereits etwas über eine neue Sängerin; die Gräfin blickte, auf ihren Sohn wartend, ungeduldig nach der Tür.
»Nun, dann wollen wir gehen«, sagte der eintretende Wronski.
Sie gingen zusammen, Wronski mit seiner Mutter voran, dahinter Frau Karenina mit ihrem Bruder. Am Ausgang holte sie der Stationsvorsteher ein und trat an Wronski heran.
»Sie haben meinem Assistenten zweihundert Rubel eingehändigt; haben Sie die Güte, sich darüber zu äußern, für wen das Geld bestimmt ist.«
»Für die Witwe«, antwortete Wronski achselzuckend. »Ich verstehe nicht, was da noch zu fragen ist.«
»Das haben Sie getan?« rief Oblonski von hinten her und fügte, indem er den Arm seiner Schwester an sich drückte, hinzu: »Allerliebst, allerliebst! Ein Prachtmensch, nicht wahr? Ich empfehle mich Ihnen, Gräfin.«
Er blieb mit seiner Schwester stehen, um sich nach deren Kammerjungfer umzusehen.
Als sie aus dem Bahnhofstor hinaustraten, war das Wronskische Geschirr schon weggefahren. Die Leute, die hinausgingen, sprachen immer noch von dem Vorgefallenen.
»Ein entsetzlicher Tod!« sagte ein vorübergehender Herr. »Es heißt, er wäre in zwei Stücke zerschnitten.«
»Ich meine im Gegenteil, ein so plötzlicher Tod ist der leichteste, den man sich nur denken kann«, bemerkte ein anderer.
»Unverantwortlich, daß gegen so etwas keine Vorsichtsmaßregeln getroffen werden«, sagte ein dritter.
Frau Karenina stieg in den Wagen, und Stepan Arkadjewitsch sah mit Erstaunen, daß ihre Lippen zitterten und sie nur mit Mühe die Tränen zurückhielt.
»Was ist dir, Anna?« fragte er, als sie ein paar hundert Schritte gefahren waren.
»Eine üble Vorbedeutung!« sagte sie.
»Was für Torheiten!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch. »Du bist hergekommen, das ist die Hauptsache. Du kannst dir gar nicht denken, wieviel ich mir von deiner Einwirkung verspreche.«
[86] »Kennst du Wronski schon lange?« fragte sie.
»Ja. Weißt du, wir hoffen, daß er Kitty heiraten wird.«
»Ja?« sagte Anna leise. »Nun, aber jetzt wollen wir von dir sprechen«, fügte sie hinzu und schüttelte mit dem Kopfe, als wollte sie durch diese Körperbewegung etwas verscheuchen, was sich ihr aufdrängte und sie störte. »Wir wollen von deinen Angelegenheiten sprechen. Ich habe einen Brief erhalten, und da bin ich nun hergekommen.«
»Ja, ich setze auf dich meine ganze Hoffnung«, versetzte Stepan Arkadjewitsch.
»Nun, so erzähle mir alles!«
Und Stepan Arkadjewitsch begann zu erzählen.
Als sie vor dem Hause angelangt waren, war er seiner Schwester beim Aussteigen behilflich, seufzte schwer, drückte ihr die Hand und begab sich nach sei nem Amtsgebäude.
1 (frz.) Sie haben eine platonische Liebe. Um so besser, mein Lieber, um so besser.
Als Anna eintrat, saß Dolly in einem kleinen Wohnzimmer mit einem hellblonden, dickbäckigen Knaben zusammen, der schon jetzt seinem Vater sehr ähnlich sah, und hörte ihm seine Aufgaben aus dem französischen Lesebuche ab. Der Knabe las und drehte dabei mit den Fingern einen Knopf seiner Jacke herum, der kaum noch daran festhing, und bemühte sich, ihn ganz abzureißen. Die Mutter hatte ihm schon mehrere Male die Hand davon weggenommen; aber das dicke Händchen faßte immer wieder nach dem Knopfe. Die Mutter riß den Knopf ab und steckte ihn in die Tasche.
»Du mußt die Hände still halten, Grigori«, sagte sie und griff wieder nach ihrer Decke, einer Arbeit, die sie schon vor langer Zeit angefangen hatte und die sie immer in schweren Stunden zur Hand nahm; auch jetzt häkelte sie nervös daran, indem sie bald mit dem Finger hin und her schlug, bald die Maschen zählte. Obgleich sie tags zuvor ihrem Manne hatte sagen lassen, daß es sie nichts weiter angehe, ob seine Schwester komme oder nicht, so hatte sie doch alles für ihre Ankunft vorbereitet und erwartete ihre Schwägerin in großer Aufregung.
Dolly war von ihrem Kummer niedergebeugt und konnte kaum an etwas anderes denken. Aber dennoch überlegte sie, daß ihre Schwägerin Anna die Frau eines der einflußreichsten Männer in Petersburg und selbst eine Petersburger grande dame sei. Und infolgedessen brachte sie das, was sie ihrem Manne angekündigt hatte, nicht zur Ausführung, das heißt, sie ignorierte [87] die Ankunft ihrer Schwägerin nicht. ›Schließlich hat ja Anna dabei keine Schuld‹, dachte Dolly. ›Ich weiß von ihr nur Gutes und habe persönlich von ihr nur Liebes und Freundliches erfahren.‹ Allerdings hatte ihr, soweit sie sich des Eindrucks erinnern konnte, den sie in Petersburg bei Karenins empfangen hatte, dieses Haus selbst nicht gefallen; in der gesamten Einrichtung ihres Familienlebens war ein gewisser Mangel an Offenheit spürbar gewesen. ›Aber warum sollte ich sie nicht empfangen? Wenn sie sich nur nicht beikommen läßt, mich trösten zu wollen!‹ dachte Dolly. ›Alle möglichen Trostgründe und Ermahnungen, und daß es Christenpflicht ist, zu verzeihen, das alles habe ich ja schon tausendmal überdacht; aber das alles hilft mir nichts.‹
Alle diese Tage her war Dolly mit ihren Kindern allein gewesen. Mit jemandem über ihren Kummer reden, das mochte sie nicht, und mit diesem Kummer auf dem Herzen von anderen Dingen zu sprechen, dazu war sie nicht imstande. Aber sie wußte, daß sie Anna gegenüber auf die eine oder andere Weise dazu kommen werde, sich völlig auszusprechen, und bald freute sie der Gedanke daran, wie sie das alles aussprechen werde, bald war es ihr kränkend, daß sie über ihre Demütigung mit ihr, seiner Schwester, sprechen und von ihr billige tröstende und ermahnende Redensarten werde anhören müssen.
Wie das oft vorkommt, erwartete sie sie, fortwährend nach der Uhr blickend, jeden Augenblick und verpaßte dabei gerade den Augenblick, da der Besuch kam, so daß sie das Klingeln nicht hörte.
Anna war bereits in der Tür, als Dolly das Rascheln eines Frauenkleides und das Geräusch leichter Schritte hörte; sie blickte sich um, und auf ihrem abgehärmten Gesichte zeigte sich ein Ausdruck nicht sowohl der Freude wie der Überraschung. Sie stand auf und umarmte ihre Schwägerin.
»Wie? Du bist schon da?« sagte Dolly und küßte sie.
»Wie freue ich mich, dich wiederzusehen, Dolly!«
»Ich freue mich auch«, antwortete Dolly mit einem schwachen Lächeln und suchte aus Annas Gesichtsausdruck zu erkennen, ob sie schon alles wisse. ›Sicherlich weiß sie es‹, dachte sie, als sie auf Annas Gesicht einen Ausdruck mitleidiger Teilnahme bemerkte. »Nun komm, ich will dich in dein Zimmer führen«, fuhr sie fort, bemüht, den Augenblick der Aussprache möglichst hinauszuschieben.
»Ist das Grigori? Mein Gott, wie ist der Junge gewachsen!« sagte Anna und küßte ihn, ohne die Augen von Dolly abzuwenden. [88] Sie blieb stehen und sagte errötend? »Ach, laß uns doch noch ein Weilchen hierbleiben!«
Sie nahm das Tuch und den Hut ab, und da sie mit diesem an einer Strähne ihres schwarzen, durchweg lockigen Haares hängenblieb, so schüttelte sie mit dem Kopfe und machte dadurch das Haar wieder los.
»Du strahlst ja nur so von Glück und Gesundheit!« sagte Dolly beinahe neidisch.
»Ich? – O ja«, versetzte Anna. »Mein Gott, da ist ja Tanja!« wandte sie sich dem kleinen Mädchen zu, das hereingelaufen kam. »Sie ist ebenso alt wie mein Sergei«, fügte sie hinzu, nahm sie bei der Hand und küßte sie. »Ein reizendes Kind, ganz reizend! Du mußt mir deine Kinderchen alle zeigen.«
Sie zählte sie auf und kannte nicht nur ihre Namen, sondern wußte auch ihr Alter nach Jahren und Monaten, und welchen Charakter ein jedes besaß, und welche Krankheiten die einzelnen durchgemacht hatten. Gegen dieses teilnehmende Interesse konnte Dolly ihr Herz nicht verschließen.
»Nun, dann wollen wir zu ihnen gehen«, sagte sie. »Mein Wasili schläft leider gerade.«
Nachdem sie die Kinder angesehen hatten, setzten sie sich, nun allein, im Wohnzimmer an den Kaffeetisch. Anna fingerte am Präsentierbrett umher und schob es dann von sich weg.
»Dolly«, hob sie an, »er hat mit mir gesprochen.«
Dolly wandte die Augen mit kaltem Blicke zu Anna hin. Sie erwartete jetzt erheuchelte Teilnahmsbezeigungen; aber Anna sagte nichts Derartiges.
»Dolly, liebe Dolly«, fuhr sie fort, »ich will weder ihn zu verteidigen noch dich zu trösten suchen; das ist unmöglich. Ich will dir nur einfach sagen, daß du mir so leid tust, mein Herzchen, von ganzer Seele leid!«
Unter den dichten Wimpern ihrer glänzenden Augen drängten sich Tränen hervor. Sie rückte näher an ihre Schwägerin heran und ergriff mit ihrer eigenen festen kleinen Hand die Dollys. Dolly rückte nicht von ihr weg; aber ihr Gesicht verlor seinen starren Ausdruck nicht. Sie erwiderte:
»Mich zu trösten, ist unmöglich. Nach dem, was vorgefallen ist, ist alles verloren, alles zerstört!«
Aber sobald sie das gesagt hatte, wurde der Ausdruck ihres Gesichtes plötzlich weicher. Anna hob die dürre, magere Hand Dollys in die Höhe, küßte sie und sagte:
»Aber Dolly, was ist nun zu tun, was ist nun zu tun? Wie verhält man sich am besten in dieser schrecklichen Lage? Das ist's, was nun erwogen werden muß.«
[89] »Es ist alles zu Ende; weiter kann ich nichts sagen«, antwortete Dolly. »Und, weißt du, das allerschlimmste ist, daß ich ihn nicht verlassen kann, der Kinder wegen; ich bin gebunden. Aber mit ihm länger zusammenleben, das kann ich auch nicht; es ist mir eine Qual, ihn zu sehen.«
»Dolly, liebe, gute Dolly, er hat es mir ja schon gesagt; aber ich möchte es doch auch von dir hören; bitte, sage mir alles!«
Dolly blickte sie fragend an.
Aufrichtige Teilnahme und herzliche Liebe waren auf Annas Gesicht zu lesen.
»Nun gut!« sagte sie plötzlich. »Aber ich muß von vorn anfangen. Du weißt, wie ich heiratete. Bei der Art, in der mich maman erzogen hatte, war ich nicht nur unschuldig geblieben, sondern geradezu dumm. Ich wußte von nichts. Ich weiß, es heißt, daß die Männer ihren Frauen ihr Vorleben erzählen; aber Stiwa«, sie verbesserte sich, »Stepan Arkadjewitsch hat mir nichts gesagt. Du wirst es kaum glauben, aber ich hatte bis auf die neueste Zeit gemeint, ich wäre die einzige Frau, der er nähergetreten sei. So habe ich acht Jahre lang gelebt. Verstehe wohl: ich habe keine Untreue geargwöhnt, ja ich habe so etwas geradezu für unmöglich gehalten. Und nun stelle dir vor, wie einem zumute ist, wenn man in solchen Anschauungen dahinlebt und nun auf einmal solche entsetzliche, abscheuliche Dinge hören muß. Verstehe wohl: wenn man sich in festem Glauben für eine glückliche Frau hält und dann auf einmal ...« Dolly suchte ein Schluchzen zu unterdrücken, »... wenn man dann auf einmal einen Brief zu lesen bekommt – einen Brief von ihm an seine Geliebte, unsere frühere Erzieherin. Nein, das ist zu furchtbar!« Sie zog eilig das Taschentuch heraus und verbarg ihr Gesicht darin. »Ich könnte es noch begreifen, wenn er sich von einer augenblicklichen Leidenschaft hätte hinreißen lassen«, fuhr sie nach kurzem Stillschweigen fort, »aber mich mit Vorbedacht, in listiger Weise zu hintergehen – und mit wem! Daß er es fertigbringen konnte, mein Mann zu bleiben und gleichzeitig mit ihr ein Verhältnis zu haben, das ist furchtbar! Du kannst es nicht begreifen.«
»Doch, ich begreife es! Ich begreife es, liebe Dolly, ich begreife es«, antwortete Anna und drückte ihr die Hand.
»Und meinst du etwa, daß er für die ganze Furchtbarkeit meiner Lage Verständnis hat?« fuhr Dolly fort. »Nicht im entferntesten! Er ist glücklich und zufrieden.«
»O nein!« unterbrach Anna sie rasch. »Er ist in einem bedauernswerten Zustande, ganz gebrochen von Reue ...«
»Ist er denn überhaupt fähig zu bereuen?« unterbrach Dolly ihre Schwägerin und blickte ihr aufmerksam ins Gesicht.
[90] »Ja, ich kenne ihn. Ich habe ihn nicht ohne das tiefste Mitleid ansehen können. Wir kennen ihn ja alle beide. Er ist von guter Gemütsart; aber er hat auch seinen Stolz, und jetzt fühlt er sich tief gedemütigt. Was mich am meisten gerührt hat« (hier hatte Anna mit richtigem Empfinden herausgefühlt, welches Argument am ehesten Eindruck auf Dolly machen konnte), »zwei Dinge sind es, die ihn heftig quälen: erstens, daß er sich vor den Kindern schämen muß, und dann, daß er, der doch dich so liebt – ja, ja, er liebt dich über alles in der Welt –«, fügte sie schnell hinzu, um Dolly, die etwas erwidern wollte, nicht zu Worte kommen zu lassen, »daß er dir solchen Schmerz angetan und dir einen so schweren Schlag zugefügt hat. ›Nein, nein, sie wird mir nicht verzeihen‹, sagte er immer wieder.«
Dolly blickte nachdenklich an der Schwägerin vorbei, während sie deren Worte anhörte.
»Ja, daß sein Zustand schrecklich ist, das verstehe ich«, sagte sie; »der Schuldige ist schlimmer daran als der Unschuldige, – wenn er eben fühlt, daß das ganze Unglück durch seine Schuld gekommen ist. Aber wie kann ich ihm verzeihen, wie kann ich wieder sein Weib sein, nachdem er mit jener Person in Beziehungen gestanden hat? Es würde mir eine Qual sein, künftig mit ihm zusammen zu leben, eben deshalb, weil ich meine frühere Liebe zu ihm nicht aus meinem Gedächtnisse tilgen kann.«
Ein Schluchzen unterbrach ihre Worte.
Aber wie mit Absicht begann sie jedesmal, wenn sie weich wurde, wieder von dem zu sprechen, was sie so schwer gekränkt hatte.
»Sie ist ja jung und hübsch«, fuhr sie fort. »Aber verstehst du auch wohl, Anna, durch wen ich meine Jugend und meine Schönheit verloren habe? Durch ihn und seine Kinder. Ich habe einen schweren Dienst bei ihm gehabt, und in dieser Dienstzeit ist alles, was ich Gutes hatte, draufgegangen, und nun ist ihm natürlich dieses frische, wenn auch gemeine Geschöpf angenehmer. Sie haben gewiß untereinander über mich gesprochen, oder sie haben, was noch schlimmer wäre, mich mit Stillschweigen übergangen, – verstehst du wohl?«
Von neuem glühten ihr die Augen vor Haß.
»Und wenn er nun nach allem, was geschehen ist, mir später irgend etwas sagt, – werde ich ihm dann etwas glauben können? Niemals. Nein, nun ist alles zu Ende, alles, was mir ein Trost, ein Lohn für alle meine Mühen und Leiden war. – Kannst du das glauben: ich habe soeben Grigori unterrichtet; früher war mir das eine Freude, jetzt ist es mir eine Qual. Wozu mühe ich [91] mich ab und quäle mich? Was sollen mir die Kinder? Es ist entsetzlich, daß meine Seele auf einmal so umgewandelt ist und ich statt Liebe und Zärtlichkeit nur Haß gegen ihn empfinde, jawohl, Haß. Ich könnte ihn töten und ...«
»Dolly, liebste Dolly, ich kann dir das nachfühlen; aber martere dich nicht so! Du bist so erbittert und aufgeregt, daß du vieles in einem falschen Lichte siehst.«
Dolly antwortete nicht, und einige Minuten lang schwiegen beide.
»Was soll ich tun? Ersinne du etwas, Anna! Hilf mir! Ich habe alles hin und her erwogen und sehe keinen Ausweg.«
Einen Rettungsweg vermochte auch Anna nicht zu ersinnen; aber jedes Wort, jede Miene ihrer Schwägerin griff ihr ans Herz.
»Ich will dir nur eines sagen«, begann Anna, »ich bin seine Schwester und kenne seinen Charakter; ich weiß, daß er imstande ist, alles zu vergessen, alles« (sie machte eine Handbewegung vor ihrer Stirn), »daß er imstande ist, sich haltlos hinreißen zu lassen, daß er aber dann auch wieder dem Gefühle tiefster Reue zugänglich ist. Er kann es jetzt gar nicht verstehen und begreifen, wie er das überhaupt hat tun können, was er getan hat.«
»Nein doch, er begreift es und hat es immer begriffen!« unterbrach Dolly sie. »Aber ich, – du vergißt mich ja ganz dabei, – ist mir denn leichter ums Herz?«
»Höre doch nur! Als er mit mir sprach, da hatte ich – das will ich dir offen gestehen – noch kein rechtes Verständnis für die ganze Furchtbarkeit deiner Lage. Ich sah nur, wie es um ihn stand und daß euer Familienleben zerstört war, und er jammerte mich. Aber nachdem ich nun mit dir gesprochen habe, sehe ich als Frau doch noch etwas anderes; ich sehe deine Leiden, und ich kann dir gar nicht ausdrücken, wie sehr du mich dauerst! Aber, liebe Dolly, ich habe volles Verständnis für deine Leiden; nur eines weiß ich nicht: ich weiß nicht ... ich weiß nicht, wieviel Liebe zu ihm noch in deiner Seele vorhanden ist. Das weißt nur du, – ob du ihn noch so weit liebst, daß du ihm verzeihen kannst. Wenn das der Fall ist, dann verzeih ihm!«
»Nein ...«, begann Dolly, aber Anna fiel ihr ins Wort, indem sie noch einmal ihre Hand küßte.
»Ich kenne die Welt besser als du«, sagte sie. »Ich kenne solche Männer, wie Stiwa einer ist, und weiß, wie sie solche Dinge ansehen. Du sagst, er habe mit ihr über dich gesprochen. Das ist bestimmt nicht der Fall. Solche Männer lassen sich wohl eine Untreue zuschulden kommen, aber ihr häuslicher Herd und ihre Gattin, das ist doch für sie ein Heiligtum. Jene Frauenspersonen [92] sind ihnen im Grunde doch immer verächtlich und können in die Familie keine Störung hineinbringen. Zwischen ihnen und der Familie ziehen die Männer sozusagen eine unüberschreitbare Grenzlinie. Ich begreife das nicht recht, aber es ist so.«
»Ja, aber er hat sie doch geküßt!«
»Liebste Dolly, hör zu! Ich habe Stiwa gesehen, als er in dich verliebt war. Ich erinnere mich jener Zeit, als er zu mir kam und ihm jedesmal die Tränen über die Backen flossen, wenn er von dir sprach; du warst in seinen Augen wie ein hehres Wunderwesen der Poesie. Und ich weiß, daß du immer höher in seiner Liebe und Achtung gestiegen bist, je länger er mit dir zusammen gelebt hat. Wir haben manchmal über ihn gelacht, weil er hinter jedem Worte hinzusetzte: ›Dolly ist eine bewundernswürdige Frau.‹ Du warst für ihn immer eine Gottheit und bist es geblieben, und sein Herz weiß nichts von dieser Verirrung.«
»Aber wenn sich diese Verirrung wiederholt?«
»Das ist unmöglich, soviel ich davon verstehe.«
»Ja, aber würdest du ihm denn verzeihen?«
»Das weiß ich nicht; ich kann es nicht beurteilen. – Oder doch, ich kann es beurteilen«, fuhr sie nach kurzem Überlegen fort, nachdem sie im Geiste gleichsam die ganze Lage zusammengefaßt und auf die Waage gelegt hatte, und sie fügte hinzu: »Ja, ich kann es beurteilen, ich kann es wirklich. Ja, ich würde ihm verzeihen. Ich wäre wohl nach dem Geschehenen nicht mehr dieselbe wie vorher, das mag sein; aber ich würde ihm verzeihen und würde ihm so verzeihen, als ob das nicht geschehen wäre, überhaupt nicht geschehen wäre.«
»Ja, selbstverständlich«, fiel ihr Dolly hastig ins Wort, als ob jene nur ausspräche, was sie selbst sich schon oft gesagt habe. »Sonst wäre es ja keine Verzeihung. Wenn man einmal verzeihen will, dann muß man es auch völlig und ganz tun. Aber komm nun, ich möchte dich in dein Zimmer führen«, sagte sie, indem sie sich erhob, und umarmte Anna im Gehen. »Liebe Anna, wie freue ich mich, daß du gekommen bist! Mir ist jetzt leichter ums Herz, viel leichter.«
Diesen ganzen Tag blieb Anna zu Hause, das heißt bei Oblonskis, und empfing niemanden, obgleich mehrere ihrer Bekannten, die bereits von ihrer Anwesenheit gehört hatten, gleich an diesem Tage vorsprachen. Anna verbrachte den ganzen Vormittag [93] mit Dolly und den Kindern zusammen. Nur ihrem Bruder schickte sie ein Briefchen, er möge unter allen Umständen zu Hause zu Mittag essen. »Komm! Gott ist barmherzig«, schrieb sie ihm.
Oblonski speiste zu Hause; das Gespräch bei Tische war allgemein, auch seine Frau sprach mit ihm und nannte ihn dabei du, was sie vorher nicht getan hatte. In dem Verhältnisse des Gatten zur Gattin dauerte die bisherige Entfremdung fort, aber es war jetzt von keiner Trennung mehr die Rede, und Stepan Arkadjewitsch sah die Möglichkeit einer Aussprache und Versöhnung.
Gleich nach dem Mittagessen kam Kitty. Sie kannte Anna Arkadjewna, aber nur wenig, und kam jetzt zu ihrer Schwester nicht ohne eine leise Bangigkeit, wie diese Petersburger Weltdame, von der alle des Rühmens voll waren, sie wohl aufnehmen werde. Aber sie gefiel Anna Arkadjewna, das merkte sie sofort. Anna war augenscheinlich entzückt von dem schönen jungen Mädchen, und ehe Kitty sich noch recht besinnen konnte, fühlte sie, daß sie nicht nur in Annas Bann geraten war, sondern sich auch in sie verliebt hatte, wie sich eben junge Mädchen in verheiratete Frauen, die etwas älter sind als sie, zu verlieben fähig sind. Anna machte gar nicht den Eindruck einer Weltdame oder der Mutter eines achtjährigen Sohnes, sondern ähnelte eher einem zwanzigjährigen Mädchen in der Biegsamkeit ihrer Bewegungen, in der Frische ihres Wesens und in der ein wenig zurückgehaltenen Lebhaftigkeit des Gesichtes, die bald in einem Lächeln, bald in einem Blicke zum Durchbruch kam, wenn nur nicht der ernste, bisweilen sogar traurige Ausdruck ihrer Augen gewesen wäre, der Kitty betroffen machte und dabei, doch anzog. Kitty fühlte, daß Anna sich vollkommen natürlich gab und nichts verbarg, daß aber in ihrer Seele eine Welt von höheren Gedanken ruhte, von ernsten, poetischen Gedanken, die ihr, dem jungen Mädchen, unfaßbar waren.
Als Dolly sich nach dem Mittagessen in ihr Zimmer begeben hatte, stand Anna rasch auf und trat zu ihrem Bruder, der sich gerade eine Zigarre anzündete.
»Stiwa«, sagte sie, indem sie ihm lustig zuzwinkerte, ihn bekreuzte und mit den Augen zur Tür wies, »geh, und Gott möge dir beistehen!«
Er verstand sie, warf die Zigarre beiseite und verschwand hinter der Tür.
Als Stepan Arkadjewitsch das Zimmer verlassen hatte, kehrte Anna zu dem Sofa zurück, auf dem sie gesessen hatte, von den Kindern umringt. Ob es nun daher kam, daß die Kinder sahen, [94] wie sehr ihre Mama diese Tante liebte, oder daher, daß sie selbst an ihr ein besonderes Gefallen gefunden hatten: genug, die beiden älteren und, ihrem Beispiel folgend, auch die jüngeren hatten sich, wie man das bei Kindern nicht selten sieht, schon vor dem Mittagessen wie die Kletten an die neue Tante gehängt und waren keinen Augenblick von ihr gewichen. Ja, es hatte sich bei ihnen eine Art Spiel herausgebildet, das darin bestand, möglichst nahe neben der Tante zu sitzen, sie anzufassen, ihre kleine Hand zu halten und zu küssen oder wenigstens den Faltenbesatz ihres Kleides zu berühren.
»Halt, halt! So, wie wir vorher gesessen haben!« sagte Anna Arkadjewna, indem sie sich wieder auf ihren Platz setzte.
Grigori schob von neuem den Kopf unter ihren Arm, schmiegte sich mit dem Kopfe an ihr Kleid und strahlte vor Stolz und Glück.
»Also jetzt sagen Sie mir, bitte, wann eigentlich der Ball sein wird«, wandte sich Anna an Kitty.
»In der nächsten Woche. Und es wird ein sehr schöner Ball werden. Einer von den Bällen, auf denen man immer vergnügt ist.«
»Gibt es denn solche, auf denen man immer vergnügt ist?« fragte Anna mit einem leisen, heiteren Lachen.
»Ja, es ist merkwürdig, aber es gibt solche. Bei Bobrischtschews geht es immer lustig zu, auch bei Nikitins, aber bei Meschkows ist es immer langweilig. Ist Ihnen das nicht auch aufgefallen?«
»Nein, mein Herz, für mich gibt es solche Bälle nicht mehr, auf denen es lustig ist«, erwiderte Anna, und Kitty erblickte in ihren Augen jene besondere Welt, die ihr verschlossen blieb. »Für mich gibt es nur solche, auf denen es weniger öde und langweilig ist als auf anderen.«
»Wie können Sie sich denn auf einem Balle langweilen?«
»Warum sollte gerade ich mich auf einem Balle nicht langweilen?« fragte Anna.
Kitty merkte, daß Anna im voraus wußte, welche Antwort nun folgen werde.
»Weil Sie immer die Schönste von allen sind.«
Anna besaß die Eigenschaft, leicht zu erröten. Auch jetzt wurde sie rot und erwiderte:
»Erstens ist das ganz und gar nicht der Fall, und zweitens, selbst wenn es der Fall wäre, was hätte ich davon?«
»Werden Sie diesen Ball besuchen?« fragte Kitty.
»Ich glaube, ich werde wohl nicht umhinkönnen. Da, nimm ihn«, sagte sie zu Tanja, die an einem Ringe zog, der sich leicht von Annas schlankem, an der Spitze dünner werdendem Finger streifen ließ.
[95] »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie hinkämen. Ich möchte Sie so gern auf einem Balle sehen.«
»Dann wird mir, wenn ich wirklich hin muß, wenigstens der Gedanke tröstlich sein, daß ich Ihnen damit ein Vergnügen mache. – Grigori, in meinem Haar darfst du aber nicht zausen; das ist auch so schon immer unordentlich genug«, sagte sie und brachte eine losgegangene Strähne in Ordnung, mit der Grigori gespielt hatte.
»Ich stelle Sie mir auf dem Balle in Lila vor.«
»Warum denn gerade in Lila?« fragte Anna lächelnd. »Aber nun, Kinder, müßt ihr gehen. Hört ihr wohl? Miß Hull ruft euch zum Teetrinken«, sagte sie, indem sie sich von den Kindern losmachte und sie in das Eßzimmer schob. »Ich weiß auch, warum Sie mich auf diesem Balle sehen möchten. Sie erwarten für sich etwas Wichtiges von diesem Balle, und da möchten Sie, daß alle dabei wären und Anteil daran nähmen.«
»Woher wissen Sie das? – Nun ja!«
»Oh, in was für einem schönen Alter stehen Sie!« fuhr Anna fort. »Ich kenne aus der Erinnerung diesen bläulichen Nebel, ähnlich wie der auf den Schweizer Bergen, diesen Nebel, der unseren Augen alles verhüllt in jener seligen Zeit, da die Kindheit eben zu Ende geht und dieser weite, glückliche, lustige Tummelplatz sich dem Dahinwandelnden immer mehr und mehr zu einem schmalen Pfade verengt; frohen Herzens begibt man sich auf diesen Pfad und doch nicht ohne Bangigkeit, mag er auch noch so sonnig und schön erscheinen. – Wer hätte das nicht durchgemacht?«
Kitty lächelte und schwieg. ›Aber wie, ja wie mag sie das durchgemacht haben? Wie gern möchte ich ihren ganzen Liebesroman kennen‹, dachte Kitty in Erinnerung daran, wie schrecklich prosaisch Annas Mann, Alexei Alexandrowitsch, aussah.
»Ja, ja, ich weiß etwas von Ihrem Geheimnisse«, fuhr Anna fort. »Stiwa hat mir davon erzählt, und ich wünsche Ihnen von Herzen Glück; er gefällt mir sehr. Ich bin mit Wronski auf dem Bahnhof zusammengetroffen.«
»Ach, war er da?« fragte Kitty errötend. »Was hat Ihnen denn Stiwa gesagt?«
»Stiwa hat alles ausgeplaudert. Und ich würde mich sehr, sehr freuen. – Ich bin gestern mit Wronskis Mutter zusammen hierher gereist«, fuhr sie fort, »und die Mutter hat zu mir ununterbrochen von ihm geredet; er ist ihr Liebling. Ich weiß, wie eingenommen Mütter oft von ihren Kindern sind, aber ...«
»Was hat Ihnen denn seine Mutter erzählt?«
[96] »Oh, vieles, vieles! Ich weiß ja, daß er ihr Liebling ist; aber so viel ist doch sicher, daß er eine vornehme, ritterliche Gesinnung besitzt. So erzählte sie mir zum Beispiel, er habe das ganze Vermögen seinem Bruder überlassen wollen; schon als Knabe habe er eine außerordentliche Tat vollbracht, indem er eine Frau aus dem Wasser gerettet hat. Mit einem Worte: ein Held«, sagte Anna lächelnd; sie dachte dabei auch an die zweihundert Rubel, die er auf dem Bahnhofe für die Hinterbliebenen des Verunglückten gespendet hatte.
Aber von diesen zweihundert Rubeln erzählte sie nichts. Eine unwillkürliche Abneigung hinderte sie daran, dies zu erwähnen. Sie fühlte, daß in dieser Handlung etwas gelegen hatte, was zu ihr in einer persönlichen Beziehung stand und was nicht hätte sein dürfen.
»Sie hat mich sehr gebeten, sie doch zu besuchen«, fuhr Anna fort. »Ich freue mich darauf, die alte Dame wiederzusehen, und will morgen zu ihr fahren. Aber Gott sei Dank, Stiwa bleibt lange bei Dolly in ihrem Zimmer«, fügte Anna, das Gesprächsthema wechselnd, hinzu und stand auf. Kitty hatte den Eindruck, daß sie mit irgend etwas unzufrieden sei.
»Nein, ich zuerst! Nein, ich!« schrien die Kinder, die mit ihrem Tee fertig waren und nun wieder zu Tante Anna hereingestürmt kamen.
»Alle zugleich!« rief Anna und lief ihnen lachend entgegen, umarmte sie und warf sich mit diesem ganzen kribbelnden, vor Entzücken kreischenden Kinderschwarm auf den Boden.
Als der Tee für die Erwachsenen aufgetragen war, kam Dolly aus ihrem Zimmer. Stepan Arkadjewitsch kam nicht mit ihr; er mußte wohl das Zimmer seiner Frau durch den hinteren Ausgang verlassen haben.
»Ich fürchte, es wird dir oben zu kalt sein«, bemerkte Dolly, zu Anna gewendet. »Ich möchte dich doch lieber hier unten unterbringen; wir sind dann auch näher beieinander.«
»Ach, ich bitte dringend, macht euch doch um mich keine Sorge!« antwortete Anna und blickte dabei ihre Schwägerin forschend an, um zu ersehen, ob eine Aussöhnung stattgefunden habe oder nicht.
»Es wird dir hier nur zu hell sein zum Schlafen«, bemerkte Dolly.
»Ich versichere dir, ich schlafe immer und überall wie ein Murmeltier.«
[97] »Wovon ist denn die Rede?« fragte Stepan Arkadjewitsch, der aus seinem Zimmer kam; er wandte sich mit dieser Frage an seine Frau.
An seinem Tone erkannten sowohl Kitty wie auch Anna sofort, daß eine Aussöhnung zustande gekommen war.
»Ich möchte Anna hier unten unterbringen; aber dann müssen andere Fenstervorhänge aufgehängt wer den. Das versteht keiner ordentlich zu machen; ich muß es schon selbst tun«, antwortete Dolly, ihm zugewandt.
›Ob sie sich auch wirklich vollständig ausgesöhnt haben?‹ dachte Anna, als sie Dollys kühlen, ruhigen Ton hörte.
»Ach, mach dir doch nicht immer so viel Mühe, Dolly!« sagte ihr Mann. »Wenn du willst, so kann ich ja alles zurechtmachen.«
›Ja, sie haben sich bestimmt ausgesöhnt‹, dachte Anna.
»Das kenne ich schon, wie du alles zurechtmachst«, antwortete Dolly. »Du gibst deinem Matwei irgendwelche ganz unmögliche Anweisungen, und dann gehst du davon, und er macht dann lauter dummes Zeug«, und während Dolly das sagte, verzog sie mit ihrem üblichen spöttischen Lächeln die Mundwinkel.
›Aussöhnung, völlig, völlige Aussöhnung!‹ dachte Anna. ›Gott sei Dank!‹ Und voll Freude darüber, daß es ihr gelungen war, dies zustande zu bringen, trat sie an Dolly heran und küßte sie.
»So ist das ganz und gar nicht; warum verachtest du mich und Matwei so?« erwiderte Stepan Arkadjewitsch, sich seiner Frau zuwendend, mit einem kaum bemerkbaren Lächeln.
Den ganzen Abend über hatte alles, was Dolly zu ihrem Manne sagte, eine leise ironische Färbung, wie das auch früher immer so gewesen war, und Stepan Arkadjewitsch war zufrieden und heiter, jedoch nur so weit, daß er doch dabei andeutete, er habe trotz der erhaltenen Verzeihung seine Schuld keineswegs vergessen.
Um halb zehn Uhr wurde dieses besondere muntere und vergnügliche abendliche Familiengespräch am Teetische bei Oblonskis durch ein anscheinend ganz unbedeutendes Ereignis unterbrochen; aber dieses unbedeutende Ereignis erschien aus eigentümlichen Gründen allen als etwas sehr Bemerkenswertes. Man sprach von einer gemeinsamen Petersburger Bekannten, da stand Anna eilig auf.
»Ich habe ein Bild von ihr in meinem Album bei mir«, sagte sie. »Und bei dieser Gelegenheit kann ich euch auch meinen kleinen Sergei zeigen«, fügte sie mit einem stolzen, mütterlichen Lächeln hinzu.
Nach neun Uhr, wo sie ihrem Söhnchen gewöhnlich gute Nacht sagte, ihn auch oft, ehe sie zu einem Balle fuhr, selbst zu Bett [98] brachte, war ihr heute traurig zumute geworden, weil sie so weit von ihm entfernt war; und wovon die Rede auch sein mochte, sie kehrte mit ihren Gedanken immer wieder zu ihrem kleinen, krausköpfigen Sergei zurück. Sie wollte gern sein Bild betrachten und von ihm sprechen. Daher benutzte sie den ersten Vorwand, der sich darbot, stand auf und ging mit ihrem leichten, festen Gang hinaus, um das Album zu holen. Die Treppe, die zu ihrem Zimmer hinaufführte, mündete auf den Vorplatz der großen geheizten Haupttreppe.
In dem Augenblicke, da sie aus dem Wohnzimmer trat, ertönte in der Flurhalle die Klingel.
»Wer kann das sein?« sagte Dolly.
»Es ist noch zu früh, als daß es jemand sein könnte, der mich abholen soll; und für einen Besuch wieder ist es zu spät«, bemerkte Kitty.
»Wahrscheinlich jemand mit Akten«, setzte Stepan Arkadjewitsch hinzu. Als Anna an der Haupttreppe vorbeikam, lief gerade ein Diener hinauf, um den Ankömmling zu melden; dieser selbst stand unten neben der Flurlampe. Anna, die hinunterblickte, erkannte sofort Wronski, und ein seltsames Gefühl, aus Freude und Furcht gemischt, regte sich plötzlich in ihrem Herzen. Er stand da, ohne den Überzieher abzulegen, und zog gerade etwas aus der Tasche. In dem Augenblicke, da sie in eine Linie mit dem Mittelraume des Treppenhauses gelangt war, hob er die Augen in die Höhe, erblickte sie, und in dem Ausdrucke seines Gesichtes wurde etwas wie Beschämung und Schreck sichtbar. Sie ging mit leicht gesenktem Kopfe vorüber; aber hinter sich hörte sie die laute Stimme Stepan Arkadjewitschs, der den späten Besucher zum Nähertreten aufforderte, und die mäßig laute, weiche, ruhige Stimme Wronskis, der dies ablehnte.
Als Anna mit dem Album zurückkehrte, war er nicht mehr da, und Stepan Arkadjewitsch erzählte, er sei nur hergekommen, um sich wegen eines Diners zu erkundigen, das sie am nächsten Tage einer soeben in Moskau eingetroffenen Berühmtheit zu Ehren geben wollten. »Er wollte durchaus nicht hereinkommen; ein sonderbarer Mensch!« fügte Stepan Arkadjewitsch hinzu.
Kitty errötete. Sie glaubte, sie allein wüßte, weshalb er gekommen sei und weshalb er nicht habe eintreten wollen. ›Er ist bei uns gewesen‹, dachte sie, ›hat mich nicht getroffen und hat sich gedacht, daß ich hier sein würde; aber er hat nicht hereinkommen mögen, weil er meinte, es sei schon zu spät, und weil Anna hier ist.‹
[99] Alle sahen einander an, ohne etwas zu sagen; dann begannen sie Annas Album zu besehen.
An sich lag nichts Ungewöhnliches und Befremdliches darin, daß jemand um halb zehn bei einem Freunde vorsprach, um Näheres über ein geplantes Diner zu hören, dabei aber nicht ins Zimmer kommen wollte; aber dennoch erschien es allen auffällig. Mehr noch als die anderen war Anna der Ansicht, daß dieses Verhalten auffällig und nicht passend sei.
Der Ball begann eben, als Kitty mit ihrer Mutter die große, von Licht überflutete Treppe hinanstieg, auf der blühende Topfgewächse und gepuderte Lakaien in roten Röcken aufgestellt waren. Aus den Sälen drang das dumpfe Geräusch der sich darin bewegenden Menschenmenge heraus, gleichmäßig wie das Summen in einem Bienenstocke, und während sie auf einem Treppenabsatz zwischen der dort aufgestellten Orangerie vor dem Spiegel die Frisuren und Kleider in Ordnung brachten, ertönten aus dem Tanzsaale die rhythmischen Geigenklänge des Orchesters, das den ersten Walzer anstimmte. Ein bejahrter Herr in Zivil, der sich vor einem anderen Spiegel die grauen Haare an den Schläfen zurechtgebürstet hatte und eine Wolke von Wohlgeruch um sich verbreitete, traf mit ihnen auf der Treppe zusammen und trat zur Seite, wobei er die ihm unbekannte Kitty mit unverhohlener Bewunderung betrachtete. Ein bartloser Jüngling mit sehr tief ausgeschnittener Weste, einer der Salonmenschen, die der Fürst Schtscherbazki Windhunde zu nennen pflegte, brachte im Gehen seine weiße Krawatte in Ordnung, verbeugte sich vor ihnen, kehrte, nachdem er schon vorbeigelaufen war, wieder um und bat Kitty um eine Quadrille. Die erste Quadrille war schon an Wronski vergeben; sie mußte also diesem jungen Manne die zweite zuteilen. Ein Offizier, der gerade dabei war, sich den einen Handschuh zuzuknöpfen, trat an der Tür zur Seite und musterte, sich den Schnurrbart glattstreichend, beifällig die einem Röschen gleichende Kitty.
Obgleich die Toilette, die Frisur und alle die anderen Zurüstungen zum Balle Kitty viel Mühe und viel Überlegungen gekostet hatten, trat sie doch jetzt in ihrem kunstvollen Tüllkleide über einem rosa Unterkleide auf dem Balle so frei und ungezwungen auf, als ob all diese Rosetten, Spitzen und sonstigen Bestandteile der Toilette ihre und ihrer Hausgenossen [100] eifrige Tätigkeit auch nicht für einen Augenblick in Anspruch genommen hätten, als ob sie in diesem Tüll, in diesen Spitzen, mit dieser hohen, von einer Rose nebst zwei Blättchen gekrönten Frisur geboren wäre.
Als beim Eintritt in den Saal die alte Fürstin ihr das Gürtelband, das sich umgeschlagen hatte, wieder in Ordnung bringen wollte, wehrte Kitty leise ab. Sie hatte die Empfindung, jetzt müsse alles an ihr ganz von selbst schön und anmutig sein, so daß keinerlei Verbesserung mehr nötig sei.
Kitty hatte heute einen ihrer glücklichen Tage. Nirgends saß das Kleid zu eng; nirgends war die Spitzenborte hinuntergerutscht; keine Rosette war zerdrückt oder abgerissen; die rosa Ballschuhe mit den hohen, geschweiften Absätzen drückten nicht, sondern waren eine Lust für die Füßchen. Die dichten, hellblonden Bandeaus saßen auf dem kleinen Köpfchen fest wie das eigene Haar. Die drei Knöpfe an jedem der langen Handschuhe, die eng anliegend die Hände umschlossen, ohne deren Form zu verändern, hatten sich alle zuknöpfen lassen; keiner war abgerissen. Das schwarze Samtband, an dem ein Medaillon hing, umgab ihren Hals besonders anmutig. Dieses Samtband war geradezu entzückend, und als Kitty zu Hause ihren Hals im Spiegel gesehen hatte, hatte sie ein Gefühl gehabt, wie wenn dieses Samtband reden könnte. Und wenn bei allen übrigen Bestandteilen ihrer Toilette vielleicht noch ein Zweifel an deren höchster Vollendung möglich war, das Samtband war einfach entzückend. Auch hier auf dem Balle lächelte Kitty, als sie es im Spiegel erblickte. In den entblößten Schultern und Armen empfand Kitty eine marmorartige Kühle, ein Gefühl, das sie ganz besonders gern hatte. Ihre Augen leuchteten, und die roten Lippen konnten im Bewußtsein, wie reizend sie waren, ein Lächeln nicht unterdrücken.
Kaum hatte sie den Saal betreten und sich zu der Schar der Damen begeben, die, einem bunten Durcheinander von Tüll, Bändern, Spitzen und Blumen gleichend, auf Aufforderungen zum Tanze warteten (Kitty hatte in diesem Schwarm nie lange zu stehen brauchen), als sie auch schon zum Walzer aufgefordert wurde, und zwar von einem Kavalier ersten Ranges, dem tonangebenden Kavalier auf dem Gebiete des Ball-Lebens, dem berühmten Ballordner und Zeremonienmeister Jegor Korsunski, einem hübschen, stattlichen, verheirateten Manne. Er hatte soeben die Gräfin Bonina verlassen, mit der er den ersten Walzer getanzt hatte, und musterte »seine Truppen«, das heißt die zum Tanz angetretenen Paare, da erblickte er die eintretende Kitty, eilte mit jenem besonderen, nur den Ballordnern eigenen, ungezwungenen, [101] wiegenden Gange auf sie zu, verbeugte sich und hob, ohne auch nur zu fragen, ob es ihr recht sei, den Arm, um ihn um ihre schlanke Taille zu legen. Sie blickte sich um, wem sie ihren Fächer übergeben könnte, und die Hausfrau nahm ihn ihr, freundlich lächelnd, ab.
»Wie schön, daß Sie so pünktlich gekommen sind«, sagte er, während er ihre Hüfte umfaßte. »Dieses Zuspätkommen ist auch eine zu arge Unsitte.«
Sie legte den gebogenen linken Arm auf seine Schulter, und die kleinen Füßchen in den rosa Schuhen bewegten sich hurtig, leicht und gleichmäßig nach dem Takte der Musik auf dem glatten Parkett.
»Es ist geradezu eine Erholung, mit Ihnen Walzer zu tanzen«, sagte er nach den ersten ruhigen Walzerschritten. »Eine ganz entzückende Leichtigkeit und précision«, – er sagte ihr dasselbe, was er fast allen Damen seiner Bekanntschaft sagte.
Sie lächelte über sein Lob und fuhr fort, über seine Schulter hinweg sich im Saale umzusehen. Sie war kein Neuling, für den auf einem Balle alle Gesichter zu einem einzigen zauberhaften Gesamteindrucke zusammenfließen, aber sie war auch keine jener jungen Damen, die von ihren Müttern auf alle Bälle geschleppt werden und dort alle Gesichter schon so genau kennen, daß sie sie gar nicht mehr sehen mögen, sondern sie nahm eine Mittelstellung zwischen diesen beiden Gegensätzen ein: sie war wohl erregt, hatte sich aber dabei doch so weit in der Gewalt, daß sie Beobachtungen anstellen konnte. In der linken Ecke des Saales hatte sich, wie sie sah, die Creme der Gesellschaft aufgestellt. Da war die schöne, fast bis zur Unmöglichkeit dekolletierte Liddy, die Frau des Herrn Korsunski; da war die Hausfrau; da saß mit seiner weithin leuchtenden Glatze Herr Kriwin, der sich immer dort aufhielt, wo sich die Spitzen der Gesellschaft befanden; dorthin richteten die jungen Herren ihre Blicke, ohne daß sie doch gewagt hätten, hinzugehen; und dort fand sie auch mit den Augen ihren Schwager Stiwa heraus, und dann erblickte sie Annas schönen Kopf und entzückende Gestalt in einem schwarzen Samtkleide. Auch ›er‹ war dort. Kitty hatte ihn seit dem Abende, da sie Ljewins Antrag abgelehnt hatte, nicht wiedergesehen. Mit ihren scharfen Augen erkannte sie ihn sofort und bemerkte sogar, daß er zu ihr herüberschaute.
»Nun, noch eine Runde? Sie sind doch nicht ermüdet?« fragte Korsunski, der ein wenig außer Atem gekommen war.
»Nein, ich danke.«
»Wohin darf ich Sie führen?«
[102] »Ich glaube, dort ist Frau Karenina. Führen Sie mich, bitte, zu ihr!« – »Wie Sie befehlen.«
Und Korsunski walzte mit kürzer abgemessenen Schritten gerade auf die Gruppe in der linken Ecke des Saales zu, wobei er fortwährend sagte: ›Pardon, mes dames, pardon, pardon, mes dames!‹ und in diesem Meere von Spitzen, Tüll und Bändern so geschickt kreuzte, daß er auch nicht an einem Flitterchen anhakte; dann schwenkte er seine Dame in kurzer Wendung herum, so daß ihre schlanken Beinchen in den durchbrochenen Strümpfen sichtbar wurden und ihre Schleppe sich fächerförmig ausbreitete und Kriwins Knie bedeckte. Korsunski verbeugte sich, drückte die Brust in dem weiten Westenausschnitt nach vorn heraus und reichte Kitty den Arm, um sie zu Anna Arkadjewna zu führen. Errötend nahm Kitty ihre Schleppe von Kriwins Knien herunter und blickte dann, ein wenig schwindlig, umher, um Anna herauszufinden. Anna war nicht in Lila, wie Kitty das für das einzig Gegebene gehalten hatte, sondern trug ein schwarzes, tief ausgeschnittenes Samtkleid, das ihre vollen, wie aus altem Elfenbein gedrechselten Schultern, die Büste und die rundlichen Arme mit den feinen, schmalen Handgelenken frei ließ. Das ganze Kleid war mit venezianischer Stickerei besetzt. Auf dem Kopfe trug sie in dem schwarzen Haare, lauter eigenem ohne fremden Zusatz, eine kleine Girlande von Stiefmütterchen, und ein Sträußchen ebendieser Blumen steckte zwischen weißen Spitzen an dem schwarzen Gürtelbande. Ihre Frisur hatte nichts Auffallendes. Auffällig waren nur diese überaus reizenden, eigenwilligen, kurzen Ringel des lockigen Haares, die überall, am Nacken und an den Schläfen, vom Kopfe abstanden. Um den glatten, kräftigen Hals schlang sich eine Perlenschnur.
Kitty hatte Anna täglich gesehen und sich geradezu in sie verliebt. Sie hatte sie sich durchaus in Lila vorgestellt; aber als sie sie jetzt in Schwarz erblickte, da kam sie zu der Erkenntnis, daß sie Annas Reiz vorher nicht in vollem Umfange erfaßt hatte. Sie sah sie jetzt in einer völlig neuen, überraschenden Erscheinungsform. Jetzt begriff sie, daß Anna nicht Lila tragen durfte und daß ihr Reiz gerade darin bestand, daß sie, gleichsam wie ein Bild aus dem Rahmen, aus ihrer Toilette heraustrat und daß man über ihrer Person ihre Toilette nicht beachtete. Und wirklich sah man dieses schwarze Kleid mit den prachtvollen Spitzen an ihr eigentlich gar nicht; das Kleid war nur der Rahmen, und sichtbar war nur sie in ihrer Schlichtheit, Natürlichkeit und Schönheit sowie in ihrer Heiterkeit und Lebhaftigkeit.
[103] Sie stand, wie immer, in sehr gerader Haltung da und redete gerade mit dem Hausherrn, indem sie den Kopf leicht zu ihm hinwandte, als Kitty an diese Gruppe herantrat.
»Nein, ich will keinen Stein auf sie werfen«, antwortete sie auf etwas, was er gesagt hatte, »verstehen kann ich es allerdings nicht, wie das möglich war«, fuhr sie achselzuckend fort. Dann wandte sie sich sogleich mit einem liebenswürdigen, gönnerhaften Lächeln zu Kitty. Mit schnellem Frauenblicke musterte sie deren Toilette und gab dann durch eine kaum bemerkbare, aber für Kitty verständliche Kopfbewegung ihren Beifall sowohl für die Toilette wie auch für die Schönheit der Trägerin zu verstehen. »Sie sind ja in den Saal hereingetanzt gekommen«, fügte sie hinzu.
»Das ist eine meiner treuesten Gehilfinnen«, sagte Korsunski und verbeugte sich vor Anna Arkadjewna, die er noch nicht begrüßt hatte. »Die Prinzessin trägt außerordentlich viel dazu bei, einen Ball heiter und schön zu gestalten. Anna Arkadjewna, einen Walzer«, sagte er, sich verneigend.
»Sie kennen einander schon?« fragte der Hausherr.
»Mit wem wären meine Frau und ich nicht bekannt? Wir sind wie weiße Wölfe, uns kennt jeder«, versetzte Korsunski. »Einen Walzer, Anna Arkadjewna!«
»Ich tanze nicht, wenn ich es vermeiden kann«, antwortete sie.
»Aber heute ist es nicht zu vermeiden«, entgegnete Korsunski.
In diesem Augenblicke trat Wronski heran.
»Nun, wenn es denn heute für mich unvermeidlich ist, zu tanzen, so kommen Sie!« sagte sie, ohne Wronskis Verbeugung zu beachten, und legte schnell die Hand auf Korsunskis Schulter.
›Was mag sie nur gegen ihn haben?‹ dachte Kitty; sie hatte recht wohl gemerkt, daß Anna den Gruß Wronskis absichtlich nicht erwidert hatte. Wronski trat nun auf Kitty zu, erinnerte sie an die ihm versprochene erste Quadrille und äußerte sein Bedauern darüber, daß er diese ganze Zeit her nicht das Vergnügen gehabt habe, sie zu sehen. Kitty blickte voll Bewunderung zu der tanzenden Anna hin und hörte gleichzeitig auf das, was Wronski sagte. Sie erwartete, daß er sie zum Walzer auffordern werde; aber er tat es nicht, und sie blickte ihn verwundert an. Er errötete und bat sie nun eilig um den Tanz; aber kaum hatte er ihre schlanke Hüfte umfaßt und den ersten Schritt gemacht, als die Musik plötzlich aufhörte. Kitty schaute in sein Gesicht, das dem ihren so nahe war, und noch lange nachher, noch jahrelang, erfüllte der Gedanke an diesen Blick voll Liebe, den er unerwidert gelassen hatte, ihr Herz mit einem bitteren, bitteren Gefühl der Scham.
[104] »Pardon, pardon! Walzer, Walzer!« rief von der anderen Seite des Saales her Korsunski, faßte selbst die erste junge Dame um, die ihm in den Weg kam, und tanzte weiter.
Wronski tanzte mit Kitty den Walzer. Nach dem Tanz begab sich Kitty zu ihrer Mutter und hatte kaum ein paar Worte mit der Gräfin Northstone gesprochen, als auch schon Wronski kam, um sie zur ersten Quadrille zu holen. Während der Quadrille sprachen die beiden nichts von Bedeutung miteinander; die Unterhaltung berührte sprungweise die verschiedensten Gegenstände. Bald sprach Wronski von Herrn Korsunski und Frau Korsunskaja, von denen er eine höchst unterhaltsame Schilderung entwarf, indem er sie als nette Kinderchen von vierzig Jahren kennzeichnete, bald von dem in Aussicht genommenen Liebhabertheater, und nur ein einziges Mal ging das Gespräch Kitty näher an, und zwar berührte es bei ihr einen empfindlichen Punkt, als er sich nach Ljewin erkundigte, ob der auch hier sei, und hinzufügte, er habe ihm sehr gut gefallen. Aber von dieser Quadrille hatte Kitty auch nicht mehr erwartet; sie wartete mit Herzklopfen auf die Masurka. Bei der Masurka, meinte sie, müsse alles zur Entscheidung kommen. Daß er sie während der Quadrille nicht zur Masurka aufforderte, beunruhigte sie nicht weiter. Sie hielt es für selbstverständlich, daß sie wie auf den früheren Bällen auch diesmal die Masurka mit ihm tanzen werde, und wies fünf Herren ab, von denen sie aufgefordert wurde, da sie bereits vergeben sei. Der ganze Ball bis zur letzten Quadrille war für Kitty ein märchenhafter Traum voll heiterer Farben, Klänge und Bewegungen. Sie tanzte fast ununterbrochen; nur wenn sie sich zu müde fühlte und der Erholung bedurfte, ließ sie eine Pause eintreten. Die letzte Quadrille tanzte sie mit einem langweiligen jungen Manne, dem sie nicht gut hatte einen Korb geben können, und es traf sich, daß sie dabei Wronski und Anna zum Gegenüber hatte. Sie war mit Anna seit der Begegnung gleich zu Beginn des Balles nicht wieder in Berührung gekommen und sah sie nun auf einmal in einem ganz neuen, überraschenden Zustande wieder. Sie nahm an ihr die ihr selbst so wohlbekannten Merkmale jener Erregung wahr, die durch einen persönlichen Erfolg hervorgerufen wird. Sie sah, daß Anna wie berauscht war von dem Gefühle des Triumphes darüber, daß sie Entzücken erregt habe. Sie kannte dieses Gefühl und kannte seine Anzeichen und sah sie jetzt bei [105] Anna – sie sah den zitternden, aufleuchtenden Glanz in ihren Augen und das Lächeln des Glücks und der Aufregung, das unwillkürlich ihren Mund umspielte, und die vollendete Anmut, Sicherheit und Leichtigkeit aller Bewegungen.
›Wer ist es?‹ fragte sie sich selbst. ›Alle oder ein einzelner?‹ Während der junge Mann, mit dem sie tanzte, sich abquälte, sie zu unterhalten, aber den Faden verlor, ohne daß er ihn hätte wiederfinden können oder sie ihm zu Hilfe gekommen wäre, und während sie äußerlich heiter den lauten Kommandos des Herrn Korsunski Folge leistete, der alle Tanzenden bald zur grande ronde, bald zur chaîne 1 formierte, beobachtete sie unterdessen, und ihr Herz krampfte sich immer schmerzlicher zusammen. ›Nein, nicht daß sie das Wohlgefallen vieler gefunden, sondern daß sie das Entzücken eines einzelnen erregt hat, das hat sie so berauscht. Und wer ist dieser eine? Sollte er es sein, er?‹ Jedesmal, wenn er zu Anna sprach, leuchtete in ihren Augen ein freudiger Glanz auf, und ein glückliches Lächeln trat auf ihre roten Lippen. Es schien, als gäbe sie sich Mühe, diese Zeichen ihrer Freude zu unterdrücken; aber sie drangen auf ihrem Gesichte aus eigener Kraft hervor. ›Und wie ist es mit ihm?‹ fragte sich Kitty, blickte ihn an und erschrak heftig. Das, was ihr in Annas Gesicht klar wie in einem Spiegel entgegengetreten war, ebendasselbe erblickte sie auch bei ihm. Wo war seine sonst immer so ruhige, sichere Haltung geblieben, wo der sorglose, unbekümmerte Ausdruck seines Gesichtes? Jetzt war das alles verändert: jedesmal, wenn er sich ihr zuwandte, neigte er ein wenig den Kopf, als wolle er vor ihr niederfallen, und in seinem Blicke lag unausgesetzt der Ausdruck völliger Ergebenheit und einer gewissen Bangigkeit. ›Ich möchte dich nicht durch meine Leidenschaft beleidigen‹, schien jedesmal sein Blick zu sagen. ›Ich möchte mich retten und weiß nicht, wie.‹ Auf seinem Gesichte lag ein Ausdruck, wie ihn Kitty noch nie an ihm kennengelernt hatte.
Sie unterhielten sich über gemeinsame Bekannte und führten ein ganz gleichgültiges Gespräch, aber Kitty hatte die Empfindung, daß jedes von ihnen gesprochene Wort das Schicksal der beiden sowie auch ihr eigenes entscheide. Und seltsam: obgleich sie in Wirklichkeit nur davon redeten, wie lächerlich sich Iwan Iwanowitsch mit seinem Französischsprechen mache, und daß Fräulein Jelezkaja doch wohl eine bessere Partie hätte finden können, so hatten dabei doch diese Worte für sie eine besondere Bedeutung, und sie fühlten das nicht minder als Kitty. Der ganze Ball, die ganze Welt, alles umzog sich in Kittys Seele wie mit einem dichten Nebel. Nur die strenge Schule der Erziehung, [106] durch die sie hindurchgegangen war, hielt sie aufrecht und zwang sie, das zu tun, was von ihr verlangt wurde, das heißt zu tanzen, auf Fragen zu antworten, die Unterhaltung weiterzuspinnen, ja sogar zu lächeln. Aber vor dem Beginne der Masurka, als schon die Stühle dazu in Ordnung gestellt wurden und bereits einige Paare sich aus den kleineren Sälen in den Hauptsaal begaben, da kam für Kitty ein Augenblick der Verzweiflung und des Entsetzens. Fünf Herren hatte sie abgewiesen, und nun war sie zur Masurka gar nicht aufgefordert! Es war auch nicht mehr zu hoffen, daß sie jetzt noch würde aufgefordert werden, gerade deswegen, weil sie stets eine so begehrte Tänzerin gewesen war und somit niemand auf den Gedanken kommen konnte, daß sie noch nicht vergeben sei. Der einzige Ausweg war nun, der Mutter zu sagen, daß sie krank sei, und nach Hause zu fahren; aber dazu hatte sie nicht die Kraft. Sie fühlte sich völlig gebrochen.
Sie zog sich in ein kleines Nebenzimmer zurück und ließ sich an dessen fernstem Ende auf einen Sessel sinken. Der luftige Rock ihres Ballkleides bauschte sich wie eine Wolke um ihre schlanke Gestalt; der eine der entblößten, schmächtigen, zarten Mädchenarme hing kraftlos herab und versank in den Falten der rosa Tunika; in der anderen Hand hielt sie den Fächer und wehte mit kurzen, schnellen Bewegungen ihrem glühenden Gesichte Kühlung zu. Äußerlich glich sie einem Schmetterlinge, der sich soeben auf einem Halm niedergelassen hat und jeden Augenblick bereit ist, seine bunt schillernden Flügel wieder auseinanderzufalten und aufzuflattern; aber in schroffem Gegensatze zu dieser Ähnlichkeit preßte furchtbare Verzweiflung ihr das Herz zusammen.
»Aber vielleicht irre ich mich, vielleicht ist es gar nicht so?« Und wieder rief sie sich alles, was sie gesehen hatte, ins Gedächtnis zurück.
»Aber Kitty, was hat das zu bedeuten?« fragte die Gräfin Northstone, die auf dem Teppich, ohne daß Kitty es gehört hatte, zu ihr herangekommen war. »Das verstehe ich ja gar nicht.«
Kittys Unterlippe bebte; rasch stand sie auf.
»Tanzt du denn die Masurka nicht mit, Kitty?«
»Nein, nein«, antwortete Kitty; ihre Stimme zitterte von verhaltenen Tränen.
»Ich stand dabei, als er sie zur Masurka aufforderte«, sagte die Gräfin Northstone, die mit Sicherheit voraussetzte, daß Kitty verstände, wer »er« und »sie« seien. »Sie fragte ihn: ›Tanzen Sie denn nicht mit der Prinzessin Schtscherbazkaja?‹«
[107] »Ach, mir ist alles gleich!« antwortete Kitty.
Niemand außer ihr selbst hatte die volle Kenntnis der Lage, in der sie sich befand; niemand wußte, daß sie erst vor kurzem die Hand eines Mannes abgelehnt hatte, den sie vielleicht liebte, und sie nur deswegen abgelehnt hatte, weil sie an die Liebe eines anderen glaubte.
Die Gräfin Northstone suchte Korsunski auf, der sie zur Masurka engagiert hatte, und veranlaßte ihn, Kitty aufzufordern.
Kitty und Korsunski tanzten als erstes Paar, und zu Kittys Glücke brauchte sie nicht zu reden, da Korsunski die ganze Zeit über umherlief und seinen Truppen Anweisungen gab. Wronski und Anna saßen ihr beinah gegenüber. Sie beobachtete sie mit ihren weitblickenden Augen; sie beobachtete sie auch in der Nähe, wenn der Tanz eine Begegnung der Paare mit sich brachte, und je mehr sie sie beobachtete, um so mehr überzeugte sie sich, daß ihr Unglück eine vollendete Tatsache sei. Sie sah, daß jene beiden in diesem von Menschen erfüllten Saale miteinander allein zu sein glaubten. Und auf Wronskis Gesichte, das sonst immer eine solche Festigkeit und Selbstsicherheit zeigte, nahm sie wieder jenen Ausdruck von Verlegenheit und Unterwürfigkeit wahr, der sie schon vorhin überrascht hatte, einen Ausdruck, wie man ihn ähnlich bei einem klugen Hunde findet, wenn er sich schuldig fühlt.
Anna lächelte, und ihr Lächeln ging auch auf ihn über. Sie versank in Gedanken, und er wurde gleichfalls ernst. Eine geheimnisvolle, unwiderstehliche Kraft zog Kittys Augen immer wieder zu Annas Gestalt hin. Sie war entzückend in ihrem einfachen schwarzen Kleide, entzückend waren ihre vollen Arme mit den Armbändern, entzückend der feste Hals mit der Perlenschnur, entzückend die Löckchen der ein wenig in Unordnung geratenen Frisur, entzückend die anmutigen, leichten Bewegungen der kleinen Füße und Hände, entzückend dieses schöne Gesicht in seiner Lebendigkeit, aber es lag etwas Furchtbares und Grausames in all diesem entzückenden Reiz.
Kitty bewunderte Anna mehr als je, und sie litt dabei immer heftiger. Sie fühlte sich ganz vernichtet, und das malte sich auch auf ihrem Gesichte. Als Wronski während der Masurka einmal mit ihr zusammentraf und sie ansah, erkannte er sie auf den ersten Blick kaum, so war sie verändert.
»Ein wunderschöner Ball!« sagte er zu ihr, um nur überhaupt etwas zu sagen.
»Ja«, antwortete sie.
Mitten in der Masurka wurde eine von Korsunski neu ersonnene, schwierige Figur ausgeführt, und Anna, an der die [108] Reihe war, sie zu wiederholen, trat in die Mitte des Kreises, wählte zwei Herren und rief dann Kitty und eine andere Dame zu sich heran. Erschrocken blickte Kitty, als sie zu Anna herantrat, sie an. Anna zwinkerte ihr freundlich zu, lächelte und drückte ihr die Hand. Als sie aber bemerkte, daß Kittys Gesicht dieses Lächeln nur mit einer Miene des Staunens und der Verzweiflung erwiderte, wandte sie sich von ihr ab und redete heiter mit der anderen Dame.
›Ja, es ist etwas Fremdes, Unheimliches in diesem entzückenden Wesen!‹ dachte Kitty.
Anna wollte nicht zum Abendessen bleiben; der Hausherr bat sie inständigst.
»Geben Sie nur nach, Anna Arkadjewna!« kam ihm Korsunski zu Hilfe, hielt ihr seinen Arm hin und legte ihren entblößten Arm auf seinen Frackärmel. »Wenn Sie wüßten, was für einen prachtvollen Kotillon ich vorbereitet habe! Un bijou 2!«
Und er bewegte sich sacht weiter, indem er versuchte, sie mit fortzuziehen. Der Hausherr lächelte beifällig.
»Nein, ich bleibe nicht«, erwiderte Anna lächelnd; aber trotz diesem Lächeln merkten sowohl Korsunski wie auch der Hausherr an dem bestimmten Tone, in dem sie antwortete, daß sie nicht dableiben werde.
»Nein, ich habe sowieso schon hier in Moskau auf diesem einen Balle bei Ihnen mehr getanzt als den ganzen Winter über in Petersburg«, sagte Anna mit einem Seitenblick zu dem neben ihr stehenden Wronski. »Ich muß mich vor der Abreise noch ein wenig ausruhen.«
»Und Sie fahren wirklich morgen unwiderruflich weg?« fragte Wronski.
»Ja, ich denke wohl«, erwiderte Anna, wie verwundert über die Kühnheit seiner Frage; aber während sie das sagte, flog von ihren leuchtenden Augen und lächelnden Lippen gleichsam ein nicht zurückzuhaltender, zitternder, sengender Strahl zu ihm hinüber.
Anna Arkadjewna blieb nicht zum Abendessen, sondern fuhr vorher nach Hause.
›Ja, ich muß wohl etwas Widerwärtiges, Abstoßendes an mir haben‹, dachte Ljewin, als er von Schtscherbazkis wegging und zu Fuß die Richtung nach der Wohnung seines Bruders einschlug. ›Und ich passe auch wirklich nicht zu anderen Menschen. Man hält mich für stolz. Nein, stolz bin ich nicht. Wäre ich stolz, [109] so hätte ich mich nicht in eine solche Lage gebracht.‹ Und er vergegenwärtigte sich Wronski, diesen glücklichen, gutherzigen, verständigen, ruhigen Menschen, der sich wahrscheinlich noch nie in einer so schrecklichen Lage befunden hatte wie er an diesem Abend. ›Ja, sie konnte gar nicht anders als ihm den Vorzug geben. Das mußte so sein, und ich darf mich über niemand und über nichts beklagen. Ich selbst trage die Schuld. Mit welchem Rechte konnte ich glauben, daß sie Lust haben werde, ihr Leben mit dem meinigen zu verbinden? Wer bin ich? Und was bin ich? Ein wertloser Mensch, den niemand gebrauchen kann.‹ Dabei gedachte er seines Bruders Nikolai und verweilte mit Lust bei dieser Erinnerung. ›Hat er etwa nicht recht, daß alles in der Welt schlecht und garstig ist? Wir urteilen über unseren Bruder Nikolai wohl kaum gerecht und haben es nie getan. Natürlich, von Prokofis Standpunkt, der ihn in einem zerrissenen Pelz und arg betrunken gesehen hat, ist er ein verächtlicher Mensch, aber ich kenne ihn von einer anderen Seite. Ich kenne seine Seele und weiß, daß ich mit ihm manche Ähnlichkeit habe. Aber statt ihn sofort aufzusuchen, bin ich zuerst zu einem Diner und dorthin gefahren.‹ Ljewin trat an eine Laterne heran, las die Anschrift seines Bruders, die er in seiner Brieftasche bei sich hatte, und rief einen Droschkenkutscher an. Auf der ganzen langen Fahrt zu seinem Bruder erinnerte sich Ljewin lebhaft an allerlei ihm bekannte Ereignisse aus dessen Leben. Er erinnerte sich, wie sein Bruder während der Universitätszeit und noch das darauffolgende Jahr hindurch trotz den Spötteleien seiner Kameraden wie ein Mönch gelebt und streng alle Religionsbräuche erfüllt, den Gottesdienst besucht, die Fasten innegehalten und jedes Vergnügen, namentlich auch die Frauen, gemieden hatte, und wie es ihn dann plötzlich gepackt hatte und er mit den verkommensten Menschen in Verkehr getreten war und sich der zügellosesten Ausschweifung ergeben hatte. Er entsann sich ferner einer Geschichte mit einem Knaben, den der Bruder vom Lande zur Erziehung zu sich genommen hatte und den er in einem Wutanfalle dermaßen prügelte, daß er sich eine Klage wegen schwerer Körperverletzung zuzog. Dann gedachte er einer Geschichte mit einem Falschspieler, an den der Bruder Geld verloren hatte und dem er einen Wechsel gab und gegen den er darauf selbst eine Klage einreichte, mit der Begründung, daß jener ihn betrogen habe. (Das war die Geldsumme, die Sergei Iwanowitsch bezahlt hatte.) Weiter erinnerte er sich, wie Nikolai wegen einer Ausschweifung eine Nacht auf der Polizeiwache zugebracht hatte. Er erinnerte sich, wie er einen schmählichen Prozeß gegen seinen Bruder Sergei Iwanowitsch angestrengt [110] hatte, weil dieser ihm nicht den ihm zukommenden Anteil des mütterlichen Vermögens ausgezahlt hatte. Und dann der letzte Skandal, wie er irgendwo im Westen des Reiches eine Anstellung gefunden hatte, aber dort gerichtlich belangt worden war wegen einer Tracht Prügel, die er dem Gemeindevorsteher verabfolgt hatte. – Das waren ja alles überaus garstige Dinge; aber Ljewin beurteilte es doch nicht so schlimm, wie es notwendigerweise die taten, die Nikolai und seine ganze Entwicklung und sein Herz nicht kannten.
Ljewin dachte auch daran, wie damals, als Nikolai sich in der Periode der Frömmigkeit, der Fasten, der Möncherei, des Kirchenbesuches befunden und in der Religion eine Hilfe, einen Zügel für seine leidenschaftliche Natur gesucht hatte, wie ihm damals niemand eine Stütze gewesen war, ja im Gegenteil alle, und auch er selbst, sich über ihn lustig gemacht hatten. Sie hatten ihn gehänselt, ihn den Vater Noah und den Mönch genannt, aber als es ihn später gepackt hatte, da hatte ihm niemand geholfen, sondern alle hatten sich voll Entsetzen und Abscheu von ihm abgewandt.
Ljewin sagte sich, daß sein Bruder Nikolai, trotz aller Schlechtigkeit seines Lebenswandels, im tiefsten Grunde seiner Seele nicht schuldiger war als die Leute, die ihn verachteten. Es war nicht seine Schuld, daß er mit einem unbändigen Charakter und einem etwas beschränkten Verstande geboren war. Aber er war immer bestrebt gewesen, ein guter Mensch zu sein. ›Ich will ganz offen mit ihm reden; ich will ihn dazu bringen, mir alles frei heraus zu sagen, und will ihm zeigen, daß ich ihn liebe und ihn darum auch verstehe‹, das nahm sich Ljewin vor, als er nach zehn Uhr in seiner Droschke bei dem Gasthause ankam, in dem der Anschrift zufolge Nikolai wohnen sollte.
»Oben, in Nummer zwölf und dreizehn«, antwortete der Pförtner auf Ljewins Frage.
»Ist er zu Hause?«
»Doch wohl.«
Die Tür von Nummer zwölf war halb geöffnet; von innen drang mit einem Lichtstreifen zugleich ein dichter Qualm von schlechtem, schwachem Tabak heraus, und Ljewin vernahm eine ihm unbekannte Stimme. Aber er merkte sofort, daß auch sein Bruder anwesend war, denn er hörte dessen Hüsteln.
Als er durch die Außentür in einen kleinen Vorraum trat, der vom Zimmer durch eine spanische Wand getrennt war, sagte die unbekannte Stimme gerade:
»Es wird alles davon abhängen, ob die Sache mit Vernunft und Verständnis betrieben wird.«
[111] Konstantin Ljewin blickte durch die in der Zwischenwand befindliche Tür, die gleichfalls offenstand, ins Zimmer und sah, daß der Redende ein junger Mann mit gewaltigem Haarschopfe, in einer Jacke ohne Ärmel war. Ein junges, pockennarbiges Frauenzimmer in einem wollenen Kleide ohne Manschetten und Kragen saß auf dem Sofa. Der Bruder war nicht zu erblicken. Konstantins Herz zog sich schmerzlich zusammen bei dem Gedanken, unter was für fremden Leuten sein Bruder da lebte. Niemand hatte ihn kommen hören, und Konstantin zog sich die Gummischuhe aus und hörte dabei zu, was der Herr in der ärmellosen Jacke sagte. Er redete von irgendeinem Unternehmen.
»Hol sie der Teufel, diese bevorrechtigten Klassen!« ließ sich nun auch, unter stetem Husten, die Stimme des Bruders vernehmen. »Marja, besorge uns etwas zum Abendessen und gib uns Wein, wenn noch welcher da ist; sonst laß holen!«
Die Frau stand auf, ging durch die Zwischentür und erblickte Konstantin.
»Ein Herr ist hier, Nikolai Dmitrijewitsch«, sagte sie.
»Zu wem wollen Sie?« fragte Nikolais Stimme in ärgerlichem Tone.
»Ich bin es«, antwortete Konstantin und trat ins Helle.
»Was für ein Ich?« fragte wieder Nikolais Stimme noch ärgerlicher. Es war zu hören, daß er schnell aufstand und dabei an irgend etwas anstieß, und dann erblickte Konstantin vor sich in der Zwischentür die ihm so wohlbekannte und ihn doch durch ihr verwildertes und kränkliches Aussehen überraschende Gestalt seines Bruders: von gewaltiger Größe, hager, gebückt, mit großen, verstörten Augen.
Er war noch magerer als vor drei Jahren, da ihn Konstantin Ljewin zum letzten Male gesehen hatte. Er trug einen kurzen Rock, wodurch seine Hände und der breite Knochenbau des Oberkörpers noch riesiger erschienen. Das Haar war dünner geworden, derselbe gerade Schnurrbart wie früher verdeckte die Lippen, dieselben Augen blickten sonderbar kindlich den Eintretenden an.
»Ah, Konstantin!« sagte er auf einmal, als er seinen Bruder erkannte, und seine Augen leuchteten freudig auf. Aber im gleichen Augenblick wandte er sich nach dem jungen Manne um und machte mit dem Kopfe und dem Halse eine seinem Bruder wohlbekannte Bewegung, als ob ihn die Halsbinde belästige, und nun erschien auf seinem abgemagerten Gesichte ein ganz anderer, scheuer, leidender, trotziger Ausdruck.
»Ich habe sowohl Ihnen wie Sergei Iwanowitsch geschrieben, [112] daß ich Sie beide nicht kenne und nicht kennen will. Was willst du ... was wollen Sie von mir?«
Sein Wesen war doch ganz anders, als es sich Konstantin vorher vorgestellt hatte. Die unangenehmste und schlimmste Eigenheit seines Charakters, die jeden Umgang mit ihm so sehr erschwerte, hatte Konstantin, als er sich seinen Bruder vergegenwärtigte, vergessen gehabt, und erst jetzt, als er sein Gesicht und namentlich diese krampfhafte Kopfdrehung sah, kam ihm das alles wieder ins Gedächtnis.
»Ich will eigentlich nichts von dir«, antwortete er schüchtern. »Ich bin nur gekommen, um dich einmal wiederzusehen.«
Durch die Schüchternheit seines Bruders ließ sich Nikolai offenbar milder stimmen. Er zuckte mit den Lippen.
»Soso; nun, wie geht es dir?« sagte er. »Na, dann komm herein und setz dich! Willst du mit uns Abendbrot essen? Marja, bring drei Portionen. Nein, warte noch! Weißt du, wer das ist?« fragte er seinen Bruder, indem er auf den Herrn in der Jacke zeigte. »Das ist Herr Krizki, ein Freund von mir, noch aus der Kiewer Zeit, ein sehr bedeutender Mann. Selbstverständlich verfolgt ihn die Polizei, weil er kein Schuft ist.«
Und wie das von jeher seine Gewohnheit gewesen war, blickte er alle im Zimmer Anwesenden der Reihe nach an. Als er sah, daß die Frau, die in der Tür stand, nun eine Bewegung machte, um hinauszugehen, schrie er ihr zu: »Du sollst warten, habe ich gesagt!« Und in jener ungeschickten, verworrenen Redeweise, die Konstantin so gut an ihm kannte, begann er, indem er seine Blicke wieder bei allen umherwandern ließ, seinem Bruder Krizkis Lebensschicksale zu erzählen: wie er von der Universität verwiesen sei, weil er Sonntagsschulen und einen Verein zur Unterstützung armer Studenten gegründet habe, und wie er dann eine Stelle als Volksschullehrer angenommen habe, und wie er auch von da weggejagt und endlich noch aus irgendwelchem Grunde vor Gericht gekommen sei.
»Sie haben in Kiew studiert?« fragte Konstantin Herrn Krizki, um das unbehagliche Schweigen, das eingetreten war, zu unterbrechen.
»Jawohl, in Kiew«, erwiderte Krizki, ärgerlich die Stirn runzelnd.
»Und dieses Weib hier«, unterbrach ihn Nikolai und wies auf die Frauensperson, »ist meine Lebensgefährtin, Marja Nikolajewna. Ich habe sie aus so einem gewissen Hause weggeholt«, er machte wieder einen Ruck mit dem Halse, während er das sagte. »Aber ich liebe und achte sie, und ich ersuche alle, die mich kennen wollen«, fügte er mit erhobener Stimme und[113] finsterem Gesichte hinzu, »sie ebenfalls zu lieben und zu achten. Sie ist ganz dasselbe, wie wenn sie meine Frau wäre. So, nun weißt du, wen du vor dir hast. Und wenn du meinst, daß du dich durch den Verkehr mit einem von uns erniedrigst, dann Gott befohlen, dort ist die Tür.«
Wieder gingen seine Augen fragend von einem zum anderen.
»Warum ich meinen sollte, mich dadurch zu erniedrigen, das verstehe ich nicht.«
»Dann laß also das Abendessen bringen, Marja: drei Portionen und Schnaps und Wein ... Nein, warte ... Nein, es ist schon gut ... Geh nur!«
»Nun, siehst du wohl«, fuhr Nikolai Ljewin fort; er zog die Stirn in tiefe Falten und zuckte ab und zu zusammen.
Es wurde ihm offenbar schwer, mit sich darüber ins klare zu kommen, was er sagen und tun solle.
»Sieh einmal da!« Er zeigte in die Ecke der Stube auf ein paar Eisenstangen, die mit Stricken zusammengebunden waren. »Siehst du das da? Das ist der Anfang eines neuen Unternehmens, an das wir uns jetzt heranmachen. Es ist eine Produktivgenossenschaft.«
Konstantin hörte ihm kaum zu. Er betrachtete das kranke, schwindsüchtige Gesicht seines Bruders, und das Mitleid mit diesem wurde in seinem Herzen immer größer; er konnte sich nicht dazu zwingen, mit Aufmerksamkeit anzuhören, was der Bruder ihm über die Genossenschaft erzählte. Er durchschaute es, daß diese Genossenschaft für Nikolai nur ein Rettungsanker war, um sich nicht selbst verachten zu müssen. Nikolai redete weiter:
»Du weißt, daß das Kapital den Arbeiter erdrückt. Die Arbeiter und Bauern tragen bei uns die ganze Last der Arbeit und sind doch dabei so gestellt, daß sie aus ihrer jämmerlichen Lage nie herauskommen können, und wenn sie sich noch so sehr abquälen. Aller über den notwendigsten Lebensunterhalt hinausgehende Arbeitsverdienst, durch den sie ihre Lage verbessern, sich einige Mußestunden verschaffen und infolgedessen sich eine gewisse Bildung aneignen können, dieser ganze Überschuß wird ihnen von den Kapitalisten weggenommen. Und die sozialen Zustände haben sich so gestaltet, daß, je mehr sie arbeiten, um so mehr die Kaufleute und Gutsbesitzer sich bereichern, sie selbst aber immer nur Arbeitsvieh bleiben. Diese Einrichtung muß geändert werden«, schloß er und blickte seinen Bruder fragend an.
[114] »Ja, selbstverständlich«, antwortete Konstantin und betrachtete die roten Flecke, die sich unterhalb der hervorstehenden Backenknochen seines Bruders abzeichneten.
»Und da wollen wir denn eine Schlossergenossenschaft gründen, wo alles, der gesamte Betrieb und der Gewinn und die wichtigsten zum Betriebe erforderlichen Werkzeuge, gemeinsam sein soll.«
»Wo soll denn diese Genossenschaft ihren Sitz haben?« fragte Konstantin Ljewin.
»Im Dorf Wosdrema, Gouvernement Kasan.«
»Aber warum denn auf dem Lande? Auf dem Lande, sollte ich meinen, ist sowieso schon viel Arbeit. Was soll auf dem Lande eine Schlossergenossenschaft?«
»Der Grund ist der, daß die Bauern jetzt noch ebensolche Sklaven sind, wie sie es früher waren; und darum ist es dir und Sergei Iwanowitsch auch so unangenehm, daß sie aus dieser Sklaverei befreit werden sollen«, versetzte Nikolai, durch die Erwiderung gereizt.
Konstantin, der unterdes in dem unfreundlichen, schmutzigen Zimmer umherblickte, konnte einen Seufzer nicht zurückhalten. Dieser Seufzer schien Nikolai noch mehr zu reizen.
»Ich kenne deine und Sergei Iwanowitschs aristokratischen Ansichten. Ich weiß, daß er seine ganze Geisteskraft dazu verwendet, die jetzt bestehende Mißwirtschaft zu verteidigen.«
»Nicht doch! Aber warum sprichst du denn immer von Sergei Iwanowitsch?« sagte Konstantin lächelnd.
»Warum ich von Sergei Iwanowitsch rede? Das will ich dir sagen!« schrie Nikolai plötzlich auf, als Konstantin diesen Namen nannte. »Das will ich dir sagen. – Aber was für einen Zweck hat es, davon zu reden? Nur eines möchte ich wissen: Warum bist du überhaupt zu mir gekommen? Du verachtest ja mich und meine Bestrebungen. Nun schön, also geh in Gottes Namen! Geh!« schrie er und stand von seinem Stuhle auf. »Geh hinaus, geh hinaus!«
»Von Verachtung ist bei mir nicht die Rede«, antwortete Konstantin schüchtern. »Ich will auch gar nicht mit dir streiten.«
In diesem Augenblick kam Marja Nikolajewna zurück. Nikolai sah sich zornig nach ihr um. Sie trat schnell zu ihm heran und flüsterte ihm etwas zu.
»Ich bin nicht wohl; ich bin reizbar geworden«, sagte nun Nikolai, sich allmählich beruhigend und schwer atmend, »und dazu redest du mir noch von Sergei Iwanowitsch und seiner Abhandlung. Das ist der reine Unsinn, albernes Geschwätz, Selbstbetrug. Wie kann ein Mensch über Gerechtigkeit schreiben, der [115] gar keine Gerechtigkeit kennt? Haben Sie seine Abhandlung gelesen?« wandte er sich an Krizki, während er sich wieder an den Tisch setzte und die Zigaretten, die über den halben Tisch verstreut lagen, beiseite schob, um Platz zu machen.
»Nein, ich habe sie nicht gelesen«, antwortete Krizki mürrisch, der augenscheinlich keine Lust hatte, sich an dem Gespräche zu beteiligen.
»Warum nicht?« fuhr Nikolai jetzt erregt gegen Krizki los.
»Weil ich es für zwecklos halte, damit meine Zeit zu verlieren.«
»Aber erlauben Sie, woher wissen Sie denn, daß Sie damit Ihre Zeit verlören? Gewiß, viele Leute können mit der Abhandlung nichts anfangen, weil sie über ihren Horizont geht. Aber mit mir ist das eine andere Sache; ich durchschaue seine Beweisführung durch und durch und weiß, worin ihre Schwäche liegt.«
Alle schwiegen. Krizki stand langsam auf und griff nach seiner Mütze.
»Wollen Sie nicht mit uns Abendbrot essen? Nun, dann auf Wiedersehen! Kommen Sie morgen mit dem Schlosser her.«
Kaum war Krizki hinaus, als Nikolai lächelnd seinem Bruder mit den Augen zuwinkte.
»An dem ist auch nichts dran«, sagte er. »Ich sehe recht wohl ...«
Aber in diesem Augenblicke rief ihn Krizki, der noch einmal umgekehrt war, von der Tür aus zu sich hin.
»Was wollen Sie denn noch?« fragte Nikolai und trat mit ihm auf den Flur hinaus. Konstantin, der mit Marja Nikolajewna allein geblieben war, wandte sich ihr zu.
»Sind Sie schon lange bei meinem Bruder?« fragte er sie.
»Es ist jetzt das zweite Jahr. Mit seiner Gesundheit ist es recht schlecht geworden; er trinkt zuviel«, erwiderte sie.
»Was trinkt er denn?«
»Branntwein trinkt er, und das ist ihm schädlich.«
»Trinkt er denn viel?« flüsterte Konstantin.
»Ja«, antwortete sie und blickte ängstlich nach der Tür, wo Nikolai wieder erschien.
»Worüber habt ihr gesprochen?« fragte er stirnrunzelnd und ließ seine verstörten Augen von dem einen zum anderen wandern. »Worüber?«
»Über nichts«, antwortete Konstantin verlegen.
»Na, wenn ihr es nicht sagen wollt, dann laßt es bleiben. Ich möchte dir nur sagen: es schickt sich überhaupt nicht für dich, mit ihr zu reden. Sie ist eine Magd, und du bist ein vornehmer Herr«, sagte er und ruckte wieder mit dem Halse. »Du hast [116] jetzt, meine ich, alles bei mir gesehen und dir ein Urteil darüber gebildet und stehst nun voller Mitleid meinen Verirrungen gegenüber«, fügte er mit erhobener Stimme hinzu.
»Nikolai Dmitrijewitsch, Nikolai Dmitrijewitsch!« flüsterte Marja Nikolajewna wieder und ging näher an ihn heran.
»Schon gut, schon gut! – Aber wie ist's mit dem Abendbrot? Ah, da ist es ja«, sagte er, als er einen Kellner mit einem Präsentierbrett erblickte. »Hier stell's her, hierher!« rief er ärgerlich, ergriff sogleich die Branntweinflasche, goß ein Glas voll und trank es gierig aus. »Trink doch auch eines, willst du?« wandte er sich an seinen Bruder; er war sofort in heitere Stimmung gekommen.
»Na, wollen über Sergei Iwanowitsch nicht weiter reden. Ich freue mich doch, dich wiederzusehen. Da kann einer sagen, was er will: es ist doch ein anderes Gefühl, wenn man mit seinen Angehörigen redet. Na, trink doch! Und erzähle, was du treibst!« fuhr er fort, während er gierig ein Stück Brot kaute und sich ein zweites Glas eingoß. »Wie lebst du denn eigentlich?«
»Ich lebe allein auf dem Lande wie früher und beschäftige mich mit der Wirtschaft«, antwortete Konstantin; mit Entsetzen beobachtete er die Gier, mit der sein Bruder trank und aß, bemühte sich aber zugleich, nicht merken zu lassen, daß er darauf achtete.
»Warum heiratest du nicht?«
»Es hat sich nicht so gefügt«, versetzte Konstantin errötend.
»Wieso nicht? Mit mir ist es allerdings zu Ende. Ich habe mir mein Leben verpfuscht. Ich habe es immer gesagt und sage es heute noch: wäre mir mein Anteil damals, als ich ihn brauchte, ausgezahlt worden, so hätte sich mein ganzes Leben anders gestaltet.«
Konstantin beeilte sich, dem Gespräche eine andere Richtung zu geben.
»Weißt du auch, daß dein Iwan bei mir in Pokrowskoje Gutsschreiber ist?« sagte er.
Nikolai zuckte mit dem Halse und gab sich einen Augenblick seinen Gedanken hin.
»Erzähle mir doch, was in Pokrowskoje alles geschehen ist. Steht das Haus noch unverändert und die Birken und unser Unterrichtszimmer? Und der Gärtner Filipp, lebt der noch? Wie deutlich ich mich an die Laube erinnere und an das Sofa! – Weißt du, ändere nur ja nichts im Hause, sondern heirate so bald wie möglich, und dann richte alles wieder genau so ein, wie es früher war. Dann werde ich auch einmal zu dir auf Besuch kommen, wenn deine Frau gut und nett ist.«
[117] »Komm doch gleich jetzt mit mir mit!« sagte Konstantin. »Wie hübsch würden wir zusammen hausen!«
»Ich würde zu dir kommen, wenn ich wüßte, daß ich Sergei Iwanowitsch da nicht treffe.«
»Du wirst ihn nicht treffen. Ich lebe vollständig unabhängig von ihm.«
»Ja, aber du magst sagen, was du willst, du mußt doch zwischen mir und ihm wählen«, erwiderte er und blickte dem Bruder schüchtern in die Augen. Diese Schüchternheit rührte Konstantin.
»Wenn du in dieser Hinsicht meine aufrichtige Meinung hören willst, so muß ich dir sagen, daß ich in deinem Streite mit Sergei Iwanowitsch weder auf deiner noch auf seiner Seite stehe. Ihr habt alle beide unrecht. Du hast mehr in der äußeren Form unrecht und er mehr in sachlicher Hinsicht.«
»Ei sieh! Das hast du also erfaßt? Das hast du erfaßt?« rief Nikolai freudig.
»Ich persönlich aber, wenn du das wissen willst, lege auf die Freundschaft mit dir größeren Wert, weil ...«
»Warum? Warum?«
Konstantin konnte doch nicht wohl sagen, daß er dies deshalb tue, weil Nikolai unglücklich sei und eines Freundes bedürfe. Aber Nikolai zweifelte nicht, daß er gerade dies hatte sagen wollen, und griff wieder mit finsterer Miene nach dem Branntwein.
»Lassen Sie es genug sein, Nikolai Dmitrijewitsch!« bat Marja Nikolajewna und streckte ihren rundlichen nackten Arm nach der Flasche aus.
»Laß das! Sei nicht so dreist, oder du bekommst Schläge!« schrie er.
Auf Marja Nikolajewnas Gesicht erschien ein sanftes, freundliches Lächeln, dem Nikolai nicht widerstehen konnte. Auch er lächelte, und sie nahm den Branntwein weg.
»Meinst du etwa, daß sie dumm ist?« sagte Nikolai. »Sie versteht all das besser als wir alle. Nicht wahr, sie hat etwas so Gutes, Liebes an sich?«
»Sind Sie früher nie in Moskau gewesen?« fragte Konstantin sie, um doch irgend etwas zu sagen.
»Aber so sage doch nicht Sie zu ihr! Das ist ihr nur peinlich. Nie hat jemand Sie zu ihr gesagt, außer dem Friedensrichter, als sie in Anklagezustand versetzt war, weil sie aus dem Hause der Unzucht hatte davongehen wollen. – Mein Gott, was gibt es doch für Sinnlosigkeit in der Welt!« schrie er plötzlich auf. »Diese neuen Einrichtungen, diese Friedensrichter, der Kreistag, was für ein Unsinn ist das!«
[118] Und er begann von seinen Zusammenstößen mit den neuen Einrichtungen zu erzählen.
Konstantin hörte ihm zu. Er selbst teilte Nikolais Ansicht von der Sinnlosigkeit aller dieser staatlichen Einrichtungen und hatte diese Ansicht oft genug ausgesprochen, aber dennoch war es ihm unangenehm, sie jetzt aus dem Munde des Bruders zu hören.
»Im Jenseits werden wir das alles verstehen«, bemerkte er scherzend.
»Im Jenseits? Ach, weißt du, das Jenseits kann ich nicht leiden! Ich kann es nicht leiden«, sagte er und heftete seine scheuen, verstörten Augen auf das Gesicht des Bruders. »Es wäre ja wohl ganz schön, aus all dieser Gemeinheit und Verworrenheit, fremder sowohl wie eigener, herauszukommen, aber ich fürchte mich vor dem Tode, ganz entsetzlich fürchte ich mich vor dem Tode.« Er schauderte. »Aber trink doch irgend etwas! Willst du Champagner? Oder komm, wir wollen irgendwohin fahren. Wir wollen zu den Zigeunern fahren! Weißt du, an den Zigeunern und an den russischen Volksliedern habe ich großen Geschmack bekommen.«
Die Zunge wollte ihm nicht recht gehorchen, und er ging unvermittelt von einem Gegenstande zum anderen über. Mit Marjas Hilfe redete ihm Konstantin seine Absicht, noch irgendwohin zu fahren, aus und brachte den vollkommen Betrunkenen ins Bett.
Konstantin ließ sich von Marja versprechen, daß sie im Notfalle an ihn schreiben und Nikolai zureden werde, zu ihm aufs Land zu ziehen.
Am Morgen war Konstantin Ljewin aus Moskau abgefahren, und gegen Abend langte er zu Hause an. Unterwegs auf der Bahn hatte er sich mit seinen Reisegefährten über Politik und über neue Eisenbahnlinien unterhalten, und ebenso wie in Moskau waren ihm seine Begriffe in Verwirrung geraten, und eine Unzufriedenheit mit sich selbst und ein eigentümliches Schamgefühl hatten ihn befallen. Aber als er nun auf seiner Station ausstieg und seinen krummen Kutscher Ignat mit dem hochgeschlagenen Mantelkragen erblickte und als er in dem schwachen Lichtschimmer, der durch die Fenster des Bahnhofsgebäudes drang, seinen mit Decken wohlversehenen Schlitten und seine Pferde mit den aufgebundenen Schwänzen, in dem mit Ringen und Fransen verzierten Geschirr, sah und als der [119] Kutscher Ignat, noch während das Gepäck aufgeladen wurde, ihm die Gutsneuigkeiten erzählte, daß ein Agent für Arbeitskräfte angekommen sei und daß Pawa gekalbt habe: da fühlte er, daß die Verwirrung in seinem Kopfe sich allmählich löste und das Gefühl der Scham und der Unzufriedenheit mit sich selbst verging. Das hatte er schon beim ersten Blick auf Ignat und die Pferde empfunden; aber als er nun gar den für ihn mitgebrachten Schafpelz anzog, sich wohlvermummt in den Schlitten setzte und dahinfuhr und dabei über die von ihm in Aussicht genommenen Anordnungen auf dem Gute nachdachte und das eine Seitenpferd beobachtete, das früher sein Reitpferd gewesen war, aus einem Donischen Gestüt, ein schon etwas abgerackertes, aber immer noch tüchtiges Tier: da gelangte er zu einer ganz anderen Auffassung seines letzten Erlebnisses. Er fühlte sich wieder als das, was er war, und wollte nichts anderes sein. Nur besser wollte er jetzt werden, als er früher gewesen war. Erstens nahm er sich vor, von nun an nicht mehr auf ein außerordentliches Glück, wie er es sich von der Ehe versprochen hatte, zu hoffen und nicht mehr infolge einer solchen Hoffnung die Gegenwart gering zu schätzen. Zweitens wollte er sich nicht wieder von garstiger Sinnlichkeit hinreißen lassen, weil die Erinnerung an frühere Fälle solcher Schwäche ihn damals, als er seinen Heiratsantrag zu machen beabsichtigte, so furchtbar gemartert hatte. Ferner gedachte er seines Bruders Nikolai und gab sich das Wort, ihn nie wieder zu vergessen, sich stets Kenntnis über sein Ergehen zu verschaffen und ihn nie aus den Augen zu verlieren, um zur Hilfe bereit zu sein, wenn es ihm schlecht ginge. Daß es bald soweit sein werde, daran konnte er nicht zweifeln. Auch was sein Bruder zu ihm über den Kommunismus gesagt hatte, ohne daß er seinerseits dabei ernstlich Stellung zu diesem Gegenstande genommen hätte, brachte ihn jetzt zum Nachdenken. Er hielt eine gänzliche Umgestaltung der sozialen Verhältnisse für ein Ding der Unmöglichkeit, aber er hatte immer seinen eigenen Überfluß gegenüber der Armut der Masse als Ungerechtigkeit empfunden und nahm sich nun, um das Gefühl einer vollen Berechtigung zu haben, fest vor, wenn er auch schon vorher viel gearbeitet und ohne Üppigkeit gelebt hatte, jetzt noch mehr zu arbeiten und sich noch weniger Wohlleben zu gestatten. Und daß er zur Verwirklichung aller dieser Absichten die Kraft in sich finden werde, schien ihm so sicher, daß er den ganzen Weg in den angenehmsten Träumereien verbrachte. Mit einem mutigen Gefühle der Hoffnung auf ein neues, besseres Leben fuhr er bald nach acht Uhr an seinem Hause vor.
[120] Aus den Fenstern seiner alten Kinderfrau und jetzigen Wirtschafterin Agafja Michailowna fiel ein Lichtschein auf den schneebedeckten Platz vor dem Hause. Sie schlief noch nicht. Der Diener Kusma, den sie geweckt hatte, kam verschlafen und barfuß auf die Freitreppe heraus. Die Hühnerhündin Laska kam gleichfalls herausgesprungen, wobei sie den Diener beinahe umstieß, und rieb sich winselnd an Ljewins Knien; sie hob sich in die Höhe und hätte ihm gern die Vorderfüße auf die Brust gesetzt, wagte dies aber doch nicht.
»Sie sind ja schnell wieder zurückgekommen, Väterchen«, sagte Agafja Michailowna.
»Ich bekam Heimweh, Agafja Michailowna. Auf Besuch sein ist schön, aber zu Hause ist es doch am besten«, antwortete er ihr und ging in sein Zimmer.
Die Kerze, die er hineintrug, erhellte die einzelnen Teile des Zimmers einen nach dem anderen. Die ihm so wohlbekannten Stücke der Einrichtung traten aus dem Dunkel hervor: die Hirschgeweihe, die Bücherregale, der Spiegel, der Ofen mit der Ventilation, die schon längst einer Ausbesserung bedurfte, das altväterische Sofa, der große Tisch, auf dem Tische ein aufgeschlagenes Buch, ein zerbrochener Aschenbecher, ein Heft, in dem er geschrieben hatte. Beim Anblick aller dieser Gegenstände überkam ihn für einen Augenblick ein Zweifel, ob es möglich sein werde, jenes neue Leben ins Werk zu setzen, das er sich unterwegs so schön ausgemalt hatte. Alle diese seine bisherigen Lebensbegleiter schienen ihn gleichsam in ihre Arme zu schließen und zu ihm zu sagen: ›Nein, du entrinnst uns nicht und wirst nie ein anderer werden; du bleibst immer derselbe, der du gewesen bist: mit deinen Zweifeln, mit deiner steten Unzufriedenheit mit dir selbst, mit deinen vergeblichen Versuchen, dich zu bessern, und deinen sich immer wiederholenden Rückfällen, und mit deinem lebenslänglichen Warten auf ein Glück, das dir nicht beschieden ist und das du nicht erringen kannst.‹
Aber während die leblosen Gegenstände so zu ihm sprachen, sagte ihm eine andere Stimme in seinem Inneren, man dürfe sich nicht zu einem Knechte der Vergangenheit herabwürdigen, und der Mensch könne aus sich alles machen. Und auf diese Stimme hörend, ging er in die Ecke, wo er zwei schwere Gewichte stehen hatte, und hob sie turnermäßig in die Höhe, um sich dadurch in eine frische, mutige Stimmung zu versetzen. Aber da wurden vor der Tür knarrende Schritte vernehmbar, und eiligst stellte er die Gewichte wieder hin.
Der Verwalter trat ein und berichtete, daß gottlob alles in Ordnung sei, machte aber zugleich die Mitteilung, daß der [121] Buchweizen auf der neuen Darre von unten angebrannt sei. Über diese Nachricht war Ljewin sehr ärgerlich. Die neue Darre hatte er zum Teil nach seinen eigenen Vorschlägen errichten lassen. Der Verwalter war immer gegen diese Darre gewesen und meldete nun mit einem verhaltenen Gefühle des Triumphes, daß der Buchweizen angebrannt sei. Ljewin war fest überzeugt, daß, wenn der Buchweizen angebrannt war, dies nur von einer Nichtbeachtung der Vorsichtsmaßregeln gekommen sein konnte, die er dem Verwalter schon hundertmal eingeschärft hatte. Er war sehr verdrießlich und erteilte dem Verwalter einen Verweis. Es gab aber auch ein wichtiges Ereignis erfreulicher Art: Pawa, die beste Kuh, hatte gekalbt, ein teueres Stück, das auf einer Ausstellung angekauft war.
»Kusma, gib mir den Schafpelz her! Und Sie, Sie können eine Laterne bringen lassen; ich will hingehen und mir es mal ansehen«, sagte er zu dem Verwalter.
Der Stall für die wertvolleren Kühe lag gleich hinter dem Hause. Ljewin ging über den Hof an dem großen Schneehaufen beim Fliederstrauche vorbei und gelangte so zum Stalle. Ein warmer, stark riechender Düngerdampf schlug ihm entgegen, als die angefrorene Tür geöffnet wurde, und verwundert über das ungewohnte Licht der Laterne, regten sich die Kühe auf dem frischen Stroh. Der glatte, schwarz gescheckte, breite Rücken einer Holländer Kuh schimmerte im Halbdunkel. Berkut, der Bulle, lag mit seinem Ring in der Lippe da und machte Anstalten, aufzustehen; aber er besann sich eines anderen und schnaufte nur ein paarmal, als die Besucher vorbeigingen. Pawa, die rote Prachtkuh, groß wie ein Nilpferd, drehte sich rückwärts, um ihr Kälbchen vor den Eintretenden zu verdecken, und beschnupperte es.
Ljewin trat in den Verschlag hinein und hob das rotscheckige Kälbchen auf seine schwankenden, langen Beine. Die aufgeregte Pawa wollte schon ein Gebrüll ausstoßen, beruhigte sich aber wieder, als Ljewin ihr das Kalb wieder hinschob, und begann, schwer atmend, es mit ihrer rauhen Zunge zu belecken. Das Kalb stieß suchend mit dem Maule seine Mutter in die Weichen und krümmte das Schwänzchen.
»Leuchte mal hierher, Fjodor; hier halte die Laterne her!« sagte Ljewin, der das Kalb besah. »Es artet nach der Mutter, wenn es auch die Farbe vom Vater hat. Ein sehr schönes Tier. Lang, mit schmalen Weichen. Wasili Fedorowitsch, nicht wahr, es ist schön?« wandte er sich an den Verwalter; in seiner Freude über das Kalb hatte er ihm den angebrannten Buchweizen schon vergeben.
[122] »Nach welchem der Eltern könnte es denn auch schlecht sein?« erwiderte der Verwalter. »Ja, und dann ist der Agent Semjon am Tage nach Ihrer Abreise angekommen. Wir werden wohl mit ihm einen Vertrag über Arbeiter schließen müssen, Konstantin Dmitrijewitsch. Über die Maschine habe ich Ihnen schon früher Bericht erstattet.«
Durch diese eine schwebende Frage sah sich Ljewin wieder mitten in das ganze Getriebe seiner großen, verwickelten Wirtschaft hineinversetzt. Vom Kuhstall ging er unmittelbar ins Kontor und sprach dort mit dem Verwalter und dem Agenten Semjon; dann kehrte er in das Haus zurück und ging sogleich ins Wohnzimmer hinauf.
Es war ein großes, altertümliches Haus, und obwohl Ljewin es allein bewohnte, so benutzte er doch sämtliche Zimmer und ließ sie alle heizen. Er wußte, daß dies töricht war; er wußte, daß es sogar unrecht von ihm war und seinen jetzigen neuen Plänen zuwiderlief; aber dieses Haus war für Ljewin eine ganze Welt. Es war die Welt, in der sein Vater und seine Mutter gelebt hatten und gestorben waren. Sie hatten darin ein Leben geführt, das Ljewin als geradezu ideal betrachtete und das er mit seiner Frau und seinen Kindern zu erneuern gehofft hatte.
An seine Mutter konnte sich Ljewin kaum erinnern; aber die Vorstellung, die er sich von ihr machte, trat ihm an die Stelle einer geheiligten Erinnerung, und seine künftige Gattin sollte – so malte er sich das aus – eine Erneuerung jenes entzückenden, heiligen Frauenideals sein, das seine Mutter gewesen war.
Die Liebe zu einer Frau konnte er sich gar nicht ohne die Ehe vorstellen, ja er stellte sich zuerst die Kinder vor und dann erst die Frau, die ihm die Kinder bescheren würde. Seine Begriffe vom Heiraten waren daher himmelweit verschieden von den Begriffen seiner meisten Bekannten, für die das Heiraten ein gewöhnliches Geschäft war wie viele andere. Für Ljewin war die Eheschließung die wichtigste Handlung des Lebens, von der das ganze Lebensglück abhing. Und jetzt mußte er diesem Glücke entsagen.
Als er in die kleine Wohnstube, sein übliches Teezimmer, getreten war und sich nun mit einem Buche in seinen Lehnstuhl niederließ und Agafja Michailowna ihm den Tee brachte und dann mit ihrer herkömmlichen Redewendung: »Na, ich setze mich auch her, Väterchen!« sich auf einen Stuhl am Fenster [123] setzte, da fühlte er, daß, so sonderbar es auch sein mochte, er von seinen Glücksträumereien noch nicht Abschied genommen hatte und daß er ohne ihre Verwirklichung nicht leben könne. Ob nun mit ihr oder mit einer anderen, aber geschehen mußte es. Er las in seinem Buche, dachte über das Gelesene nach, machte eine Pause darin, um auf Agafja Michailowna zu hören, die unermüdlich plauderte; aber gleichzeitig traten ihm allerlei Bilder aus seiner Wirtschaft und aus seinem künftigen Familienleben vor das geistige Auge, ohne Verknüpfung miteinander. Er fühlte, wie etwas in der Tiefe seiner Seele sich festgesetzt, dann sich auf engeren Raum beschränkt und sich nun endgültig zurechtgelagert hatte.
Er hörte zu, wie Agafja Michailowna erzählte, daß dieser Prochor doch ein ganz gottvergessener Mensch sei und das Geld, das ihm Ljewin zum Ankauf eines Pferdes geschenkt habe, vertrinke, ohne jemals aus dem Rausche herauszukommen, und daß er seine Frau beinahe zu Tode geprügelt habe. Er hörte zu und las in dem Buche und erinnerte sich der ganzen Gedankenreihe, die dieses Lesen das vorige Mal in ihm wachgerufen hatte. Es war Tyndalls Buch über die Wärme. Er erinnerte sich, wie ihm an Tyndall mißfallen hatte, daß er so selbstgefällig von seiner Geschicklichkeit im Experimentieren spreche und keiner philosophischen Anschauung fähig sei. Und plötzlich kam ihm ein freudiger Gedanke dazwischen: ›In zwei Jahren werde ich in der Herde zwei Holländer Tiere haben; auch Pawa selbst kann noch hinreichend frisch sein; dazu zwölf junge Nachkommen von Berkut; da kann ich günstigenfalls die drei zur Kreuzung benutzen, – wundervoll!‹ Er griff wieder nach dem Buche. ›Nun gut, Elektrizität und Wärme sollen ein und dasselbe sein; aber kann man denn, wenn es sich um die Lösung einer Aufgabe auf diesem Gebiete handelt, in einer Gleichung die eine Größe für die andere setzen? Nein. Also wie steht es damit? Einen gewissen Zusammenhang zwischen allen Naturkräften spürt man ja auch so schon durch den bloßen Instinkt. – Besonders hübsch wird es sein, wenn Pawas Kalb erst eine rotscheckige Kuh sein wird und vielleicht ebenso die ganze Herde, die ich aus der Kreuzung mit diesen dreien erzielen will. – Prächtig! Dann werde ich mit meiner Frau und unseren Gästen die Herde besehen. – Meine Frau sagt: »Dieses Kalb hier haben Konstantin und ich wie ein Kind großgezogen.« »Wie kann Sie das nur so interessieren?« sagt einer der Gäste. »Alles, was ihn interessiert, interessiert auch mich.« Ja, aber wer wird sie sein?‹ Hier mußte er an das denken, was ihm in Moskau begegnet war. – ›Nun, was ist da zu machen? Meine Schuld ist es nicht [124] gewesen. Aber jetzt soll alles einen neuen Gang nehmen. Es ist Torheit, zu glauben, daß das wirkliche Leben dem entgegenstünde und daß die Vergangenheit dem entgegenstünde. Ich will alle meine Kraft daransetzen, um ein besseres, ein weit besseres Leben zu führen.‹ Er hob den Kopf in die Höhe und überließ sich seinen Gedanken. Die alte Laska, die mit ihrer Freude über seine Ankunft noch nicht ganz zurechtgekommen und auf den Hof gerannt war, um sich auszubellen, kam nun schwanzwedelnd zurück, wobei sie den Geruch von frischer Luft mit ins Zimmer brachte, lief zu ihm hin, schob den Kopf unter seine Hand und verlangte mit kläglichem Winseln, daß er sie liebkosen möchte.
»Nur, daß sie nicht sprechen kann«, sagte Agafja Michailowna. »So ein Tier! Sie versteht, daß ihr Herr zurückgekommen und traurig ist.«
»Wieso meinst du, daß ich traurig bin?«
»Wie werde ich denn das nicht sehen, Väterchen? Wo ich doch schon so lange hier bin, muß ich doch meine Herrschaft kennen. Ich bin doch von Kindesbeinen an hier bei der Herrschaft aufgewachsen. Aber grämen Sie sich nicht, Väterchen! Wenn man nur gesund ist und ein reines Gewissen hat!«
Ljewin blickte sie unverwandt an, ganz erstaunt darüber, wie richtig sie seine Gedanken erraten hatte.
»Wie ist's, soll ich Ihnen noch ein bißchen Tee bringen?« fragte sie, nahm seine Tasse und ging damit hinaus.
Laska schob immer noch ihren Kopf unter seiner Hand hin und her. Er streichelte sie, und sie rollte sich sofort zu seinen Füßen rund zusammen, indem sie den Kopf auf die eine ausgestreckte Hinterpfote legte. Und um auszudrücken, daß jetzt alles in schönster Ordnung sei, öffnete sie ein wenig das Maul, schmatzte ein paarmal auf, legte die feuchten Lippen bequemer um die alten Zähne zurecht und verstummte in glückseliger Ruhe. Ljewin hatte aufmerksam diese letzten Bewegungen des Tieres beobachtet.
›Ganz, wie ich es auch mache!‹ sagte er zu sich selbst. ›Ganz, wie ich es auch mache! Ich will es mich nicht anfechten lassen. Es wird noch alles gut werden.‹
Am Morgen nach dem Balle schickte Anna Arkadjewna ihrem Manne ein Telegramm, daß sie am selben Tage von Moskau abfahren werde.
[125] »Nein, ich muß fahren, ich muß!« sagte sie, um diese plötzliche Änderung ihrer Anordnungen zu erklären, zu ihrer Schwägerin in einem Tone, als ob sie zu Hause so viel vor hätte, daß sie es gar nicht alles aufzählen könnte. »Nein, am besten fahre ich gleich heute.«
Stepan Arkadjewitsch aß nicht zu Hause zu Mittag, hatte aber versprochen, um sieben Uhr zurück zu sein, um seine Schwester nach dem Bahnhof zu begleiten.
Auch Kitty war nicht zum Mittagessen gekommen; sie hatte ein Briefchen geschickt, daß sie Kopfschmerzen habe. Dolly und Anna speisten allein mit den Kindern und der Engländerin. Kam es nun daher, daß Kinder unbeständig sind, oder daher, daß sie feinfühlig sind und diese hier es herausfühlten, daß Anna heute eine ganz andere war als an jenem Tage, da sie sie so liebgewonnen hatten, und sich nicht mehr für sie interessierte: genug, sie hatten die Lust, mit der Tante zu spielen, ganz verloren, auch mit der Liebe zu ihr war's zu Ende, und daß Anna nun abreise, machte ihnen gar keinen Eindruck. Anna war den ganzen Vormittag mit Vorbereitungen zu ihrer Abreise beschäftigt gewesen. Sie hatte kurze Abschiedsbriefe an ihre Moskauer Bekannten geschrieben, ihre Ausgaben vermerkt und ihre Sachen gepackt. Überhaupt hatte Dolly den Eindruck gehabt, daß Anna sich nicht in ruhiger Seelenstimmung, sondern in jener nervösen Aufregung befand, die Dolly nur zu gut von sich selbst kannte, ein Zustand, der sich nicht ohne besondere Ursache einstellt und hinter dem sich meistenteils eine Unzufriedenheit mit sich selbst verbirgt. Nach dem Mittagessen begab sich Anna in ihr Zimmer, um sich umzukleiden, und Dolly ging mit ihr.
»Du bist ja heute so eigentümlich?« sagte Dolly zu ihr.
»Ich? Findest du das? Ich bin weiter nicht eigentümlich, mir ist nur nicht recht wohl. So etwas kommt manchmal bei mir vor: ich möchte in einem fort weinen. Das ist sehr dumm; aber es geht vorüber«, sagte Anna schnell und beugte ihr errötendes Gesicht über eine elegante Reisetasche, in die sie eine Nachthaube und einige Batisttaschentücher einpackte. Ihre Augen hatten einen besonderen Glanz und füllten sich fortwährend mit Tränen. »Zuerst wollte ich gar nicht von Petersburg abreisen, und nun möchte ich am liebsten von hier nicht wieder fort.«
»Du bist hergekommen und hast hier ein gutes Werk vollbracht«, sagte Dolly, sie aufmerksam betrachtend.
Anna blickte sie mit tränenfeuchten Augen an.
»Sage das nicht, Dolly! Ich habe nichts getan und habe nichts tun können. Ich wundere mich oft, warum mich die Leute, wie [126] auf Verabredung, verhätscheln. Was habe ich getan, und was habe ich tun können? Du hast eben in deinem Herzen so viel Liebe gefunden, um verzeihen zu können.«
»Gott weiß, wie es ohne dich noch gekommen wäre! Wie glücklich du bist, Anna!« sagte Dolly. »In deiner Seele ist alles klar und gut.«
»Jeder Mensch hat in seiner Seele seine skeletons 1, wie die Engländer sagen.«
»Was für skeletons könntest du haben? Bei dir ist alles klar und rein.«
»Ich habe skeletons!« erwiderte Anna plötzlich, und ein schlaues, lustiges Lächeln, wie man es nach den Tränen gar nicht hätte erwarten sollen, spielte um ihre Lippen.
»Nun, dann werden sie wohl sehr heiter sein, deine skeletons, und nicht finster und drohend«, meinte Dolly lächelnd.
»Nein, sie sind finster und drohend. Weißt du wohl, warum ich heute abreise und nicht erst morgen? Ich habe etwas auf dem Herzen, was mich schwer bedrückt, und ich will es dir jetzt beichten«, sagte Anna. Sie lehnte sich mit entschlossener Miene in ihrem Sessel zurück und blickte ihrer Schwägerin offen in die Augen.
Und zu ihrem Erstaunen sah Dolly, daß Anna bis an die Ohren errötet war, bis an die schwarzen Löckchen, die sich hinten an ihrem Halse kräuselten.
»Ja«, fuhr Anna fort. »Weißt du auch wohl, warum Kitty nicht zum Mittagessen gekommen ist? Sie ist auf mich eifersüchtig. Ich habe ihr diesen Ball verdorben; ich meine, ich bin die Veranlassung gewesen, weshalb dieser Ball für sie eine Qual und nicht eine Freude war. Aber wahrhaftig, wahrhaftig, ich trage keine Schuld oder doch nur ganz wenig«, sagte sie, wobei sie mit hoher Stimme auf den Worten »ganz wenig« verweilte.
»Ach, was hattest du eben für eine überraschende Ähnlichkeit mit Stiwa, als du das sagtest!« rief Dolly lachend.
Anna nahm das übel.
»O nein, o nein! Ich bin nicht wie Stiwa«, versetzte sie stirnrunzelnd. »Gerade deshalb sage ich es dir ja, weil ich mich auch nicht für einen Augenblick unsicher fühle.«
Aber in diesem Augenblicke, in dem sie diese Worte aussprach, wurde sie sich bewußt, daß sie unwahr waren; sie fühlte sich nicht nur unsicher, sondern sie empfand schon bei dem bloßen Gedanken an Wronski eine starke Erregung und reiste nur deswegen früher ab, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte, um nicht mehr mit ihm zusammenzutreffen.
[127] »Ja, Stiwa hat mir erzählt, du hättest mit ihm die Masurka getanzt, und er hätte ...«
»Du kannst dir gar keine Vorstellung davon machen, wie komisch die ganze Geschichte war. Ich dachte an weiter nichts, als wie ich wohl helfen könnte, diese Heirat zustande zu bringen, und nun kam die Sache auf einmal so ganz anders. Vielleicht habe ich sogar wider meinen Willen ...«
Sie errötete und brach ab.
»Ja, die Leute merken so etwas sofort«, sagte Dolly.
»Aber ich wäre in Verzweiflung, wenn dabei auf seiner Seite irgend etwas Ernsteres vorliegen sollte«, unterbrach Anna sie. »Und ich bin überzeugt, daß das alles bald wieder vergessen sein und Kitty mich nicht mehr hassen wird.«
»Übrigens, Anna, um dir die Wahrheit zu sagen: Ich wünsche für Kitty diese Heirat gar nicht einmal so besonders. Und wenn er, Wronski, es fertiggebracht hat, sich in dich an einem einzigen Tage zu verlieben, dann ist es schon das beste, daß die Sache auseinandergeht.«
»O Gott, das wäre aber doch zu dumm!« rief Anna, und von neuem überzog eine dunkle Röte ihr Gesicht, diesmal vor Freude, als sie den Gedanken, der sie selbst beschäftigte, von einem anderen aussprechen hörte. »So reise ich also nun ab, nachdem ich mir Kitty, die ich doch so liebgewonnen hatte, zur Feindin gemacht habe! Ach, was ist sie für ein liebes, gutes Wesen! Aber du wirst das schon wieder in Ordnung bringen, Dolly. Nicht wahr?«
Dolly konnte kaum ein Lächeln unterdrücken. Sie liebte Anna; aber sie sah mit einer gewissen Befriedigung, daß auch diese nicht frei von Schwächen war.
»Zur Feindin? Das ist unmöglich.«
»Ich wünschte von ganzem Herzen, daß ihr alle mich so liebhaben möchtet, wie ich euch liebhabe. Und jetzt habe ich euch noch weit mehr liebgewonnen«, sagte Anna mit Tränen in den Augen. »Ach, wie dumm ich doch heute bin!«
Sie fuhr sich mit dem Taschentuche über das Gesicht und begann sich umzukleiden.
Erst ganz kurz vor der Abfahrt nach dem Bahnhof kam Stepan Arkadjewitsch nach Hause, der sich verspätet hatte; er hatte ein rotes, vergnügtes Gesicht und roch nach Wein und Zigarren.
Annas gerührte Stimmung war auch auf Dolly übergegangen, und als sie ihre Schwägerin zum letzten Male umarmte, flüsterte sie ihr zu: »Sei versichert, Anna, ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast. Und sei auch versichert, daß ich dich liebhabe und immer liebhaben werde als meine beste Freundin!«
[128] »Ich weiß gar nicht, wie ich das verdiene«, erwiderte Anna, indem sie sie küßte und ihre Tränen verbarg.
»Du hast mein Herz verstanden und verstehst mich auch jetzt. Lebe wohl, du Liebe, Gute!«
1 (engl.) verborgenen heimlichen Kummer; etwas Unangenehmes, was man verbergen muß.
»Nun ist alles zu Ende; Gott sei Dank!« das war der erste Gedanke, den Anna Arkadjewna hatte, als sie sich zum letzten Male von ihrem Bruder verabschiedet hatte, der bis zum dritten Glockenzeichen in der Tür des Abteils gestanden hatte, um anderen Reisenden den Eingang zu versperren. Sie setzte sich auf ihren Polstersitz neben ihre Kammerjungfer Annuschka und blickte in dem Halbdunkel des Schlafwagens um sich. »Gott sei Dank, morgen sehe ich meinen kleinen Sergei und Alexei Alexandrowitsch wieder, und mein Leben wird wieder seinen altgewohnten guten Gang nehmen.«
Obwohl die aufgeregte Stimmung, in der sie sich den ganzen Tag über befunden hatte, noch nicht von ihr gewichen war, traf Anna doch sorgsam und mit einem Gefühl des Behagens ihre Vorbereitungen für die Fahrt. Mit ihren kleinen, geschickten Händen öffnete und verschloß sie die rote Reisetasche, holte ein Kissen heraus, legte es sich auf die Knie und setzte sich, nachdem sie sich auch die Füße sorgfältig eingewickelt hatte, ruhig hin. Eine kranke Dame hatte sich bereits schlafen gelegt. Zwei andere Damen suchten mit Anna ein Gespräch anzuknüpfen, und eine beleibte alte Dame hüllte gleichfalls ihre Füße in eine Decke und äußerte sich abfällig über die Heizung. Anna erwiderte den Damen ein paar Worte; aber da das Gespräch ihr nicht besonders interessant werden zu wollen schien, so hieß sie Annuschka die Reiselaterne hervorholen, hängte sie an der Armlehne des Sessels auf und nahm aus ihrer Reisetasche ein Papiermesser und einen englischen Roman. Anfangs konnte sie nicht lesen. Zuerst störte sie das Lärmen und Hinundherlaufen auf dem Bahnsteige; dann, als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, mußte sie unwillkürlich auf das von ihm verursachte Geräusch horchen; darauf wurde ihre Aufmerksamkeit durch den Schnee abgelenkt, der gegen das linke Fenster schlug und an der Scheibe haftenblieb, und durch den Anblick des vorbeigehenden, dicht eingemummten Schaffners, der auf der einen Seite ganz mit Schnee bedeckt war, und durch die Gespräche der anderen Damen über den entsetzlichen Schneesturm draußen. Aber dann weiter blieb alles unverändert: dasselbe rüttelnde Stoßen, derselbe Schnee am Fenster, dieselben [129] schnellen Übergänge von Gluthitze zu Kälte und wieder zu Hitze, dasselbe Vorüberhuschen derselben Personen im Halbdunkel und dieselben Stimmen; und nun begann Anna zu lesen und das Gelesene zu verstehen. Annuschka schlummerte schon; die rote Reisetasche hielt sie mit ihren breiten Händen auf den Knien; ihre Hände staken in Handschuhen, von denen der eine zerrissen war. Anna Arkadjewna las, und sie verstand, was sie las; aber es machte ihr kein Vergnügen, zu lesen, das heißt das Leben anderer Menschen gleichsam wie in einem Spiegel zu verfolgen. Es verlangte sie gar zu sehr, selbst zu leben. Mochte sie nun lesen, wie die Heldin des Romans einen Kranken pflegte, so wünschte sie, selbst mit unhörbaren Schritten durch das Zimmer des Kranken zu gehen; oder las sie, wie ein Parlamentsmitglied eine Rede hielt, so begehrte sie, selbst eine solche Rede zu halten; oder las sie, wie Lady Mary hoch zu Roß hinter der Meute dahingaloppierte und ihre Schwägerin neckte und alle Teilnehmer der Jagd durch ihre Kühnheit in Erstaunen versetzte, so regte sich in ihr das Verlangen, dies auch zu tun. Aber irgend etwas zu tun, dazu war für sie jetzt keine Möglichkeit, und so zwang sie sich denn zu lesen, während ihre kleinen Hände mit dem glatten Papiermesser spielten.
Der Held des Romans war schon nahe daran, das zu erreichen, was für einen Engländer das höchste Glück ist, den Baronetstitel und ein Landgut, und Anna hegte den Wunsch, mit ihm zusammen auf dieses Gut zu fahren, als sie plötzlich die Empfindung hatte, eigentlich müsse er sich schämen und sie müsse es auch tun. Aber weshalb sollte er sich denn schämen? ›Weshalb brauche ich mich zu schämen?‹ fragte sie sich erstaunt und gekränkt. Sie legte das Buch auf ihre Knie, ließ sich gegen die Lehne des Sessels zurücksinken und preßte beide Hände fest um das Papiermesser zusammen. Sie hatte sich über nichts zu schämen. Sie musterte alle ihre Moskauer Erinnerungen: es war nur Gutes und Angenehmes. Sie dachte an den Ball, sie dachte an Wronski und seine verliebte, demütige Miene; sie rief sich alles, was zwischen ihnen beiden vorgegangen war, ins Gedächtnis zurück; es war nichts Beschämendes darunter. Aber dabei wurde doch gerade an dieser Stelle der Erinnerungen das Gefühl der Scham stärker, als ob eine innere Stimme gerade dann, wenn sie an Wronski dachte, ihr wie bei einem gewissen Gesellschaftsspiele zuriefe: ›Warm, sehr warm, heiß!‹ ›Nun, was denn?‹ sagte sie energisch zu sich selbst und setzte sich in ihrem Sessel wieder aufrecht. ›Was soll denn das? Fürchte ich mich etwa, dieser Sache offen ins Gesicht zu sehen? Was liegt denn vor? Als ob zwischen mir und diesem jungen Offizier irgendwelche andere [130] Beziehungen bestünden und bestehen könnten als mit jedem anderen Bekannten.‹ Sie lächelte geringschätzig und griff wieder nach dem Buche; aber jetzt vermochte sie das, was sie las, schlechterdings nicht mehr zu verstehen. Sie fuhr mit dem Papiermesser über die Fensterscheibe und hielt dann seine glatte, kalte Fläche an ihre Wange und lachte beinahe laut auf vor Freude, obwohl zu diesem Gefühl, das sie plötzlich überkam, gar kein Anlaß vorlag. Sie hatte die Empfindung, daß die Spannung ihrer Nerven immer straffer werde, wie wenn sie an Wirbeln befestigt wären, die immer schärfer angezogen würden. Sie fühlte, daß ihre Augen sich immer weiter und weiter öffneten, daß ihre Finger und Zehen sich nervös bewegten, daß ihr irgend etwas in der Brust den Atem benahm und daß alles Sichtbare und Hörbare in diesem hin und her schwankenden, halbdunklen Raume ihr einen ungewöhnlich grellen Eindruck machte. Fortwährend kamen ihr Augenblicke, in denen sie zweifelte, ob der Wagen vorwärts oder rückwärts fahre oder überhaupt still stehe. Saß da Annuschka neben ihr oder eine Fremde? ›Was liegt dort auf der Lehne, ist es ein Pelz oder ein Tier? Und bin ich selbst hier? Ich selbst oder eine andere?‹ Es war ihr furchtbar, sich dieser halben Bewußtlosigkeit hinzugeben. Aber sie fühlte sich immer wieder zu diesem Zustande hingezogen und konnte sich nach Willkür ihm überlassen und sich von ihm befreien. Sie stand auf, um zu sich zu kommen, legte das Reisetuch weg und knöpfte den Kragen ihres warmen Kleides ab. Einen Augenblick war sie bei klarer Besinnung und begriff, daß der eintretende hagere Arbeitsmann im langen Nankingüberrock, an dem mehrere Knöpfe fehlten, der Heizer war, daß er nach dem Thermometer sah, daß Wind und Schnee hinter ihm durch die Tür eindrangen; aber dann verwirrten sich ihre Gedanken wieder. Dieser Arbeitsmann mit dem langen Oberkörper begann etwas an der Wand zu benagen; die alte Dame streckte ihre Beine durch die ganze Länge des Wagens aus und füllte ihn wie eine schwarze Wolke ganz aus; dann knarrte und krachte es furchtbar, als ob etwas in Stücke ginge; dann blendete ein rotes Feuer ihre Augen, und dann verschwand alles hinter einer Wand. Anna hatte das Gefühl, als ob sie tief hinunterfiele. Aber all dies war nicht furchtbar, sondern ganz vergnüglich. Die Stimme eines eingemummten, mit Schnee bedeckten Mannes rief etwas nahe an ihrem Ohr. Sie stand auf und sammelte ihre Gedanken; sie begriff, daß der Zug in eine Station einfuhr und daß dieser Mann der Schaffner gewesen war. Sie ließ sich von Annuschka den Kragen, den sie vorhin abgelegt hatte, und noch ein Tuch reichen, nahm beides um und ging auf die Tür zu.
[131] »Belieben Sie auszusteigen?« fragte Annuschka.
»Ja, ich möchte ein bißchen frische Luft schöpfen. Es ist hier sehr heiß.«
Sobald sie die Tür ein wenig öffnete, stürmten Schnee und Wind ihr entgegen und kämpften mit ihr um die Tür. Das kam ihr lustig vor. Sie öffnete die Tür mit Gewalt und trat hinaus. Der Wind schien nur auf sie gewartet zu haben; er pfiff freudig auf und wollte sie umfassen und davontragen; aber sie hielt sich mit der Hand an der kalten, eisernen Stange fest, stieg, ihr Kleid festhaltend, auf den Bahnsteig hinunter und trat in den Schutz des Wagens. Der Wind war auf den Stufen sehr heftig gewesen; aber auf dem Bahnsteig hinter den Wagen war es geschützt. Es war ihr eine Wonne, mit ganzer Brust die kalte Schneeluft einzuatmen, und neben dem Wagen stehend, betrachtete sie den Bahnsteig und das erleuchtete Bahnhofsgebäude.
Ein furchtbarer Sturm tobte und pfiff von der einen Ecke des Bahnhofsgebäudes her zwischen den Rädern der Wagen und um die Telegrafenpfähle. Die Wagen, die Pfähle, die Menschen, alles, was man nur sehen konnte, war von einer Seite her mit Schnee bedeckt, und diese Schneehülle wurde immer dichter. Mitunter legte sich der Sturm für einen Augenblick; aber dann kam er wieder mit solchem Ungestüm herangebraust, daß es unmöglich schien, ihm Widerstand zu leisten. Trotzdem liefen einige Leute in munterem Gespräch über die knarrenden Bohlen des Bahnsteiges hin und öffneten und schlossen fortwährend die großen Türen der Bahnhofswirtschaft. Ein gebückter Mann glitt schattenhaft unten an Annas Füßen vorbei, und es ertönte der Klang eines Hammers, der auf Eisen schlug. »Gib das Telegramm her!« erscholl eine ärgerliche Stimme von der anderen Seite her aus der Dunkelheit und dem Sturme. »Hierher, hierher! Nummer 28!« riefen verschiedene Stimmen, und mit Schnee bedeckte, vermummte Gestalten liefen vorbei. Zwei Herren mit feurig leuchtenden Zigaretten im Munde gingen vorüber. Noch einmal atmete Anna tief auf, um ihre Lungen mit frischer Luft zu füllen, und hatte bereits die Hand aus dem Muff herausgezogen, um die Stange an der Wagentreppe zu fassen und wieder einzusteigen, als ein Herr in einem Militärmantel dicht neben ihr durch sein Dazwischentreten ihr das flackernde Licht der Laterne verdeckte. Sie wendete sich um und erkannte im gleichen Augenblicke Wronskis Gesicht. Die [132] Hand an den Mützenschirm legend, verbeugte er sich vor ihr und fragte, ob sie vielleicht etwas bedürfe und er ihr behilflich sein könne. Sie blickte ihn eine ziemliche Weile an, ohne zu antworten, und obgleich die ihr zugekehrte Seite seiner Gestalt sich im Schatten befand, sah sie doch den Ausdruck seines Gesichtes und seiner Augen oder glaubte wenigstens, ihn zu sehen. Es war wieder jener Ausdruck ehrfurchtsvollen Entzückens, der tags zuvor einen so starken Eindruck auf sie gemacht hatte. Mehr als einmal hatte sie sich in diesen letzten Tagen und noch eben jetzt gesagt, daß Wronski für sie nur einer aus jenen Hunderten von jungen Männern sei, die einem überall begegnen und alle denselben Gesichtsausdruck haben, und daß sie sich nie wieder mit einem Gedanken an ihn erinnern werde; aber jetzt, im ersten Augenblicke des Zusammentreffens mit ihm, ergriff sie ein Gefühl freudigen Stolzes. Es bedurfte für sie keiner Frage, warum er hier sei. Sie wußte das so sicher, wie wenn er es ihr gesagt hätte, daß er hier sei, um da zu sein, wo sie wäre.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie mitfahren. Warum fahren Sie denn?« sagte sie und ließ die Hand, die nach der Stange hatte fassen wollen, wieder sinken. Ihr Gesicht strahlte von unbezwinglicher Freude und lebhafter Erregung.
»Warum ich fahre?« erwiderte er und blickte ihr offen in die Augen. »Das wissen Sie; ich fahre, um da zu sein, wo Sie sind. Ich kann nicht anders.«
In diesem Augenblicke fegte der Sturm, als habe er nun alle Hindernisse überwältigt, den Schnee von den Dächern der Wagen, rüttelte an einem halb losgerissenen Stück Eisenblech, und vorn heulte klagend und traurig der tiefe Ton der Lokomotivpfeife. Aber der ganze Schrecken des Schneesturms erschien Anna jetzt noch schöner als zuvor. Er hatte genau das gesagt, wonach ihre Seele verlangt hatte, wovor aber ihre Vernunft bange gewesen war. Sie antwortete nichts, und er sah auf ihrem Gesichte ihren innerlichen Kampf.
»Verzeihen Sie mir, wenn Ihnen das, was ich sagte, unangenehm ist«, sagte er demütig.
Er sprach bescheiden und achtungsvoll, aber dabei doch in so festem, bestimmtem Tone, daß sie lange nicht imstande war, ihm etwas zu erwidern.
»Was Sie da sagen, ist etwas Unrechtes, und ich bitte Sie, wenn Sie ein rechtschaffener Mensch sind, so vergessen Sie, was Sie gesagt haben, wie auch ich es vergessen werde«, entgegnete sie endlich.
»Keines Ihrer Worte, keine Ihrer Bewegungen werde ich jemals vergessen; ich kann nicht ...«
[133] »Hören Sie auf, hören Sie auf!« rief sie und bemühte sich vergebens, ihrem Gesichte, auf das er seine heißen Blicke heftete, einen strengen Ausdruck zu verleihen. Sie ergriff mit der Hand die eiserne Stange, stieg die Stufen hinan und trat schnell in den Vorflur des Wagens. Aber in diesem kleinen Vorflur blieb sie stehen und überdachte bei sich das Geschehene. Obgleich sie sich weder seiner Worte noch ihrer eigenen erinnerte, so fühlte sie doch, daß dieses kurze Gespräch sie einander in ungeahntem Maße nahegebracht hatte, und sie war darüber erschrocken und glücklich zugleich. Nachdem sie so einige Sekunden gestanden hatte, ging sie in den Wagen und setzte sich auf ihren Platz. Jener Zustand nervöser Anspannung, der ihr vorhin solche Pein verursacht hatte, befiel sie von neuem, ja er war diesmal noch schlimmer und steigerte sich dermaßen, daß sie jeden Augenblick fürchtete, es werde in ihrem Inneren etwas infolge der übermäßigen Spannung reißen. Sie schlief die ganze Nacht nicht. Aber dieser Zustand der Anspannung und diese Träumereien, die ihre Seele erfüllten, hatten nichts Unangenehmes oder Trübes an sich; im Gegenteil lag darin etwas Freudiges, Glühendes, Belebendes. Gegen Morgen schlummerte Anna, auf ihrem Platze sitzend, ein, und als sie erwachte, war es schon heller, lichter Tag, und der Zug war nicht mehr weit von Petersburg entfernt. Sogleich fand sie sich wieder mitten in den Gedanken an ihr Hauswesen, an ihren Mann, an ihren Sohn und in den Sorgen um den bevorstehenden Tag und die folgenden Tage.
Sobald der Zug in Petersburg hielt und sie ausstieg, war das erste Gesicht, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, das ihres Mannes. ›Ach, mein Gott, woher hat er nur solche Ohren bekommen?‹ dachte sie beim Anblick seiner stattlichen, aber frostig wirkenden Gestalt und namentlich der ihr jetzt auf einmal auffallenden Ohrmuscheln, die bis an die Krempe seines runden Hutes hinaufreichten. Als er sie erblickte, ging er ihr entgegen; um seine Lippen spielte das ihm zur Gewohnheit gewordene spöttische Lächeln, und mit seinen großen, müden Augen schaute er sie unverwandt an. Ein unangenehmes Gefühl preßte ihr das Herz zusammen, als sie seinem starren, müden Blick begegnete, wie wenn sie erwartet hätte, ihn als einen ganz anderen vorzufinden. Besonders auffallend war ihr an ihrer eigenen Person das Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selbst, das sich ihr jetzt bei der Begegnung mit ihm aufdrängte. Dieses Gefühl war ihr zwar altgewohnt und wohlbekannt und hing eben mit jenem Zustande der Verstellung zusammen, der zwischen ihr und ihrem Gatten herrschte; aber früher hatte sie dieses Gefühl kaum beachtet, jetzt wurde sie sich seiner deutlich und schmerzlich bewußt.
[134] »Ja, siehst du wohl, dein Mann ist noch genau so zärtlich wie im zweiten Jahr der Ehe und brannte vor Sehnsucht, dich wiederzusehen«, sagte er mit seiner langsamen, hohen Stimme, in dem Tone, dessen er sich fast immer ihr gegenüber bediente; es lag in diesem Tone eine Verspottung der Leute, die im Ernst so sprächen.
»Ist Sergei gesund?« fragte sie.
»Und das ist die ganze Belohnung für meine feurige Leidenschaft?« erwiderte er. »Jawohl, er ist gesund, jawohl ...«
Wronski hatte in der Nacht gar nicht versucht zu schlafen. Auf seinem Platze sitzend, starrte er bald geradeaus vor sich hin, bald musterte er die Ein- und Aussteigenden, und wenn er schon in früherer Zeit Leute, die ihn nicht kannten, durch den Ausdruck der unerschütterlichen Ruhe in seinem Gesichte überrascht und befremdet hatte, so erregte er jetzt in noch höherem Grade den Anschein des Stolzes und der Selbstzufriedenheit. Er blickte auf die Menschen hin wie auf leblose Gegenstände. Ein nervöser junger Mann, Beamter bei einem Kreisgericht, der ihm gegenübersaß, warf wegen dieser Miene einen ordentlichen Haß auf ihn. Der junge Mann hatte sich von ihm Feuer für seine Zigarette geben lassen, hatte ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen versucht, hatte sogar eine Gelegenheit benutzt, ihn anzustoßen, um ihm zu verstehen zu geben, daß er kein lebloser Gegenstand, sondern ein Mensch sei; aber Wronski blickte mit ebenso gleichgültiger Miene nach ihm hin wie nach der Laterne, und der junge Mann schnitt Grimassen, weil er fühlte, daß er gegenüber dieser beharrlichen Weigerung, ihn als Menschen anzuerkennen, nahe daran war, die Selbstbeherrschung zu verlieren.
Wronski sah nichts und niemanden. Er kam sich wie ein König vor, nicht weil er geglaubt hätte, auf Anna Eindruck gemacht zu haben – das glaubte er noch keineswegs –, sondern weil ihn der Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte, mit einem Gefühle des Glückes und Stolzes erfüllte.
Was aus alledem werden sollte, das wußte er nicht, und er dachte auch nicht einmal daran. Er fühlte, daß alle seine bisher planlos zersplitterten Kräfte sich jetzt auf einen Punkt hin drängten und sich mit furchtbarer Gewalt auf ein ersehntes Ziel richteten. Und darüber war er glücklich. Er wußte nur, daß er ihr die Wahrheit gesagt hatte: daß er nicht anders konnte, [135] als dahin zu fahren, wo sie war, daß er sein ganzes Lebensglück, den gesamten Wert und Inhalt seines Lebens jetzt darin fand, sie zu sehen und zu hören. Und als er in Bologoje ausgestiegen war, um ein Glas Selterswasser zu trinken, und Anna erblickt hatte, da hatte er ihr unwillkürlich mit dem ersten Worte seine Empfindung ausgesprochen. Und er war froh darüber, daß er es ihr gesagt hatte und sie es jetzt wußte und daran dachte. Er schlief die ganze Nacht nicht. Als er in seinen Wagen zurückgekehrt war, rief er sich unablässig alle Stellungen, in denen er sie gesehen hatte, und jedes ihrer Worte ins Gedächtnis zurück, und vor seinem geistigen Auge zogen Bilder einer ihm als möglich erscheinenden Zukunft vorüber, Bilder von einem verlockenden Reiz, der ihm das Herz stocken ließ.
Als er in Petersburg ausstieg, fühlte er sich nach der schlaflosen Nacht belebt und frisch wie nach einem kalten Bade. Er blieb neben seinem Wagen stehen und wartete, bis Anna ausstiege. ›Ich will sie noch einmal sehen‹, sagte er zu sich mit einem unwillkürlichen Lächeln, ›ich will ihren Gang sehen, ihr Gesicht sehen, will die Bewegung ihres Mundes sehen, wenn sie etwa mit jemand spricht; und vielleicht wendet sie dann den Kopf und sieht mich und lächelt vielleicht.‹ Aber noch ehe er sie selbst sah, erblickte er ihren Mann, den der Bahnhofsvorsteher achtungsvoll durch den Menschenschwarm hindurch begleitete. ›Ach ja, ihr Mann!‹ Jetzt zum ersten Male gewann Wronski ein klares Verständnis dafür, daß dieser Gatte eine mit ihr in enger Beziehung stehende Persönlichkeit sei. Er hatte gewußt, daß sie einen Mann hatte, aber er hatte eigentlich nicht an dessen Dasein geglaubt und gelangte erst jetzt zur vollen Überzeugung, als er ihn sah, mit seinem Kopfe und mit seinen Schultern und seinen in schwarzen Hosen steckenden Beinen, und namentlich, als er sah, wie dieser Mann mit dem Benehmen des berechtigten Eigentümers ihre Hand ergriff.
Als er diesen Alexei Alexandrowitsch sah, mit seinem petersburgisch frischen Gesichte, in seiner außerordentlich selbstbewußten Haltung, mit dem runden Hute, mit dem ein wenig gewölbten Rücken, da mußte er wohl an sein Dasein glauben und hatte eine unangenehme Empfindung, etwa wie wenn ein Mensch, vom Durste gequält, zu einer Quelle gelangt und an dieser Quelle einen Hund, ein Schaf oder ein Schwein findet, die von dem Wasser getrunken und es aufgerührt haben. Die Art, in der Alexei Alexandrowitsch ging, indem er bei jedem Schritte mit dem Becken und den plumpen Beinen eine drehende Bewegung machte, hatte für Wronski etwas ganz besonders Abstoßendes. Er erkannte nur für sich selbst ein unbestreitbares [136] Recht an, sie zu lieben. Sie aber war unverändert, und ihr Anblick wirkte auf ihn ganz wie sonst: er belebte ihn physisch, regte ihn an und erfüllte seine Seele mit einem Gefühle der Glückseligkeit. Er befahl seinem deutschen Diener, der aus der zweiten Klasse ausgestiegen und zu ihm geeilt war, sich das Gepäck geben zu lassen und damit nach Hause zu fahren; er selbst ging zu Anna hin. Er beobachtete die erste Begegnung von Mann und Frau und bemerkte mit dem Scharfblicke des Liebenden an manchen Anzeichen, daß sie im Gespräch mit ihrem Manne nicht frei von einer leisen Befangenheit war. ›Nein, sie liebt ihn nicht und kann ihn nicht lieben‹, sagte er sich mit großer Bestimmtheit.
Schon während er von hinten her auf Anna Arkadjewna zuging, bemerkte er mit lebhafter Freude, daß sie seine Annäherung fühlte und schon den Kopf drehte, um sich umzuschauen, dann aber, als sie ihn erkannte, sich wieder ihrem Manne zuwendete.
»Haben Sie eine gute Nacht gehabt?« fragte er, indem er sich vor ihr und zugleich auch vor ihrem Mann verbeugte und es auf diese Art diesem anheimstellte, die Verbeugung auch auf sich zu beziehen und ihn zu erkennen oder nicht zu erkennen, wie es ihm belieben möchte.
»Ja, ich danke, ich habe sehr gut geschlafen«, antwortete sie. Ihr Gesicht erschien müde, und von dem Mienenspiel, durch das sich sonst bei ihr die innere Lebhaftigkeit bald in einem Lächeln der Lippen, bald im Glanze der Augen verriet, war jetzt nichts vorhanden; aber für einen einzigen Augenblick blitzte bei einem Anblick in ihren Augen etwas auf, und obwohl dieses Leuchten sofort wieder erlosch, machte ihn doch dieser eine Augenblick glücklich. Sie sah ihren Mann an, um sich zu vergewissern, ob er Wronski erkenne. Alexei Alexandrowitsch blickte diesen mißmutig an und suchte halb zerstreut in seinem Gedächtnisse, wer das wohl sein möchte. Wronskis Ruhe und Selbstbewußtsein stießen hier wie die Sense auf den Stein mit dem kalten Wesen und dem Selbstbewußtsein Alexei Alexandrowitschs zusammen.
»Graf Wronski«, sagte Anna.
»Ah! Ich glaube, wir kennen einander«, bemerkte Alexei Alexandrowitsch in gleichgültigem Tone und reichte ihm die Hand. »Hin bist du also mit der Mutter gefahren und zurück mit dem Sohne«, fuhr er, zu Anna gewendet, fort, wobei er sich einer so bedächtigen, sorgsamen Aussprache bediente, als ob jedes Wort ein Rubel wäre, den er wegschenkte. »Sie kommen gewiß von Ihrem Urlaub zurück?« fragte er Wronski und [137] kehrte sich, ohne dessen Antwort abzuwarten, wieder in seinem scherzenden Tone zu seiner Frau hin: »Nun, sind in Moskau beim Abschied viele Tränen geflossen?«
Durch diese Frage an seine Frau wollte er Wronski zu verstehen geben, daß er allein zu bleiben wünsche, und berührte, zu ihm gewandt, seinen Hut. Aber Wronski wendete sich zu Anna Arkadjewna:
»Ich hoffe, daß ich die Ehre haben darf, Ihnen meine Aufwartung zu machen«, sagte er.
Alexei Alexandrowitsch blickte mit seinen müden Augen Wronski an.
»Sehr angenehm«, versetzte er kühl. »Wir empfangen montags.« Nachdem er so das Gespräch mit Wronski endgültig zum Abschluß gebracht hatte, sagte er zu seiner Frau in jenem selben scherzhaften Tone: »Wie gut, daß ich gerade eine halbe Stunde freie Zeit hatte, um dich abzuholen, und dir dadurch meine Zärtlichkeit beweisen konnte.«
»Du hebst deine Zärtlichkeit denn doch gar zu stark hervor, als daß ich sie so sehr hoch veranschlagen könnte«, versetzte sie in demselben scherzhaften Tone und horchte dabei unwillkürlich auf den Schall der Schritte Wronskis, der hinter ihnen ging. ›Aber was kümmert das mich?‹ dachte sie und fragte ihren Mann, wie es dem kleinen Sergei in ihrer Abwesenheit ergangen sei.
»Oh, vorzüglich! Mariette sagt, er sei sehr artig gewesen und habe sich – ich muß dich da leider betrüben – gar nicht nach dir gegrämt, ganz anders als dein Gatte. Aber noch einmal merci, liebe Frau, daß du mir unerwartet diesen Tag geschenkt hast. Unser lieber Samowar wird ganz entzückt sein.« (Samowar nannte er die überall bekannte Gräfin Lydia Iwanowna, und zwar weil sie immer und über alles mögliche sich erhitzte und aufbrauste.) »Sie hat sich fortwährend nach dir erkundigt. Und weißt du, wenn ich mir erlauben darf, dir einen Rat zu geben, du solltest gleich heute zu ihr hinfahren. Sie nimmt sich ja alles so furchtbar zu Herzen. Zu allem, was sie so schon zu tun hat, interessiert sie sich jetzt auch noch für die Aussöhnung der Oblonskis.«
Die Gräfin Lydia Iwanowna war mit Annas Manne befreundet und bildete den Mittelpunkt des Petersburger Gesellschaftskreises, in dem Anna ihres Mannes wegen am meisten verkehrte.
»Ich habe ihr ja darüber geschrieben.«
»Gewiß, aber sie möchte alles ganz genau wissen. Besuche sie doch, wenn du nicht zu müde bist, liebe Frau. Nun also, dich wird Kondrati nach Hause fahren, und ich meinerseits fahre in [138] die Komiteesitzung. Nun brauche ich doch nicht mehr allein zu Mittag zu speisen«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort, und zwar jetzt nicht mehr in dem scherzenden Tone. »Du glaubst gar nicht, wie ich mich an dich gewöhnt habe ...«
Er drückte ihr lange die Hand und war ihr mit einem besonderen Lächeln beim Einsteigen in den Wagen behilflich.
Der erste, der Anna zu Hause entgegenkam, war ihr kleiner Sohn. Er sprang schon auf der Treppe auf sie zu, trotz allen Zurufen seiner Gouvernante, und schrie ganz wild vor Entzücken: »Mama, Mama!« Und sofort hängte er sich ihr an den Hals.
»Ich hab Ihnen doch gleich gesagt, es ist Mama!« rief er der Gouvernante zu. »Das hab ich gewußt!«
Aber auch der Sohn rief, gerade wie der Mann, bei Anna ein Gefühl hervor, das einige Ähnlichkeit mit dem der Enttäuschung hatte. Sie hatte ihn sich in der Erinnerung schöner ausgemalt, als er in Wirklichkeit war. Sie mußte erst wieder zur Wirklichkeit herabsteigen, um sich an ihm, so wie er war, zu freuen. Aber auch so, wie er wirklich war, machte er einen reizenden Eindruck mit seinen blonden Locken, den blauen Augen und den kräftigen, wohlgestalteten Beinchen in den straff sitzenden Strümpfen. Die Empfindung seiner Nähe und seine Liebkosungen riefen bei Anna beinahe ein physisches Lustgefühl hervor, und zugleich empfand sie eine Art von seelischer Beruhigung, als sie seinem treuherzigen, vertrauensvollen, liebevollen Blicke begegnete und seine unschuldigen Fragen hörte. Sie holte die Geschenke hervor, die Dollys Kinder ihr für ihn mitgegeben hatten, und er zählte ihm, was für ein liebes Mädchen die Moskauer Tanja sei, und daß diese Tanja schon lesen könne und sogar die anderen Kinder darin unterrichte.
»Da bin ich also wohl schlechter als sie?« fragte der kleine Sergei.
»Für mich bist du der Beste auf der ganzen Welt.«
»Das weiß ich«, antwortete Sergei lächelnd.
Anna war noch nicht damit fertig, ihren Kaffee zu trinken, als ihr die Gräfin Lydia Iwanowna gemeldet wurde. Die Gräfin war eine beleibte Dame von hohem Wuchs, mit ungesunder gelber Gesichtsfarbe und schönen, sinnenden, schwarzen Augen. Anna war ihr sehr zugetan; aber es war, als sähe sie sie heute zum ersten Mal mit all ihren Fehlern.
[139] »Nun, wie steht's, liebe Freundin? Haben Sie ihnen den Ölzweig gebracht?« fragte die Gräfin Lydia Iwanowna, sobald sie ins Zimmer trat.
»Ja, es ist alles erledigt; aber es war auch alles nicht so arg, wie wir gedacht hatten«, antwortete Anna. »Überhaupt neigt meine belle-sœur 1 sehr zu übereilten Schritten.«
Aber die Gräfin Lydia Iwanowna, die sich für alles interessierte, was sie nichts anging, hatte die Gewohnheit, niemals zuzuhören, wenn ihr über das, was sie doch anscheinend so interessierte, Auskunft gegeben wurde; sie unterbrach Anna:
»Ja, es gibt viel Kummer und viel Bosheit in der Welt; heute bin ich ganz durcheinander.«
»Was ist denn geschehen?« fragte Anna und bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken.
»Ich werde es allmählich müde, immer vergeblich für die Wahrheit eine Lanze zu brechen, und bin manchmal völlig erschöpft. Die Angelegenheit mit den Schwestern« (es war dies ein philanthropisches, religiös-patriotisches Unternehmen) »nähme einen vorzüglichen Gang; aber mit diesen Herren ist ja schlechterdings nichts anzufangen«, klagte die Gräfin mit spöttischer Ergebung in das Schicksal. »Sie haben den Grundgedanken erfaßt, ihn dann aber verunstaltet, und nun urteilen sie darüber in einer ganz kleinlichen, unverständigen Weise. Zwei oder drei, darunter Ihr Herr Gemahl, haben die ganze hohe Bedeutung dieser Angelegenheit richtig erfaßt, die anderen aber sind der weiteren Entwicklung nur hinderlich. Gestern schrieb mir Prawdin ...«
Prawdin war ein bekannter, im Ausland lebender Panslawist, und die Gräfin Lydia Iwanowna berichtete nun ausführlich über den Inhalt seines Briefes.
Dann erzählte sie noch von den Unannehmlichkeiten und Ränken, die sie bei ihren auf die Vereinigung der verschiedenen Kirchen gerichteten Bestrebungen erlebte, und empfahl sich darauf eiligst, da sie an diesem Tage noch einer Vereinssitzung beiwohnen und auch im slawischen Komitee tätig sein mußte.
›All das ist ja doch früher ganz ebenso gewesen; warum ist es mir nur früher nicht aufgefallen?‹ fragte sich Anna. ›Oder war sie gerade heute ungewöhnlich gereizt? Es ist doch auch wirklich komisch: ihr Ziel ist die Tugend, und sie ist eine Christin; aber trotzdem ist sie stets ergrimmt, und immer hat sie Feinde, und zwar immer wegen des Christentums und der Tugend.‹
Als die Gräfin fort war, kam eine andere Freundin, die Frau des Subdirektors, und erzählte allerlei Stadtneuigkeiten. Um drei Uhr ging auch diese, versprach jedoch, zum Mittagessen [140] wiederzukommen. Alexei Alexandrowitsch war im Ministerium. Bis zum Mittagessen war Anna allein und verwandte diese Zeit darauf, beim Mittagessen ihres Sohnes zugegen zu sein (er aß für sich allein, nicht mit den Erwachsenen), ihre Sachen in Ordnung zu bringen und die Briefe und Karten, die sich auf ihrem Tische angehäuft hatten, zu lesen und teilweise zu beantworten.
Das Gefühl unbegründeter Scham, das sie unterwegs empfunden hatte, und jene ganze Aufregung waren vollständig verschwunden. Inmitten ihrer gewohnten Lebensverhältnisse fühlte sie sich wieder fest und tadellos.
Erstaunt erinnerte sie sich ihres gestrigen Zustandes. ›Was ist denn vorgefallen? Nichts. Wronski redete Dummheiten, die leicht abzuschneiden waren, und ich habe geantwortet, wie es in Ordnung war. Darüber mit meinem Manne zu reden, ist unnötig und unmöglich. Darüber zu reden, das hieße der Sache eine Wichtigkeit beilegen, die ihr gar nicht zukommt.‹ Sie erinnerte sich, wie sie ihrem Manne früher einmal mitgeteilt hatte, daß ihr von einem seiner Untergebenen, einem jungen Manne, beinahe so etwas wie eine Liebeserklärung gemacht worden war, und wie Alexei Alexandrowitsch ihr darauf geantwortet hatte, dem sei schließlich jede Dame, die in diesen gesellschaftlichen Kreisen lebe, ausgesetzt; aber er habe das größte Vertrauen zu ihrem Taktgefühle und werde sich nie einfallen lassen, sie und sich selbst durch Eifersucht herabzuwürdigen. ›Also wozu soll ich mit ihm darüber reden? Und es ist ja auch, Gott sei Dank, nichts, was ich ihm zu sagen hätte‹, sprach sie bei sich selbst.
1 (frz.) Schwägerin.
Alexei Alexandrowitsch kehrte um vier Uhr aus dem Ministerium nach Hause zurück, hatte aber, wie das häufig vorkam, keine Zeit mehr, bei seiner Frau einzutreten. Er ging sogleich in sein Arbeitszimmer, empfing die wartenden Bittsteller und unterschrieb einige Schriftstücke, die sein Subdirektor gebracht hatte. Zum Mittagessen (es speisten stets mindestens drei Gäste bei Karenins) kamen: eine alte Cousine des Hausherrn, der Subdirektor mit seiner Frau und ein junger Mann, der in den Staatsdienst eintreten wollte und sich bei Alexei Alexandrowitsch durch eine Empfehlung eingeführt hatte. Anna begab sich in den Salon, um die Gäste zu unterhalten. Pünktlich um fünf Uhr (die Bronzeuhr mit der Statuette Peters des Großen hatte noch nicht den fünften Schlag vollendet) trat Alexei Alexandrowitsch ein, mit weißer Krawatte und im Frack mit [141] zwei Ordenssternen, da er sogleich nach dem Mittagessen wieder wegfahren mußte. Jede Minute seines Lebens war besetzt und für bestimmte Verwendung in Aussicht genommen. Um alle Aufgaben, die ihm ein jeder Tag stellte, zu erledigen, hatte er sich die strengste Pünktlichkeit zur Regel gemacht. ›Ohne Hast und ohne Rast‹, war sein Wahlspruch. Er trat in den Speisesaal, machte allen eine Verbeugung und setzte sich schnell auf seinen Platz, indem er seiner Frau zulächelte.
»Ja, nun hat meine Vereinsamung ein Ende. Du glaubst gar nicht, wie ungemütlich« (dieses Wort betonte er ganz besonders) »es ist, allein speisen zu müssen.«
Während des Essens sprach er mit seiner Frau über Moskauer Angelegenheiten und erkundigte sich dabei auch mit spöttischem Lächeln nach Stepan Arkadjewitsch; aber vorwiegend war das Gespräch allgemein und betraf Petersburger gesellschaftliche und dienstliche Gegenstände. Nach dem Essen blieb er noch eine halbe Stunde bei den Gästen; dann empfahl er sich, drückte seiner Frau wieder lächelnd die Hand und fuhr zur Ratssitzung. Anna fuhr an diesem Tage weder zur Fürstin Betsy Twerskaja, die von ihrer Ankunft gehört und sie zum Abendessen eingeladen hatte, noch ins Theater, wo sie für diesen Abend eine Loge hatte. Der Hauptgrund, weswegen sie nicht ausfuhr, war, daß ein Kleid, auf das sie gerechnet hatte, nicht fertig geworden war. Überhaupt hatte Anna, als sie nach dem Weggang der Gäste sich mit ihrer Toilette beschäftigte, viel Verdruß. Vor ihrer Abreise nach Moskau hatte sie, wie sie denn überhaupt eine Meisterin in der Kunst war, sich ohne übermäßige Kosten elegant zu kleiden, ihrer Modistin drei Kleider zum Umändern gegeben. Die Kleider sollten so umgeändert werden, daß sie nicht wiederzuerkennen wären, und hätten schon vor drei Tagen fertig sein müssen. Nun stellte sich heraus, daß von diesen Kleidern zwei überhaupt noch nicht fertig waren und beim dritten die Änderung nicht so ausgefallen war, wie Anna es gewünscht hatte. Die Modistin war gekommen, um sich zu rechtfertigen, und versicherte, daß es so hübscher sei; aber Anna geriet darüber in so heftige Erregung, daß sie sich nachher bei der Erinnerung daran schämte. Um sich vollständig wieder zu beruhigen, ging sie in das Kinderzimmer und verbrachte den ganzen Abend mit ihrem Söhnchen, legte ihn dann selbst schlafen, bekreuzte ihn und deckte ihn mit dem Oberbett zu. Sie freute sich, daß sie nirgends hingefahren war und diesen Abend so angenehm verlebt hatte. Es war ihr so leicht und ruhig zumute; sie erkannte mit voller Deutlichkeit, daß alles, was ihr auf der Eisenbahn so bedeutungsvoll erschienen war, nichts weiter gewesen [142] war als einer der gewöhnlichen, nichtssagenden Vorfälle des gesellschaftlichen Lebens und daß sie sich über nichts vor irgend jemandem oder vor sich selbst zu schämen habe. Sie setzte sich mit einem englischen Roman an den Kamin und wartete auf ihren Mann. Genau um halb zehn ertönte die Vorsaalklingel, und er trat ins Zimmer.
»Da bist du ja endlich«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen.
Er küßte ihr die Hand und setzte sich zu ihr.
»Im ganzen ist deine Reise, wie ich sehe, gut verlaufen«, begann er.
»O ja, sehr gut«, antwortete sie und begann ihm alles von Anfang an zu erzählen: ihre Fahrt mit der Gräfin Wronskaja, ihre Ankunft in Moskau, den Unfall auf der Eisenbahn. Darauf erzählte sie, wie sie zuerst mit ihrem Bruder und dann mit Dolly Mitleid gehabt habe.
»Ich bin nicht der Ansicht, daß man einen solchen Menschen entschuldigen kann, wiewohl er dein Bruder ist«, bemerkte Alexei Alexandrowitsch in strengem Tone.
Anna lächelte. Sie durchschaute, daß er das namentlich in der Absicht sagte, zu zeigen, daß verwandtschaftliche Rücksichten ihn nicht davon zurückhalten könnten, seine ehrliche Meinung auszusprechen. Sie kannte an ihrem Manne diesen Charakterzug und mochte ihn gern.
»Ich freue mich, daß alles glücklich erledigt ist und du wieder hier bist«, fuhr er fort. »Nun, was sagt man denn dort über die neue Maßregel, die ich im Rat durchgesetzt habe?«
Anna hatte von dieser Maßregel nicht reden hören, und sie schämte sich, daß sie so leicht hatte etwas vergessen können, was ihm so wichtig war.
»Hier hat die Sache im Gegenteil viel Aufsehen er regt«, sagte er mit selbstzufriedenem Lächeln.
Sie merkte, daß Alexei Alexandrowitsch ihr über diese Sache etwas mitteilen wollte, was ihm Vergnügen gemacht hatte, und veranlaßte ihn durch Fragen zum Erzählen. Und mit eben jenem selbstzufriedenen Lächeln berichtete er von den Ehrungen, die ihm infolge der Durchsetzung jener Maßregel dargebracht worden waren.
»Ich habe mich sehr, sehr gefreut. Es ist dies ein Beweis dafür, daß endlich auch bei uns feste, vernünftige Ansichten auf diesem Gebiete zur Herrschaft gelangen.«
Nachdem Alexei Alexandrowitsch sein zweites Glas Tee mit Sahne getrunken und etwas Brot dazu gegessen hatte, stand er auf und schickte sich an, in sein Arbeitszimmer zu gehen.
[143] »Und du bist heute abend gar nicht aus gewesen? Da hast du dich gewiß recht gelangweilt?« fragte er.
»O nein!« antwortete sie. Sie war nach ihm gleichfalls aufgestanden und begleitete ihn durch den Saal zu seinem Zimmer. »Was liest du denn jetzt?« fragte sie.
»Ich lese jetzt Duc de Lilie: Poésie des enfers«, erwiderte er. »Ein sehr merkwürdiges Buch.«
Anna lächelte, wie man eben zu den Schwächen geliebter Menschen lächelt, und begleitete ihn, indem sie ihren Arm unter den seinigen schob, bis an die Tür seines Arbeitszimmers. Sie kannte seine ihm zum Bedürfnis gewordene Gewohnheit, abends zu lesen. Sie wußte, daß er, obwohl seine amtlichen Obliegenheiten fast seine gesamte Zeit in Anspruch nahmen, es dennoch für seine Pflicht hielt, alle bemerkenswerten Erscheinungen auf geistigem Gebiete zu verfolgen. Sie wußte auch, daß nur politische, philosophische und theologische Bücher ihn wirklich interessierten, die Kunst dagegen ihm nach seinem ganzen Wesen völlig fern lag, daß aber Alexei Alexandrowitsch trotzdem oder vielmehr gerade deshalb auch auf diesem Gebiete nichts unbeachtet ließ, was Aufsehen erregte, und es für seine Pflicht hielt, alles zu lesen. Sie wußte, daß er auf dem Gebiete der Politik, Philosophie und Theologie seine Zweifel hatte oder die Wahrheit noch zu ergründen suchte, aber in Fragen der Kunst und der Poesie, ganz besonders aber der Musik, für die ihm jedes Verständnis abging, ganz bestimmte feste Ansichten besaß. Er sprach gern von Shakespeare, von Raffael, von Beethoven und von dem Werte der neueren Richtungen in der Poesie und Musik und hatte über all dies sehr klare, festgelegte Gedankengänge im Kopfe.
»Nun, Gott mit dir!« sagte sie an der Tür des Arbeitszimmers, in dem für ihn bei seinem Lehnstuhl bereits eine Kerze mit einem Lichtschirm und eine Karaffe mit Wasser bereit standen. »Ich will noch nach Moskau schreiben.«
Er drückte ihr die Hand und küßte sie ihr nochmals.
›Und trotz allem ist er ein braver, aufrichtiger, gutherziger und in seinem Wirkungskreise bedeutender Mann‹, sagte Anna zu sich selbst, nachdem sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, als ob sie ihn gegen jemand verteidigte, der ihn angeschuldigt und behauptet hätte, man könne ihn nicht lieben. ›Aber daß ihm die Ohren so sonderbar vom Kopfe abstehen! Oder hat er sich vielleicht das Haar schneiden lassen?‹
Punkt zwölf Uhr – Anna saß noch an ihrem Schreibtische und beendete ihren Brief an Dolly – ließen sich gleichmäßige Schritte in Pantoffeln vernehmen, und Alexei Alexandrowitsch trat zu [144] ihr herein, gewaschen und gekämmt, das Buch unter dem Arm.
»Es ist Zeit, es ist Zeit«, sagte er mit einem besonderen Lächeln und begab sich in das Schlafzimmer.
›Und was für ein Recht hatte er denn, ihn so anzusehen?‹ dachte Anna bei der Erinnerung an den Blick, mit dem Wronski ihren Mann betrachtet hatte.
Sie kleidete sich aus und ging in das Schlafzimmer; aber von jener Lebhaftigkeit, die während ihres Aufenthaltes in Moskau nur so aus ihren Augen gesprüht, aus ihrem Lächeln hervorgeleuchtet hatte, war jetzt auf ihrem Gesichte nichts zu entdecken; vielmehr schien jetzt jenes Feuer in ihrem Inneren entweder erloschen zu sein oder sich irgendwo tief unten versteckt zu haben.
Bei seiner Abreise von Petersburg hatte Wronski seine Wohnung in der Morskaja-Straße seinem guten Freunde und lieben Kameraden Petrizki überlassen.
Petrizki war ein junger Leutnant aus nicht besonders vornehmer Familie; er war nicht nur ohne Vermögen, sondern steckte sogar bis über die Ohren in Schulden, abends war er stets betrunken und hatte schon oft wegen allerlei teils lächerlicher, teils unsauberer Geschichten Arrest gehabt. Aber trotzdem war er bei seinen Kameraden sowie bei seinen Vorgesetzten beliebt. Als Wronski um zwölf Uhr, vom Bahnhof kommend, an seiner Wohnung vorfuhr, sah er vor der Haustür eine ihm wohlbekannte Mietskutsche stehen. Als er noch vor der Vorsaaltür war, hörte er auf sein Klingeln ein helles Gelächter von Männern, das Schwatzen einer Frauenstimme und das laute Geschrei Petrizkis: »Wenn es einer von den Halunken ist, so laß ihn nicht herein!« Wronski verbot dem öffnenden Burschen, ihn zu melden, und trat leise in das erste Zimmer. Die Baronin Chilton, Petrizkis Freundin, ein Dämchen mit frischem Gesicht und blondem Haar, saß in einem schimmernden lila Atlaskleide an einem runden Tische, kochte Kaffee und erfüllte wie ein Kanarienvogel das ganze Zimmer mit ihrem Pariser Geplapper. Neben ihr saßen Petrizki im Mantel und der Rittmeister Kamerowski, der wahrscheinlich eben erst vom Dienst gekommen war, in voller Uniform.
»Hurra, Wronski!« schrie Petrizki und sprang auf, indem er den Stuhl mit Gepolter zurückstieß. »Der Hausherr in eigener Person! Baronin, geben Sie ihm eine Tasse Kaffee aus der neuen [145] Maschine! Das ist einmal unvermutet! Ich hoffe, du bist mit der Verschönerung deines Zimmers zufrieden«, fuhr er, auf die Baronin deutend, fort. »Die Herrschaften kennen sich doch?«
»Aber gewiß doch!« erwiderte Wronski, vergnügt lächelnd, und drückte der Baronin das kleine Händchen. »Natürlich! Wir sind alte Freunde.«
»Sie kommen von der Reise nach Hause?« sagte die Baronin. »Da will ich mich davonmachen. Ich gehe augenblicklich, wenn ich störe.«
»Wo Sie sich befinden, Baronin, da sind Sie auch zu Hause«, versetzte Wronski. »Guten Tag, Kamerowski«, fügte er hinzu und gab ihm kühl die Hand.
»Sehen Sie wohl, so hübsche Sachen zu sagen, das verstehen Sie niemals«, wandte sich die Baronin an Petrizki.
»Nanu! Wieso denn nicht? Nach einem guten Diner rede ich ebenso gut.«
»Ja, nach einem Diner ist das kein Verdienst! Nun, dann will ich Ihnen Kaffee eingießen; Sie können ja inzwischen gehen und sich waschen und Toilette machen«, sagte die Baronin, setzte sich wieder hin und drehte achtsam den Hahn an der neuen Kaffeemaschine. »Pierre, reichen Sie einmal den Kaffee her!« wandte sie sich an Petrizki, den sie wegen seines Familiennamens Petrizki zu ihrer Bequemlichkeit Pierre nannte, ohne aus ihren Beziehungen zu ihm ein Hehl zu machen. »Ich will noch zuschütten.«
»Sie werden ihn verderben!«
»Unbesorgt! Nun, und wie steht's mit Ihrer Frau?« fragte die Baronin plötzlich, indem sie Wronskis Gespräch mit seinem Kameraden unterbrach. »Wir haben Sie hier verheiratet. Haben Sie Ihre Frau mit nach Petersburg gebracht?«
»Nein, Baronin. Ich bin als Hagestolz und Vagabund geboren und werde auch so sterben!«
»Das ist recht, das ist recht! Geben Sie mir Ihre Hand!«
Und ohne Wronski loszulassen, begann sie, ihm unter unaufhörlichen Scherzen und Späßen ihre neuesten Lebenspläne zu entwickeln und ihn um Rat zu fragen.
»Er will immer noch nicht in die Scheidung willigen! Also was soll ich nun machen?« (Dieser Er war ihr Mann.) »Ich will jetzt einen Prozeß anstrengen. Was raten Sie mir? Kamerowski, passen Sie doch auf den Kaffee auf! Er kocht ja über! Sie sehen doch, daß ich mit ernsten Dingen beschäftigt bin! Ich möchte einen Prozeß anfangen, weil ich mein Vermögen für mich allein haben will. Können Sie eine solche Dummheit begreifen: mit der Begründung, ich sei ihm untreu geworden«, fuhr sie in verächtlichem [146] Tone fort, »will er von meinem Vermögen Vorteil ziehen!«
Wronski hörte mit Vergnügen das lustige Geplapper der hübschen Frau an, sagte ihr Schmeicheleien, gab ihr halb scherzhafte Ratschläge und nahm überhaupt sofort den Ton an, der ihm im Verkehr mit derartigen Damen geläufig war. Nach den Begriffen der Gesellschaft, die in Petersburg seinen Umgangskreis bildete, zerfielen die Menschen in zwei einander völlig entgegengesetzte Gattungen. Erstens eine niedere: das waren geschmacklose, dumme und vor allem lächerliche Leute, die meinten, ein Mann dürfe nur mit der einen Frau leben, mit der er getraut sei, ein junges Mädchen müsse unschuldig sein, eine Frau züchtig, ein Mann gesetzt, enthaltsam und solid, man müsse Kinder aufziehen, sich durch Arbeit sein Brot erwerben, seine Schulden bezahlen und mehr derartige Dummheiten. Dies war die Gattung der altmodischen, komischen Leute. Aber es gab auch noch eine andere Gattung von Menschen: die wirklichen Menschen, zu denen sie selbst alle gehörten; in dieser Gattung mußte man vor allem elegant, großartig, keck und heiter sein, sich, ohne zu erröten, jeder Leidenschaft überlassen und sich über alles übrige lustig machen.
Wronski war nur im ersten Augenblicke, unter der Nachwirkung der von Moskau mitgebrachten Eindrücke aus einer ganz anderen Welt, noch wie betäubt gewesen, hatte sich aber dann, wie wenn jemand mit den Füßen in seine Pantoffeln hineinfährt, sofort wieder in seiner früheren vergnügten, angenehmen Welt zurechtgefunden.
Der Kaffee wollte durchaus nicht richtig kochen; er bespritzte alle, lief über, ergoß sich über den teueren Teppich und über das Kleid der Baronin und brachte dadurch gerade die Wirkung hervor, die hier nötig war: er gab Anlaß zu Lärm und Gelächter.
»Nun leben Sie aber wohl, sonst kommen Sie nie dazu, sich zu waschen, und ich habe es dann auf dem Gewissen, Sie zu dem schlimmsten Verbrechen eines anständigen Menschen, zur Unsauberkeit, veranlaßt zu haben. Also Sie raten mir, ihm das Messer an die Kehle zu setzen?«
»Unbedingt, und zwar so, daß Ihr Händchen recht nahe an seine Lippen kommt. Er wird Ihr Händchen küssen, und alles wird ein erfreuliches Ende nehmen«, antwortete Wronski.
»Also heut abend im Französischen Theater!« Und mit dem Kleide rauschend, verschwand sie.
Auch Kamerowski stand auf, und Wronski reichte ihm, ohne seinen Weggang abzuwarten, die Hand und ging in sein Toilettenzimmer. Während er sich wusch, schilderte ihm Petrizki [147] in kurzen Zügen seine Lage, soweit sie sich nach Wronskis Abreise verändert hatte. Geld habe er keines mehr. Sein Vater habe erklärt, er werde ihm nichts mehr geben und auch seine Schulden nicht bezahlen. Sein Schneider wolle ihn ins Schuldgefängnis setzen lassen, und ein anderer Gläubiger habe ihm gleichfalls auf das bestimmteste damit gedroht. Der Regimentskommandeur habe ihm eröffnet, wenn diese Skandalgeschichten nicht aufhörten, müsse er seinen Abschied nehmen. Die Baronin sei ihm so widerwärtig geworden wie ein bitterer Rettich, namentlich deswegen, weil sie ihm immer Geld geben wolle. Da habe er aber jetzt ein anderes Frauenzimmer entdeckt – er wolle sie ihm zeigen –, eine wahre Pracht, rein zum Entzücken, so in streng orientalischem Stil, »im Genre der Magd Rebekka, weißt du!« Mit Berkoschew habe er auch einen argen Zank gehabt und wolle ihm seine Sekundanten schicken; aber selbstverständlich werde weiter nichts dabei herauskommen. Im allgemeinen aber gehe es ihm ganz vortrefflich, und er sei höchst fidel. Und ohne daß er seinem Kameraden Zeit gelassen hätte, auf die Einzelheiten seiner Lage näher einzugehen, ging Petrizki dazu über, ihm alle interessanten Neuigkeiten zu erzählen. Während Wronski diese ihm so wohlbekannte Sorte von Geschichten in dem ihm so wohlbekannten Getriebe der nun schon drei Jahre von ihm innegehabten Wohnung anhörte, empfand er das angenehme Gefühl der Rückkehr zu seinem gewohnten sorglosen Petersburger Leben.
»Nicht möglich!« rief er und hob den Fuß von dem Trittbrett der Wascheinrichtung weg, durch die er seinen roten, gesunden Hals mit Wasser übergossen hatte. »Nicht möglich!« rief er bei der Nachricht, daß Fräulein Lora sich von Fertinghof losgesagt habe und Milejews Freundin geworden sei. »Und ist Fertinghof immer noch so dumm und mit allem zufrieden? Na, und was macht denn Busulukow?«
»Ach, mit Busulukow hat sich eine Geschichte abgespielt, eine ganz kostbare Geschichte!« rief Petrizki. »Seine Leidenschaft sind bekanntlich Bälle, und er versäumt keinen einzigen Hofball. Na, er geht also auf einen großen Ball mit dem neuen Helm. Hast du die neuen Helme schon gesehen? Sie sind sehr hübsch, leichter als die bisherigen. Er steht also so da, – Nein, du mußt aber auch zuhören!«
»Ich höre ja zu!« antwortete Wronski, der sich gerade mit einem Frottierhandtuch abtrocknete.
»Da geht gerade eine Großfürstin mit irgendwelchem Gesandten an ihm vorbei, und zu seinem Unglück dreht sich das Gespräch der beiden gerade um die neuen Helme. Die Großfürstin [148] will dem Gesandten einen solchen neuen Helm zeigen. Da sieht sie unseren braven Busulukow stehen (Petrizki machte nach, wie dieser mit dem Helme dagestanden hatte); die Großfürstin ersucht ihn, ihr den Helm einmal herzugeben, – er gibt ihn nicht. Großes Erstaunen, was das heißen soll. Die Umstehenden zwinkern ihm zu, machen ihm Zeichen mit dem Kopfe, schneiden ihm finstere Gesichter: er solle doch den Helm hinreichen. Er tut es nicht. Er steht wie erstarrt da. Du kannst dir die Szene vorstellen! Da kommt dieser ... – wie heißt er doch gleich? – und will ihm den Helm wegnehmen. Er läßt ihn nicht los! Der reißt ihn ihm aus der Hand und reicht ihn der Großfürstin. ›Sehen Sie, das ist der neue Helm‹, sagt die Großfürstin. Sie dreht den Helm um, und nun stell dir das mal vor: bums! fällt eine Birne und Konfekt heraus, zwei Pfund Konfekt! – Das hatte er sich da hineingestopft, unser edler Busulukow!«
Wronski wollte sich totlachen. Und noch lange nachher, als sie schon von anderen Dingen sprachen, brach er, wenn er an den Helm dachte, immer von neuem in ein kräftiges Gelächter aus, so daß seine starken, vollzähligen Zähne sichtbar wurden.
Nachdem er alle Neuigkeiten erfahren hatte, legte er mit Hilfe seines Dieners die Uniform an und fuhr weg, um sich zu melden. Nach der Meldung beabsichtigte er zu seinem Bruder und zur Fürstin Betsy Twerskaja zu fahren und sonst noch einige Besuche zu machen, um sich Zugang zu den Kreisen zu verschaffen, in denen er Frau Karenina treffen konnte. Wie stets in Petersburg, fuhr er von Hause mit der Absicht fort, erst spät in der Nacht zurückzukommen.
[149]Gegen Ende des Winters fand bei Schtscherbazkis eine ärztliche Beratung statt, durch die festgestellt werden sollte, wie es mit Kittys Gesundheit stehe und was zur Hebung ihrer dahinschwindenden Kräfte zu unternehmen sei. Sie war krank, und mit dem Herannahen des Frühlings verschlimmerte sich ihr Gesundheitszustand nur noch mehr. Der Hausarzt hatte ihr Lebertran, dann Eisen, darauf Höllenstein verordnet; aber da weder das erste noch das zweite noch das dritte Mittel geholfen und da er geraten hatte, zum Frühjahr ins Ausland zu reisen, so wurde noch eine erste Kraft zu Rate gezogen. Dieser berühmte Arzt, ein noch nicht alter, sehr schöner Mann, forderte eine Untersuchung der Patientin. Energisch und, wie es schien, mit besonderem Vergnügen sprach er seine Ansicht aus, daß mädchenhafte Scham nur ein Überrest altbarbarischer Vorurteile sei, und es erschien ihm als die natürlichste Sache von der Welt, daß ein noch nicht bejahrter Mann den nackten Körper eines jungen Mädchens betaste. Er fand das natürlich, weil er es jeden Tag tat und dabei, seiner Ansicht nach, weiter nichts Schlimmes fühlte und dachte, und darum hielt er Schamhaftigkeit bei einem jungen Mädchen nicht nur für einen Überrest von Barbarentum, sondern auch für eine gegen ihn gerichtete Beleidigung.
Man mußte sich ihm fügen; denn obgleich alle Ärzte dieselben Universitätskurse durchmachen und aus denselben Büchern dieselbe Wissenschaft studieren und obgleich manche Leute behaupteten, diese erste Kraft sei ein schlechter Arzt, so galt es doch bei der Fürstin wie in ihrem ganzen Bekanntenkreise aus nicht näher nachweisbaren Gründen als ausgemacht, daß einzig und allein dieser berühmte Arzt etwas Tüchtiges verstehe und daß nur er Kitty retten könne. Nach eingehender Besichtigung und längerer Beklopfung der vor Scham ganz verstörten und wie betäubten Patientin wusch sich der berühmte Arzt sorgfältig die Hände und ging dann in den Salon und sprach mit dem Fürsten. Der Fürst zog ein finsteres Gesicht und räusperte sich wiederholt, während er dem Arzt zuhörte. Als ein Mann von Lebenserfahrung, [150] von gutem Verstande und vortrefflicher Gesundheit glaubte er nicht an die medizinische Wissenschaft und war in tiefster Seele ergrimmt über diese ganze Komödie, und zwar um so mehr, als er vielleicht der einzige war, der die Ursache von Kittys Krankheit völlig erkannt hatte. ›Du Blaffköter!‹ dachte er, indem er im stillen diesen Ausdruck der Jägersprache auf den berühmten Arzt übertrug, dessen Geschwätz über die Krankheitsmerkmale bei seiner Tochter er anhörte. Unterdessen hielt der Arzt seinerseits nur mühsam auf seinem Gesichte einen Ausdruck der Geringschätzung gegen diesen rückständigen alten Junker zurück und ließ sich nur ungern zu dem tiefen Stand seiner Fassungskraft herab. Er war sich darüber klar, daß es eigentlich keinen Zweck habe, mit dem Alten zu reden, und daß die Hauptperson in diesem Hause die Mutter sei. Vor ihr beabsichtigte er seine Perlen auszuschütten. Da trat die Fürstin mit dem Hausarzt in den Salon. Der Fürst trat zur Seite, bemüht, es sich nicht merken zu lassen, wie lächerlich ihm diese ganze Komödie vorkam. Die Fürstin war verlegen und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie hatte Kitty gegenüber ein Schuldbewußtsein.
»Nun, Doktor, entscheiden Sie über unser Schicksal!« sagte die Fürstin. »Sagen Sie mir alles!« Sie wollte noch hinzufügen: »Ist noch Hoffnung?«, aber ihre Lippen bebten, und sie brachte es nicht fertig, diese Frage auszusprechen. »Nun, wie steht es, Doktor?«
»Ich werde mich sofort mit meinem Kollegen besprechen, Fürstin, und dann die Ehre haben, Ihnen meine Ansicht vorzutragen.«
»Dann sollen wir die beiden Herren also wohl allein lassen?«
»Wenn es Ihnen so gefällig ist.«
Seufzend ging die Fürstin hinaus; auch der Fürst verließ das Zimmer.
Als die beiden Ärzte miteinander allein geblieben waren, begann der Hausarzt schüchtern seine Meinung darzulegen, die dahin ging, daß hier der Beginn eines tuberkulösen Prozesses vorliege, daß aber ... und so weiter. Der berühmte Arzt hörte ihm zu und sah auf einmal während der Auseinandersetzungen des anderen auf seine dicke goldene Uhr.
»Ja«, sagte er. »Aber ...«
Der Hausarzt verstummte achtungsvoll mitten in seiner Darlegung.
»Den Beginn eines tuberkulösen Prozesses genau festzustellen, sind wir, wie Sie wissen, nicht imstande; vor dem Auftreten von Kavernen läßt sich nichts Zuverlässiges sagen. Aber wir können [151] Vermutungen hegen. Und Merkmale sind ja vorhanden: schlechte Ernährung, nervöse Erregtheit und so weiter. Die Frage ist die: Was ist bei Verdacht eines tuberkulösen Prozesses zu tun, um die Ernährung zu fördern?«
»Aber Sie wissen ja, daß da immer geistige, seelische Ursachen dahinterstecken«, erlaubte sich der Hausarzt mit einem feinen Lächeln einzuschalten.
»Ja, das versteht sich von selbst«, erwiderte der berühmte Arzt und sah dabei wieder nach der Uhr. »Verzeihung, ist die Jauski-Brücke schon fertig, oder muß man immer noch den Umweg fahren?« fragte er. »So! Sie ist fertig. Nun, dann kann ich in zwanzig Minuten da sein. Also wir sagten, daß die Aufgabe so zu stellen sei: die Ernährung fördern und die Nerven stärken. Eines hängt mit dem anderen zusammen; wir müssen von beiden Seiten her zu wirken suchen.«
»Wie wäre es mit einer Reise ins Ausland?« fragte der Hausarzt.
»Ich bin ein Gegner solcher Reisen ins Ausland. Und beachten Sie, bitte, dies: Wenn wirklich der Beginn eines tuberkulösen Prozesses vorliegt, was wir nicht wissen können, so hilft eine Reise ins Ausland nichts. Es ist unbedingt ein Mittel erforderlich, das die Ernährung fördert und nicht schädlich wirkt.«
Und nun setzte der berühmte Arzt seinen Plan einer in Moskau durchzuführenden Kur mit Sodener Brunnen auseinander; bei der Entscheidung für diesen Brunnen war offenbar der Hauptgesichtspunkt der, daß er nicht schaden könne.
Der Hausarzt hörte ihm aufmerksam und achtungsvoll bis zu Ende zu. Dann bemerkte er:
»Zugunsten einer Reise ins Ausland möchte ich doch auf die Veränderung der gewohnten Lebensweise hinweisen sowie auf die Entfernung aus einer Umgebung, die mancherlei Erinnerungen wachruft. Und dann wünscht es die Mutter«, fügte er hinzu.
»Ah so! Nun, wenn es so ist, schön, dann mögen sie meinetwegen reisen. Nur werden diese deutschen Pfuscher Schaden anrichten. Die Leute müssen sich streng an unsere Weisungen halten. – Nun, dann mögen sie reisen.«
Er sah wieder nach der Uhr.
»Oh, es wird für mich Zeit!« Und er ging zur Tür.
Der berühmte Arzt erklärte der Fürstin (sein Gefühl für ärztlichen Anstand veranlaßte ihn dazu), er müsse die Kranke noch einmal sehen.
»Wie, noch eine Untersuchung?« rief die Mutter erschrocken.
»O nicht doch, ich brauche nur noch ein paar Einzelheiten, Fürstin.«
[152] »Dann bitte, kommen Sie!«
Von dem Arzte begleitet, ging sie zu Kitty. Mit eingesunkenen, geröteten Wangen und einem eigentümlichen Glanz in den Augen infolge der ausgestandenen Schmach, stand Kitty mitten im Zimmer. Beim Eintritt des Arztes wurde sie dunkelrot, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihre ganze Krankheit und deren ärztliche Behandlung erschienen ihr als etwas so Dummes, als etwas geradezu Lächerliches. Diese Bemühungen der Ärzte kamen ihr ebenso lächerlich vor, wie wenn jemand die Scherben einer zerbrochenen Vase wieder zusammensetzen wollte. Ihr Herz war zerbrochen. Und da wollten sie es mit Pillen und Pulvern heilen? Aber sie durfte die Mutter nicht kränken, um so weniger, da diese sich schuldig fühlte.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Prinzessin!« sagte der berühmte Arzt.
Er setzte sich lächelnd ihr gegenüber, fühlte ihren Puls und begann wieder seine lästigen Fragen zu stellen. Sie antwortete ihm; aber plötzlich stand sie zornig auf.
»Entschuldigen Sie, aber das hat wirklich keinen Zweck. Sie fragen mich zum dritten Mal dasselbe.«
Der berühmte Arzt zeigte keine Spur von Empfindlichkeit.
»Krankhafte Gereiztheit«, bemerkte er der Fürstin gegenüber, als Kitty hinausgegangen war. »Übrigens bin ich fertig.«
Und nun setzte er der Fürstin, der er damit zu verstehen gab, daß er sie als eine Dame von ganz ungewöhnlicher geistiger Begabung betrachte, den Zustand der Prinzessin in wissenschaftlicher Form auseinander und schloß mit einer genauen Anweisung, wie der Brunnen getrunken werden müsse, der doch in Wirklichkeit vollständig unnütz war. Auf die Frage, ob wohl eine Reise ins Ausland zweckmäßig sein werde, versank der Arzt in tiefes Nachdenken, wie wenn es sich um die Lösung eines sehr schwierigen Rätsels handele. Endlich verkündete er die Entscheidung, zu der er gelangt war: sie sollten reisen, möchten sich aber nicht den deutschen Pfuschern anvertrauen, sondern sich in allem an ihn wenden.
Es war, als hätte sich mit dem Wegfahren des Arztes etwas Erfreuliches ereignet. Die Mutter war, als sie zu ihrer Tochter zurückkehrte, wieder wesentlich heiterer geworden, und Kitty stellte sich, als sei bei ihr das gleiche der Fall. Sie sah sich jetzt häufig, fast dauernd, dazu genötigt, sich zu verstellen.
»Wirklich, ich bin gesund, maman. Aber wenn Sie gern reisen möchten, so könnten wir es ja tun«, sagte sie, und um ihr Interesse für die bevorstehende Reise an den Tag zu legen, begann sie von den dazu nötigen Vorbereitungen zu sprechen.
[153]Bald nachdem der Arzt fort war, kam Dolly. Sie wußte, daß an diesem Tage eine Beratung der beiden Ärzte stattfinden sollte, und obwohl sie erst vor kurzem vom Wochenbett aufgestanden war (sie war gegen Ende des Winters von einem Mädchen entbunden worden) und obwohl sie viel eigenen Kummer und eigene Sorgen hatte, verließ sie ihr Baby und ein anderes erkranktes Töchterchen und kam, um sich nach Kittys Schicksal zu erkundigen, das sich heute entscheiden sollte.
»Nun, wie steht es?« fragte sie, als sie in den Salon trat; sie hatte den Hut gar nicht abgenommen. »Ihr seid ja alle so fröhlich. Da steht es gewiß gut?«
Man versuchte nun, ihr zu erzählen, was der Arzt gesagt habe; aber obgleich dieser sehr lange und in wohlgesetzter Rede gesprochen hatte, erwies es sich doch als ein Ding der Unmöglichkeit, das, was er nun eigentlich gesagt hatte, wiederzugeben. Das Interessanteste war ohne Zweifel, daß die Reise ins Ausland beschlossene Sache war.
Dolly mußte unwillkürlich seufzen bei dem Gedanken, daß ihre beste Freundin, ihre Schwester, nun reisen sollte. Und ihr eigenes Leben war so wenig heiter. Ihr Verhältnis zu Stepan Arkadjewitsch hatte sich nach der Versöhnung noch unwürdiger gestaltet. Die von Anna vorgenommene Zusammenkittung hatte sich nicht als dauerhaft erwiesen, und die Eintracht des Familienlebens war an derselben Stelle von neuem zerbrochen. Etwas Bestimmtes lag nicht vor, aber Stepan Arkadjewitsch war fast nie zu Hause; Geld war gleichfalls kaum je vorhanden, und Dolly wurde beständig von dem Verdacht gemartert, daß er ihr wohl wieder untreu sei; nur suchte sie diesen Verdacht jetzt absichtlich zu verscheuchen, um nicht von neuem die Qualen der Eifersucht durchmachen zu müssen. Der erste Anfall von Eifersucht konnte, nachdem er einmal überstanden war, sich allerdings nicht in gleicher Heftigkeit wiederholen, und nicht einmal die tatsächliche Entdeckung einer neuen Untreue hätte auf sie so wirken können wie das erste Mal. Eine solche Entdeckung hätte aber doch eine Störung in ihre gewohnte häusliche Tätigkeit hineingebracht, und so ließ sie sich denn betrügen und verachtete ihn und noch mehr wegen dieser Schwäche sich selbst. Überdies quälten sie fortwährend allerlei Sorgen um die große Familie: bald wollte die Ernährung des Säuglings nicht recht vonstatten gehen, bald ging ein Kindermädchen ab, bald wurde, wie das gerade jetzt der Fall war, eines der Kinder krank.
»Nun, wie geht es bei dir zu Hause?« fragte die Mutter.
[154] »Ach, maman, wir haben viel Kummer. Lilly ist krank geworden, und ich fürchte, es ist Scharlach. Darum bin ich gleich jetzt hergekommen, um mich nach Kitty zu erkundigen; denn wenn die Krankheit sich wirklich zu Scharlach entwickeln sollte, was Gott verhüten möge, so kann ich das Haus nicht mehr verlassen.«
Auch der alte Fürst kam jetzt, nachdem der Arzt weggefahren war, aus seinem Arbeitszimmer, hielt seiner Tochter Dolly seine Backe zum Kusse hin, wechselte mit ihr ein paar Worte und wandte sich dann an seine Frau:
»Was habt ihr denn beschlossen? Werdet ihr reisen? Nun, und ich? Was wollt ihr mit mir anfangen?«
»Ich möchte meinen, du bleibst am besten hier, Alexander«, antwortete seine Frau.
»Wie ihr wollt.«
»Maman, warum soll denn Papa nicht mit uns fahren?« fragte Kitty. »Dann hat er mehr Vergnügen und wir auch.«
Der alte Fürst stand auf und strich mit der Hand freundlich über Kittys Haar. Sie hob das Gesicht in die Höhe und blickte, sich zu einem Lächeln zwingend, ihn an. Sie hätte immer die Empfindung, daß er sie besser als alle anderen in der Familie verstehe, obgleich er meist nur wenig mit ihr sprach. Als die Jüngste war sie des Vaters Lieblingstochter, und es schien ihr, als mache seine Liebe zu ihr ihn scharfblickend. Als ihr Blick jetzt seinen guten, blauen Augen begegnete, die sie prüfend ansahen, da war es ihr, als durchschaue er sie durch und durch und verstehe alle ihre traurigen Gedanken. Errötend reckte sie sich zu ihm auf, in Erwartung eines Kusses; aber er streichelte ihr nur ein paarmal das Haar und bemerkte:
»Diese dummen Chignons! Bis zu seiner wirklichen Tochter kommt man gar nicht durch; man liebkost nur die Haare toter Weiber. Nun, wie ist's, liebe Dolly?« wandte er sich an seine älteste Tochter. »Was macht dein Matador?«
»Es ist nichts Besonderes davon zu sagen, Papa«, antwortete Dolly, die verstand, daß er ihren Mann meinte. Und sie konnte sich nicht enthalten, mit einem spöttischen Lächeln hinzuzufügen: »Er ist immer außer dem Hause; ich bekomme ihn fast gar nicht mehr zu sehen.«
»Ist er denn noch nicht auf das Gut gefahren, um den Wald zu verkaufen?«
»Nein, er hat es immer vor.«
»Soso!« murmelte der Fürst. »Soll ich mich also auch reisefertig machen? Ganz wie du befiehlst«, wandte er sich an seine Frau und setzte sich wieder hin. »Weißt du was, Katja?« fuhr [155] er, sich seiner jüngsten Tochter zuwendend, fort. »Du solltest einmal eines schönen Tages beim Aufwachen zu dir sagen: ›Ach, ich bin ja ganz gesund und vergnügt; ich will wieder einmal mit Papa in der frischen, kalten Morgenluft einen Spaziergang machen.‹ Wie denkst du darüber?«
Was der Vater da sagte, klang durchaus harmlos; und doch geriet Kitty bei diesen Worten in die größte Verlegenheit und verlor völlig die Fassung wie ein ertappter Verbrecher. ›Ja, er weiß alles, er durchschaut alles und will mir mit diesen Worten sagen, daß, wenn man sich auch schämt, man doch seine Schmach überstehen muß.‹ Sie fand nicht den Mut, etwas zu antworten. Sie setzte dazu an, brach aber plötzlich in Tränen aus und stürzte aus dem Zimmer.
»Das kommt von deinen Späßen!« schalt die Fürstin ihren Mann ärgerlich. »Und so machst du es immer.« Und nun folgte eine Reihe von Vorwürfen.
Der Fürst hörte diese Vorwürfe ziemlich lange an, ohne ein Wort darauf zu erwidern, aber sein Gesicht wurde immer finsterer.
»Sie ist in einem so bedauernswerten Zustande, das arme Kind«, sagte die Fürstin; »aber du merkst gar nicht, daß ihr jede Anspielung auf die Ursache ihres Kummers schmerzlich ist. Ach, wie man sich in den Menschen irren kann!« An dem veränderten Tone, in dem sie die letzten Worte sprach, merkten Dolly und der Fürst, daß sie Wronski meinte. »Es ist mir unbegreiflich, daß es keine Gesetze gegen so schändliche, unedle Menschen gibt.«
»Ich mag das gar nicht mehr anhören!« erwiderte der Fürst finster und stand von seinem Sessel auf, als ob er hinausgehen wollte; aber an der Tür blieb er stehen. »Gesetze gibt es schon, Mütterchen; aber da du mich nun doch einmal dazu herausforderst, offen zu sein, so will ich dir sagen, wer an alledem schuld ist: du, du, du allein! Gesetze gegen solche Herrchen hat es immer gegeben und gibt es auch jetzt! Jawohl, wäre nicht von deiner Seite in einer Weise verfahren worden, wie nicht hätte verfahren werden dürfen, – ich bin ein alter Mann, aber ich würde ihn vor meine Pistole fordern, diesen Gecken. Ja, und jetzt kuriert nur an ihr herum und laßt diese Pfuscher von Ärzten kommen!«
Der Fürst hatte, wie es schien, noch vieles auf dem Herzen, was er sagen wollte; aber sobald die Fürstin diesen Ton von ihm hörte, ging es wie immer bei solchen ernsten Fragen: sie fügte sich ihrem Manne und sah reumütig ihr Unrecht ein.
»Alexander, Alexander!« flüsterte sie, trat einen Schritt auf ihn zu und brach in Tränen aus.
[156] Sobald der Fürst sie weinen sah, wurde auch er ruhiger. Er ging zu ihr hin.
»Nun, wollen's gut sein lassen, wollen's gut sein lassen! Dir ist auch schwer ums Herz, das weiß ich. Aber was ist zu machen? So sehr groß ist ja das Unglück noch nicht. Gott ist barmherzig. – Danke, danke!« sagte er, ohne selbst recht zu wissen, was er sprach, als Antwort auf den tränenfeuchten Kuß der Fürstin, den er auf seiner Hand fühlte. Und der Fürst verließ das Zimmer.
Schon vorher, als Kitty weinend hinausgelaufen war, hatte Dolly mit dem geübten Blick der Mutter und Hausfrau sogleich erkannt, daß hier Frauenwerk zu tun sei, und sich vorgenommen, dieses Werk zu verrichten. Nun nahm sie den Hut ab, streifte sich, in geistigem Sinne gesagt, die Ärmel in die Höhe und rüstete sich zur Tat. Während die Mutter auf den Vater schalt, hatte Dolly, soweit das die kindliche Ehrerbietung erlaubte, die Mutter zurückzuhalten versucht. Während dann der Fürst seinem Ingrimm Luft machte, hatte sie geschwiegen und sich für ihre Mutter geschämt; mit zärtlicher Bewunderung hatte sie auf ihren Vater geblickt, als dieser so bald wieder gut und freundlich wurde. Aber als nun der Vater hinausgegangen war, da schickte sie sich an, das Wichtigste zu tun, was jetzt nötig war: zu Kitty zu gehen und sie zu beruhigen.
»Ich wollte Ihnen schon lange etwas sagen, maman: Wissen Sie wohl, daß Ljewin, als er das letzte Mal hier war, Kitty seine Hand anbieten wollte? Er hatte es vorher zu Stiwa gesagt.«
»Nun, und was weiter? Ich verstehe nicht ...«
»Da hat ihm Kitty vielleicht einen Korb gegeben? Hat sie Ihnen nichts davon gesagt?«
»Nein, sie hat nichts gesagt, weder über den einen noch über den anderen; dazu ist sie zu stolz. Aber ich weiß, daß alles davon hergekommen ist.«
»Sicherlich; aber denken Sie nur, wenn sie wirklich Ljewin abgewiesen hat ... Sie hätte das bestimmt nie getan, wenn nicht dieser andere gewesen wäre, das weiß ich. Und nun hat der sie so schändlich getäuscht!«
Der Fürstin war es gar zu peinlich, daran denken zu müssen, eine wie schwere Schuld sie ihrer Tochter gegenüber auf sich geladen hatte, und sie wurde zornig.
»Ach, ich verstehe die Welt gar nicht mehr! Heutzutage wollen die Kinder immer nach ihrem eigenen Kopfe leben; der Mutter wird nichts mehr gesagt, und dann, ehe man es sich versieht ...«
»Maman, ich will zu ihr gehen.«
»Nun, dann geh doch! Verbiete ich's dir?« erwiderte die Mutter.
[157]Als Dolly in Kittys hübsches, rosafarbenes, mit Figürchen von vieux saxe 1 geschmücktes Zimmerchen trat, das ebenso hübsch, rosig und heiter aussah, wie es Kitty selbst noch vor zwei Monaten gewesen war, da erinnerte sie sich daran, wie sie beide zusammen im vorigen Jahre dieses Zimmerchen eingerichtet hatten, mit welcher Lust und Liebe! Es war ihr, wie wenn eine eisige Hand nach ihrem Herzen griffe, als sie nun Kitty erblickte, die auf einem niedrigen Stuhle unmittelbar neben der Tür saß und ihre starren Augen auf eine Ecke des Teppichs gerichtet hielt. Kitty sah zu ihrer Schwester auf; aber der kalte, finstere Ausdruck ihres Gesichtes veränderte sich nicht.
»Ich gehe jetzt und werde lange das Haus nicht verlassen können, und du wirst nicht zu mir kommen dürfen«, sagte Dolly und setzte sich neben sie. »Ich möchte gern noch ein paar Worte mit dir sprechen.«
»Worüber?« fragte Kitty hastig und hob erschrocken den Kopf in die Höhe.
»Worüber sonst als über deinen Kummer?«
»Ich habe keinen Kummer.«
»Rede nicht so, Kitty! Meinst du wirklich, das könnte mir verborgen bleiben? Ich weiß alles. Aber glaube mir, die Sache ist so geringfügig. Wir haben alle so etwas durchgemacht.«
Kitty schwieg; ihr Gesicht hatte einen strengen Ausdruck.
»Er ist nicht wert, daß du dich so um ihn grämst«, fuhr Dolly fort, um geradenwegs zur Sache zu kommen.
»Du meinst, weil er mich verschmäht hat«, erwiderte Kitty; ihre Stimme bebte. »Sprich nicht davon, bitte, sprich nicht davon!«
»Wer hat dir denn das gesagt? So etwas hat kein Mensch gesagt. Ich bin überzeugt, daß er in dich verliebt war und auch jetzt noch in dich verliebt ist; aber ...«
»Ach, am allerschrecklichsten ist mir dieses Bedauertwerden!« rief Kitty in plötzlich ausbrechendem Zorn. Sie drehte sich auf dem Stuhle hin und her, errötete und arbeitete hastig mit den Fingern, indem sie bald mit der einen, bald mit der anderen Hand an der Gürtelschnalle drückte, die sie fest gefaßt hielt. Dolly kannte diese Angewohnheit ihrer Schwester, mit den Händen um sich zu greifen, wenn sie in Hitze geriet; sie wußte, daß Kitty in solchen Augenblicken der Aufregung imstande war, sich zu vergessen und scharfe Worte zu gebrauchen, die besser ungesprochen blieben; so wollte denn Dolly sie beruhigen; aber es war bereits zu spät.
[158] »Ja, was ... was willst du mir denn damit zu verstehen geben?« sagte Kitty hastig. »Meinst du, ich hätte mich in einen Menschen verliebt, der nichts von mir wissen will, und ich stürbe nun an dieser Liebe zu ihm? Und das sagt mir meine Schwester und glaubt dabei, daß ... daß ... daß sie mir ihre Teilnahme ausdrückt! Ich mag dieses erheuchelte Mitleid nicht!«
»Kitty, du bist ungerecht.«
»Warum quälst du mich?«
»Aber ich will ja ganz im Gegenteil ... Ich sehe, du bist erbittert.«
Aber Kitty hörte in ihrer Aufregung gar nicht auf sie.
»Ich habe gar keinen Grund, mich zu grämen und mich trösten zu lassen. Ich besitze meinen Stolz, und es wird mir nie in den Sinn kommen, einen Menschen zu lieben, der mich nicht liebt.«
»Aber das sage ich ja auch gar nicht«, suchte Dolly sie zu beschwichtigen und ergriff ihre Hand. »Nur eines möchte ich dich fragen, aber sage mir die Wahrheit! Sag, hat Ljewin mit dir gesprochen?«
Diese Erinnerung an Ljewin schien der armen Kitty den Rest von Selbstbeherrschung zu rauben; sie sprang vom Stuhle auf, schleuderte die Schnalle auf den Boden und rief unter wilden Handbewegungen ihrer Schwester zu:
»Was soll dabei nun noch Ljewin? Ich verstehe nicht, was du davon hast, mich zu quälen! Ich habe dir schon gesagt und sage es noch einmal, daß ich meinen Stolz besitze und niemals, niemals imstande wäre, zu tun, was du tust: zu einem Manne zurückzukehren, der dir untreu geworden ist und sich in eine andere Frau verliebt hat. Dafür habe ich kein Verständnis! Du kannst das, aber ich kann es nicht!«
Nachdem sie diese Worte hervorgesprudelt hatte, warf sie einen Blick auf ihre Schwester, und als sie sah, daß diese schwieg und traurig den Kopf sinken ließ, da setzte sich Kitty, anstatt, wie sie beabsichtigt hatte, aus dem Zimmer zu gehen, wieder auf den Stuhl an der Tür, verbarg ihr Gesicht im Taschentuche und beugte den Kopf tief hinunter.
Das Schweigen dauerte mehrere Minuten. Dolly dachte an sich selbst. Ihre Demütigung, die sie stets empfand, war ihr dadurch, daß die Schwester sie daran erinnert hatte, besonders schmerzlich zum Bewußtsein gekommen. Eine solche Grausamkeit hatte sie von der Schwester nicht erwartet, und sie zürnte ihr deswegen. Aber plötzlich hörte sie das Rascheln eines Kleides und zugleich den Ton eines hervorbrechenden und dann verhaltenen Schluchzens; zwei Arme umschlangen von unten her ihren Hals. Kitty lag vor ihr auf den Knien.
[159] »Liebe Dolly! Ich bin ja so unglücklich, so unglücklich!« flüsterte sie reumütig.
Und sie verbarg ihr liebes, von Tränen überströmtes Gesichtchen in Dollys Schoße.
Als ob die Tränen das unentbehrliche Öl wären, ohne das die Maschine des wechselseitigen Verkehrs zwischen den beiden Schwestern nicht ordentlich gehen könnte, setzten sie, nachdem sie sich ausgeweint hatten, ihr Gespräch fort, und obwohl sie nicht von dem sprachen, was ihnen das Wichtigste war, sondern von Nebendingen, so verstanden sie einander doch vollkommen. Kitty fühlte, daß das, was sie im Zorn über die Untreue von Dollys Mann und über deren Erniedrigung gesagt hatte, ihre arme Schwester im tiefsten Herzen verwundet haben mußte, daß aber diese es ihr verziehen habe. Dolly ihrerseits kam über alles ins klare, was sie hatte wissen wollen; sie überzeugte sich nun, daß ihre Vermutungen richtig gewesen waren und daß Kittys Kummer, Kittys unheilbarer Kummer eben darin bestand, daß Ljewin ihr einen Antrag gemacht und sie ihn abgewiesen und Wronski sie getäuscht hatte und sie nun bereit war, Ljewin zu lieben und Wronski zu hassen. Aber Kitty sagte darüber kein Wort; sie sprach nur von ihrem Seelenzustand.
»Kummer habe ich gar nicht«, sagte sie, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte. »Aber du kannst dir wohl denken, daß mir alles verächtlich, widerwärtig, zum Ekel geworden ist und zuallererst ich mir selbst. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für abscheuliche Gedanken ich jetzt über alle Dinge habe.«
»Was für abscheuliche Gedanken kannst du denn haben?« fragte Dolly lächelnd.
»Die allerabscheulichsten und garstigsten; ich kann es dir gar nicht sagen. Es ist bei mir nicht Gram oder Verdruß, sondern etwas weit Schlimmeres. Es ist, als ob alles, was in mir Gutes war, sich versteckt hätte und nur das Abscheulichste zurückgeblieben wäre. Ja, wie soll ich dir das nur deutlich machen?« fuhr sie fort, als sie den Ausdruck der Verständnislosigkeit in den Augen der Schwester wahrnahm. »Sobald Papa mit mir zu sprechen anfängt, habe ich sofort die Vorstellung, als dächte er einzig und allein daran, daß ich mich verheiraten müsse. Oder wenn Mama mich auf einen Ball führt, so bilde ich mir ein, daß sie das lediglich tut, um mir möglichst schnell einen Mann zu verschaffen und mich los zu werden. Ich weiß, daß das alles nicht wahr ist; aber ich kann mich von diesen Gedanken nicht frei machen. Die sogenannten Heiratskandidaten mag ich gar nicht ansehen. Ich habe eine Empfindung, als ob sie mir Maß [160] nähmen. Früher war es für mich ein harmloses Vergnügen, im Ballkleid irgendwohin zu fahren; ich freute mich über meine eigene Erscheinung; aber jetzt schäme ich mich und fühle mich verlegen. Nun, und was sagst du dazu: der Arzt ... Ja, und ...«
Kitty stockte; sie hatte noch weiter sagen wollen, daß, seitdem in ihrem Inneren sich diese Veränderung vollzogen habe, auch Stepan Arkadjewitsch ihr in unerträglichem Maße unangenehm geworden sei und daß sein Anblick bei ihr stets die häßlichsten, widerwärtigsten Vorstellungen erwecke.
»Ja, das ist es«, fuhr sie fort. »Alles erscheint mir im garstigsten, häßlichsten Lichte. Das ist meine Krankheit. Vielleicht geht es vorüber.«
»Du mußt nicht daran denken.«
»Das liegt nicht in meiner Macht. Nur wenn ich mit den Kindern zusammen bin, fühle ich mich wohl, nur bei dir.«
»Schade, daß du nun längere Zeit nicht wirst zu mir kommen dürfen!«
»Oh, ich komme doch! Scharlach habe ich gehabt; bei Mama werde ich es schon durchsetzen.«
Kitty bekam ihren Willen und siedelte zu der Schwester über und pflegte die Kinder während der ganzen Dauer des Scharlachfiebers; denn als solches entpuppte sich die Krankheit. Die beiden Schwestern brachten alle sechs Kinder glücklich durch; aber Kittys Gesundheitszustand besserte sich nicht, und zur Zeit der großen Fasten reiste die Familie Schtscherbazki ins Ausland.
1 (frz.) von altem Porzellan.
Die höhere Gesellschaft in Petersburg bildete eigentlich nur einen einzigen Kreis, in dem alle sich gegenseitig kennen, ja sogar sich gegenseitig besuchen. Aber in diesem großen Kreise gibt es besondere Abteilungen. Anna Arkadjewna Karenina hatte Freunde und nähere Beziehungen in drei verschiedenen Kreisen. Der eine von ihnen war der dienstliche, offizielle Umgangskreis ihres Mannes und bestand aus dessen Kollegen und Untergebenen, die in gesellschaftlicher Hinsicht auf die mannigfaltigste, bunteste Weise durch allerlei Umstände untereinander verbunden oder voneinander geschieden waren. Anna konnte sich jetzt nur mit Mühe jenes Gefühl einer fast andächtigen Verehrung in die Erinnerung zurückrufen, das sie in der ersten Zeit diesen Leuten gegenüber empfunden hatte. Jetzt kannte sie sie alle so genau, wie man einander in einer Kreisstadt kennt; sie wußte, welche Gewohnheiten und Schwächen ein [161] jeder an sich hatte und wo einen jeden der Schuh drückte; sie kannte ihre Beziehungen untereinander und zu dem Mittelpunkte dieses Kreises; sie wußte, an wem sich der eine oder der andere festhielt und wie und mit welchen Mitteln, und welche miteinander übereinstimmten oder nicht und in welchen Punkten. Aber diesem Kreise, auf den die dienstlichen Interessen ihres Mannes sie hinwiesen, hatte sie trotz allem Zureden der Gräfin Lydia Iwanowna nie Geschmack abgewinnen können, und sie vermied ihn nach Möglichkeit.
Ein zweiter, ihr näherstehender Kreis war der, durch den Alexei Alexandrowitsch seinen Aufstieg gemacht hatte. Der Mittelpunkt dieses Kreises war die Gräfin Lydia Iwanowna. Die Mitglieder dieses Kreises waren alte, häßliche, tugendhafte, fromme Damen und kluge, gelehrte, ehrgeizige Männer. Einer von den klugen Leuten, die zu diesem Kreise gehörten, hatte ihm die Bezeichnung »das Gewissen der Petersburger Gesellschaft« beigelegt. Alexei Alexandrowitsch schätzte diesen Kreis sehr hoch, und Anna, die es vorzüglich verstand, sich mit allen möglichen Leuten einzuleben, hatte in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes in Petersburg auch in diesem Kreise Freunde gefunden. Aber jetzt, nach ihrer Rückkehr aus Moskau, kam ihr dieser Kreis geradezu unausstehlich vor. Es schien ihr, daß sowohl sie selbst wie auch alle anderen sich fortwährend verstellten, und es war ihr in dieser Gesellschaft so öde und unbehaglich, daß sie bei der Gräfin Lydia Iwanowna möglichst wenig verkehrte.
Der dritte Kreis endlich, mit dem Anna in Verbindung stand, war die sogenannte große Welt, die Welt der Bälle, der Diners, der glänzenden Toiletten, die Welt, die sich mit einer Hand an den Hof klammerte, um nicht zur Halbwelt hinabzusinken, die die Angehörigen dieses Kreises allerdings zu verachten wähnten, mit der sie aber doch nicht nur einen ähnlichen, sondern geradezu ein und denselben Geschmack hatten. Annas Verbindung mit diesem Kreise wurde durch die Fürstin Betsy Twerskaja aufrechterhalten, die Frau ihres Vetters, die hundertzwanzigtausend Rubel jährliche Einkünfte hatte. Diese hatte zu Anna gleich bei deren erstem Erscheinen in der Gesellschaft eine besondere Neigung gefaßt, sich ihrer freundlich angenommen und sie in ihren Kreis hineingezogen, wogegen sie sich über den Kreis der Gräfin Lydia Iwanowna lustig machte.
»Wenn ich einmal alt und häßlich sein werde, dann werde ich auch so eine werden«, sagte Betsy; »aber für eine so junge, schöne Frau wie Sie ist es noch zu früh, in dieses Spittel zu gehen.«
[162] Anna hatte in der ersten Zeit soviel wie möglich diesen Kreis der Fürstin Twerskaja gemieden, da er Ausgaben erforderte, die über ihre Mittel hinausgingen; und auch nach ihrem persönlichen Geschmacke hatte sie den an zweiter Stelle genannten vorgezogen. Aber nach der Moskauer Reise war bei ihr ein Umschwung eingetreten. Sie zog sich von ihren sittenstrengen Freunden zurück und verkehrte mehr in der großen Welt. Dort traf sie öfters mit Wronski zusammen und machte bei diesen Begegnungen immer eine freudige Erregung durch. Besonders häufig traf sie ihn bei Betsy, die eine geborene Wronskaja und seine Cousine war. Wronski war überall, wo er nur erwarten konnte, Anna zu finden, und sprach, sooft sich die Möglichkeit dazu bot, zu ihr von seiner Liebe. Sie gab ihm zwar keinen Anlaß zu solchen Reden; aber jedesmal, wenn sie mit ihm zusammentraf, flammte in ihrer Seele eben jenes selbe Gefühl gesteigerter Lebensfreude auf, das an jenem Tage im Eisenbahnwagen über sie gekommen war, als sie ihn zum ersten Mal erblickt hatte. Sie merkte es selbst, wie bei seinem Anblicke die Freude ihr aus den Augen leuchtete und ihre Lippen lächeln ließ; aber sie war nicht imstande, die Äußerung dieser Freude zu unterdrücken.
In der ersten Zeit hatte Anna aufrichtig geglaubt, daß sie ihm zürne, weil er es wage, sie zu verfolgen; aber als sie einmal bald nach ihrer Rückkehr aus Moskau eine Abendgesellschaft besuchte und ihn wider ihr Erwarten dort nicht traf, da merkte sie an der Traurigkeit, die sich ihrer bemächtigte, daß sie sich täuschte und daß diese Verfolgung ihr ganz und gar nicht unangenehm sei, sondern vielmehr ganz im Gegenteil ihr höchstes Lebensinteresse bildete.
Eine berühmte Sängerin trat zum zweiten Male auf, und alles, was sich zur guten Gesellschaft rechnete, war in der Oper. Wronski hatte seinen Platz in der er sten Reihe des Parketts, und als er von dort aus seine Cousine erblickte, begab er sich, ohne den Zwischenakt abzuwarten, zu ihr in die Loge.
»Warum sind Sie denn nicht zum Diner zu uns gekommen?« fragte sie ihn.
»Ich bin erstaunt über diese Hellseherei der Verliebten«, fügte sie lächelnd so leise hinzu, daß nur er es hören konnte. »Sie ist nämlich nicht da gewesen. Aber kommen Sie nach der Oper zu uns!«
Wronski richtete einen fragenden Blick auf sie. Sie nickte mit dem Kopfe. Er dankte ihr mit einem Lächeln und setzte sich neben sie.
[163] »Oh, wie gut ich mich an Ihre Spöttereien erinnere!« fuhr die Fürstin Betsy fort, die ein besonderes Vergnügen darin fand, die Fortschritte dieser Leidenschaft zu beobachten. »Wo ist das alles geblieben? Nun sind Sie gefangen, mein Lieber!«
»Weiter wünsche ich ja auch nichts, als gefangen zu sein«, antwortete Wronski mit seinem ruhigen, gutmütigen Lächeln. »Wenn ich mich über etwas beklage, so tue ich es nur darüber, daß ich, um die Wahrheit zu sagen, gar zu wenig gefangen bin. Ich beginne die Hoffnung zu verlieren.«
»Was für eine Hoffnung können Sie denn hegen?« fragte Betsy, sich für ihre Freundin gekränkt stellend. »Entendonsnous!« Aber das Glitzern in ihren Augen ließ erkennen, daß sie recht gut und genauso wie er verstand, welche Hoffnung er hegen konnte.
»Gar keine«, erwiderte Wronski lachend und zeigte seine lückenlosen Zahnreihen. »Verzeihung!« fuhr er fort, nahm ihr das Opernglas aus der Hand und begann über ihre entblößte Schulter hinweg die gegenüberliegende Logenreihe zu mustern. »Ich fürchte, lächerlich zu werden.«
Er wußte sehr wohl, daß er keine Gefahr lief, in den Augen seiner Cousine und aller dieser Weltleute lächerlich zu werden. Er wußte sehr wohl, daß in den Augen dieser Leute zwar die Rolle dessen, der, ohne Erhörung zu finden, ein Mädchen oder eine alleinstehende Frau liebt, lächerlich sein konnte, daß aber die Rolle eines Mannes, der sich um eine verheiratete Frau bemüht und alles, selbst sein Leben, daransetzt, sie zum Ehebruch zu verleiten, – daß diese Rolle in den Augen jener Leute etwas Schönes, Großartiges hatte und nie lächerlich werden konnte. Und darum spielte ein stolzes, fröhliches Lächeln unter dem Schnurrbart um seine Lippen, als er nun das Glas sinken ließ und seine Cousine ansah.
»Aber warum sind Sie denn eigentlich nicht zum Diner zu mir gekommen?« fragte sie ihn und betrachtete sein männliches Gesicht mit Wohlgefallen.
»Das muß ich Ihnen erzählen. Ich hatte zu tun; aber was? Ich wette mit Ihnen hundert gegen eins, tausend gegen eins, – Sie raten es nicht. Ich suchte einen Ehemann mit dem Beleidiger seiner Frau zu versöhnen. Ja, wahrhaftig!«
»Nun, haben Sie es denn zustande gebracht?«
»Beinahe.«
»Das müssen Sie mir erzählen!« sagte sie, sich erhebend. »Kommen Sie im nächsten Zwischenakt wieder her!«
»Das ist mir leider unmöglich; ich muß ins Französische Theater fahren.«
[164] »Von der Nilsson wollen Sie wegfahren?« fragte Betsy ganz entsetzt, obgleich sie es beim besten Willen nicht fertiggebracht hätte, die Nilsson von der ersten besten Choristin zu unterscheiden.
»Nicht anders möglich. Ich habe dort ein Stelldichein, alles in Sachen dieser Friedensvermittlung.«
»Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden erlöst werden«, sagte Betsy, die sich erinnerte, so etwas Ähnliches einmal von jemandem gehört zu haben. »Nun, dann setzen Sie sich gleich jetzt her und erzählen Sie, wie es mit der Geschichte war.«
Sie setzte sich gleichfalls wieder hin.
»Die Geschichte ist zwar ein bißchen kraß, aber so nett, daß es mir das größte Vergnügen macht, sie Ihnen zu erzählen«, sagte Wronski und sah sie mit lachenden Augen an. »Ich werde keine Namen nennen.«
»Dann werde ich sie raten; das ist noch ergötzlicher.«
»Nun, dann hören Sie zu! Es fahren also zwei lustige junge Männer ...«
»Natürlich Offiziere von Ihrem Regiment?«
»Ich habe nicht gesagt ›Offiziere‹, sondern einfach ›zwei junge Männer‹. Also die fahren nach einem Frühstück ...«
»Soll heißen: gehörig betrunken ...«
»Kann schon sein. Sie fahren in heiterster Stimmung zu einem Kameraden zum Diner. Und da sehen sie, wie ein hübsches weibliches Wesen sie in einer Droschke überholt, sich nach ihnen umsieht und – so schien es ihnen wenigstens – ihnen zunickt und lacht. Sie natürlich hinter ihr her. Sie lassen den Kutscher jagen, so schnell die Pferde nur laufen können. Zu ihrem Erstaunen läßt die Schöne ihre Droschke vor demselben Hause halten, wohin sie selbst wollten. Die Schöne läuft die Treppe zum ersten Stock hinauf. Sie sehen nur die roten Lippen unterhalb des kurzen Schleiers und die kleinen, allerliebsten Füßchen.«
»Sie erzählen das mit so viel Gefühl, daß ich vermute, Sie sind selbst einer von den beiden gewesen.«
»Aber was haben Sie noch vor wenigen Minuten zu mir gesagt? Nun also, die jungen Männer gehen in die Wohnung ihres Kameraden, bei dem ein Abschiedsdiner stattfindet. Da trinken sie tüchtig, vielleicht auch etwas zuviel, wie das ja bei einem Abschiedsdiner immer so zugeht. Bei Tische erkundigen sie sich, wer denn in diesem Hause den oberen Stock bewohne. Niemand [165] weiß es, und nur der Diener des Gastgebers gibt auf ihre Frage, ob da oben ›solche Damen‹ wohnen, die Antwort: ›Jawohl, eine ganze Menge.‹ Nach dem Diner begeben sich die jungen Männer in das Arbeitszimmer des Gastgebers und verfassen da einen Brief an die Unbekannte, einen ganz leidenschaftlichen Brief, eine Liebeserklärung, und tragen dann selbst diesen Brief hinauf, um, wenn in dem Briefe etwas nicht ganz verständlich sein sollte, die nötigen Erläuterungen zu geben.«
»Warum erzählen Sie mir solche Abscheulichkeiten? Nun weiter!«
»Sie klingeln. Ein Dienstmädchen öffnet, sie händigen ihr den Brief ein und beteuern dem Dienstmädchen, sie seien beide so verliebt, daß sie gleich da an der Tür sterben müßten. Das Mädchen, in höchster Verwunderung, redet mit ihnen hin und her. Auf ein mal erscheint ein Herr mit einem Backenbart; dieser Backenbart sah genauso aus, wie wenn rechts und links je ein Würstchen hinge; vor Wut rot wie ein Krebs, erklärt ihnen der Herr, es wohne niemand weiter dort außer ihm und seiner Frau, und jagt die beiden aus dem Vorsaal hinaus.«
»Woher wissen Sie denn das, daß er einen solchen Backenbart hat – wie sagten Sie doch? – in Würstchenform?«
»Hören Sie nur zu! Heute bin ich da gewesen, um sie zu versöhnen.«
»Nun, und wie ist es geworden?«
»Jetzt kommt das Interessanteste. Es stellt sich heraus, daß dieses glückliche Ehepaar ein Titularrat mit seiner Gattin ist. Der Titularrat reicht eine Klage ein, und ich werde Friedensvermittler, und was für einer! ... Ich versichere Sie, Talleyrand war ein Stümper gegen mich.«
»Worin liegt denn die Schwierigkeit?«
»Hören Sie nur weiter zu! – Wir baten also um Entschuldigung, wie es sich gehört: ›Wir sind in Verzweiflung und bitten, das unselige Mißverständnis gütigst zu verzeihen.‹ Der Titularrat mit den Würstchen beginnt milder zu werden, möchte aber doch auch seine eigenen Gefühle schildern; jedoch, sowie er damit anfängt, gerät er wieder in Hitze und sagt die größten Grobheiten, und ich muß von neuem alle meine diplomatischen Künste spielen lassen. ›Ich muß zugeben, daß das Benehmen der beiden Herren unangemessen war; aber ich möchte Sie bitten, doch auch in Betracht zu ziehen, daß sie sich in einem Irrtum befanden und daß sie noch in sehr jugendlichem Alter stehen; dazu kommt noch, daß die beiden jungen Männer eben erst gefrühstückt hatten. Sie bereuen das Getane von ganzer Seele und bitten, ihnen ihre Schuld zu verzeihen.‹ Wieder wird der [166] Titularrat freundlicher. ›Ich erkläre mich einverstanden, Herr Graf, und bin bereit zu verzeihen; aber versetzen Sie sich in meine Lage, meine Frau, meine Frau, eine anständige Dame, sieht sich einer solchen Behandlung ausgesetzt, solchen Nachstellungen, Gemeinheiten und Unverschämtheiten der ersten besten Buben und Schuf ...‹ Und nun stellen Sie sich das vor: diese Buben standen dabei, und ich sollte die Parteien versöhnen! Wieder biete ich meine ganze Überredungskunst auf, und wieder fällt, gerade als die Sache zum Abschluß reif scheint, mein Titularrat in seine Aufregung zurück, bekommt einen roten Kopf, die Würstchen sträuben sich in die Höhe, und von neuem überbiete ich mich in diplomatischen Feinheiten.«
»Ach, das muß ich Ihnen erzählen!« rief Betsy lachend einer Dame zu, die zu ihr in die Loge trat. »Er hat mich so zum Lachen gebracht ... Nun, bonne chance 1!« fügte sie, zu Wronski gewendet, hinzu und reichte ihm einen Finger, den sie beim Halten des Fächers noch frei hatte; zugleich schob sie die Taille ihres Kleides, die sich etwas hinaufgezogen hatte, durch eine Bewegung der Schultern nach unten, um, wie es sich gehört, vollständig entblößt zu sein, wenn sie nach vorn an die Brüstung der Loge in das helle Licht der Gasflammen träte, um von allen gesehen zu werden.
Wronski fuhr zum Französischen Theater. Er mußte wirklich dringend den Regimentskommandeur sprechen und wußte, daß er ihn dort träfe, da dieser nie eine Vorstellung im Französischen Theater versäumte; ihm wollte Wronski über seine Friedensvermittlung berichten, die ihn nun schon seit zwei Tagen beschäftigte und belustigte. Bei diesem Vorfall war einer der Beteiligten Petrizki, den Wronski sehr gern hatte, und der andere ein erst kürzlich eingetretener prächtiger junger Mann und vorzüglicher Kamerad, der junge Fürst Kedrow. Die Hauptsache aber war, daß es sich dabei um den guten Ruf des Regiments handelte.
Die beiden jungen Offiziere gehörten zu Wronskis Eskadron. Der Titularrat Wenden hatte den Regimentskommandeur vor einigen Tagen aufgesucht und sich bei ihm über zwei seiner Offiziere beschwert, die seine Gattin beleidigt hätten. Wenden erzählte, seine junge Frau – er sei nämlich erst ein halbes Jahr verheiratet – sei mit ihrer Mutter in der Kirche gewesen und habe dort ein Unwohlsein verspürt, das durch einen gewissen körperlichen Zustand hervorgerufen sei. Sie sei nicht imstande gewesen, länger zu stehen, und sei daher mit der ersten Droschke, die sie habe bekommen können – es sei eine Droschke erster Klasse gewesen –, nach Hause gefahren. Da seien zwei Offiziere in einem [167] Wagen ihr nachgejagt. Sie habe einen furchtbaren Schreck bekommen und sei dadurch noch kränker geworden; so sei sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufgelaufen. Er selbst, Wenden, habe nach seiner Rückkehr vom Amt die Klingel an der Tür und dann mehrere Stimmen gehört; er sei hingegangen, und als er dort die beiden betrunkenen Offiziere mit einem Briefe erblickt habe, habe er sie aus dem Vorsaal hinausgedrängt. Er ersuche um strenge Bestrafung.
»Nein, das müssen Sie selbst zugeben«, hatte der Regimentskommandeur zu Wronski gesagt, den er hatte zu sich kommen lassen, »dieser Petrizki macht sich unmöglich. Es vergeht keine Woche ohne irgendeine Skandalgeschichte. Dieser Beamte wird die Sache nicht auf sich beruhen lassen, sondern wird weitergehen.«
Wronski hatte sofort eingesehen, daß dies eine undankbare Aufgabe sei und ein Duell dabei nicht in Frage komme, daß man vielmehr alles mögliche tun müsse, um diesen Titularrat zu besänftigen und die Sache damit aus der Welt zu schaffen. Der Regimentskommandeur hatte Wronski gerade deshalb zu sich bestellt, weil er ihn für einen vornehm denkenden, verständigen Menschen hielt, namentlich aber für einen Mann, dem die Ehre des Regiments am Herzen lag. Sie hatten nun die Sache miteinander durchgesprochen und waren zu dem Ergebnis gelangt, Petrizki und Kedrow sollten sich mit Wronski zu diesem Titularrat begeben und ihn um Entschuldigung bitten. Der Regimentskommandeur und Wronski waren beide der Ansicht, daß Wronskis Name und das Abzeichen des Flügeladjutanten auf seinen Achselstücken zur Besänftigung des Titularrates erheblich mitwirken würden. Und tatsächlich hatten sich diese beiden Mittel teilweise wirksam gezeigt; aber der Erfolg des Vermittlungsversuchs war doch noch einigermaßen zweifelhaft geblieben, wie das Wronski auch seiner Cousine erzählt hatte.
Als Wronski im Französischen Theater angelangt war, zogen der Regimentskommandeur und er sich in das Foyer zurück, und Wronski berichtete seinem Chef über seinen Erfolg oder Mißerfolg. Nachdem der Regimentskommandeur alles hin und her erwogen hatte, kam er zu dem Entschlusse, gegen die Schuldigen nicht weiter vorzugehen; aber dann fragte er des Spaßes halber Wronski über die Einzelheiten seiner Verhandlungen aus und mußte lange Zeit immer von neuem loslachen, als er Wronski erzählen hörte, wie der Titularrat, nachdem er sich schon einigermaßen beruhigt hatte, bei der Erinnerung an die näheren Umstände des Vorfalles immer wieder in Hitze geraten sei und wie er, Wronski, als die letzten Redewendungen halbwegs nach Versöhnung [168] geklungen hatten, ausweichend sich schleunigst zurückgezogen und dabei Petrizki vor sich hergestoßen habe.
»Eine greuliche Geschichte, aber höchst komisch. Kedrow kann sich doch mit diesem Herrn nicht schlagen! Also er ist furchtbar erbost gewesen?« fragte er lachend. »Aber wie sich heute die Claire macht! Prächtig!« bemerkte er mit Bezug auf eine neue französische Schauspielerin. »Und wenn man sie noch so oft sieht, jedesmal ist sie eine andere. So etwas bringen doch nur die Franzosen fertig.«
1 (frz.) viel Glück.
Die Fürstin Betsy fuhr, ohne das Ende des letzten Aktes abzuwarten, aus dem Theater weg. Kaum hatte sie Zeit gehabt, in ihr Toilettenzimmer zu gehen, ihr langes, blasses Gesicht zu pudern, den Puder abzuwischen, sich zurechtzumachen und den Tee in den großen Salon zu bestellen, als auch schon ein Wagen nach dem anderen an ihrem gewaltigen Hause an der Bolschaja-Morskaja-Straße vorfuhr. Die Gäste stiegen auf der breiten Anfahrt aus, und der wohlbeleibte Pförtner, der vormittags zur Erbauung der Vorübergehenden hinter der Glastür meist seine Zeitung las, öffnete geräuschlos diese mächtige Tür und ließ die Ankommenden an sich vorüberwandeln.
Fast zu gleicher Zeit traten durch die eine Tür die Hausfrau mit aufgefrischter Frisur und aufgefrischtem Gesicht und durch eine andere die Gäste in den großen Salon mit den dunklen Wänden, den schwellenden Teppichen und dem hell erleuchteten Tische, auf dem das schneeweiße Tischtuch, der silberne Samowar und das durchscheinende porzellanene Teegeschirr im Scheine zahlreicher Kerzen glänzten.
Die Hausfrau setzte sich hinter den Samowar und legte die Handschuhe ab. Die Gesellschaft rückte sich mit Hilfe der kaum wahrnehmbaren Diener Stühle zu recht und nahm Platz, wobei sie sich in zwei Gruppen schied: die eine um den Samowar und die Wirtin, die andere am entgegengesetzten Ende des Salons um die schöne Gattin eines Gesandten, mit schwarzen, scharf gezeichneten Augenbrauen, in schwarzem Samtkleide. Das Gespräch schwankte, wie das immer in den ersten Minuten zu gehen pflegt, zunächst in beiden Kreisen unsicher hin und her, fortwährend unterbrochen durch das Hinzukommen neuer Gäste, durch Begrüßungen, durch das Anbieten des Tees, und suchte gleichsam nach einem Stoffe, bei dem es verweilen könnte.
»Sie ist als Schauspielerin außerordentlich tüchtig; man sieht, daß sie Kaulbach studiert hat«, bemerkte ein Diplomat in der [169] Gruppe um die Gattin des Gesandten. »Haben Sie wohl bemerkt, wie künstlerisch sie hinfiel?«
»Ach, bitte, wir wollen doch nicht von der Nilsson sprechen! Über die etwas Neues zu sagen, ist ja ein Ding der Unmöglichkeit!« unterbrach ihn eine beleibte Dame mit rotem Gesicht und blondem Haar, ohne Augenbrauen und ohne Chignon, in einem alten seidenen Kleide. Dies war die Fürstin Mjachkaja, die wegen der Naturwüchsigkeit und Derbheit ihres Benehmens berüchtigt war und daher das enfant terrible genannt wurde. Die Fürstin Mjachkaja saß in der Mitte zwischen beiden Gruppen, hörte nach beiden Seiten hin zu und beteiligte sich bald hier, bald dort an der Unterhaltung. »Mir haben heute schon drei Personen dieselbe Redensart über Kaulbach gesagt, gerade wie wenn sie sich verabredet hätten. Und sie schienen, ich weiß nicht, warum, an dieser Redensart ein ganz besonderes Wohlgefallen zu finden.«
Das Gespräch war durch diese Bemerkung gestört worden, und man mußte auf ein neues Thema sinnen.
»Erzählen Sie uns etwas Ergötzliches, aber nichts Boshaftes!« sagte die Frau des Gesandten, eine Meisterin in derjenigen Art der vornehmen Unterhaltung, die man im Englischen small talk 1 nennt. Sie wendete sich mit dieser Aufforderung an den Diplomaten, der ebenfalls nicht wußte, was er zur Sprache bringen solle.
»Man sagt, das sei außerordentlich schwer; nur das Boshafte sei komisch«, begann er lächelnd. »Aber ich will es versuchen. Geben Sie mir ein Thema! Es kommt alles auf das Thema an. Ist das Thema einmal gegeben, so kann man sich leicht darüber ergehen. Ich denke oft, daß die berühmten Plauderer des vorigen Jahrhunderts jetzt ihre Not hätten, etwas Neues, Verständiges zu sagen. Alles Verständige ist schon bis zum Überdruß abgenutzt.«
»Das ist auch schon längst gesagt worden«, unterbrach ihn lachend die Frau des Gesandten.
Das Gespräch hatte so harmlos begonnen; aber ebendeshalb, weil es allzu harmlos war, stockte es wieder. Man mußte zu dem sichersten, nie versagenden Mittel seine Zuflucht nehmen: zum Lästern.
»Finden Sie nicht auch, daß Tuschkewitsch etwas an sich hat, was an Louis XV. erinnert?« fragte der Diplomat und deutete mit den Augen auf einen hübschen, blonden jungen Mann, der am Tische stand.
»O ja! Er verrät denselben Stil wie dieser Salon; darum verkehrt er hier auch so viel.«
Dieser Gesprächsstoff behauptete sich eine Weile, weil in derartigen Andeutungen gerade über einen Punkt gesprochen [170] wurde, über den man in diesem Salon nicht hätte reden dürfen, nämlich über Tuschkewitschs Beziehungen zur Frau vom Hause.
In der Gruppe, die den Samowar und die Frau vom Hause umgab, hatte unterdessen das Gespräch gleichfalls zwischen den drei unvermeidlichen Stoffen gewechselt: dem letzten Ereignis, das sich in den vornehmen Kreisen begeben hatte, dem Theater und dem Bekritteln des lieben Nächsten, und auch da blieb es, nachdem es zu dem letztgenannten Thema gelangt war, bei diesem stehen, nämlich bei der Verlästerung.
»Haben Sie schon gehört, die Maltischtschewa – wohlgemerkt: nicht die Tochter, sondern die Mutter – läßt sich ein Kostüm diable rose anfertigen!«
»Nicht möglich! Nein, das ist ja ausgezeichnet!«
»Ich muß mich nur wundern, daß sie mit ihrem Verstande – denn dumm ist sie ja nicht – nicht einsieht, wie lächerlich sie sich macht.«
Ein jeder hatte etwas zur Verdammung und Verspottung der unglücklichen Frau Maltischtschewa beizusteuern, und das Gespräch kam in munteres Prasseln und Knattern wie ein in Brand gesetzter Holzstoß.
Der Gatte der Fürstin Betsy, ein gutmütiger, dicker Herr, leidenschaftlicher Sammler von Kupferstichen, hatte gehört, daß seine Frau Gäste hatte, und kam nun in den Salon, bevor er in seinen Klub fuhr. Unhörbar trat er auf dem weichen Teppich zu der Fürstin Mjachkaja heran.
»Nun, wie hat Ihnen die Nilsson gefallen?« fragte er.
»Ach, wie kann man sich nur so heranschleichen! Wie haben Sie mich erschreckt!« antwortete sie. »Bitte, reden Sie mit mir nicht von der Oper; Sie verstehen ja doch nichts von Musik. Lieber will ich mich zu Ihnen herablassen und mit Ihnen von Ihren Majoliken und Kupferstichen sprechen. Nun, was für ein Kleinod haben Sie denn zuletzt auf dem Trödelmarkte erstanden?«
»Wenn Sie es wünschen, will ich es Ihnen zeigen. Aber Sie sind ja keine Kennerin.«
»Nun, zeigen Sie nur! Ich habe mir einige Kenntnisse angeeignet, bei diesen Leuten ... wie heißen sie doch nur gleich ... er ist Bankier ... die haben wundervolle Kupferstiche. Sie haben sie uns gezeigt.«
»Ah, Sie sind bei Schützburgs gewesen?« fragte die Hausfrau vom Samowar herüber.
»Jawohl, ma chère. Sie hatten meinen Mann und mich zum Diner eingeladen und sagten mir bei Tische, daß eine Sauce, [171] die es gab, tausend Rubel gekostet habe«, erwiderte die Fürstin Mjachkaja mit lauter Stimme, da sie bemerkte, daß die ganze Gesellschaft ihr zuhörte. »Und dabei war es eine ganz scheußliche Sauce, so etwas Grünes. Wir mußten die Einladung erwidern, und da habe ich eine Sauce für fünfundachtzig Kopeken gemacht, und alle waren damit sehr zufrieden. Ich kann keine Saucen für tausend Rubel auf den Tisch bringen.«
»Sie ist einzig!« sagte die Wirtin.
»Bewundernswert!« fügte jemand hinzu.
Der Erfolg, den die Fürstin Mjachkaja mit ihrem Reden hervorbrachte, war stets bedeutend und stets der gleiche, und das Geheimnis dieses Erfolges bestand darin, daß sie zwar manchmal etwas taktlos, wie eben jetzt, aber immer schlicht und einfach, mit Sinn und Vernunft redete. In der Gesellschaft, in der sie sich bewegte, brachten solche Äußerungen stets die Wirkung eines geistreichen Scherzes hervor. Die Fürstin Mjachkaja selbst konnte gar nicht begreifen, woher diese Wirkung kam; aber sie wußte, daß sie sie hervorrief, und nutzte dies aus.
Da alle, während die Fürstin Mjachkaja sprach, ihr zugehört hatten und das Gespräch in der Gruppe um die Frau des Gesandten aufgehört hatte, so machte die Hausfrau einen Versuch, die ganze Gesellschaft zu einer einzigen Gruppe zusammenzuziehen, und wandte sich an die Frau des Gesandten:
»Mögen Sie wirklich keinen Tee? Sie sollten sich zu uns herübersetzen.«
»Nein, wir fühlen uns hier sehr wohl«, erwiderte die Frau des Gesandten lächelnd und fuhr in dem begonnenen Gespräche fort.
Dieses Gespräch war sehr vergnüglich. Sie waren gerade dabei, das Kareninsche Ehepaar zu kritisieren, ihn sowohl wie sie.
»Anna hat sich seit ihrer Moskauer Reise sehr verändert. Sie hat jetzt etwas ganz Sonderbares in ihrem Wesen«, sagte eine ihrer Freundinnen.
»Die Veränderung besteht hauptsächlich darin, daß sie Alexei Wronski als ihren Schatten mitgebracht hat«, bemerkte dazu die Frau des Gesandten.
»Nun, was ist dabei?« sagte einer der Herren. »Es gibt ein Märchen: der Mann ohne Schatten; da hat ein Mann seinen Schatten verloren, und das ist bei ihm die Strafe für irgend etwas, was er getan hat. Ich habe nie recht begreifen können, wie das eine Strafe sein kann. Aber für eine Frau muß es wohl unangenehm sein, keinen Schatten zu haben.«
»Ja, aber die Frauen mit Schatten nehmen gewöhnlich ein schlechtes Ende«, versetzte Annas Freundin.
[172] »Warten Sie nur, Sie werden noch den Zungenkrebs oder so etwas Ähnliches bekommen!« rief auf einmal die Fürstin Mjachkaja, die diese Worte gehört hatte. »Frau Karenina ist eine prächtige Frau. Ihren Mann kann ich nicht leiden, aber sie habe ich sehr gern.«
»Warum können Sie ihn denn nicht leiden?« fragte die Frau des Gesandten. »Er ist doch ein so bedeutender Mann. Mein Mann sagt, solche Staatsmänner wie ihn gebe es nicht viele in Europa.«
»Mein Mann sagt zu mir dasselbe, aber ich glaube es nicht«, versetzte die Fürstin Mjachkaja. »Wenn unsere Männer uns nicht ihre Ansichten vortrügen, dann würden wir die Dinge und Menschen so sehen, wie sie wirklich sind; und Alexei Alexandrowitsch ist meiner Meinung nach einfach dumm. Das sage ich nur ganz leise. – Nicht wahr? Wie da alles auf einmal klar wird! Früher, als man von mir forderte, ich sollte ihn klug finden, da habe ich immer seine Klugheit zu entdecken gesucht und schließlich gedacht, ich müßte doch selbst dumm sein, da ich seine Klugheit gar nicht herausfinden könne. Aber sobald ich mir sagte: ›Er ist dumm‹, aber nur ganz leise, da wurde auf einmal alles klar. Hab ich nicht recht?«
»Wie boshaft Sie heute sind!«
»Ganz und gar nicht. Es bleibt mir kein anderer Ausweg: einer von uns beiden muß dumm sein. Nun, und Sie werden ja wissen, von sich selbst kann man das doch nie glauben.«
»Niemand ist zufrieden mit seinem Vermögen, und jedermann ist zufrieden mit seinem Verstande«, zitierte der Diplomat einen französischen Vers.
»Sehen Sie wohl, sehen Sie wohl, ganz richtig!« wandte sich die Fürstin Mjachkaja lebhaft ihm zu. »Aber was die Hauptsache ist: ich lasse auf Anna nichts kommen. Sie ist eine ganz prächtige, liebe Frau. Was soll sie dagegen tun, wenn alle Menschen sich in sie verlieben und ihr wie ihr Schatten folgen?«
»Aber es kommt mir ja auch gar nicht in den Sinn, sie zu verurteilen«, suchte sich Annas Freundin zu rechtfertigen.
»Wenn uns niemand wie ein Schatten folgt, so beweist das noch nicht, daß wir ein Recht haben, über andere den Stab zu brechen.«
Nachdem die Fürstin Mjachkaja so Annas Freundin gebührendermaßen abgestraft hatte, stand sie auf und ging zusammen mit der Frau des Gesandten zum Tische hin, wo ein allgemeines Gespräch über den König von Preußen im Gange war.
»Wer ist denn da bei Ihnen eben verlästert worden?«
[173] »Die Karenins. Die Fürstin hat uns ein Charakterbild von Alexei Alexandrowitsch entworfen«, antwortete die Frau des Gesandten und setzte sich lächelnd an den Tisch.
»Schade, daß wir das nicht gehört haben!« erwiderte die Hausfrau und blickte nach der Eingangstür. »Ah, da sind Sie ja endlich!« rief sie lächelnd dem eintretenden Wronski zu.
Wronski war nicht nur mit allen, die er da vorfand, bekannt, sondern kam auch täglich mit ihnen allen zusammen, und darum trat er mit jener ruhigen Haltung ein, mit der man in ein Zimmer zu Leuten hereinkommt, die man soeben erst für einen Augenblick verlassen hat.
»Wo ich herkomme?« antwortete er auf die Frage der Frau des Gesandten. »Da hilft nun schon nichts, ich muß es gestehen: aus der komischen Oper im Französischen Theater. Ich bin wohl schon hundertmal dort gewesen und immer mit neuem Vergnügen. Es ist ein wahrer Genuß! Ich weiß, ich sollte mich schämen; aber in der Oper schlafe ich ein, während ich in der komischen Oper bis zum letzten Augenblick aushalte und mich himmlisch unterhalte. Heute ...«
Er nannte eine französische Schauspielerin und wollte etwas über sie erzählen, aber die Frau des Gesandten unterbrach ihn mit scherzhaft geheucheltem Entsetzen: »Bitte, erzählen Sie uns nichts von diesen abscheulichen Sachen!«
»Nun, dann will ich es unterlassen, und das kann ich ja um so eher, da diese abscheulichen Sachen Ihnen allen bekannt sind.«
»Und alle würden die komische Oper genauso besuchen wie jetzt die Oper, wenn es nur Mode wäre«, fügte die Fürstin Mjachkaja hinzu.
1 (engl.) leichte Konversation, Plauderei.
An der Eingangstür wurden Schritte vernehmbar, und die Fürstin Betsy, die wußte, daß es Frau Karenina war, warf einen Blick auf Wronski. Er sah nach der Tür hin, und sein Gesicht zeigte einen neuen, seltsamen Ausdruck. Freudig, unverwandt und doch auch zugleich schüchtern blickte er die Eintretende an und erhob sich langsam. Anna trat in den Salon. Sie hielt sich, wie immer, sehr gerade und legte, ohne die Richtung ihres Blickes zu ändern, mit ihrem schnellen, leichten, festen Schritte, durch den sie sich von dem Gange anderer vornehmer Damen unterschied, die kleine Entfernung zurück, die sie von der Hausfrau trennte, drückte ihr die Hand, lächelte und sah sich mit diesem selben Lächeln nach Wronski um. Wronski verbeugte sich tief und schob ihr einen Stuhl heran.
[174] Sie antwortete nur mit einer Neigung des Kopfes, errötete und machte ein strenges Gesicht. Aber im nächsten Augenblick nickte sie auch schon rasch ihren Bekannten zu, drückte die Hände, die sich ihr entgegenstreckten, und wandte sich zur Hausfrau:
»Ich war bei der Gräfin Lydia und wollte schon früher zu Ihnen kommen, habe mich aber dort etwas zu lange aufgehalten. Sir John war bei ihr. Ein sehr interessanter Mann.«
»Ah, das ist der Missionar?«
»Ja, er erzählte in fesselnder Weise von dem Leben in Indien.«
Das Gespräch, das durch Annas Ankunft unterbrochen war, flackerte wieder auf wie die Flamme einer im Zugwinde stehenden Lampe.
»Sir John! Jawohl, Sir John. Ich habe ihn gesehen. Er spricht sehr gut. Frau Wlasjewna ist ganz verliebt in ihn.«
»Ist das denn wahr, daß das jüngste Fräulein Wlasjewna Herrn Topow heiratet?«
»Ja, es heißt, das sei beschlossene Sache.«
»Ich wundere mich über die Eltern. Es wird gesagt, es sei eine Liebesheirat.«
»Eine Liebesheirat? Was haben Sie für vorsintflutliche Ideen! Wer spricht heutzutage noch von Liebe?« sagte die Frau des Gesandten.
»Was ist zu machen? Diese dumme alte Mode will immer noch nicht abkommen«, bemerkte Wronski.
»Schlimm für die, die sich noch nach dieser Mode richten. Ich kenne nur solche glückliche Ehen, die aus Vernunftgründen geschlossen wurden.«
»Aber wie oft verweht doch auch das Glück solcher Vernunftehen wie Staub eben deswegen, weil jene Leidenschaft auf den Plan tritt, der man vorher keine Berechtigung zugestehen wollte«, erwiderte Wronski.
»Aber Vernunftehen nennen wir diejenigen, bei denen schon beide Teile sich ausgetobt haben. Es ist dieselbe Geschichte wie mit dem Scharlachfieber. Man muß es durchgemacht haben.«
»Dann müßte man ein Verfahren ausfindig machen, jemandem künstlich die Liebe einzuimpfen wie die Pocken.«
»Ich bin in meiner Jugend in einen Küster verliebt gewesen«, sagte die Fürstin Mjachkaja. »Ich weiß nicht, ob mir das geholfen hat.«
»Nein, ohne Scherz, ich glaube, um zu wissen, was Liebe ist, muß man sich erst einmal irren und dann den Irrtum richtigstellen«, meinte die Fürstin Betsy.
»Auch noch nach der Eheschließung?« fragte die Frau des Gesandten scherzhaft.
[175] »Sich zu bessern, dazu ist es nie zu spät«, zitierte der Diplomat ein englisches Sprichwort.
»Ja, so ist es«, fiel Betsy ein, »man muß sich zuerst irren und dann den Irrtum berichtigen. Wie denken Sie darüber?« wandte sie sich an Anna, die mit einem kaum wahrnehmbaren, starren Lächeln auf den Lippen dieses Gespräch mit anhörte.
»Ich denke«, antwortete Anna, mit dem einen ausgezogenen Handschuh spielend, »ich denke ... wie man sagt: wieviel Köpfe, soviel Sinne, so kann man auch sagen: wieviel Herzen, soviel Arten von Liebe.«
Wronski hatte Anna angesehen und mit Herzbeklemmung gewartet, was sie wohl sagen werde. Als sie diese Antwort gegeben hatte, seufzte er auf wie nach einer überstandenen Gefahr.
Anna wandte sich plötzlich an ihn:
»Ich habe einen Brief aus Moskau erhalten. Man schreibt mir, daß Kitty Schtscherbazkaja sehr krank sei.«
»Wirklich?« erwiderte Wronski stirnrunzelnd.
Anna sah ihn mit strengem Blicke an.
»Interessiert Sie das nicht?«
»O doch, sehr. Was schreibt man Ihnen denn Näheres, wenn ich danach fragen darf?« entgegnete er.
Anna stand auf und trat zu Betsy hin.
»Wollen Sie mir eine Tasse Tee geben?« sagte sie, indem sie hinter ihrem Stuhle stehen blieb.
Während Betsy ihr Tee eingoß, kam Wronski wieder zu Anna heran.
»Was schreibt man Ihnen denn?« fragte er noch einmal.
»Ich denke oft, daß die Männer kein Verständnis dafür haben, was unedel ist, obwohl sie soviel davon reden«, sagte Anna, ohne auf seine Frage zu antworten. »Ich wollte Ihnen das schon lange sagen«, fügte sie hinzu; dann ging sie einige Schritte weiter und setzte sich an einen Ecktisch mit Albums.
»Ich verstehe den Sinn Ihrer Worte nicht ganz«, sagte er, indem er ihr die Tasse dorthin brachte.
Sie blickte nach dem freien Platze auf dem Sofa neben dem ihrigen, und er setzte sich sogleich hin.
»Ja, ich wollte Ihnen das sagen«, wiederholte sie, ohne ihn anzusehen. »Sie haben schlecht gehandelt, schlecht, sehr schlecht.«
»Weiß ich das denn etwa nicht selbst, daß ich schlecht gehandelt habe? Aber wer ist die Ursache, daß ich so gehandelt habe?«
»Warum sagen Sie mir das?« erwiderte sie und sah ihn mit einem strengen Blicke an.
»Sie wissen, warum«, antwortete er kühn und freudig, indem er ihrem Blicke begegnete, ohne die Augen niederzuschlagen.
[176] Nicht er, sondern sie wurde verlegen.
»Das beweist nur, daß Sie kein Herz haben«, versetzte sie. Aber ihr Blick sagte, daß sie wisse, er habe ein Herz, und daß sie ihn deshalb fürchte.
»Das, wovon Sie soeben gesprochen haben, war der Irrtum und nicht die Liebe«, sagte Wronski.
»Sie werden sich erinnern, daß ich Ihnen verboten habe, dieses Wort, dieses häßliche Wort auszusprechen«, versetzte Anna zusammenzuckend; aber im gleichen Augenblicke merkte sie, daß sie schon durch die bloße Verwendung des Ausdruckes »ich habe Ihnen verboten« gezeigt habe, daß sie ein gewisses Recht über ihn für sich in Anspruch nehme, und sie sagte sich, daß sie ihn gerade dadurch dazu ermutige, von seiner Liebe zu reden. »Ich habe Ihnen das schon längst sagen wollen«, fuhr sie fort, während sie ihm entschlossen in die Augen blickte und von einer brennenden Glut über das ganze Gesicht errötete, »und heute bin ich absichtlich hierhergekommen, weil ich wußte, daß ich Sie hier träfe. Ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß dies ein Ende nehmen muß. Ich habe noch nie vor jemand zu erröten brauchen; aber Sie erwecken in mir eine Art von Schuldbewußtsein.«
Er sah sie an und war überrascht von der neuen seelischen Schönheit ihres Gesichtes.
»Was verlangen Sie von mir?« fragte er in schlichtem, ernstem Tone.
»Ich verlange, daß Sie nach Moskau reisen und Kitty um Verzeihung bitten«, antwortete sie.
»Das verlangen Sie in Wirklichkeit nicht«, erwiderte er.
Er sah, daß sie etwas gesagt hatte, wozu sie sich selbst erst hatte zwingen müssen und was ihrer wahren Meinung nicht entsprach.
»Wenn Sie mich lieben, wie Sie ja sagen«, flüsterte sie, »so geben Sie mir meine Ruhe wieder.«
Sein Gesicht leuchtete auf.
»Wissen Sie denn nicht, daß Sie für mich das ganze Leben bedeuten? Aber Ruhe kenne ich nicht und kann ich Ihnen nicht geben. Mein ganzes Ich, meine Liebe, – ja. Ich kann mir Sie und mich nicht mehr getrennt denken. Sie und ich sind für mich eines. Und ich sehe in der Zukunft keine Möglichkeit der Ruhe, weder für mich noch für Sie. Ich sehe die Möglichkeit des Unglücks, der Verzweiflung, – und ich sehe die Möglichkeit des Glückes, und welch eines Glückes! – Ist denn etwa dieses Glück nicht möglich?« fügte er nur durch Bewegungen der Lippen hinzu, aber sie glaubte die Worte zu hören.
[177] Sie strengte alle Kräfte ihres Geistes an, um das zu sagen, was zu sagen ihre Pflicht war; aber statt dies zu tun, richtete sie ihren Blick auf ihn, einen Blick voll Liebe, und antwortete gar nichts.
›Da ist es!‹ dachte er voll Jubel. ›In dem Augenblick, da ich schon verzweifelte und alles aussichtslos schien, – nun ist es auf einmal da! Sie liebt mich! Sie gesteht es selbst!‹
»So tun Sie eines um meinetwillen: Sprechen Sie nie wieder solche Worte zu mir, und dann wollen wir gute Freunde sein«, so sprach ihr Mund, aber ihr Blick redete etwas ganz anderes.
»Freunde können wir nicht sein; das wissen Sie selbst. Aber ob wir die glücklichsten oder die unglücklichsten aller Menschen sein werden, das hängt von Ihnen ab.«
Sie wollte etwas sagen, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen:
»Ich bitte ja nur um dies: ich bitte nur um das Recht, weiter hoffen, weiter leiden zu dürfen wie jetzt; aber wenn auch das unmöglich ist, so befehlen Sie mir, zu verschwinden, und ich werde verschwinden. Sie sollen mich nicht mehr sehen, wenn meine Gegenwart Ihnen lästig ist.«
»Ich will Sie nicht vertreiben.«
»Dann lassen Sie, bitte, einfach alles, wie es ist; ändern Sie nichts«, sagte er mit zitternder Stimme. »Da kommt Ihr Mann.«
In der Tat trat in diesem Augenblick Alexei Alexandrowitsch mit seinem ruhigen, plumpen Gang in den Salon.
Nachdem er einen Blick nach seiner Frau und Wronski hin geworfen hatte, ging er zur Hausfrau, setzte sich zu einer Tasse Tee nieder und begann mit seiner langsamen, stets laut vernehmlichen Stimme zu reden, in seinem gewöhnlichen Tone ironischer Neckerei.
»Ihr Rambouillet scheint ja vollzählig versammelt zu sein«, bemerkte er, indem er seinen Blick über die ganze Gesellschaft schweifen ließ. »Die Grazien und die Musen.«
Aber die Fürstin konnte diesen Ton an ihm nicht ausstehen, dieses sneering 1, wie sie es nannte, und verwickelte ihn daher als kluge Wirtin sofort in ein ernsthaftes Gespräch über die allgemeine Wehrpflicht. Alexei Alexandrowitsch geriet bei diesem Gegenstande sogleich in Eifer und begann, nunmehr ganz ernst, das neue Gesetz gegen die Fürstin Betsy zu verteidigen, die es lebhaft bekämpfte.
Wronski und Anna waren an dem kleinen Tisch sitzen geblieben.
»Das fängt aber an, unschicklich zu werden«, flüsterte eine der Damen und wies mit den Augen auf Wronski, Frau Karenina und ihren Mann.
[178] »Nun, was habe ich Ihnen gesagt?« antwortete Annas Freundin.
Aber nicht diese beiden Damen allein, sondern fast alle Gäste, die im Salon waren, sogar die Fürstin Mjachkaja und Betsy selbst, blickten immer wieder nach den beiden hin, die sich von dem allgemeinen Kreise abgesondert hatten, als ob das Zusammensein mit allen sie störe. Nur Alexei Alexandrowitsch sah nicht ein einziges Mal nach jener Seite hinüber und ließ sich von dem interessanten Gespräche, in das er sich eingelassen hatte, nicht ablenken.
Als Betsy bemerkte, welchen unangenehmen Eindruck jene Absonderung auf alle machte, veranlaßte sie jemand anderes, an ihrer Statt die Auseinandersetzungen Alexei Alexandrowitschs anzuhören, und trat zu Anna hin.
»Ich staune immer von neuem über die klare, bestimmte Ausdrucksweise Ihres Mannes«, sagte sie. »Die transzendentalsten Begriffe werden mir verständlich, wenn er über sie spricht.«
»O ja«, antwortete Anna; ihr ganzes Gesicht strahlte von einem glücklichen Lächeln, aber sie hatte auch nicht ein Wort verstanden von dem, was Betsy zu ihr gesagt hatte. Sie ging zu dem großen Tische hinüber und nahm an der allgemeinen Unterhaltung teil.
Nachdem Alexei Alexandrowitsch eine halbe Stunde gesessen hatte, trat er zu seiner Frau und schlug ihr vor, mit ihm zusammen nach Hause zu fahren; aber sie antwortete, ohne ihn anzublicken, sie wolle zum Abendessen dableiben. Alexei Alexandrowitsch verabschiedete sich und ging weg.
Der Kutscher der Frau Karenina, ein alter dicker Tatar in glanzledernem Mantel, hielt an der Ausfahrt nur mit Mühe den linken der beiden Grauen zurück, der frierend sich bäumte. Der Diener stand an dem geöffneten Wagenschlag. Der Pförtner stand gleichfalls an der Außentür, die Hand an der Klinke. Anna Arkadjewna nestelte mit ihrer kleinen, flinken Hand den Spitzenbesatz ihres Kleiderärmels von einem Haken ihres Pelzes los und hörte mit vorgebeugtem Kopf voll Entzücken auf die Worte des sie hinausbegleitenden Wronski.
»Sie haben allerdings nichts gesagt, und ich verlange auch nichts«, sagte er; »aber Sie wissen, daß ich Freundschaft nicht brauchen kann. Für mich ist nur ein Glück im Leben möglich, eben jenes Wort, das Sie so gar nicht leiden mögen, – ja, die Liebe.«
»Die Liebe«, wiederholte sie langsam, wie aus tiefster Brust, und fügte plötzlich in dem Augenblicke, da sie ihre Spitzen los bekommen hatte, hinzu: »Ich mag dieses Wort deshalb nicht [179] leiden, weil es nach meiner Auffassung gar zuviel bedeutet, weit mehr, als Sie sich vorstellen können.« Sie blickte ihm voll ins Gesicht: »Auf Wiedersehen!«
Sie reichte ihm die Hand, ging mit schnellem, elastischem Schritte an dem Pförtner vorbei und verschwand im Wagen.
Ihren Blick und die Berührung ihrer Hand empfand er wie ein sengendes Feuer. Er küßte seine eigene Hand an der Stelle, wo Anna sie berührt hatte, und fuhr hochbeglückt nach Hause in dem Bewußtsein, daß er an dem heutigen Abende größere Fortschritte in der Richtung auf sein Ziel zu gemacht hatte als in den letzten beiden Monaten.
1 (engl.) spötteln.
Alexei Alexandrowitsch hatte nichts Auffälliges und Unschickliches darin gefunden, daß seine Frau mit Wronski an einem besonderen Tisch gesessen und mit ihm ein lebhaftes Gespräch über irgendwelchen Gegenstand geführt hatte; aber er hatte gemerkt, daß dies den anderen Anwesenden eigentümlich und unpassend erschienen war, und darum erschien es ihm gleichfalls unpassend. Er kam zu der Überzeugung, daß er mit seiner Frau darüber sprechen müsse.
Nach Hause zurückgekehrt, ging er, wie er das regelmäßig tat, in sein Arbeitszimmer und setzte sich in seinen Lehnstuhl, schlug ein Buch über das Papsttum an der Stelle auf, wo das Papiermesser eingelegt war, und las wie gewöhnlich bis ein Uhr, aber ab und zu fuhr er sich mit der Hand über die hohe Stirn und schüttelte mit dem Kopfe, wie wenn er etwas wegscheuchen wollte. Zur gewohnten Stunde stand er auf und machte seine Nachttoilette. Anna Arkadjewna war noch nicht heimgekehrt. Mit dem Buche unter dem Arme ging er hinauf; aber während seine Gedanken und Überlegungen sich sonst um dienstliche Angelegenheiten zu drehen pflegten, beschäftigten sie sich am heutigen Abend mit seiner Frau und mit irgend etwas Unangenehmem, das sich mit ihr zugetragen hatte. Gegen seine Gewohnheit legte er sich nicht zu Bett, sondern begann, die Hände mit zusammengehakten Fingern auf dem Rücken haltend, durch die Zimmerreihe hin und her zu wandern. Er konnte sich nicht hinlegen, da er fühlte, daß er vorher unbedingt diesen neu aufgetauchten Umstand nach allen Richtungen durchdenken müsse.
Als Alexei Alexandrowitsch bei sich zu dem Entschlusse gelangt war, mit seiner Frau zu reden, war ihm dies als etwas sehr Leichtes und Einfaches erschienen; aber jetzt, da er diesen [180] neu aufgetauchten Umstand zu durchdenken begann, erschien er ihm als etwas recht Verwickeltes und Schwieriges.
Alexei Alexandrowitsch war nicht eifersüchtig. Eifersucht war nach seiner Anschauung eine Beleidigung für die Gattin; zur Gattin mußte man Vertrauen haben. Warum er Vertrauen haben müsse, das heißt die volle Zuversicht haben müsse, daß seine junge Frau ihn immer lieben werde, das hatte er sich nie gefragt; aber er empfand nie Mißtrauen, daher hatte er eben Vertrauen und sagte sich, daß man es haben müsse. Jetzt nun war seine Überzeugung, daß Eifersucht ein unwürdiges Gefühl sei und daß man Vertrauen haben müsse, allerdings in keiner Weise erschüttert, aber er hatte doch das Gefühl, daß er etwas Unlogischem und Unvernünftigem gegenüberstehe, und wußte nicht, wie er sich zu verhalten habe. Alexei Alexandrowitsch stand jetzt dem wirklichen Leben gegenüber, stand der Möglichkeit gegenüber, daß seine Frau noch jemand anderes als ihn liebe, und dies erschien ihm ganz sinnlos und unbegreiflich, weil es eben das wirkliche Leben war. Von jungen Jahren an hatte Alexei Alexandrowitsch in der Amtsluft gelebt und gearbeitet und es dort immer nur mit einem matten Abglanze des Lebens zu tun gehabt. Und jedesmal, wenn er mit dem wirklichen Leben zusammengestoßen war, war er ihm ausgewichen. Jetzt machte er ein Gefühl durch, ähnlich dem, wie es wohl jemand haben würde, der ruhig auf einer Brücke über einem Abgrunde dahinwandert und auf einmal sieht, daß vor seinen Füßen die Brücke abgebrochen ist und daß dort ein tiefer Schlund gähnt. Dieser tiefe Schlund war das wirkliche Leben, die Brücke jenes künstliche Leben, das Alexei Alexandrowitsch bis jetzt gelebt hatte. Zum ersten Male kam ihm ein Gedanke an die Möglichkeit, daß seine Frau einen anderen lieben könne, und er erschrak tief vor dieser Möglichkeit.
Er kleidete sich nicht aus, sondern ging mit seinem gleichmäßigen Schritte hin und her, über den schallenden Parkettfußboden des Eßzimmers, das nur durch eine Lampe erleuchtet war, über den Teppich des dunklen Salons, wo ein Lichtschimmer nur von seinem eigenen großen Bilde widergespiegelt wurde, das, erst kürzlich angefertigt, über dem Sofa hing, und durch das Zimmer seiner Frau, wo zwei Kerzen brannten und ihr Licht über die Bilder ihrer Verwandten und Freundinnen und über die hübschen, ihm längst wohlbekannten Sächelchen auf ihrem Schreibtische verbreiteten. Durch ihr Zimmer ging er bis an die Tür des Schlafzimmers und kehrte dann wieder um.
Bei jeder Wiederholung dieser Wanderung, und zwar meistenteils auf dem Parkett des erleuchteten Eßzimmers, blieb er [181] stehen und sagte zu sich selbst: ›Ja, es ist unumgänglich nötig, einen Entschluß zu fassen und der Sache ein Ende zu machen; ich muß ihr meine Ansicht darüber und meinen Entschluß mitteilen.‹ Er wandte sich um und ging zurück. ›Aber was soll ich ihr denn eigentlich sagen? Was für einen Entschluß soll ich ihr mitteilen?‹ fragte er sich im Salon und fand darauf keine Antwort. ›Aber schließlich‹, fragte er sich, ehe er in das Zimmer seiner Frau einbog, ›was ist denn eigentlich geschehen? Nichts. Sie hat lange mit ihm gesprochen. Was ist dabei? Warum soll nicht eine Dame in Gesellschaft mit jemandem reden dürfen? Und deswegen eifersüchtig zu sein, das heißt sie und sich selbst erniedrigen‹, sagte er zu sich, während er in ihr Zimmer eintrat. Aber diese Erwägung, die früher bei ihm so stark ins Gewicht gefallen war, hatte jetzt für ihn gar kein Gewicht und gar keine Bedeutung mehr. An der Tür des Schlafzimmers wandte er sich wieder um nach dem Salon zu; aber kaum kam er wieder in den dunklen Salon hinein, so war es, als ob ihm eine Stimme zuflüstere, die Sache verhalte sich doch anders, und wenn es anderen Leuten aufgefallen sei, so folge daraus, daß da doch etwas vorliege. Und dann im Eßzimmer sagte er wieder zu sich: ›Ja, es ist unumgänglich nötig, einen Entschluß zu fassen und der Sache ein Ende zu machen; ich muß ihr meine Ansicht darüber sagen.‹ Und wieder im Salon, ehe er in Annas Zimmer einbog, fragte er sich: ›Welchen Entschluß soll ich denn fassen?‹ Und dann fragte er sich: ›Was ist denn geschehen?‹ und antwortete darauf: ›Nichts‹, und erinnerte sich daran, daß die Eifersucht ein Gefühl sei, durch das man seine Frau herabwürdige; aber wenn er dann wieder im Salon war, kam er doch zu der Überzeugung, daß irgend etwas vorgefallen sei. Seine Gedanken bewegten sich, ebenso wie sein Körper, in einem geschlossenen Kreise, ohne auf etwas Neues zu stoßen. Er bemerkte das, rieb sich die Stirn und setzte sich in Annas Zimmer.
Während er dort auf ihren Tisch blickte, auf dem ein Löscher von Malachit und ein angefangener Brief lagen, nahmen seine Gedanken plötzlich eine andere Richtung. Er begann an Anna selbst zu denken und daran, was sie wohl denken und empfinden möge. Zum ersten Male stellte er sich ihr persönliches Leben, ihre Gedanken, ihre Wünsche vor Augen, und der Gedanke, daß sie ein eigenes, besonderes Leben haben könne und müsse, erschien ihm so furchtbar, daß er sich beeilte, ihn wieder zu verscheuchen. Das war eben jener Abgrund, in den hineinzublicken ihn graute. Sich in die Gedanken und Gefühle eines anderen Wesens zu versetzen, diese geistige Tätigkeit war ihm völlig [182] fremd. Er hielt die geistige Tätigkeit für ein schädliches und gefährliches Spiel der Phantasie.
›Und das Peinlichste ist‹, dachte er, ›daß diese sinnlose Aufregung gerade jetzt auf mich einstürmt, gerade jetzt, da sich mein Werk dem Abschluß nähert (er dachte an ein Unternehmen, an dem er jetzt arbeitete) und da ich vollständiger Ruhe und meiner gesamten geistigen Kräfte bedarf. Aber was ist zu machen? Ich gehöre nicht zu den Menschen, die Unruhe und Aufregung geduldig ertragen und nicht die Kraft haben, ihnen ins Gesicht zu blicken.‹
»Ich muß gründlich überlegen, einen Entschluß fassen und mit der Sache zu Ende kommen«, sagte er laut vor sich hin.
›Nach ihren Gefühlen zu fragen, danach zu fragen, was in ihrer Seele vorgegangen ist und vielleicht noch vorgehen kann, das ist nicht meine Sache; das ist eine Angelegenheit ihres Gewissens und gehört in das Gebiet der Religion‹, sagte er bei sich und empfand eine Art von Erleichterung bei dem Bewußtsein, daß er nun gleichsam die Abteilung des Gesetzbuches gefunden habe, unter die der neu aufgetauchte Umstand falle.
›Somit‹, sagte Alexei Alexandrowitsch zu sich selbst, ›sind die Fragen nach ihren Gefühlen und so weiter Fragen, die nur ihr eigenes Gewissen angehen, mit dem ich naturgemäß nichts zu tun habe. Meine eigene Obliegenheit ist mir klar vorgeschrieben. Als Haupt der Familie bin ich der, der verpflichtet ist, sie, die Ehefrau, zu leiten, und trage daher auch einen Teil der Verantwortung; es liegt mir ob, auf die Gefahr, die ich sehe, hinzuweisen, zu warnen und sogar von der mir zustehenden Macht Gebrauch zu machen. Es ist meine Pflicht, mit ihr zu sprechen.‹
Und nun ordnete sich in seinem Kopfe alles klar und übersichtlich, was er seiner Frau jetzt sagen wollte. Während er so überlegte, was er ihr sagen werde, überkam ihn ein Bedauern, daß er so nur zum Hausgebrauche, ohne damit die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und öffentliche Anerkennung zu finden, seine Zeit und seine Geisteskräfte aufwenden müsse; aber trotzdem bildeten sich in seinem Kopfe klar und bestimmt, wie zu einem amtlichen Vortrage, die Form und der logische Gang der bevorstehenden Rede heraus. ›Folgendes sind die zu erwähnenden und zu erörternden Stücke: erstens: Darlegung der hohen Bedeutung der gesellschaftlichen Meinung und des gesellschaftlichen Anstandes; zweitens: religiöse Darlegung der Bedeutung der Ehe; drittens: wenn nötig, Hinweis auf das möglicherweise für unseren Sohn daraus hervorgehende Unglück; viertens: Hinweis auf ihr eigenes Unglück.‹ Und dabei schob [183] Alexei Alexandrowitsch, mit den Handflächen nach unten, die Finger durcheinander, und die Finger knackten in den Gelenken.
Diese Bewegung, eine schlechte Gewohnheit, die Hände zusammenzulegen und mit den Fingern zu knacken, übte auf ihn immer eine beruhigende Wirkung aus und verhalf ihm zu jenem seelischen Gleichgewicht, das er gerade jetzt so notwendig brauchte. Vor der Haustür ließ sich das Geräusch eines vorfahrenden Geschirrs vernehmen. Alexei Alexandrowitsch blieb mitten im Salon stehen.
Weibliche Schritte kamen die Treppe herauf. Alexei Alexandrowitsch stand da, bereit, seine Rede zu beginnen, drückte seine verschränkten Finger gegeneinander und wartete, ob noch einer knacken werde. Ein Gelenk knackte noch.
Schon bei dem Geräusche der leichten Schritte auf der Treppe hatte er die Nähe seiner Frau gefühlt, und wiewohl er mit seiner Rede zufrieden war, war ihm doch vor der bevorstehenden Auseinandersetzung bange.
Anna trat ein; sie hielt den Kopf gesenkt und spielte mit den Quasten ihres Baschliks. Ihr Gesicht strahlte von einem hellen Glanze; aber dieser Glanz war nicht heiter; er erinnerte an den furchtbaren Schein einer Feuersbrunst mitten in dunkler Nacht. Als Anna ihren Mann erblickte, hob sie den Kopf in die Höhe und lächelte, wie aus dem Schlafe erwachend, ihm zu.
»Du noch nicht im Bett? Nun, das ist ein Wunder!« sagte sie, warf den Baschlik ab und ging, ohne stehenzubleiben, weiter nach ihrem Ankleidezimmer. »Es ist Zeit, Alexei Alexandrowitsch«, sagte sie, als sie schon fast aus der Tür war.
»Anna, ich habe mit dir zu sprechen.«
»Mit mir?« erwiderte sie erstaunt, trat von der Tür wieder zurück und sah ihn an. »Was gibt es denn? Worüber?« fragte sie und setzte sich hin. »Nun, dann können wir ja miteinander sprechen, wenn es nötig ist. Aber wir täten besser, zu schlafen.«
Anna redete, was ihr gerade in den Sinn kam, und war, während sie sich reden hörte, selbst erstaunt darüber, daß sie so gut zu lügen verstand. Wie harmlos und natürlich klangen ihre Worte, und wie glaubhaft war es, daß sie sich einfach müde fühlte! Sie fühlte sich in einen undurchdringlichen Panzer der Lüge gehüllt. Sie hatte die Empfindung, als ob eine unsichtbare Kraft ihr beistünde und sie aufrechterhielte.
»Anna, ich muß dich warnen«, sagte er.
[184] »Warnen?« erwiderte sie. »Wovor?«
Sie machte ein so harmloses, heiteres Gesicht, daß jemand, der sie nicht so genau kannte wie ihr Mann, nichts Unnatürliches an ihr hätte bemerken können, weder am Klange ihrer Worte noch an deren Inhalt. Aber für ihn, der sie genau kannte und wußte, daß, wenn er sich einmal auch nur fünf Minuten später hinlegte als gewöhnlich, sie es bemerkte und ihn nach dem Grunde fragte, für ihn, der wußte, daß sie alle ihre Freuden, ihre Lust und ihren Kummer immer sofort mit ihm teilte, für ihn war jetzt von vielsagender Bedeutung die Wahrnehmung, daß sie seinen Zustand nicht bemerken und daß sie über sich selbst kein Wort sagen wollte. Er sah, daß die Tiefen ihrer Seele, die früher immer offen vor seinem Blick dagelegen hatten, ihm jetzt verschlossen waren. Und damit nicht genug: an ihrem Ton merkte er, daß sie darüber gar nicht einmal verlegen war, sondern ihm gleichsam geradezu sagte: ›Ja, meine Seele ist für dich verschlossen, und das soll so sein und wird künftig so bleiben.‹ Jetzt hatte er eine Empfindung, wie wenn jemand nach Hause zurückgekehrt ist und sein Haus verschlossen findet. ›Aber vielleicht ist der Schlüssel noch zu finden‹, dachte Alexei Alexandrowitsch.
»Ich möchte dich davor warnen«, sagte er leise, »aus Unvorsichtigkeit und Leichtsinn den Leuten Anlaß zu Gerede über dich zu geben. Deine heutige gar zu lebhafte Unterhaltung mit dem Grafen Wronski (er sprach diesen Namen mit fester, ruhiger Stimme in aller Deutlichkeit aus) hat Aufsehen erregt.«
Während er das sagte, blickte er in ihre lachenden Augen, die ihm jetzt in ihrer Undurchdringlichkeit so furchtbar waren, und fühlte schon während des Redens die ganze Nutzlosigkeit und Vergeblichkeit seiner Worte.
»So bist du immer«, antwortete sie, wie wenn sie ihn gar nicht verstanden hätte; sie tat absichtlich so, als habe sie von dem, was er gesagt hatte, nur das letzte verstanden. »Bald ist es dir nicht recht, wenn ich müde und gleichgültig bin, und ein andermal nicht, wenn ich lebhaft und lustig bin. Ich habe mich gut unterhalten. Ärgert dich das?«
Alexei Alexandrowitsch zuckte zusammen und bog die ineinandergelegten Hände, um mit den Fingern zu knacken.
»Ach, bitte, knacke nicht; das ist mir so zuwider!« sagte sie.
»Anna, bist du es denn wirklich?« fragte Alexei Alexandrowitsch leise, indem er sich Gewalt antat und jene Bewegung der Hände unterließ.
»Was ist denn eigentlich los?« sagte sie mit anscheinend aufrichtiger, komischer Verwunderung. »Was willst du von mir?«
[185] Alexei Alexandrowitsch schwieg eine Weile und rieb sich mit der Hand die Stirn und die Augen. Er sah, daß er, statt das zu tun, was er wollte, nämlich seine Frau vor einem falschen Schritt in den Augen der Welt zu warnen, sich wider seine Absicht über etwas aufregte, was nur ihr Gewissen betraf, und gleichsam gegen eine Mauer ankämpfte, die nur in seiner Einbildung bestand.
»Was ich dir sagen wollte«, fuhr er kühl und ruhig fort, »ist folgendes, und ich bitte dich, mich anzuhören. Ich halte, wie du weißt, die Eifersucht für ein beleidigendes und erniedrigendes Gefühl, und es wird mir nie in den Sinn kommen, mich von diesem Gefühle leiten zu lassen; aber es gibt gewisse Gesetze des Anstandes, die man nicht ungestraft übertreten kann. Aber heute – und das habe nicht eigentlich ich bemerkt, sondern, nach dem Eindruck zu urteilen, den es auf die Gesellschaft gemacht hat, haben es alle bemerkt –, heute hast du dich nicht ganz so benommen und gehalten, wie man es hätte wünschen mögen.«
»Ich verstehe dich schlechterdings nicht«, entgegnete Anna achselzuckend. (›Ihm selbst ist es ganz gleich‹, dachte sie. ›Aber in der Gesellschaft hat es Aufsehen erregt, und das beunruhigt ihn.‹) »Du bist krank, Alexei Alexandrowitsch«, fügte sie hinzu, stand auf und wollte nach der Tür gehen; aber er machte eine Bewegung vorwärts, wie wenn er sie zurückhalten wollte.
Sein Gesicht war entstellt und finster, wie Anna es noch niemals gesehen hatte. Sie blieb stehen, und indem sie den Kopf nach hinten und zur Seite bog, begann sie mit ihrer flinken Hand die Haarnadeln herauszunehmen.
»Nun schön, dann will ich hören, was noch weiter kommt«, sagte sie in ruhigem, spöttischem Tone. »Ich will sogar recht aufmerksam zuhören, weil ich gern begreifen möchte, worum es sich eigentlich handelt.«
Sie sprach und wunderte sich dabei über den natürlich klingenden, ruhigen, sicheren Ton, in dem sie sprach, und über die geschickte Auswahl der Worte, deren sie sich bediente.
»In alle Einzelheiten deiner Gefühle einzudringen, dazu habe ich kein Recht, und ich halte das überhaupt für nutzlos oder sogar für schädlich«, begann Alexei Alexandrowitsch. »Wenn wir im tiefsten Grunde unserer Seele herumwühlen, so wühlen wir dabei oft Dinge heraus, die lieber dort unbemerkt hätten liegenbleiben sollen. Deine Gefühle, das ist etwas, was nur dein Gewissen angeht; aber ich habe dir gegenüber, mir selbst gegenüber und vor Gott die Pflicht, dich auf deine Pflichten hinzuweisen. Dein Leben ist mit dem meinigen nicht durch Menschen zusammengefügt worden, sondern durch Gott. Zerrissen [186] kann dieses Band nur durch ein Verbrechen werden, und ein derartiges Verbrechen zieht unweigerlich seine Strafe nach sich.«
»Ich begreife nichts von dem, was du da sagst. Ach, mein Gott, und unglücklicherweise bin ich so furchtbar müde!« sagte sie und wühlte dabei eilig mit der Hand in den Haaren, um die noch darin gebliebenen Haarnadeln herauszusuchen.
»Anna, um Gottes willen, sprich nicht so!« sagte er sanft. »Vielleicht irre ich mich; aber sei überzeugt: was ich sage, das sage ich ebensowohl in deinem wie in meinem Interesse. Ich bin ja doch dein Mann und liebe dich.«
Einen Augenblick hatte sie ihr Gesicht sinken lassen, und das spöttische Funkeln in ihrem Blicke war erloschen; aber die Wendung ›Ich liebe dich‹ versetzte sie wieder in Erregung. Sie dachte: ›Er liebt mich? Kann er denn überhaupt lieben? Wenn er nicht gehört hätte, daß es so etwas wie Liebe gibt, so würde er sich dieses Ausdrucks überhaupt nie bedienen. Er weiß gar nicht, was eigentlich Liebe ist.‹
»Alexei Alexandrowitsch, wirklich, ich verstehe dich nicht«, entgegnete sie. »Erkläre mir deutlicher, was deiner Ansicht nach ...«
»Bitte, laß mich zu Ende reden! Ich liebe dich. Aber ich will nicht von mir sprechen; die Hauptbeteiligten sind hier unser Sohn und du selbst. Ich sage noch einmal: Es ist sehr leicht möglich, daß meine Worte dir völlig unnütz und unangebracht erscheinen; vielleicht sind sie lediglich durch einen Irrtum meinerseits veranlaßt. In diesem Falle bitte ich dich um Entschuldigung. Aber wenn du selbst fühlst, daß zu meinen Worten ein begründeter Anlaß vorliegt, mag er auch noch so geringfügig sein, so bitte ich dich, sie wohl zu erwägen und, wenn dein Herz dich dazu treibt, alles frei und offen mir gegenüber auszusprechen.«
Alexei Alexandrowitsch sagte, ohne es selbst gewahr zu werden, etwas ganz anderes, als er sich vorher für seine Rede zurechtgelegt hatte.
»Ich habe dir nichts zu sagen. Ja, und dann ...«, setzte sie auf einmal hastig hinzu, indem sie nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte, »es ist wirklich Zeit, schlafen zu gehen.«
Alexei Alexandrowitsch seufzte und begab sich, ohne weiter ein Wort zu sagen, in das Schlafzimmer.
Als sie ins Schlafzimmer kam, lag er bereits. Seine Lippen waren mit einem strengen Ausdruck aufeinandergepreßt, und seine Augen sahen sie nicht an. Anna legte sich in ihr Bett und erwartete jeden Augenblick, daß er noch einmal anfangen werde, mit ihr zu reden. Sie fürchtete, daß er dies tun werde, und wünschte es doch zugleich. Aber er schwieg. Lange wartete [187] sie, ohne sich zu rühren, und vergaß ihn schließlich ganz. Sie dachte an den anderen; sie glaubte ihn zu sehen, und sie fühlte, wie ihr Herz bei dieser Vorstellung sich mit Unruhe und verbrecherischer Freude füllte. Plötzlich hörte sie ein gleichmäßiges ruhiges Pfeifen durch die Nase. Im ersten Augenblick schien Alexei Alexandrowitsch über sein eigenes Pfeifen zu erschrecken und hielt damit inne; aber nachdem das Pfeifen zwei Atemzüge übersprungen hatte, ertönte es wieder von neuem mit ruhiger Gleichmäßigkeit.
›Es ist zu spät, es ist schon zu spät!‹ flüsterte sie lächelnd. Sie lag lange regungslos mit offenen Augen da, und es kam ihr vor, als könne sie selbst den Glanz ihrer eigenen Augen in der Dunkelheit sehen.
Mit diesem Tage begann für Alexei Alexandrowitsch und seine Frau ein neues Leben. Äußerlich hatte sich nichts Besonderes begeben. Anna verkehrte wie bisher in der Gesellschaft und besuchte besonders häufig die Fürstin Betsy, und überall traf sie mit Wronski zusammen. Alexei Alexandrowitsch sah dies zwar, konnte aber nichts dagegen tun. Sooft er versuchte, sie zu einer Aussprache zu veranlassen, stellte sie ihm die undurchdringliche Mauer heiterer Verständnislosigkeit entgegen. Äußerlich war alles unverändert geblieben; aber ihr innerliches Verhältnis hatte sich vollständig umgestaltet. Alexei Alexandrowitsch, ein so mächtiger Mann im Staatsdienste, fühlte sich hier machtlos. Wie ein Stier, der, sich in sein Schicksal ergebend, den Kopf senkt, erwartete er den Hieb der Axt, die, wie er fühlte, schon über ihm schwebte. Jedesmal, sooft er darüber nachzudenken begann, sagte er sich, er müsse es noch einmal versuchen; es sei noch Hoffnung vorhanden, daß es durch Güte, durch Zärtlichkeit und durch Überredung gelingen werde, sie zu retten, sie zur Besinnung zu bringen, und täglich nahm er sich vor, mit ihr zu sprechen. Aber jedesmal, wenn er mit ihr zu sprechen begann, hatte er die Empfindung, daß jener Geist des Bösen und der Lüge, der sie beherrschte, auch ihn unter seine Herrschaft zwang und daß er ihr etwas ganz anderes sagte, als was er ihr hatte sagen wollen, und daß er es auch in einem ganz anderen Tone sagte, als er beabsichtigt hatte. Unwillkürlich sprach er mit ihr in seinem gewöhnlichen ironischen Tone, der immer so klang, als wolle er sich über den lustig machen, der in dieser Weise spräche. In diesem Tone aber konnte er ihr unmöglich das sagen, was zu sagen notwendig war.
[188]Was fast ein ganzes Jahr lang für Wronski den einzigen Wunsch seines Lebens gebildet hatte, der in seiner Seele an die Stelle aller früheren Wünsche getreten war; was für Anna ein unmöglicher, furchtbarer und um so entzückenderer Traum des Glückes gewesen war: dieser Wunsch hatte seine Erfüllung gefunden. Bleich, mit zitterndem Unterkiefer, stand er da und beugte sich zu der vor ihm sitzenden Anna hinab; er beschwor sie, sich zu beruhigen, ohne daß er selbst gewußt hätte, inwiefern und womit.
»Anna, Anna!« sagte er mit bebender Stimme. »Anna, um Gottes willen!«
Aber je lauter er sprach, um so tiefer senkte sie ihr einst so stolzes, heiteres, jetzt von Scham übergossenes Antlitz hinab; sie krümmte sich ganz zusammen und glitt von dem Sofa, auf dem sie saß, auf den Boden nieder, zu seinen Füßen; ja, sie wäre mit dem ganzen Körper auf den Teppich hingesunken, wenn er sie nicht gehalten hätte.
»Um Gottes willen! Vergib mir!« schluchzte sie und drückte seine Hände an ihre Brust.
Sie fühlte sich so sehr als Sünderin und Verbrecherin, daß ihr nichts blieb, als sich zu demütigen und um Verzeihung zu flehen; aber im Leben hatte sie jetzt niemanden außer ihm, so daß sie auch ihre Bitte um Verzeihung an ihn richtete. Während sie ihn anblickte, fühlte sie mit körperlichem Schmerze ihre Erniedrigung und war nicht imstande, weiterzusprechen. Er aber hatte eine Empfindung, wie sie ein Mörder haben mag, wenn er den Körper anblickt, den er des Lebens beraubt hat. Dieser Körper, den er des Lebens beraubt hatte, war seine und Annas Liebe, die erste Periode dieser Liebe. Es lag etwas Furchtbares, Abstoßendes in dem Gedanken an das, was mit diesem entsetzlichen Preis, der Schande, erkauft war. Anna war wie zermalmt von Scham über ihre seelische Nacktheit, und diese Scham teilte sich ihm mit. Aber trotz allem Entsetzen, das den Mörder vor dem Leichnam des Ermordeten ergreift, muß er diesen Leichnam in Stücke schneiden und verstecken und muß sich das aneignen und zunutze machen, was er durch den Mord erworben hat.
Mit Ingrimm, mit einer wahren Leidenschaft stürzt sich der Mörder auf den Leichnam, zerrt ihn hin und her und zerstückelt ihn; und so bedeckte auch Wronski jetzt Annas Gesicht und Schultern mit Küssen. Sie hielt seine Hand in der ihrigen und rührte sich nicht. ›Ja, diese Küsse, die sind nun das, was für [189] diese Schande erkauft ist. Ja, und diese Hand, die nun immer mir gehören wird, ist die Hand meines Mitschuldigen.‹ Sie hob diese Hand an ihre Lippen und küßte sie. Er ließ sich auf die Knie nieder und wollte ihr Gesicht sehen, aber sie verbarg es und sprach kein Wort. Schließlich, wie wenn sie sich mit Gewalt dazu zwänge, richtete sie sich auf und schob ihn zurück. Ihr Gesicht war noch ebenso schön wie früher, aber einen um so bejammernswerteren Eindruck machte es.
»Alles ist aus!« sagte sie. »Ich habe auf der Welt niemand mehr als dich. Vergiß das nicht!«
»Ich kann das nicht vergessen, was mein ganzes Lebensglück ausmacht. Für einen Augenblick dieses Glückes ...«
»Was ist das für ein Glück!« unterbrach sie ihn voll Ekel und Entsetzen, und dieses Entsetzen teilte sich unwillkürlich auch ihm mit. »Um Gottes willen, kein Wort mehr, kein Wort!«
»Kein Wort mehr!« wiederholte sie, und mit einem Ausdrucke kalter Verzweiflung im Gesicht, der ihm überraschend war, schied sie von ihm. Sie war sich bewußt, daß sie dieses Gefühl der Scham, der Freude, der Bangigkeit vor dem Eintritt in ein neues Leben in diesem Augenblicke nicht mit Worten auszudrücken imstande war, und mit unzutreffenden Worten mochte sie von diesem Gefühl nicht reden, es nicht in entstellter Form wiedergeben. Aber auch später, am folgenden und am dritten Tage, fand sie keine Worte, mit denen sie die seltsame Mischung dieser Gefühle hätte ausdrücken können, ja sie fand auch nicht einmal die erforderliche Klarheit des Geistes, um bei sich selbst alles überdenken zu können, was ihre Seele erfüllte.
Sie sagte sich: ›Nein, jetzt kann ich nicht darüber nachdenken; später, wenn ich ruhiger geworden sein werde.‹
Aber diese Beruhigung des Geistes trat bei ihr nie ein; jedesmal, wenn der Gedanke vor ihre Seele trat, was sie getan habe und was nun aus ihr werden solle und was sie nun tun müsse, überkam sie ein Grauen, und sie scheuchte diesen Gedanken von sich.
›Später, später‹, sagte sie, ›wenn ich ruhiger sein werde.‹
Dafür aber trat ihr im Traume, wo sie über ihre Gedanken keine Gewalt hatte, ihre Lage in ihrer ganzen häßlichen Nacktheit vor die Seele. Ein bestimmter Traum stellte sich bei ihr fast in jeder Nacht ein. Es träumte ihr, die beiden Männer wären gleichzeitig ihre Gatten und überschütteten sie beide mit Liebkosungen. Alexei Alexandrowitsch weinte, küßte ihr die Hände und sagte: ›O wie schön ist es jetzt!‹ Und Alexei Wronski war auch da und war ebenfalls ihr Gatte. Und sie wunderte sich darüber, daß ihr dies früher unmöglich erschienen war, und [190] erklärte ihnen lachend, so sei die Sache weit einfacher, und nun könnten sie beide zufrieden und glücklich sein. Aber dieser Traum lastete immer auf ihr wie ein Alp, und sie erwachte vor Angst.
In der ersten Zeit nach seiner Rückkehr aus Moskau sagte sich Ljewin jedesmal, wenn er bei der Erinnerung an die ihm widerfahrene Schmach der Abweisung zusammenzuckte und errötete: ›Ebenso errötete ich und zuckte zusammen und hielt alles für verloren, als ich auf der Universität in der Physik das Prädikat »nicht genügend« bekam und im zweiten Kursus sitzenblieb; und ebenso meinte ich nachher, ich müßte zugrunde gehen, weil ich eine mir anvertraute Angelegenheit meiner Schwester verdorben hatte. Und wie ist's nachher gekommen? Jetzt, nachdem Jahre darüber vergangen sind, erinnere ich mich daran und wundere mich, wie ich mich über diese Dinge so habe grämen können. Ebenso wird es auch mit diesem Kummer sein. Die Zeit wird dahingehen, und ich werde auch dagegen gleichgültig werden.‹
Aber es gingen drei Monate dahin, und er war noch nicht gleichgültig dagegen geworden, und die Erinnerung daran war ihm noch ebenso schmerzlich wie in den ersten Tagen. Er konnte sich nicht beruhigen; denn nachdem er so lange in dem Gedanken an ein Familienleben geschwelgt und mit solcher Bestimmtheit sich für ein solches reif erachtet hatte, war er nun doch nicht verheiratet, ja weiter als je von der Heirat entfernt. Mit Schmerz war er sich bewußt – und alle Leute in seiner Umgebung waren derselben Meinung –, daß es für einen Mann in seinen Jahren nicht gut sei, allein zu sein. Er erinnerte sich, wie er vor seiner Abreise nach Moskau einmal zu seinem Viehknecht Nikolai, einem biederen Menschen, mit dem er gern ab und zu plauderte, gesagt hatte: »Was sagst du dazu, Nikolai? Ich will heiraten!« und wie Nikolai, als handele es sich um eine Sache, bei der gar kein Zweifel möglich sei, ohne Besinnen geantwortet hatte: »Das hätten Sie schon längst tun sollen, Konstantin Dmitrijewitsch!« Aber die Heirat lag für ihn jetzt in weiterer Ferne als je. Der Platz in seinem Herzen war ausgefüllt, und wenn er jetzt in Gedanken an diesen Platz irgendeines der jungen Mädchen aus seinem Bekanntenkreise zu setzen versuchte, so fühlte er, daß dies völlig unmöglich sei. Außerdem erfüllte ihn die Erinnerung an seine Abweisung und an die Rolle, die er dabei gespielt hatte, mit peinigender Scham. Wie[191] oft er sich auch sagen mochte, daß ihn ja keine Schuld dabei treffe, so ließ ihn doch diese Erinnerung, ebenso wie andere derartige beschämende Erinnerungen, zusammenzucken und erröten. Es gab in seiner Vergangenheit, wie in der eines jeden Menschen, schlechte Handlungen, deren er sich bewußt war und um derentwillen sein Gewissen ihn hätte quälen sollen; aber die Erinnerung an diese schlechten Handlungen quälte ihn lange nicht so wie manche nichtigen, aber beschämenden Erinnerungen. Diese Wunden vernarbten nie. Und zu diesen Erinnerungen hatte sich jetzt die an seine Abweisung und an die klägliche Rolle gesellt, die er wohl an jenem Abende vor den Augen anderer gespielt haben mußte. Aber die Zeit und die Arbeit taten schließlich doch ihr Werk. Jene bedrückende Erinnerung wurde in seinem Geiste immer mehr und mehr von den kleinen, aber doch wichtigen Ereignissen des Landlebens in den Hintergrund gedrängt. Mit jeder Woche dachte er seltener an Kitty. Ungeduldig erwartete er die Nachricht, daß sie bereits verheiratet sei oder sich in den nächsten Tagen verheiraten werde; denn er hoffte, daß diese Nachricht wie das Ausziehen eines Zahnes ihn vollständig heilen werde.
Unterdessen war der Frühling gekommen, ein schöner, freundlicher Frühling, der keine zu großen Erwartungen erregt und dafür auch keine Enttäuschungen gebracht hatte, einer jener seltenen Frühlinge, über die sich Pflanzen, Tiere und Menschen zugleich freuen. Dieser schöne Frühling half noch weiter, Ljewin wieder frisch und munter zu machen, und bestärkte ihn in seinem Vorsatze sich von der gesamten Vergangenheit loszusagen, um sein lediges Leben fest und unabhängig zu gestalten. Gar manche von den Plänen, mit denen er auf das Land zurückgekehrt war, hatte er zwar nicht ausführen können, aber doch gerade den wichtigsten: er hatte die Reinheit seines Lebenswandels bewahrt. Er blieb jetzt frei von dem Schamgefühl, das ihn gewöhnlich nach einem Fehltritte gequält hatte, und konnte den Menschen unbefangen in die Augen sehen. Es war noch im Februar gewesen, als er von Marja Nikolajewna einen Brief erhalten hatte, daß der Gesundheitszustand seines Bruders Nikolai sich verschlimmert habe, er wolle aber trotzdem von einer Kur nichts wissen. Infolge dieses Briefes war Ljewin zu seinem Bruder nach Moskau gefahren und hatte diesen durch Überredung dahin gebracht, einen Arzt zu befragen und nach einem Badeort ins Ausland zu fahren. Es war ihm so gut gelungen, den Bruder zu überreden und ihm Geld zur Reise zu borgen, ohne ihn dadurch in Erregung zu versetzen, daß er in dieser Hinsicht mit sich recht wohl zufrieden war. Außer der [192] Wirtschaft, die im Frühjahr besondere Achtsamkeit erforderte, und außer seiner üblichen Lektüre hatte Ljewin in diesem Winter noch begonnen, eine landwirtschaftliche Abhandlung zu schreiben, deren Hauptgedanke folgender war: Man müsse in der Landwirtschaft den Charakter des Arbeiters als eine schlechthin gegebene Größe auffassen, genauso wie das Klima und die Bodenbeschaffenheit; und folglich müßten alle Lehrsätze der landwirtschaftlichen Wissenschaft nicht aus zwei gegebenen Größen, dem Klima und der Bodenbeschaffenheit, sondern aus dreien, dem Klima, der Bodenbeschaffenheit und dem bekannten unveränderlichen Charakter des Arbeiters abgeleitet werden. So hatte denn, obgleich er so allein dastand oder auch gerade deswegen, sein Leben einen vollen Inhalt; nur empfand er bisweilen den unbefriedigten Wunsch, die in seinem Kopfe gärenden Gedanken noch sonst jemandem außer Agafja Michailowna mitteilen zu können; denn es kam nicht selten vor, daß er sich auch mit ihr über Physik, über Theorie der Landwirtschaft und namentlich über Philosophie unterhielt; die Philosophie war Agafja Michailownas Lieblingsfach.
Der Frühling hatte lange nicht recht zum Durchbruch kommen wollen. Die letzten Fastenwochen hatten klares Frostwetter gebracht. Bei Tage taute es zwar in der Sonne, aber in der Nacht sank das Thermometer auf sieben Grad unter Null; die Eisrinde auf dem Schnee war so stark, daß die Frachtfuhren ohne Weg darüber hinfuhren. Zu Ostern lag der Schnee noch überall. Da begann plötzlich am zweiten Feiertage ein warmer Wind zu wehen, dunkle Wolken wälzten sich heran, und drei Tage und drei Nächte lang strömte ein gewaltiger warmer Regen hernieder. Am Donnerstag legte sich der Wind, und es breitete sich ein dichter, grauer Nebel aus, als ob er die Geheimnisse der in der Natur sich vollziehenden Veränderungen verbergen wollte. In dem Nebel fingen die Gewässer an zu strömen, die Eisdecke barst, und die Schollen setzten sich in Bewegung; schneller strömten die trüben, schäumenden Flüsse dahin, und gerade am Sonntag nach Ostern gegen Abend zerriß der Nebel, das dunkle Gewölk löste sich in weiße Lämmerwölkchen auf, der Himmel klärte sich, und dann brach der richtige Frühling an. Morgens verzehrte die aufsteigende, hell strahlende Sonne schnell die dünne Eisschicht, die nachts das Wasser überzogen hatte, und die ganze warme Luft zitterte von den sie erfüllenden Ausdünstungen der neu belebten Erde. Es grünte das alte Gras und nicht minder das junge, das seine Spitzen aus dem Boden hervorstreckte; die Knospen der Schneeballsträucher, der Johannisbeersträucher und der klebrigen, von berauschendem [193] Safte strotzenden Birken schwollen, und auf den mit goldgelben Blütenkätzchen überdeckten Weidensträuchern summten die aus ihren Körben hervorgekommenen umherfliegenden Bienen. Unsichtbare Lerchen schmetterten über dem grünen Samt der mit Winterfrucht bestellten Äcker und über den noch vereisten Stoppelfeldern; über den Sümpfen und über den Niederungen, die mit braunem, noch nicht abgelaufenem Wasser bedeckt waren, ließen die Kiebitze ihren klagenden Schrei ertönen, und hoch oben flogen mit frühlingsfreudigem Rufen die Kraniche und die wilden Gänse vorüber. Auf den Triften brüllten die Rinder, die gehaart hatten und nur an einzelnen Stellen des Körpers damit noch nicht ganz fertig waren; krummbeinige Lämmchen spielten um die blökenden Mutterschafe, die ihre Wolle verloren; schnellfüßige Kinder liefen über die auftrocknenden Fußwege hin, auf denen dann die Abdrücke ihrer bloßen Füße zurückblieben; am Teiche schnatterten die munteren Stimmen der Bauernweiber, die dort Leinwand wuschen, und auf den Höfen erschollen die Beilschläge der Bauern, die die Pflüge und Eggen zurechtmachten. Der richtige Frühling war gekommen.
Ljewin zog hohe Stiefel an und zum ersten Male nicht den Pelz, sondern einen Tuchrock und ging durch seine Wirtschaft; er schritt durch kleine Bäche hindurch, die durch ihr Glitzern im Sonnenschein die Augen blendeten, und trat dabei bald auf Eisstücke, bald in zähen Schmutz.
Der Frühling ist die Zeit der Pläne und Vorsätze. Wie der Baum im Frühling noch nicht weiß, wohin und wie sich später die jungen Triebe und Zweige ausbreiten werden, die noch in den geschwellten Knospen eingeschlossen liegen, so wußte auch Ljewin, als er auf den Hof hinaustrat, selbst noch nicht recht, an welche Unternehmungen er sich in seiner geliebten Wirtschaft jetzt heranmachen werde; aber er fühlte, daß er voll der besten Pläne und Vorsätze sei. Vor allen Dingen ging er zum Vieh. Die Kühe waren in das Gehege hinausgelassen; ihr glattes, neues Fell glänzte nur so; sie wärmten sich in der Sonne und verlangten brüllend nach der Weide. Mit Behagen musterte Ljewin die ihm bis in die kleinsten Einzelheiten bekannten Kühe und ordnete an, sie auf die Weide zu treiben und in das Gehege die Kälber hineinzulassen. Der Hirt lief fröhlich weg, um sich für den Aufbruch nach der Weide zurechtzumachen. Die Viehmägde, in aufgeschürzten Röcken, mit den bloßen, [194] noch weißen, von der Sonne noch nicht verbrannten Füßen durch den Schmutz patschend, liefen mit langen Ruten hinter den blökenden Kälbern her und trieben sie auf den Hof hinaus.
Nachdem Ljewin die ungewöhnlich gute Zuzucht dieses Jahres vergnügt betrachtet hatte – die frühen Kälber waren von der Größe einer Bauernkuh, und Pawas drei Monate altes Kalb war so groß wie die einjährigen –, ließ er ihnen einen Futtertrog herausbringen und Heu in die Raufen stecken. Aber es stellte sich heraus, daß die Raufen, die er erst im letzten Herbst für das im Winter nicht benutzte Gehege hatte anfertigen lassen, zerbrochen waren. Er schickte nach dem Zimmermann, der dem erhaltenen Auftrage gemäß die Dreschmaschine in Ordnung bringen sollte. Aber es zeigte sich, daß der Zimmermann noch mit der Ausbesserung der Eggen beschäftigt war, die doch schon in der Butterwoche hätten instand gesetzt sein sollen. Darüber war Ljewin sehr ärgerlich. Es war doch auch zu verdrießlich, daß in der Wirtschaft diese ewige Unordnung gar nicht aufhören wollte, gegen die er nun schon so viele Jahre mit aller Kraft ankämpfte. Die Raufen, die im Winter im Gehege nicht gebraucht wurden, waren, wie er nun erfuhr, in den Stall der Arbeitspferde hinübergebracht worden und dort entzweigegangen, da sie, für die Kälber bestimmt, nur leicht zusammengezimmert waren. Außerdem wurde bei diesem Anlaß klar, daß die Eggen und alle anderen Ackergeräte, die nach seiner Anordnung noch im Winter hätten nachgesehen und ausgebessert werden sollen, wozu er eigens drei Zimmerleute hatte annehmen lassen, noch nicht ausgebessert waren und das Ausbessern der Eggen erst jetzt vorgenommen wurde, wo schon geeggt werden sollte. Ljewin schickte nach dem Verwalter, ging aber dann sogleich selbst, um ihn zu suchen. Mit fröhlich strahlendem Gesichte, wie alles an diesem Tage, kam der Verwalter, in einem kurzen Schafpelz mit Lammfellbesatz, von der Tenne her; er zerknickte in den Händen einen Strohhalm.
»Warum ist der Zimmermann nicht bei der Dreschmaschine?«
»Ja, ich wollte es schon gestern melden: die Eggen müssen ausgebessert werden. Wir müssen ja schon pflügen.«
»Warum ist das nicht im Winter besorgt worden?«
»Wozu wünschen Sie denn den Zimmermann?«
»Wo sind die Raufen vom Kälberhof?«
»Ich habe veranlaßt, sie an ihren Platz zu bringen. Aber ich bitte Sie, was soll man mit solchem Volke anfangen!« erwiderte der Verwalter mit einer geringschätzigen Handbewegung.
»Nicht mit solchem Volke, sondern mit einem solchen Verwalter!« brauste Ljewin auf. »Wozu halte ich Sie mir denn [195] eigentlich?« schrie er. Aber da er sich sagte, daß damit nichts gebessert werde, brach er mitten in seiner Scheltrede ab und seufzte nur. »Nun, wie ist's? Kann gesät werden?« fragte er nach kurzem Stillschweigen.
»Hinter Turkino wird es morgen oder übermorgen möglich sein.«
»Und der Klee?«
»Ich habe Wasili und Michail hingeschickt; die säen. Ich weiß nur nicht, ob sie überall durchkommen werden; es ist noch sehr sumpfig.«
»Auf wieviel Deßjatinen?«
»Auf sechs.«
»Warum denn nicht auf allen?« rief Ljewin.
Daß der Klee nur auf sechs und nicht auf zwanzig Deßjatinen gesät wurde, das war noch ärgerlicher als alles Vorhergegangene. Der Klee gedieh sowohl nach den Lehren der Handbücher als nach seiner eigenen Erfahrung nur dann gut, wenn die Aussaat möglichst früh stattfand, beinah noch in den Schnee hinein. Aber das hatte Ljewin nie erreichen können.
»Es sind nicht genug Leute da. Ich bitte Sie, was soll man mit solchem Volke anfangen! Drei Mann sind nicht gekommen. Na, und nun ist auch Semjon ...«
»Nun, dann hätten Sie ein paar vom Stroh wegnehmen sollen.«
»Ja, das habe ich so schon getan.«
»Wo verwenden Sie denn die Leute?«
»Fünf machen Kompott (er meinte Kompost), vier schaufeln den Hafer um; hoffentlich hat er nicht gelitten, Konstantin Dmitrijewitsch.«
Ljewin glaubte ganz genau zu wissen, daß dieses ›hoffentlich hat er nicht gelitten‹ bedeutete, daß der englische Saathafer bereits verdorben sei, – es war eben wieder nicht ausgeführt worden, was er angeordnet hatte.
»Aber ich hatte doch schon in der Fastenzeit gesagt: die Ventilationsröhren ...«, rief er.
»Haben Sie keine Sorge, wir werden mit allem zur rechten Zeit fertig werden.«
Ljewin machte eine ärgerliche Handbewegung nach dem Verwalter hin, ging zum Speicher, um den Hafer zu besehen, und kehrte dann in den Pferdestall zurück. Der Hafer war noch nicht verdorben. Aber die Arbeiter schütteten ihn mit Schaufeln um, während er doch unmittelbar in das untere Stockwerk des Speichers hinabgelassen werden konnte; nachdem Ljewin dies angeordnet und zwei Arbeiter von dort weggenommen und zum Kleesäen bestimmt hatte, war auch sein Ärger über den Verwalter [196] so ziemlich geschwunden. Und der Tag war auch so schön, daß es nicht möglich war, lange zornig zu sein.
»Ignat«, rief er den Kutscher an, der mit aufgestreiften Ärmeln am Brunnen die Kutsche wusch, »sattle mir ...«
»Welches Pferd befehlen Sie?«
»Na, meinetwegen den ›Reiher‹.«
»Zu Befehl.«
Während das Pferd gesattelt wurde, rief Ljewin den Verwalter, der sich in seiner Sehweite hielt und sich dort irgend etwas zu schaffen machte, wieder heran, um sich mit ihm auszusöhnen, und begann mit ihm von den bevorstehenden Frühjahrsarbeiten und sonstigen wirtschaftlichen Plänen zu sprechen.
Mit dem Dungfahren sollte zeitig begonnen werden, damit vor der ersten Heuernte alles beendet sei. Die ferner gelegenen Felder sollten ohne jeden Zeitverlust gepflügt werden, damit sie noch als schwarze Brache liegen könnten. Alles Heu sollte nicht von den Bauern gegen Halbpart, sondern durch Arbeiter eingebracht werden.
Der Verwalter hörte aufmerksam zu und tat sich augenscheinlich Gewalt an, um die Vorschläge seines Herrn gut zu finden, aber trotzdem machte er jene hoffnungslose, gedrückte Miene, die Ljewin so gut kannte und die ihn immer verstimmte. Diese Miene sagte: ›Alles ganz schön, aber wie Gott will!‹
Durch nichts fühlte Ljewin sich schmerzlicher berührt als durch diese Haltung. Aber diese Haltung war allen Verwaltern gemeinsam, so viele er deren auch schon gehabt hatte. Alle beobachteten sie seinen Vorschlägen gegenüber das gleiche Verhalten, und darum ärgerte er sich jetzt nicht mehr darüber; aber es war ihm schmerzlich, und er fühlte sich noch mehr zum Kampfe mit dieser sozusagen elementaren Kraft angeregt, die er nicht anders nennen konnte als »wie Gott will« und die sich ihm fortwährend entgegenstellte.
»Wenn wir es dann nur schaffen, Konstantin Dmitrijewitsch!« sagte der Verwalter.
»Warum sollten wir es nicht schaffen?«
»Wir müßten unbedingt noch fünfzehn Arbeiter annehmen. Aber es kommen keine. Heute waren welche da, aber sie verlangten siebzig Rubel für den Sommer.«
Ljewin schwieg. Wieder stellte sich ihm jene Kraft entgegen. Er wußte, daß sie nicht mehr als vierzig, siebenunddreißig, achtunddreißig Arbeiter für den regelrechten Preis hatten bekommen können, soviel sie auch versucht hatten, mehr zu bekommen; vierzig hatten sie schon gehabt, aber nicht mehr. Aber trotzdem mochte er den Kampf nicht aufgeben.
[197] »Schicken Sie nach Surü, nach Tschefirowka, wenn keine kommen. Man muß eben suchen.«
»Hinschicken will ich schon«, antwortete Wasili Fedorowitsch in gedrücktem Tone, »aber auch die Pferde sind schon zu schwach geworden.«
»Wir kaufen welche hinzu. Aber ich weiß ja«, fügte er lachend hinzu, »Sie sind immer in allen Stücken für den kleinsten und schlechtesten Zuschnitt; aber dieses Jahr werde ich Sie nicht mehr alles nach Ihrem Kopf machen lassen. Ich werde alles selbst machen.«
»Ja, Sie gönnen sich, wie es scheint, so schon zu wenig Schlaf. Uns kann es ja nur lieb sein, wenn uns das Auge des Herrn sieht ...«
»Also jenseits des Birkentales wird Klee gesät? Ich will mal hinreiten und es mir ansehen«, sagte er und stieg auf den kleinen falben »Reiher«, den der Kutscher herbeigeführt hatte.
»Durch den Bach kommen Sie nicht durch, Konstantin Dmitrijewitsch«, rief der Kutscher ihm nach.
»Na, dann reite ich durch den Wald.«
Und in dem munteren Trabe des braven, vom Stehen im Stall etwas steif gewordenen Pferdchens, das, wo es über Pfützen hinüber mußte, schnob und den Zügel verlangte, ritt Ljewin durch den Schmutz des Hofes, aus dem Torweg hinaus und aufs Feld.
War er schon auf dem Viehhof vergnügt gewesen, so wurde ihm auf dem Felde noch fröhlicher zumute. Von dem Trabe des tüchtigen Gaules gleichmäßig geschaukelt und die laue, noch von erfrischendem Schneegeruch erfüllte Luft in vollen Zügen einatmend, ritt er durch den Wald über den hier und da noch übrig gebliebenen, lockeren, zusammengeschmolzenen Schnee mit den verschwommenen Rad-und Fußspuren und freute sich über jeden zu seinem Besitztum gehörenden Baum mit dem auf der Rinde wieder auflebenden Moose und den schwellenden Knospen. Als er aus dem Walde hinausritt, breiteten sich vor ihm in gewaltiger Ausdehnung wie ein gleichmäßiger Samtteppich die mit Winterfrucht bestellten Felder aus, ohne eine einzige kahle oder versumpfte Stelle, nur hier und da in den Vertiefungen mit Resten schmelzenden Schnees gesprenkelt. Er ärgerte sich weder über den Anblick zweier Bauernpferde, einer Stute und eines Hengstfohlens, die seine Wintersaat zerstampften (er befahl einem Bauern, dem er begegnete, sie wegzujagen), noch über die dumme, spöttische Antwort des Bauern Ipat, den er getroffen und gefragt hatte: »Nun, Ipat, müssen wir nicht [198] bald säen?« »Vorher müssen wir pflügen, Konstantin Dmitrijewitsch«, hatte ihm Ipat geantwortet. Je weiter er ritt, um so fröhlicher wurde ihm zumute, und allerlei landwirtschaftliche Pläne entstanden in seinem Kopfe, einer immer besser als der andere: an allen Feldern Einfassungen von Weidengebüsch herzustellen, in südlicher Richtung, damit der Schnee darunter nicht zu lange liegenbleibe, das gesamte Land in sechs zu düngende Felder und in drei Reservefelder mit Futterbau einzuteilen, einen Viehhof am äußersten Ende der Feldflur anzulegen und einen Teich zu graben und des Düngens wegen bewegliche Zäune für das Vieh herzustellen. Und dann wollte er dreihundert Deßjatinen mit Weizen, hundert mit Kartoffeln und hundertfünfzig mit Klee bestellen, und keine einzige Deßjatine läge brach.
Unter solchen Träumereien gelangte er, während er sorgsam sein Pferd auf den Rainen entlanggehen ließ, um nicht seine Wintersaat zu zerstampfen, zu den Arbeitern, die Klee säen sollten. Der Wagen mit dem Samen stand nicht auf dem Rain, sondern auf einem Acker, und der Winterweizen war durch die Räder zerfahren und durch die Pferdehufe zerwühlt. Die beiden Arbeiter saßen auf dem Raine und rauchten, wahrscheinlich beide aus derselben Pfeife. Die mit dem Samen vermischte Erde auf dem Wagen war nicht zerkleinert, sondern hatte sich entweder infolge langen Liegens oder infolge des Frostes zu festen Klumpen zusammengeballt. Als die beiden ihren Herrn erblickten, ging der Arbeiter Wasili zum Wagen hin, und Michail machte sich an das Säen. Das Verhalten der beiden Leute war zwar nicht löblich, aber über die Arbeiter wurde Ljewin nur selten zornig. Als Wasili herankam, befahl ihm Ljewin, das Pferd und den Wagen auf den Rain zu führen.
»Das tut nichts, gnädiger Herr«, erwiderte Wasili. »Das wächst wieder zu.«
»Bitte, rede nicht erst, sondern tu, was dir gesagt wird«, entgegnete Ljewin.
»Zu Befehl«, antwortete Wasili und faßte das Pferd am Kopfe. »Aber die Kleesaat, Konstantin Dmitrijewitsch«, sagte er, um sich bei diesem wieder in Gunst zu setzen, »die Kleesaat ist diesmal allerbeste Sorte. Nur das Gehen auf dem Acker ist noch schauderhaft! Ein Pud Ackerboden schleppt man an jedem Schuh mit.«
»Warum ist denn euere Erde nicht gesiebt?« fragte Ljewin.
»Ach, wir zerdrücken sie«, antwortete Wasili, nahm einen Klumpen mit Samen vermischter Erde und zerrieb ihn zwischen den Handflächen.
[199] Wasili konnte ja nichts dafür, daß man ihm ungesiebte Erde auf den Wagen geschüttet hatte, aber ärgerlich blieb die Sache darum doch.
Ljewin hatte schon öfters mit gutem Erfolg ein ihm bekanntes Mittel angewandt, um seinen Ärger zu unterdrücken und alles, was ihm schlecht erschien, wieder gut erscheinen zu lassen, und dieses Mittels bediente er sich auch jetzt. Er sah ein Weilchen zu, wie Michail dahinschritt, gewaltige Erdklumpen mit sich schleppend, die ihm an jedem Fuße klebten; dann stieg er vom Pferde, nahm Wasili den Saatkorb ab und machte sich selbst daran, zu säen.
»Wo hast du aufgehört?«
Wasili zeigte auf ein mit dem Fuß gemachtes Merkzeichen, und Ljewin ging und streute die mit Samen vermischte Erde aus, so gut er es verstand. Es ging sich mühsam wie in einem Sumpfe, und als Ljewin eine Furche abgeschritten hatte, war er stark in Schweiß geraten; er blieb stehen und gab den Saatkorb wieder ab.
»Na, gnädiger Herr, aber wegen dieser Furche dürfen Sie mich im Sommer nicht schelten«, sagte Wasili.
»Wieso?« fragte Ljewin ganz vergnügt; er spürte schon die Wirkung des angewandten Mittels.
»Sehen Sie sie nur im Sommer an. Sie wird abstechen. Sehen Sie sich nur mal an, wo ich im vorigen Frühjahr gesät habe. Wie gleichmäßig habe ich es verteilt! Ich gebe mir ja für Sie Mühe, Konstantin Dmitrijewitsch, wie wenn Sie mein leiblicher Vater wären. Es widersteht mir selbst, schlecht zu arbeiten, und ich sage auch immer den anderen, sie sollen das nicht tun. Wenn's dem Herrn gut geht, dann geht es auch uns gut. Wenn man dahin blickt«, sagte Wasili und wies dabei nach dem Felde, »dann lacht einem das Herz.«
»Ja, es ist ein schönes Frühjahr, Wasili.«
»So ein Frühling, – die ältesten Leute können sich auf so einen nicht besinnen. Ich war neulich zu Hause, da hat unser Alter auch drei Osminnik Weizen gesät. Aber der ist von Roggen nicht zu unterscheiden.«
»Habt ihr schon lange angefangen, Weizen zu säen?«
»Sie haben es uns ja im vorvorigen Sommer gelehrt; Sie haben mir zwei Maß Weizen geschenkt. Ein Viertel davon haben wir verkauft, und drei Osminnik haben wir gesät.«
»Na, gib also recht acht und zerreibe die Klumpen ordentlich!« sagte Ljewin und ging wieder zu seinem Pferde. »Und paß auch auf Michail auf! Wenn die Saat gut kommt, sollst du für jede Deßjatine fünfzig Kopeken haben.«
[200] »Danke ergebenst! Wir können ja auch so schon mit Ihnen sehr zufrieden sein, möchte ich meinen.«
Ljewin stieg aufs Pferd und ritt auf das Feld, wo der vorjährige Klee stand, und auf das, das mit dem Pfluge für den Sommerweizen bereitgemacht war.
Der Klee auf dem Stoppelfelde war sehr gut herausgekommen. Er war schon ganz aufgelebt und zeigte ein kräftiges Grün zwischen den zerknickten vorjährigen Weizenstengeln. Das Pferd sank bei jedem Tritte bis an die Fesseln ein, und jeder seiner Füße schmatzte, wenn er aus der halb aufgetauten Erde herausgezogen wurde. Auf dem gepflügten Acker war es überhaupt nicht möglich, zu reiten; der Boden trug nur da, wo noch etwas Eis lag; aber in den aufgetauten Furchen versank der Fuß des Pferdes bis über die Fesseln. Das Ackerfeld sah vorzüglich aus; Ljewin sagte sich, in zwei Tagen werde geeggt und gesät werden können. Alles war schön, alles war heiter. Zurück beabsichtigte Ljewin durch den Bach zu reiten, da er hoffte, das Wasser werde schon so weit gefallen sein. Und in der Tat konnte er hindurchreiten und scheuchte dabei zwei Enten auf. ›Da müßten ja auch die Waldschnepfen schon da sein‹, dachte er, und wie gerufen, begegnete ihm an einer Wendung des Weges nicht mehr weit vom Hause der Waldhüter, der seine Vermutung über die Waldschnepfen bestätigte.
Ljewin ritt im Trabe nach Hause, um schnell zu Mittag zu essen und sein Gewehr für den Abend instand zu setzen.
Als sich Ljewin in heiterster Stimmung seinem Hause näherte, hörte er von der nach dem Haupteingang zu gelegenen Seite das Schellengeklingel eines Gefährtes.
›Da kommt jemand von der Eisenbahn‹, dachte er, ›das ist gerade die Zeit des Moskauer Zuges. – Wer mag es sein? Wenn es gar Bruder Nikolai wäre? Er hat ja gesagt: »Vielleicht fahre ich ins Bad, vielleicht besuche ich aber auch dich.«‹ Im ersten Augenblick hatte er ein unangenehmes, banges Gefühl, die Anwesenheit seines Bruders Nikolai könne ihm diese glückliche Frühlingsstimmung verderben. Aber er schämte sich dieses Gefühles und öffnete sofort gleichsam im Geiste die Arme und erwartete und wünschte nun mit freudiger Rührung von ganzem Herzen, daß es sein Bruder sein möchte. Er trieb sein Pferd an, und als er aus dem Akaziengebüsch herauskam, sah er, daß von der Bahnstation her eine Mietstroika herangefahren kam und [201] ein Herr in einem Pelze darin saß. Das war nicht sein Bruder. ›Ach, wenn es doch irgendein angenehmer Mensch wäre, mit dem man ein bißchen plaudern könnte!‹ dachte er.
»Ah!« rief Ljewin erfreut und hob beide Arme in die Höhe. »Das nenne ich mir einen erfreulichen Besuch! Ach, wie freue ich mich über dein Kommen!« rief er, als er Stepan Arkadjewitsch erkannte.
›Jetzt werde ich sichere Nachricht bekommen, ob sie sich verheiratet hat oder wann sie sich verheiraten wird‹, dachte er.
Und an diesem schönen Frühlingstage fühlte er, daß ihn die Erinnerung an sie gar nicht schmerzte.
»Na, du hast mich wohl nicht erwartet?« sagte Stepan Arkadjewitsch, während er aus dem Schlitten stieg, mit Schmutzklümpchen auf dem Nasenrücken, den Backen und Augenbrauen, aber strahlend von Heiterkeit und Gesundheit. »Ich bin gekommen, um dich einmal wiederzusehen, erster Grund«, sagte er und umarmte und küßte ihn, »und um auf den Schnepfenstrich zu gehen, zweiter Grund, und um den Wald in Jerguschowo zu verkaufen, dritter Grund.«
»Wunderschön! – Was sagst du zu diesem Frühling? Wie bist du nur mit dem Schlitten durchgekommen?«
»Mit dem Wagen wäre es noch schlechter gegangen, Konstantin Dmitrijewitsch«, antwortete der Kutscher, der mit Ljewin bekannt war.
»Nun, ich freue mich sehr über deine Ankunft, ganz außerordentlich freue ich mich«, sagte Ljewin und lächelte dabei von ganzem Herzen, so recht kindlich froh.
Ljewin führte seinen Gast in das Fremdenzimmer, wohin auch dessen Sachen gebracht wurden: ein Reisesack, ein Gewehr im Futteral, eine große Zigarrentasche; dann ließ er ihn allein, damit er sich waschen und umkleiden könne, und ging unterdessen selbst in das Kontor, um wegen des Pflügens und des Klees das Erforderliche anzuordnen. Agafja Michailowna, die um die Ehre des Hauses immer sehr besorgt war, fing ihn im Vorzimmer ab und befragte ihn wegen des Mittagessens.
»Macht das, wie Ihr wollt; nur schnell muß es gehen«, erwiderte er und ging zu dem Verwalter.
Als er zurückkehrte, trat Stepan Arkadjewitsch gewaschen, gekämmt und mit einem strahlenden Lächeln aus seiner Tür, und sie gingen zusammen hinauf.
»Nein, wie ich mich freue, daß ich wirklich einmal in deinen Schlupfwinkel eingedrungen bin! Nun werde ich endlich dahinterkommen, was für geheime Dinge das sind, die du hier treibst. Aber nein, wahrhaftig, ich beneide dich. Was für ein [202] Haus, wie prächtig das hier alles ist! So hell und freundlich!« sagte Stepan Arkadjewitsch und vergaß dabei ganz, daß es nicht immer Frühling und so schönes Wetter war wie gerade jetzt. »Und was für ein Prachtstück ist deine alte Kinderfrau! Wünschenswerter wäre ja allerdings ein hübsches Stubenmädchen mit Latzschürzchen, aber zu deinem Mönchtum und zu deiner strengen Lebensweise paßt die Alte sehr gut.«
Stepan Arkadjewitsch erzählte viel interessante Neuigkeiten, darunter eine für Ljewin besonders interessante: daß sein Bruder Sergei Iwanowitsch beabsichtige, diesen Sommer bei ihm auf dem Lande zu verleben.
Von Kitty und überhaupt von der Schtscherbazkischen Familie sagte Stepan Arkadjewitsch kein Wort, nur von seiner Frau bestellte er einen Gruß. Ljewin war ihm für dieses Zartgefühl dankbar und hatte über seinen Gast eine große Freude. Wie immer hatte sich bei ihm in der Zeit seiner Einsamkeit eine ganze Menge von Gedanken und Gefühlen angesammelt, über die er mit den Menschen, die er auf seinem Gute um sich hatte, nicht sprechen konnte, und nun schüttete er vor Stepan Arkadjewitsch sein ganzes Herz aus: seine poetische Freude über den Frühling, und was ihm in der Wirtschaft mißlungen sei und was er plane, und seine eigenen Gedanken und seine Bemerkungen über die Bücher, die er gelesen hatte, und besonders setzte er ihm die Tendenz seiner Abhandlung auseinander, deren Grundgedanke, ohne daß er sich dessen selbst bewußt geworden wäre, auf eine Kritik aller älteren Schriften über Landwirtschaft hinauslief. Stepan Arkadjewitsch, der auch sonst immer liebenswürdig war und alles auf eine bloße Andeutung hin begriff, legte seine Liebenswürdigkeit bei diesem Besuche in besonderem Maße an den Tag, und Ljewin bemerkte an ihm noch etwas Neues, wodurch er sich sehr geschmeichelt fühlte, nämlich eine gewisse Hochachtung und sozusagen Zärtlichkeit seines Gastes ihm gegenüber.
Die Bemühungen Agafja Michailownas und des Kochs, das Mittagessen besonders gut zu gestalten, hatten nur zur Folge, daß die beiden hungrig gewordenen Freunde sich zu den Vorspeisen hinsetzten und tüchtig Butterbrot, Gänsebrust und eingemachte Pilze aßen, und ferner, daß Ljewin befahl, die Suppe ohne die noch nicht fertigen Pastetchen aufzutragen, mit denen der Koch den Gast ganz besonders hatte in Erstaunen setzen wollen. Aber Stepan Arkadjewitsch fand alles ausgezeichnet, obwohl er an ganz andere Diners gewöhnt war: den Kräuterschnaps und das Brot und die Butter und besonders die Gänsebrust und die Pilze und die Nesselsuppe und das Huhn mit[203] weißer Sauce und den weißen Krimwein; alles lobte er als vortrefflich und wundervoll.
»Ausgezeichnet, ausgezeichnet!« sagte er, als er sich nach dem Braten eine dicke Zigarre anzündete. »Es ist mir hier bei dir zumute, als ob ich aus einem Dampfer mit seinem Lärm und Gerüttel an einem stillen Ufer ausgestiegen wäre. – Also du meinst, wir müssen den Arbeiter selbst, als ein sehr wesentliches Element, studieren und uns dadurch bei der Wahl unserer landwirtschaftlichen Methoden leiten lassen. Ich bin ja auf diesem Gebiete Laie, aber ich möchte doch meinen, daß umgekehrt die theoretische Wissenschaft und ihre praktische Anwendung auch ihrerseits einen Einfluß auf den Arbeiter haben werden.«
»Ja, aber warte einmal: ich rede nicht von der Nationalökonomie, sondern von der wissenschaftlichen Landwirtschaft. Sie muß, in der Art der Naturwissenschaft, die tatsächlich vorhandenen Erscheinungen beobachten und muß den Arbeiter mit seinem ökonomischen, ethnographischen ...«
In diesem Augenblick kam Agafja Michailowna mit eingemachten Früchten herein.
»Na aber, Agafja Fedorowna«, sagte Stepan Arkadjewitsch zu ihr, indem er die Spitzen seiner fleischigen Finger küßte, »was für eine vorzügliche Gänsebrust und für einen ausgezeichneten Kräuterschnaps gibt es bei Ihnen! – Aber wie steht's, Konstantin, ist es Zeit?« fügte er hinzu.
Ljewin blickte durch das Fenster nach der Sonne, die bereits hinter die kahlen Baumwipfel des Waldes hinabsank.
»Jawohl, es ist Zeit!« sagte er. »Kusma, laß den Jagdwagen anspannen!« Damit lief er auch schon hinunter.
Als Stepan Arkadjewitsch gleichfalls hinuntergegangen war, nahm er selbst mit großer Sorgfalt den Segeltuchüberzug von dem lackierten Kasten ab, öffnete diesen und begann sein wertvolles Gewehr neuester Konstruktion instand zu setzen. Kusma, der schon ein großes Trinkgeld witterte, wich dem Gaste nicht von der Seite und zog ihm Strümpfe und Stiefel an, wobei Stepan Arkadjewitsch ihn gern gewähren ließ.
»Ordne doch an, Konstantin, wenn der Händler Rjabinin kommen sollte – ich habe ihm geschrieben, er möchte heute herkommen –, daß deine Leute ihn hereinkommen lassen und ihm sagen, er solle auf mich warten.«
»Willst du etwa an Rjabinin deinen Wald verkaufen?«
»Ja. Kennst du den Mann etwa?«
»Gewiß kenne ich ihn. Ich habe mit ihm zu tun gehabt, positiv und effektiv.«
[204] Stepan Arkadjewitsch lachte. Positiv und effektiv waren Lieblingsausdrücke des Händlers.
»Ja, er hat eine ganz wunderliche, komische Redeweise. – Sieh mal, sie hat verstanden, wohin ihr Herr gehen will«, fügte er hinzu und tätschelte mit der Hand die Hündin Laska, die sich winselnd an Ljewin schmiegte und bald seine Hand, bald seine Stiefel und das Gewehr beleckte.
Das Wägelchen stand schon vor der Haustür, als sie hinaustraten.
»Ich habe anspannen lassen, wiewohl es nicht weit ist. Oder wollen wir lieber zu Fuß hingehen?«
»Nein, laß uns lieber fahren«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch und trat zum Wagen. Er setzte sich hinein, wickelte sich eine getigerte Decke um die Beine und zündete sich eine Zigarre an. »Wie kannst du nur Nichtraucher sein! Eine Zigarre ist nicht etwa nur so ein Vergnügen gewöhnlicher Art, sondern sie ist die Krone aller Vergnügungen, ein Sinnbild des Wohlbefindens. Ja, siehst du, das ist hier das wahre Leben! Wie schön es hier ist! Ja, so möchte ich auch leben!«
»Wer hindert dich denn daran?« versetzte Ljewin lächelnd.
»Nein, du bist ein glücklicher Mensch! Alles, was du gern magst, das hast du auch. Du magst Pferde gern, du hast welche; Hunde, du hast sie; Jagd, hast du; Landwirtschaft, hast du.«
»Vielleicht kommt das daher, daß ich mich an dem freue, was ich habe, und mich nicht um das gräme, was ich nicht habe«, erwiderte Ljewin und dachte dabei an Kitty.
Stepan Arkadjewitsch durchschaute das, warf ihm einen Blick zu, sagte aber nichts dazu.
Ljewin war ihm dafür dankbar, daß er mit dem ihm stets eigenen Taktgefühl seine, Ljewins, Scheu vor einem Gespräche über Schtscherbazkis gemerkt hatte und nicht von ihnen sprach. Aber jetzt hätte Ljewin gern etwas über den Punkt erfahren, der ihn so sehr quälte, aber er wagte nicht, davon anzufangen.
»Nun, und wie stehen denn deine Sachen?« fragte Ljewin, der sich sagte, daß es doch recht häßlich von ihm sei, immer nur an sich selbst zu denken.
Stepan Arkadjewitschs Augen glitzerten lustig.
»Du willst es ja nicht gelten lassen, daß man Appetit auf einen Kringel bekommen kann, wenn man seine regelmäßige Ration Mehl und Grütze hat; nach deiner Auffassung ist das ein Verbrechen, nach der meinigen aber ist ein Leben ohne Liebe überhaupt kein Leben«, erwiderte er, da er Ljewins Frage in seiner Weise verstanden hatte. »Was ist da zu tun? Ich bin nun einmal so geschaffen. Und wirklich, der Schaden, der jemandem [205] dadurch zugefügt wird, ist doch nur sehr gering; mir aber macht es so großes Vergnügen.«
»Na, hast du denn wieder etwas Neues?« fragte Ljewin.
»Freilich, Brüderchen! Sieh mal, du kennst doch den Typus der Ossianschen Frauengestalten, Frauen, wie man sie im Traum sieht. Nun, solche Frauen kommen auch in Wirklichkeit vor, und diese Frauen sind schrecklich. Das Weib, weißt du, ist ein so rätselhaftes Wesen, – soviel man es auch studieren mag, es erscheint einem immer wieder völlig neu.«
»Dann ist schon das beste, es nicht zu studieren.«
»Nein. Irgendein Mathematiker hat gesagt, der Genuß bestehe nicht in der Entdeckung der Wahrheit, sondern im Suchen nach ihr.«
Ljewin hörte schweigend zu; aber trotz aller Anstrengung war er nicht imstande, sich in die Seele seines Freundes hineinzuversetzen und dessen Gefühle und den Reiz des Studiums solcher Frauen zu verstehen.
Der Ort des Schnepfenstrichs befand sich nicht weit vom Hause, auf einer Anhöhe an einem Flüßchen, in einem lichten Espengehölz. Als sie nahe herangekommen waren, stiegen sie beide aus, und Ljewin führte Oblonski an eine Ecke einer moosigen, sumpfigen Lichtung, die bereits frei von Schnee war. Er selbst begab sich an das andere Ende, wo zwei Birken ganz dicht nebeneinander wuchsen, lehnte sein Gewehr in die Gabelung eines niedrigen, trockenen Astes, zog sich den Rock aus, band sich den Gurt fester und erprobte die freie Beweglichkeit seiner Arme.
Die alte graue Laska, die ihm auf Schritt und Tritt gefolgt war, setzte sich sachte ihm gegenüber hin und spitzte die Ohren. Die Sonne ging hinter dem dichteren, höheren Wald unter, und im Scheine der Abendröte hoben sich die im Espengehölz verstreuten Birken mit ihren hängenden Zweigen voll schwellender, zum Aufbrechen bereiter Knospen scharf von ihrer Umgebung ab.
Aus dem dichteren Walde, wo der Schnee noch lag, rann das Wasser kaum hörbar in kleinen, sich schlängelnden Bächen heraus. Kleine Vögel zwitscherten und flogen ab und zu von einem Baume zum anderen.
In der vollkommenen Stille hörte man von Zeit zu Zeit das Rascheln vorjähriger Blätter, die durch das Auftauen der Erde und das Wachsen des Grases in leise Bewegung versetzt wurden.
[206] ›Wunderbar! Man hört und sieht, wie das Gras wächst!‹ sagte Ljewin bei sich selbst, als er bemerkte, wie sich ein schieferfarbenes, feuchtes Espenblatt neben der Spitze eines jungen Grashalmes bewegte. Er stand und lauschte und blickte bald hinunter auf die feuchte, moosige Erde, bald nach der aufmerksam horchenden Laska, bald nach dem Meere kahler Baumwipfel, das sich vor ihm am Fuße des Hügels ausbreitete, bald nach dem dunkel gewordenen, von weißen Wolkenstreifen durchzogenen Himmel. Ein Habicht flog mit ruhigem Flügelschlage hoch oben über den ferner gelegenen Teil des Waldes hin; ein zweiter flog genau ebenso in derselben Richtung und verschwand. Die Vögel zwitscherten immer lauter und geschäftiger im Dickicht. In nicht weiter Entfernung krächzte ein Uhu; Laska fuhr zusammen, ging vorsichtig einige Schritte und horchte mit seitwärts geneigtem Kopfe. Von jenseits des Flüßchens ließ sich ein Kuckuck vernehmen. Zweimal wiederholte er seinen gewöhnlichen Ruf; aber dann fing er an zu schnarren, überhastete sich und kam ganz in Unordnung.
»Was sagst du dazu? Schon ein Kuckuck!« sagte Stepan Arkadjewitsch, hinter seinem Strauche hervor tretend.
»Ja, ich höre ihn«, antwortete Ljewin, der nur ungern die Stille des Waldes mit seiner Stimme störte, die für sein eigenes Ohr in dieser Umgebung einen unangenehmen Klang hatte. »Jetzt bald.«
Stepan Arkadjewitschs Gestalt schlüpfte wieder hinter den Busch, und Ljewin sah nur noch das helle Flämmchen eines Streichholzes, worauf dann das rote Glimmen einer Zigarre und ihr bläulicher Dampf folgten.
»Knack, knack!« machten die Hähne des Gewehres, die Stepan Arkadjewitsch aufzog.
»Was schreit denn da?« fragte Oblonski, indem er Ljewins Aufmerksamkeit auf einen langgezogenen, dumpfen Laut lenkte, der wie das dünne Wiehern eines mutwilligen Füllens klang.
»Kennst du denn das nicht? Das ist ein Hase, ein Rammler. Aber nun nicht mehr sprechen! – Horch, da kommt eine geflogen!« schrie ihn Ljewin beinahe an und zog die Hähne auf.
Ein fernes, feines Pfeifen erscholl, und genau nach jener dem Jäger so wohlbekannten Zeitspanne, nach zwei Sekunden, ein zweites, ein drittes, und nach dem dritten Pfeifen ließ sich schon das ›Murksen‹ vernehmen.
Ljewin wendete die Augen nach rechts und links, und siehe da, gerade vor ihm, an dem trüb bläulichen Himmel, über den für das Auge zusammenfließenden zarten Schößlingen der Espenwipfel, war der fliegende Vogel zu sehen. Er flog gerade [207] auf ihn zu. Die Laute des Murksens, ein ähnlicher Ton, wie wenn man ein festes Gewebe in gleichmäßigem Zuge durchreißt, schienen dicht an seinem Ohre zu erklingen; schon waren der lange Schnabel und der Hals des Vogels zu sehen; da flammte in demselben Augenblicke, als Ljewin anlegte, hinter dem Busche, wo Oblonski stand, ein roter Blitz auf: der Vogel schoß wie ein Pfeil nieder und schwang sich dann wieder in die Höhe. Wieder flammte ein Blitz und erscholl ein Knall, und mit den Flügeln schlagend, als ob er versuche, sich in der Luft festzuhalten, hielt der Vogel im Fluge inne, schwebte einen Augenblick an derselben Stelle und klatschte dann schwer auf den sumpfigen Boden nieder.
»Hab ich vorbeigeschossen?« rief Stepan Arkadjewitsch, der wegen des Rauches nicht sehen konnte.
»Da ist sie!« sagte Ljewin und wies auf Laska, die, das eine Ohr in die Höhe gereckt und mit der Spitze des hochgehobenen buschigen Schweifes wedelnd, mit ruhigen Schritten, wie wenn sie das Vergnügen verlängern wollte, und gleichsam mit einer Art von Lächeln den geschossenen Vogel ihrem Herrn brachte. »Na, das freut mich, daß dir das geglückt ist«, sagte Ljewin, verspürte aber dabei schon einen gewissen Neid, weil es ihm selbst nicht gelungen war, diese Schnepfe zu erlegen.
»Ein schmählicher Fehlschuß aus dem rechten Lauf«, antwortete Stepan Arkadjewitsch und lud sein Gewehr von neuem. »Pst, da fliegt wieder eine!«
In der Tat ertönten wieder die scharfen, schnell aufeinanderfolgenden Pfiffe. Zwei Waldschnepfen, die miteinander spielten und einander jagten, flogen nur pfeifend, aber nicht murksend gerade über die Köpfe der Jäger hinweg. Vier Schüsse krachten; aber wie Schwalben machten die Waldschnepfen eine flinke Wendung und entschwanden den Blicken.
Der weitere Verlauf des Schnepfenstriches war ausgezeichnet. Stepan Arkadjewitsch erlegte noch zwei Stück, desgleichen Ljewin zwei, von denen aber eine nicht zu finden war. Es fing an, dunkel zu werden. Die helle, silberne Venus schimmerte bereits tief unten im Westen mit ihrem zarten Glanze zwischen den Birken hindurch, und hoch oben im Osten glühte schon mit seinem rötlichen Lichte der düstere Arktur. Über seinem Kopfe erfaßte Ljewin mit seinen Blicken bald die Sterne des Großen Bären, bald verlor er sie wieder. Die Schnepfen hatten ihren Flug schon eingestellt; aber Ljewin beschloß noch zu warten, bis die Venus, die er unterhalb eines Birkenastes erblickte, über diesen hinaufgestiegen und die sämtlichen Sterne des Großen Bären klar geworden wären. Nun war die Venus schon über den Ast hinaufgestiegen, [208] und der Wagen des Großen Bären mitsamt der Deichsel war am dunkelblauen Himmel bereits vollständig sichtbar, aber Ljewin wartete noch immer.
»Ist es nicht Zeit zur Heimkehr?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
Im Walde war es schon ganz still; es rührte sich kein einziger Vogel mehr.
»Wollen doch noch ein bißchen bleiben«, antwortete Ljewin.
»Wie du willst.«
Sie standen jetzt ungefähr fünfzehn Schritte voneinander entfernt.
»Stiwa«, sagte Ljewin auf einmal ganz unerwartet, »warum sagst du mir denn nicht, ob deine Schwägerin sich verheiratet hat oder wann sie sich verheiraten wird?«
Ljewin fühlte sich so gefaßt und ruhig, daß, wie er meinte, keine Antwort ihn aufregen konnte. Aber das, was ihm Stepan Arkadjewitsch wirklich antwortete, hatte er schlechterdings nicht erwartet.
»Es ist ihr gar nicht eingefallen, sich zu verheiraten, und sie denkt nicht daran, es zu tun; aber sie ist sehr krank, und die Ärzte haben sie ins Ausland geschickt. Man fürchtet sogar für ihr Leben.«
»Was sagst du da!« rief Ljewin. »Sehr krank? Was fehlt ihr? Wie hat sie ...«
Während sie so sprachen, spitzte Laska die Ohren, blickte zum Himmel hinauf und warf dann den beiden Jägern einen vorwurfsvollen Blick zu.
›Na, na, jetzt ist auch die richtige Zeit zum Plaudern‹, dachte sie. ›Und da fliegt eine. – Da ist sie, – wahrhaftig. Die verpassen sie!‹ dachte Laska.
Aber gerade in diesem Augenblicke hörten die beiden ein scharfes Pfeifen, wie wenn ein Peitschenschlag ihr Ohr träfe; beide griffen rasch nach den Gewehren, und gleichzeitig flammten zwei Blitze auf, gleichzeitig krachten zwei Schüsse. Die hoch oben fliegende Schnepfe legte plötzlich die Flügel zusammen und fiel in das Gebüsch, dessen dünne Zweige sich unter ihr bogen.
»Das war fein! Eine gemeinsame Beute!« rief Ljewin und lief mit Laska in das Gebüsch, um die Schnepfe zu suchen. ›Ach ja, was hat mir nur eben eine so unangenehme Empfindung verursacht?‹ fiel ihm ein. ›Richtig, Kitty ist krank! Was ist da zu machen? Es tut mir sehr leid‹, dachte er.
»Ah, hast sie gefunden! Ei, bist ein kluger Hund!« sagte er, nahm den warmen Vogel aus Laskas Maul und steckte ihn in die schon fast gefüllte Jagdtasche. »Ich habe sie gefunden, Stiwa!« rief er.
[209]Während sie heimfuhren, erkundigte sich Ljewin nach allen Einzelheiten von Kittys Krankheit und nach den Plänen der Familie Schtscherbazki; und wiewohl er sich geschämt hätte, es einzugestehen, so war ihm doch das, was er erfuhr, angenehm. Angenehm deswegen, weil er nun noch hoffen konnte, und noch angenehmer deswegen, weil nun sie litt, sie, die ihm so viel Leid zugefügt hatte. Aber als Stepan Arkadjewitsch von den Ursachen der Krankheit Kittys zu sprechen anfing und dabei den Namen Wronski erwähnte, da unterbrach ihn Ljewin:
»Ich habe keinerlei Recht, Einzelheiten des Familienlebens zu erfahren und, offen gestanden, auch kein Interesse dafür.«
Stepan Arkadjewitsch lächelte ganz leise vor sich hin, als er die plötzliche, ihm so wohlbekannte Veränderung in Ljewins Gesicht wahrnahm, das sich nun ebenso verdüstert hatte, wie es noch einen Augenblick vorher heiter gewesen war.
»Hast du über den Wald mit Rjabinin schon fest abgeschlossen?« fragte Ljewin.
»Ja, ich habe fest abgeschlossen. Es ist ein recht guter Preis, achtunddreißigtausend. Achttausend sofort und das übrige auf sechs Jahre verteilt. Ich habe mich lange mit der Geschichte abgeplagt. Kein Mensch wollte mehr geben.«
»Das heißt, du hast den Wald so gut wie umsonst hingegeben«, bemerkte Ljewin mit finsterer Miene.
»Wieso denn so gut wie umsonst?« fragte Stepan Arkadjewitsch mit einem gutmütigen Lächeln, da er wußte, daß Ljewin jetzt an allem etwas auszusetzen haben werde.
»Weil der Wald mindestens fünfhundert Rubel die Deßjatine wert ist«, versetzte Ljewin.
»Na ja, da sieht man diese Landwirte!« sagte Stepan Arkadjewitsch scherzhaft. »Nein, welch verächtlichen Ton ihr gegen uns armselige Städter anschlagt! Aber wenn es darauf ankommt, ein Geschäft zustande zu bringen, so machen wir es schließlich doch am besten. Glaube mir nur, ich habe alles berechnet«, fuhr er fort; »der Wald ist sehr vorteilhaft verkauft, so daß ich schon fürchte, der Käufer könnte versuchen, wieder zurückzutreten. Es ist ja doch kein Nutzholz«, bemerkte Stepan Arkadjewitsch erklärend, in dem Bestreben, durch das Wort Nutzholz Ljewin vollständig von der Grundlosigkeit seiner Zweifel zu überzeugen, »sondern größtenteils nur Brennholz. Und es kommen nicht mehr als dreißig Saschen auf die Deßjatine, und er gibt mir für die Deßjatine zweihundert Rubel.«
Ljewin lächelte geringschätzig. ›Diese Art kenne ich‹, dachte [210] er. ›So macht er es nicht allein, so ma chen es alle Stadtleute. Wenn die im Laufe von zehn Jahren ein paarmal auf dem Lande gewesen sind und zwei, drei landwirtschaftliche Ausdrücke aufgeschnappt haben, dann gebrauchen sie die, wo sie passen und nicht passen, und sind fest überzeugt, daß sie nun schon alles aufs beste verstehen. »Nutzholz, dreißig Saschen auf die Deßjatine.« Da wirft einer mit solchen Ausdrücken um sich und versteht selbst nicht, was er sagt.‹
»Mir kommt es nicht in den Sinn, dich über das belehren zu wollen, was du da in deiner Amtstätigkeit schreibst«, sagte er, »und nötigenfalls werde ich dich um Auskunft bitten. Aber du bist ohne weiteres überzeugt, daß du dieses ganze Einmaleins des Forstwesens beherrschst. Das ist denn doch nicht so leicht. Hast du die Bäume gezählt?«
»Wie soll man denn die Bäume zählen?« fragte Stepan Arkadjewitsch lachend, in dem dauernden Bemühen, den Freund aus der üblen Stimmung herauszubringen.
deklamierte er.
»Ja, ja, aber Rjabinins hoher Geist kann es. Und kein Händler kauft einen Wald, ohne vorher die Bäume gezählt zu haben, wenn ihm nicht jemand den Wald umsonst gibt, so wie du. Deinen Wald kenne ich. Ich bin jedes Jahr dort zur Jagd, und dein Wald ist fünfhundert Rubel auf einem Brett die Deßjatine wert, und er gibt dir nur zweihundert und in einzelnen Raten! Das heißt, du hast ihm gegen sechzigtausend Rubel geschenkt.«
»Na, hör nur auf mit diesen abenteuerlichen Berechnungen«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch in klagendem Tone. »Warum hat mir denn niemand so viel geboten?«
»Weil dieser Mensch mit den anderen Händlern in heimlichem Einvernehmen steht; er hat ihnen Abstandsgeld gezahlt. Ich habe mit ihnen allen zu tun gehabt und kenne sie. Das sind keine soliden Geschäftsleute, sondern Gauner. Auf ein Geschäft, bei dem ihm ein Gewinn von zehn, fünfzehn Prozent in Aussicht steht, läßt sich der gar nicht ein; er wartet, bis er eine Ware, die einen Rubel wert ist, für zwanzig Kopeken kaufen kann.«
»Na, na, hör auf! Du bist schlechter Laune.«
»Durchaus nicht«, erwiderte Ljewin finster; sie langten gerade beim Hause an.
Vor der Haustür stand bereits ein mit starkem Eisenbeschlag und festen Ledersitzen versehener Bauernwagen, davor ein wohlgenährtes Pferd, mit breiten Kumtriemen straff angeschirrt. [211] Auf dem Wagen saß, mit fest angezogenem Leibgurt, ein von Gesundheit strotzender junger Gehilfe, der bei Rjabinin auch die Stelle eines Kutschers versah. Rjabinin selbst war schon im Hause und kam den Freunden im Vorzimmer entgegen.
Er war ein Mann in mittleren Jahren, von hohem Wuchs, hager, mit Schnurrbart, das vortretende Kinn glatt rasiert, mit trüben, herausstehenden Augen. Er trug einen langschößigen blauen Rock, an dem hinten die Knöpfe wunderlich tief angesetzt waren, und hohe Stiefel, die um die Knöchel herum Falten bildeten und an den Waden gerade und glatt waren; darüber hatte er noch große Gummischuhe gezogen. Er fuhr sich mit dem Taschentuche ringsum über das Gesicht, schlug die Rockschöße übereinander, die auch ohnedies schon sehr gut saßen, begrüßte die Eintretenden mit einem Lächeln und streckte seinem Verkäufer Oblonski die Hand in eigentümlicher Weise hin, als ob er etwas greifen wollte.
»Nun, da sind Sie ja gekommen«, sagte dieser, ihm die Hand gebend. »Das ist schön.«
»Ich wagte nicht, Euer Durchlaucht Befehlen ungehorsam zu sein, obwohl der Weg überaus schlecht ist. Ich bin positiv den ganzen Weg zu Fuß gegangen, aber ich bin zur bestimmten Zeit hier eingetroffen. Ergebenster Diener, Konstantin Dmitrijewitsch«, wandte er sich an Ljewin und bemühte sich, auch dessen Hand zu haschen. Aber Ljewin, der ein sehr finsteres Gesicht machte, tat, als bemerke er seine Hand gar nicht, und nahm die Schnepfen aus der Jagdtasche. »Ah, Sie haben sich am Weidwerk vergnügt? Was ist das wohl für eine Art von Vögeln?« fügte Rjabinin hinzu, indem er die Waldschnepfen geringschätzig ansah. »Sie sind sicherlich sehr wohlschmeckend.« Und er wiegte mißbilligend den Kopf hin und her, als zweifle er stark daran, daß die kleinen Tierchen die darauf verwendeten Mühen und Kosten lohnten.
»Willst du in mein Zimmer gehen?« fragte Ljewin seinen Freund auf französisch mit finster gerunzelter Stirn und fuhr dann nach dessen Zustimmung auf russisch fort: »Geht in mein Zimmer, da könnt ihr ungestört miteinander verhandeln.«
»Sehr wohl, wo Sie wünschen«, sagte Rjabinin in würdevollem, etwas geringschätzigem Tone, wie wenn er zu verstehen geben wollte, daß wohl andere Leute in Verlegenheit sein könnten, wie sie mit einem jeden umzugehen hätten, daß aber für ihn irgendwelche Verlegenheit nie in Frage komme.
Beim Eintreten in Ljewins Arbeitszimmer blickte Rjabinin gewohnheitsmäßig umher, wie wenn er mit den Augen das Heiligenbild suche; als er es aber gefunden hatte, bekreuzte er [212] sich nicht. Er betrachtete die Bücherschränke und Bücherregale, und mit derselben Miene des Zweiflers wie bei den Schnepfen lächelte er wieder geringschätzig und wiegte mißbilligend den Kopf hin und her, denn hier konnte er unter keinen Umständen zugeben, daß diese Dinge das viele Geld wert seien.
»Nun, haben Sie das Geld mitgebracht?« fragte Oblonski. »Nehmen Sie Platz!«
»Mit der Zahlung wird es keine Schwierigkeit haben. Ich bin hergekommen, um Sie zu sehen und mit Ihnen zu verhandeln.«
»Worüber ist denn noch zu verhandeln? Aber so nehmen Sie doch Platz!«
»Ich bin so frei«, sagte Rjabinin und setzte sich dergestalt, daß er sich auf eine für ihn höchst unbequeme Weise mit den Ellbogen gegen die Stuhllehne stemmte. »Sie müssen noch etwas ablassen, Fürst. Sie versündigen sich an mir. Aber das Geld habe ich effektiv bereit, bis auf die letzte Kopeke. Die Zahlung wird pünktlich und ohne Verzug erfolgen.«
Ljewin, der unterdes sein Gewehr in den Schrank gestellt hatte, war schon im Begriffe gewesen, hinauszugehen, blieb aber stehen, als er diese Worte des Händlers hörte.
»Sie bekommen ohnehin schon den Wald so gut wie umsonst«, sagte er. »Er ist leider zu spät zu mir gekommen, sonst hätte ich den Preis gemacht.«
Rjabinin stand auf und blickte schweigend und lächelnd Ljewin von unten bis oben an.
»Konstantin Dmitrijewitsch ist gar zu wirtschaftlich«, sagte er, zu Stepan Arkadjewitsch gewendet, mit demselben Lächeln. »Dem kann man effektiv nichts abkaufen. Ich habe mit ihm um seinen Weizen gehandelt und ihm ein schönes Stück Geld dafür geboten.«
»Warum sollte ich Ihnen denn mein Eigentum umsonst geben? Ich habe es weder auf der Erde gefunden noch gestohlen.«
»Aber ich bitte Sie! Zu stehlen ist heutzutage positiv unmöglich. Heutzutage findet effektiv in allen Sachen öffentliches Gerichtsverfahren statt; in allen Sachen geht es höchst anständig zu; gar keine Möglichkeit zum Stehlen. Wir haben als Ehrenmänner miteinander verhandelt. Seine Durchlaucht veranschlagen den Wald zu hoch; ich komme dabei nicht auf meine Rechnung. Ich bitte, mir wenigstens eine Kleinigkeit abzulassen.«
»Ja, ist denn das Geschäft bereits abgeschlossen oder nicht? Wenn es abgeschlossen ist, so ist nicht weiter zu feilschen; wenn es aber noch nicht abgeschlossen ist«, sagte Ljewin, »dann will ich den Wald kaufen.«
[213] Das Lächeln verschwand sofort von Rjabinins Gesicht, und ein habichtartiger, raubgieriger, grausamer Ausdruck trat an dessen Stelle. Mit seinen knochigen Fingern knöpfte er hurtig den Rock auf, wobei das Hemd, die kupfernen Westenknöpfe und die Uhrkette sichtbar wurden, und holte eilig eine dicke, alte Brieftasche hervor.
»Bitte sehr, der Wald ist mein«, erklärte er in bestimmtem Tone, bekreuzte sich hastig und streckte die Hand mit dem Gelde hin. »Nehmen Sie das Geld; der Wald gehört mir. Sehen Sie, so verfährt Rjabinin beim Handel; dem kommt es auf ein paar Groschen nicht an«, fügte er mit finsterem Gesichte hinzu und fuchtelte dabei mit der Brieftasche in der Luft umher.
»Ich würde an deiner Stelle nicht so eilen«, sagte Ljewin.
»Aber ich bitte dich«, erwiderte Oblonski erstaunt, »ich habe ja mein Wort gegeben.«
Ljewin ging aus dem Zimmer und schlug die Tür heftig hinter sich zu. Rjabinin sah nach der Tür hin und wiegte lächelnd den Kopf hin und her.
»Lauter jugendlicher Übereifer! Er ist effektiv noch ganz wie ein Kind! Ich kaufe ja den Wald, das können Sie mir als ehrlichem Manne glauben, ohne Vorteil, nämlich nur so des guten Rufes wegen, damit es heißt, Rjabinin, und nicht irgendein anderer, hat dem Fürsten Oblonski den Wald abgekauft. Gott gebe, daß ich dabei auf meine Rechnung komme. Glauben Sie mir, bei Gott! Wollen Sie nun die Güte haben, mit mir den Vertrag aufzusetzen?«
Eine Stunde darauf setzte sich der Kaufmann, nach dem er sorgfältig seine Rockschöße übereinandergelegt und die Haken seines Überrockes geschlossen hatte, mit dem Vertrage in der Tasche in seinen solid beschlagenen Wagen, um nach Hause zu fahren.
»Ach, diese vornehmen Herren!« sagte er zu seinem Angestellten. »Alles dieselbe Sorte!«
»Das ist richtig«, erwiderte dieser, gab ihm die Zügel hin und knöpfte das Spritzleder fest. »Kann man Ihnen zu dem Handel Glück wünschen, Michail Ignatjitsch?«
»Hm, hm ...«
Die Tasche dick vollgestopft mit Banknoten, die ihm der Händler als Zahlung für die ersten drei Monate gegeben hatte, ging Stepan Arkadjewitsch hinauf. Das Geschäft mit dem Walde war erledigt, das Geld hatte er in der Tasche, die Schnepfenjagd [214] war sehr schön ausgefallen, und so befand sich denn Stepan Arkadjewitsch in heiterster Laune. Darum wünschte er ganz besonders, die üble Stimmung zu verscheuchen, die über Ljewin gekommen war. Es lag ihm daran, den Tag beim Abendessen ebenso vergnüglich zu beschließen, wie er ihn begonnen hatte.
Ljewin war tatsächlich verstimmt, und trotz dem besten Willen, gegen seinen lieben Gast freundlich und liebenswürdig zu sein, konnte er seiner Verstimmung nicht Herr werden. Die Nachricht, daß Kitty sich nicht verheiratet habe, wirkte auf ihn betäubend und machte ihn ganz benommen.
Kitty nicht verheiratet und krank, krank vor Liebe zu einem Mann, der sie verschmäht hatte. Es war ihm, als träfe diese Beleidigung ihn selbst. Wronski hatte sie verschmäht, und sie hatte wiederum ihn, Ljewin, verschmäht. Folglich hatte Wronski ein Recht, ihn, Ljewin, gering zu achten, und sie waren also Feinde. Aber klar überlegen konnte Ljewin das alles nicht; er hatte nur die undeutliche Empfindung, daß in dem Vorgefallenen eine Beleidigung für ihn liege, und sein Ingrimm richtete sich jetzt nicht gegen das, was ihn ursprünglich verstimmt hatte, sondern er ärgerte sich über alles, was ihm in die Quere kam. Der dumme Waldverkauf, der Betrug, auf den Oblonski hineingefallen war und der sich hier in seinem Hause abgespielt hatte, das brachte ihn auf.
»Nun, bist du fertig?« fragte er, als Stepan Arkadjewitsch zu ihm heraufkam. »Möchtest du Abendbrot essen?«
»Ja, ich wäre nicht abgeneigt. Was ich für einen Appetit auf dem Lande habe, das ist geradezu wunderbar. Warum hast du Rjabinin nicht zum Essen eingeladen?«
»Ach, hol ihn der Teufel!«
»Aber wie du ihn auch behandelst!« sagte Oblonski. »Nicht einmal die Hand hast du ihm gegeben. Was für einen Grund hast du denn dafür?«
»Einem Diener gebe ich auch nicht die Hand, und ein Diener ist hundertmal besser als er.«
»Was für ein Reaktionär bist du aber! Wo bleibt da die Verschmelzung der Stände?« sagte Oblonski.
»Wem's Vergnügen macht, zu verschmelzen, – wohl bekomm's! Mir aber widersteht es.«
»Na, ich sehe, du bist ein Reaktionär vom reinsten Wasser.«
»Offen gesagt, ich habe nie darüber nachgedacht, was ich bin. Ich bin Konstantin Ljewin, weiter nichts.«
»Und zwar Konstantin Ljewin, der sehr übler Laune ist«, setzte Stepan Arkadjewitsch lächelnd hinzu.
[215] »Ja, übler Laune bin ich, und willst du wissen, weshalb? Nimm mir's nicht übel, wegen deines dummen Verkaufes.«
Stepan Arkadjewitsch runzelte gutmütig die Stirn wie ein Mensch, der unschuldigerweise gekränkt und geärgert wird.
»Na, nun laß die Sache ruhen!« erwiderte er. »Wann wäre es wohl jemals geschehen, daß jemand etwas verkauft hätte und ihm nicht gleich nach dem Verkauf gesagt worden wäre: ›Das ist weit mehr wert‹? Aber während man im Handel begriffen ist, will einem kein Mensch mehr geben. – Nein, ich sehe schon, du hast einen Groll auf diesen unglücklichen Rjabinin.«
»Das kann schon sein. Aber weißt du auch, warum? Du wirst wieder sagen, daß ich ein Reaktionär oder sonst etwas Schreckliches bin; aber trotzdem muß ich sagen: es ärgert und schmerzt mich, diese allerwärts sich vollziehende Verarmung des Adels mit anzusehen, zu dem ich doch auch gehöre, eine Zugehörigkeit, über die ich trotz der Verschmelzung der Stände sehr froh bin. Und diese Verarmung ist nicht die Folge üppigen Lebens. Das wäre noch nicht so schlimm; in Herrenart zu leben, das ziemt dem Adel, und das verstehen auch nur die Edelleute. Jetzt kaufen hier in unserer Gegend Bauern Land zusammen; das geht mir weiter nicht zu Herzen: der Herr ergibt sich dem Nichtstun, der Bauer arbeitet und verdrängt den Müßiggänger. Das muß so sein. Und ich habe meine Freude an den strebsamen Bauern. Aber es wurmt mich, mit anzusehen, wie diese Verarmung oft durch eine gewisse – ja, ich weiß nicht recht, wie ich es nennen soll –, durch eine gewisse Harmlosigkeit herbeigeführt wird. Hier hat ein polnischer Pächter von einer Dame, die in Nizza lebt, ein wundervolles Gut für den halben Preis gekauft. Da verpachtet jemand einem Händler Land für einen Rubel die Deßjatine, wo zehn Rubel der richtige Preis wäre. Und du hast hier ohne jeden Anlaß einem Spitzbuben sechzigtausend Rubel geschenkt.«
»Was soll man denn manchen? Soll man etwa jeden Baum zählen?«
»Unbedingt muß man das tun. Siehst du, du hast nicht gezählt, und Rjabinin hat gezählt. Rjabinins Kinder werden die Mittel zum Leben und zu ihrer Ausbildung besitzen, und die deinigen vielleicht nicht.«
»Na, nimm es mir nicht übel, aber es liegt doch etwas Armseliges in dieser Rechnerei. Wir haben unsere Tätigkeit und diese Leute die ihrige, und sie müssen davon ihren Vorteil haben. Übrigens ist ja die Sache erledigt, also Schluß damit! – Sieh mal an, es gibt Spiegeleier; in dieser Form esse ich die Eier am allerliebsten. Und Agafja Michailowna gibt uns gewiß auch von diesem wundervollen Kräuterschnaps.«
[216] Stepan Arkadjewitsch setzte sich an den Tisch und begann mit Agafja Michailowna seine Späßchen zu machen, indem er ihr versicherte, ein solches Mittag-und ein solches Abendessen habe er lange nicht gehabt.
»Na ja, Sie loben einen wenigstens«, sagte Agafja Michailowna, »aber Konstantin Dmitrijewitsch, der ißt alles, was man ihm vorsetzt, und wenn es eine Brotrinde wäre; das ißt er und geht davon.«
Wie sehr sich Ljewin auch bemühte, seiner Verstimmung Herr zu werden, er blieb finster und schweigsam. Er hätte gern seinem Gaste eine Frage vorgelegt, aber er vermochte sich nicht dazu zu entschließen und fand weder die passende Form noch den geeigneten Zeitpunkt, wie und wann er es tun könnte. Stepan Arkadjewitsch war bereits in sein Zimmer hinuntergegangen, hatte sich ausgezogen, sich nochmals gewaschen, das gemusterte Nachthemd angelegt und sich zu Bett gelegt; aber Ljewin war noch immer bei ihm, zögerte, das Zimmer zu verlassen, redete von allerlei gleichgültigen Dingen und brachte es nicht fertig, die Frage auszusprechen, die ihm so wichtig war.
»Was für wundervolle Seife doch jetzt hergestellt wird«, sagte er, während er ein Stück parfümierte Seife, das Agafja Michailowna dem Gaste hingelegt, dieser aber nicht benutzt hatte, betrachtete und hin und her wendete. »Sieh nur mal, das ist doch ein wahres Kunstwerk!«
»Ja, man hat es jetzt auf allen Gebieten zur höchsten Vollkommenheit gebracht«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch und gähnte kräftig und behaglich. »Zum Beispiel die Theater und die Vergnügungslokale ... aaah!« gähnte er. »Überall elektrisches Licht ... aah!«
»Ja, das elektrische Licht!« sprach ihm Ljewin nach. »Ja. – Wo ist denn Wronski jetzt?« fragte er plötzlich und legte die Seife hin.
»Wronski?« versetzte Stepan Arkadjewitsch und hörte auf zu gähnen. »Der ist in Petersburg. Er ist bald nach dir abgereist und seitdem kein einziges Mal wieder in Moskau gewesen. Und weißt du, Konstantin, ich will dir die Wahrheit sagen«, fuhr er fort, indem er sich mit dem Ellbogen auf das Nachttischchen stützte und sein hübsches, rotbackiges Gesicht, aus dem die feucht schimmernden, gutmütigen, schläfrigen Augen wie Sterne herausleuchteten, in die Handfläche legte. »Du bist selbst schuld gewesen. Du hast dich von deinem Nebenbuhler ins Bockshorn jagen lassen. Ich meinerseits – das habe ich dir schon damals gesagt –, ich weiß nicht, auf wessen Seite die größeren Chancen waren. Warum bist du nicht energisch vorgegangen? Ich sagte [217] dir damals, daß ...« Er gähnte, aber nur mit den Kinnbacken, ohne den Mund zu öffnen.
›Weiß er's oder weiß er's nicht, daß ich ihr einen Antrag gemacht habe?‹ dachte Ljewin, der ihn aufmerksam ansah. ›Ja, es liegt ein so schlauer, diplomatischer Ausdruck auf seinem Gesicht.‹ Er fühlte, wie er errötete, blickte aber schweigend dem anderen gerade in die Augen.
»Wenn damals auf ihrer Seite eine Hinderung bestand, so war diese durch die starke Wirkung eines blendenden Äußeren herbeigeführt worden«, fuhr Oblonski fort. »Dieses vollendete aristokratische Wesen, weißt du, und die zukünftige glänzende Stellung in der Gesellschaft sind zwar nicht bei ihr, wohl aber bei der Mutter stark in die Waagschale gefallen.«
Ljewin machte ein finsteres Gesicht. Das Gefühl der Kränkung über die ihm widerfahrene Abweisung fing wie eine frische, soeben empfangene Wunde von neuem in seinem Herzen an zu brennen. Aber er war bei sich zu Hause, und man pflegt zu sagen: ›Zu Hause helfen einem die Wände.‹
»Halt, warte mal«, unterbrach er Oblonski. »Du sagst: aristokratisches Wesen; aber gestatte mir die Frage: Worin besteht dieses aristokratische Wesen bei Wronski oder bei sonst jemandem, ich meine ein aristokratisches Wesen von der Art, daß es dem Betreffenden ein Recht gäbe, mich gering zu achten? Du hältst Wronski für einen Aristokraten, ich bin anderer Ansicht. Ein Mensch, dessen Vater aus unbedeutender Lebensstellung durch Ränke und Schliche emporgestiegen ist, dessen Mutter, Gott weiß, mit wem, Liebschaften gehabt hat, – Nein, nimm mir's nicht übel, für einen Aristokraten halte ich mich selbst und Leute von meiner Art, die auf drei, vier ehrenhafte Generationen von Vorfahren in der Vergangenheit zurückweisen können, von Vorfahren, die sich auf der höchsten Stufe der Bildung ihrer Zeit befunden haben (Begabung und Verstand, das ist eine andere Sache), sich nie vor jemand erniedrigt haben und sich nie auf anderer Leute Hilfe angewiesen sahen, so wie mein Vater und mein Großvater gelebt haben. Und solcher Männer kenne ich viele. Dir erscheint es unwürdig, daß ich die Bäume im Walde zähle, und du schenkst an diesen Rjabinin sechzigtausend Rubel weg; aber du empfängst ein Gehalt, und ich weiß nicht, was sonst noch alles, und ich empfange dergleichen nicht, und darum schätze ich das, was ich ererbt und das, was ich mit meiner Arbeit erworben habe. – Wir sind die wahren Aristokraten und nicht jene Leute, die nur von den Gnadengeschenken leben können, die ihnen die Mächtigen dieser Welt zukommen lassen, jene Leute, die für ein Zwanzigkopekenstück käuflich sind.«
[218] »Aber gegen wen kämpfst du eigentlich an? Ich für meine Person bin ja ganz mit dir einverstanden«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch durchaus aufrichtig und höchst vergnügt, obwohl er herausfühlte, daß Ljewin unter den Leuten, die für ein Zwanzigkopekenstück käuflich seien, auch ihn selbst mit verstand. Ljewins Lebhaftigkeit hatte ihm wirklich gefallen. »Mit wem streitest du? Es ist zwar von dem, was du über Wronski gesagt hast, vieles nicht zutreffend, aber darüber will ich jetzt nicht reden. Ich sage dir nur geradeheraus: Ich an deiner Stelle würde jetzt mit nach Moskau fahren und ...«
»Nein, ich weiß nicht, ob es dir bekannt ist oder nicht; aber meinetwegen magst du es wissen, mir ganz gleich, und ich will es dir selbst sagen: Ich habe einen Antrag gemacht und einen Korb bekommen, und Katerina Alexandrowna ist für mich jetzt weiter nichts mehr als eine schmerzliche, peinliche Erinnerung.«
»Wieso denn? Dummes Zeug!«
»Wir wollen nicht weiter darüber sprechen. Bitte, entschuldige, wenn ich grob gegen dich gewesen bin«, sagte Ljewin. Jetzt, nachdem er sich alles vom Herzen geredet hatte, wurde er wieder derselbe, der er am Morgen gewesen war. »Du bist doch nicht böse auf mich, Stiwa? Bitte, sei mir nicht böse!« bat er und ergriff lächelnd des anderen Hand.
»Aber nein, ganz und gar nicht; dazu wäre ja auch gar kein Grund. Ich freue mich, daß wir uns miteinander ausgesprochen haben. Und weißt du, morgens pflegt der Schnepfenstrich gut zu sein. Wollen wir nicht noch einmal hinfahren? Ich würde dann eben auf den Morgenschlaf verzichten und gleich von der Jagd nach der Station fahren.«
»Ausgezeichnet!«
Obgleich Wronskis ganzes inneres Leben von seiner Leidenschaft ausgefüllt war, rollte doch sein äußeres Leben unverändert und unaufhaltsam in dem früheren gewohnten Geleise der gesellschaftlichen und kameradschaftlichen Beziehungen und Interessen dahin. Die kameradschaftlichen Interessen nahmen in Wronskis Leben eine wichtige Stelle ein, erstens, weil er sein Regiment liebte, und zweitens in noch höherem Grade deswegen, weil er im Regiment sehr beliebt war. Und Wronski war im Regiment nicht nur beliebt, sondern seine Kameraden schätzten ihn auch hoch und waren stolz darauf, daß dieser Mann, der über einen gewaltigen Reichtum verfügte und eine vorzügliche Bildung und ausgezeichnete Fähigkeiten besaß und auf jedem [219] Gebiete, mochte er es nun auf Befriedigung des Ehrgeizes oder auf Befriedigung der Eitelkeit anlegen, den Weg zum Erfolge frei und unbehindert vor sich liegen sah, – daß dieser Mann das alles hintansetzte und von allen Lebensinteressen den Interessen des Regiments und der Kameraden in seinem Herzen den weitesten Raum gönnte. Wronski wußte, daß die Kameraden so über ihn dachten, und abgesehen davon, daß ihm dieses Leben zusagte, fühlte er sich verpflichtet, die über ihn bestehende Meinung durch sein Verhalten zu rechtfertigen.
Es versteht sich von selbst, daß er mit keinem seiner Kameraden von seiner Liebe sprach, ja selbst bei den ärgsten Zechgelagen ließ er sich kein Wort darüber entschlüpfen (übrigens betrank er sich überhaupt nie so, daß er die Herrschaft über sich selbst verloren hätte) und stopfte denen seiner leichtsinnigen Kameraden den Mund, die sich erlaubten, Anspielungen auf sein Verhältnis zu machen. Aber trotzdem war seine Liebe in der ganzen Stadt bekannt; alle errieten mehr oder weniger genau die Natur seiner Beziehungen zu Frau Karenina; die meisten jungen Männer beneideten ihn gerade um das, was ihm bei dieser Liebe das Peinlichste war: daß Karenin eine so hohe amtliche Stellung bekleidete und daher diese Liebschaft den Blicken aller ausgesetzt war.
Von den jungen Frauen hatten sehr viele Anna von jeher beneidet, und es hatte sie schon lange verdrossen, daß Anna in der Gesellschaft als eine ›durchaus anständige Frau‹ bezeichnet zu werden pflegte; diese freuten sich nun in der Voraussetzung, daß ihre Vermutungen richtig seien, und warteten nur auf den endgültigen Umschwung der öffentlichen Meinung, um mit der ganzen Wucht ihrer Verachtung über Anna herzufallen. Sie hielten bereits die Schmutzklumpen in Bereitschaft, mit denen sie sie bewerfen wollten, sobald der rechte Augenblick gekommen wäre. Dagegen waren die meisten Leute, die sich in höherem Lebensalter und in höherer Stellung befanden, sehr mißvergnügt über dieses sich vorbereitende gesellschaftliche Ärgernis.
Wronskis Mutter war, als sie von dieser Liebschaft gehört hatte, anfangs damit zufrieden gewesen, erstens, weil ihrer Meinung nach nichts so geeignet war, einem jungen Manne in glänzender Lebensstellung den letzten Schliff zu geben, wie ein Liebesverhältnis in den höchsten Schichten der Gesellschaft, und zweitens, weil Frau Karenina, die ihr so gut gefallen und ihr so viel von ihrem kleinen Sohne erzählt hatte, nun doch – nach der Auffassung der Gräfin Wronskaja – von ganz demselben Schlage war wie alle schönen, vornehmen Frauen. Aber neuerdings hatte sie erfahren, daß ihr Sohn eine ihm angebotene, für [220] seine ganze Laufbahn wichtige Stellung nur deswegen abgelehnt habe, um im Regiment in Petersburg zu bleiben, wo er mit Frau Karenina zusammentreffen konnte; sie hatte erfahren, daß hochgestellte Persönlichkeiten sein Verhalten stark mißbilligten; so änderte sie denn ihre Meinung. Auch das mißfiel ihr, daß nach allem, was sie über diese Liebschaft hörte, es sich dabei nicht um ein glänzendes, unterhaltsames Verhältnis im Stile der großen Welt handele (dagegen hätte sie nichts gehabt), sondern um eine Art von verzweifelter Werther-Leidenschaft, die ihn zu Torheiten verleiten konnte. Sie hatte ihn seit seiner überraschenden Abreise aus Moskau nicht mehr gesehen und ihn jetzt durch Vermittlung ihres ältesten Sohnes aufgefordert, zu ihr zu kommen.
Auch der ältere Bruder war mit dem jüngeren unzufrieden. Er untersuchte nicht, von welcher Art diese Liebe sei, ob groß oder klein, leidenschaftlich oder nicht leidenschaftlich, lasterhaft oder nicht lasterhaft (er selbst, obwohl er Frau und Kinder hatte, hielt eine Tänzerin aus und urteilte daher über dergleichen nachsichtig); aber er wußte, daß diese Liebe Mißfallen bei Leuten erregte, nach deren Gunst man streben mußte, und daher mißbilligte er das Benehmen seines Bruders.
Außer seiner dienstlichen Tätigkeit und seinem Verkehr in der Gesellschaft hatte Wronski noch eine andere Neigung: die für Pferde; für Pferde hatte er eine große Leidenschaft.
Für dieses Jahr war unter anderen ein Offiziersrennen mit Hindernissen angesetzt. Wronski hatte sich für dieses Rennen eingeschrieben, sich eine englische Vollblutstute gekauft und war nun trotz seiner Liebe mit Leib und Seele, wiewohl nicht etwa maßlos, bei den Vorbereitungen zum Rennen.
Diese beiden Leidenschaften waren einander wechselseitig nicht hinderlich. Im Gegenteil, er brauchte etwas, was ihn beschäftigte und interessierte, unabhängig von seiner Liebe, etwas, wobei er sich von den allzu heftigen Gemütsaufregungen erfrischte und erholte.
Am Tage des Rennens in Krasnoje Selo kam Wronski früher als gewöhnlich in den Speisesaal des Regimentskasinos, um ein Beefsteak zu essen. Er hatte keine besonders strenge Kost nötig, da sein Gewicht genau den vorschriftsmäßigen viereinhalb Pud gleichkam; aber dicker durfte er auch nicht werden, und darum vermied er Mehlspeisen und Süßigkeiten. Er saß da, den Rock über der weißen Weste aufgeknöpft, beide Ellbogen auf den [221] Tisch stützend, und blickte, während er auf das bestellte Beefsteak wartete, in einen französischen Roman, der auf seinem Teller lag. Er sah nur darum in das Buch, um nicht mit den beständig kommenden und gehenden Offizieren reden zu müssen; aber er überließ sich dabei seinen Gedanken.
Er dachte daran, daß Anna versprochen hatte, ihm heute nach dem Rennen ein Zusammensein zu gewähren. Aber da er sie seit drei Tagen nicht gesehen hatte und inzwischen ihr Mann aus dem Auslande zurückgekehrt war, so wußte er nicht, ob unter diesen Umständen das Zusammensein heute möglich sein werde oder nicht, und wußte auch nicht, wie er es in Erfahrung bringen sollte. Zum letzten Male hatte er sich mit ihr in dem Landhause seiner Cousine Betsy getroffen. Das von Karenins bewohnte Landhaus besuchte er möglichst selten. Jetzt jedoch wäre er gern dorthin gefahren und erwog die Frage, wie das unauffällig anzustellen sei.
›Selbstverständlich werde ich sagen, Betsy habe mich hingeschickt, um sich erkundigen zu lassen, ob sie zum Rennen kommen werde. Ich fahre bestimmt hin‹, war das Ergebnis seiner Überlegungen, und nun hob er den Kopf vom Buche in die Höhe. Indem er sich das Glück, sie wiederzusehen, lebhaft vorstellte, strahlte er über das ganze Gesicht.
»Schicke jemanden nach meiner Wohnung«, sagte er zu dem Diener, der ihm das Beefsteak auf einer heißen silbernen Platte brachte. »Ich ließe sagen, es solle so schnell wie möglich die Kutsche dreispännig angespannt werden.« Dann zog er die Platte zu sich heran und fing an zu essen.
Aus dem daneben befindlichen Billardzimmer hörte man das Anstoßen der Bälle, Sprechen und Lachen. Durch die Eingangstür des Speisesaales traten zwei Offiziere herein: der eine ein noch sehr junges Bürschchen mit schmalem, feinem Gesichte; er war erst kürzlich aus dem Pagenkorps in das Regiment eingetreten; der andere ein dicker, älterer Offizier mit einem Armband am Handgelenk und verquollenen, kleinen Augen.
Wronski warf einen Blick zu ihnen hin und machte ein verdrießliches Gesicht; er tat, als ob er sie gar nicht bemerke, und begann, indem er nach seinem Buche hinschielte, gleichzeitig zu essen und zu lesen.
»Nun, stärkst du dich für die Arbeit?« sagte der dicke Offizier und setzte sich neben ihn.
»Wie du siehst«, erwiderte Wronski stirnrunzelnd und wischte sich, ohne nach ihm hinzusehen, den Mund.
»Fürchtest du nicht, zu dick zu werden?« fuhr jener fort und drehte dabei einen Stuhl für den jungen Offizier zurecht.
[222] »Wie?« fragte Wronski ärgerlich, verzog mit einer Gebärde des Widerwillens das Gesicht und zeigte seine kräftigen, lückenlosen Zähne.
»Ob du nicht fürchtest, zu dick zu werden?«
»Ordonnanz, Sherry!« rief Wronski, ohne ihm zu antworten, legte das Buch auf die andere Seite und las weiter.
Der dicke Offizier nahm die Weinkarte und wandte sich an den jüngeren Kameraden:
»Suche selbst aus, was wir trinken wollen«, sagte er, reichte ihm die Karte hin und sah ihn an.
»Vielleicht Rheinwein?« versetzte dieser. Er schielte schüchtern zu Wronski hin und bemühte sich, mit den Fingern sein kaum sprossendes Schnurrbärtchen zu fassen. Als er sah, das Wronski sich nicht umwandte, stand er auf.
»Wir wollen ins Billardzimmer gehen«, sagte er.
Der Dicke erhob sich gehorsam, und sie schritten zur Tür hin.
In diesem Augenblick trat der Rittmeister Jaschwin, ein stattlicher Mann von hohem Wuchse, ins Zimmer, nickte durch eine Kopfbewegung nach oben den beiden Offizieren geringschätzig zu und trat zu Wronski.
»Ah, da ist er ja!« rief er und versetzte ihm mit seiner großen Hand einen kräftigen Schlag auf das Achselstück. Wronski sah sich ärgerlich um, aber sogleich leuchtete auf seinem Gesichte der ihm eigene Ausdruck ruhiger, fester Freundlichkeit auf.
»Das ist verständig von dir, Alexei«, sagte der Rittmeister mit seiner lauten Baßstimme. »Jetzt mußt du ein bißchen essen und ein Gläschen trinken, aber nicht mehr als eines.«
»Ich habe gar keinen Appetit.«
»Da sind ja die beiden Unzertrennlichen«, bemerkte Jaschwin mit einem spöttischen Blicke nach den beiden Offizieren, die in diesem Augenblicke aus dem Zimmer gingen. Er setzte sich neben Wronski, wobei er seine für die Höhe der Stühle viel zu langen, in engen Reithosen steckenden Ober- und Unterschenkel in spitzem Winkel zusammenbog. »Warum bist du gestern nicht nach Krasnoje Selo ins Theater gekommen? Die Numerowa war gar nicht übel. Wo bist du denn gewesen?«
»Ich habe mich bei Twerskis unvermerkt etwas lange aufgehalten«, antwortete Wronski.
»Ah!« machte Jaschwin.
Jaschwin, ein Spieler, ein Trinker und ein Mensch, der nicht nur keine sittenstrengen Grundsätze besaß, sondern sich geradezu die Sittenlosigkeit zum Grundsatz gemacht hatte, dieser Jaschwin war im Regimente Wronskis bester Freund. Wronski [223] mochte ihn zunächst wegen seiner außerordentlichen physischen Kraft gern, die er hauptsächlich dadurch bewies, daß er imstande war, wie ein Faß zu trinken und den Schlaf zu entbehren, ohne daß irgendwelche Veränderung an ihm wahrzunehmen gewesen wäre, ferner auch wegen seiner großen Willenskraft, die sowohl in seinem Verkehr mit Vorgesetzten und mit Kameraden zutage trat und ihn gefürchtet und geachtet machte, wie auch im Spiel, bei dem er oft um Summen von zwanzig-, dreißigtausend Rubel spielte, aber immer trotz dem in Menge genossenen Wein mit einer solchen Feinheit und Festigkeit, daß er im Englischen Klub für den ersten Spieler galt. Ganz besonders aber schätzte ihn Wronski und mochte ihn gern leiden, weil er wußte, daß Jaschwin sich zu ihm nicht durch seinen Namen und seinen Reichtum, sondern durch seine Persönlichkeit hingezogen fühlte. Und dieser Jaschwin war von allen Menschen der einzige, mit dem Wronski gern von seiner Liebe gesprochen hätte. Er fühlte, daß Jaschwin allein, trotz seiner anscheinenden Geringschätzung jeder weicheren Empfindung, imstande sei, die starke Leidenschaft zu verstehen, die jetzt sein ganzes Dasein ausfüllte. Außerdem war er überzeugt, daß Jaschwin sicherlich kein Vergnügen daran finden werde, Klatsch und Ärgernis weiterzutragen, sondern für dieses Gefühl die richtige Auffassung habe, das heißt einsehe und glaube, daß diese Liebe kein Scherz und kein Zeitvertreib, sondern etwas Ernstes und Wichtiges sei.
Wronski hatte mit ihm nie von seiner Liebe gesprochen; aber er wußte, daß jenem alles bekannt war und er es so auffaßte, wie es aufgefaßt werden mußte, und es war ihm eine angenehme Empfindung, dies in Jaschwins Augen zu lesen.
»Ah!« erwiderte dieser auf Wronskis Mitteilung, daß er bei Twerskis gewesen sei, faßte die linke Schnurrbartspitze und steckte sie sich nach einer schlechten Gewohnheit in den Mund; dabei blitzten ihm die schwarzen Augen.
»Na, und was hast du gestern gemacht? Hast du gewonnen?« fragte Wronski.
»Achttausend. Aber dreitausend sind faul; die wird der Verlierer kaum bezahlen.«
»Nun, dann kannst du es ja verschmerzen, an mir etwas zu verlieren«, meinte Wronski lachend. (Jaschwin hatte auf Wronski hoch gewettet.)
»Ich verliere unter keinen Umständen. Der einzige, der gefährlich ist, ist Machotin.«
Das Gespräch ging zu dem heute bevorstehenden Rennen über, dem einzigen Gegenstande, an den Wronski jetzt zu denken vermochte.
[224] »Wir wollen gehen; ich bin fertig«, sagte Wronski, stand auf und ging zur Tür. Jaschwin erhob sich ebenfalls und reckte seine gewaltigen Beine und den langen Rücken gerade.
»Zum Mittagessen ist es mir noch zu früh; aber trinken muß ich noch schnell etwas. Ich komme sofort. Heda, Wein!« rief er mit seiner berühmten starken Kommandostimme, von der die Scheiben klirrten. »Nein, es ist nicht nötig«, rief er unmittelbar darauf wieder. »Wenn du zu dir nach Hause gehst, komme ich mit.«
Beide gingen hinaus.
Wronski hatte im Lager seine Unterkunft in einem geräumigen, sauberen finnischen Bauernhäuschen, das durch eine Bretterwand in zwei Teile geteilt war. Petrizki wohnte auch im Lager mit ihm zusammen. Er schlief noch, als Wronski und Jaschwin in das Haus traten.
»Steh auf, du hast genug geschlafen!« rief Jaschwin, der hinter die Scheidewand gegangen war und Petrizki an der Schulter schüttelte; dieser lag dort auf dem Bette und hatte seinen struppigen Kopf mit der Nase im Kissen vergraben.
Petrizki sprang plötzlich auf die Knie und blickte um sich.
»Dein Bruder war hier«, sagte er zu Wronski. »Er hat mich aufgeweckt, hol ihn der Teufel; er sagte, er käme wieder.« Damit warf er sich wieder auf das Kissen und zog die Decke über sich. »So laß mich doch in Ruhe!« rief er Jaschwin ärgerlich zu, der ihm die Decke wegziehen wollte. »Laß mich doch in Ruhe!« Er drehte sich herum und machte die Augen auf. »Sag mir lieber, was ich trinken soll; ich habe einen so gräßlichen Geschmack im Munde, daß ...«
»Schnaps ist das allerbeste«, erwiderte Jaschwin mit seiner kräftigen Baßstimme. »Tereschtschenko, bring dem Herrn Schnaps und Gurken!« schrie er; es machte ihm offenbar Vergnügen, seine Stimme zu hören.
»Du meinst Schnaps? Ja?« fragte Petrizki, die Stirn runzelnd und sich die Augen reibend. »Trinkst du mit? Wenn du mittrinkst, dann nur zu! Wronski, trinkst du auch mit?« fragte Petrizki, indem er aufstand und sich bis unter die Arme in die getigerte Decke einwickelte. Er stellte sich in die Tür der Scheidewand, hob die Arme in die Höhe und fing an, auf französisch zu singen: »Es war ein König in Thuuule ... – Wronski, trinkst du mit?«
»Laß mich in Ruh!« erwiderte Wronski und zog den Waffenrock an, den ihm sein Diener reichte.
[225] »Wo willst du denn hin?« fragte ihn Jaschwin. »Da ist ja auch deine Troika«, fügte er hinzu, als er den vorfahrenden Wagen erblickte.
»Nach dem Stall; und dann muß ich noch zu Brjanski wegen der Pferde«, antwortete Wronski.
Wronski hatte tatsächlich versprochen, zu Brjanski, der zehn Werst von Peterhof entfernt wohnte, zu kommen und ihm das Geld für die Pferde zu bringen, und er hätte gern auch diesen Besuch noch erledigt. Aber seine Kameraden durchschauten sofort, daß er auch noch anderswohin zu fahren beabsichtige.
Petrizki fuhr mit seinem Geträller fort, kniff aber ein Auge zusammen und machte die Lippen dick, wie wenn er sagen wollte: ›Wir wissen schon, was für ein Brjanski das ist.‹
Jaschwin beschränkte sich darauf, zu sagen: »Paß nur auf, daß du nicht zu spät kommst!« und um das Gesprächsthema zu wechseln, fragte er: »Nun, macht denn mein Hellbrauner seine Sache gut?« Er blickte durch das Fenster nach dem Deichselpferde, das er an Wronski verkauft hatte.
»Halt!« schrie Petrizki dem bereits hinausgehenden Wronski zu. »Dein Bruder hat einen Brief für dich hiergelassen und einen Zettel. Warte mal, wo mögen die nur sein?«
Wronski blieb stehen.
»Nun, wo sind sie denn?«
»Wo sie sind? Ja, das ist eben die Frage!« sagte Petrizki feierlich und strich sich mit dem Zeigefinger nach oben hin über die Nase.
»Na, nun sag es doch! Das ist ja eine Dummheit!« meinte Wronski lächelnd.
»Den Kamin habe ich nicht geheizt. Sie müssen hier irgendwo sein.«
»Nun laß die Torheiten! Wo ist der Brief?«
»Nein, wahrhaftig, ich hab's vergessen. Oder hab ich die ganze Geschichte nur geträumt? Warte doch, so warte doch nur! Da brauchst du doch nicht gleich ärgerlich zu werden! Wenn du, wie ich gestern, eine Zecherei mitgemacht hättest, bei der vier Flaschen auf den Mann kamen, dann würdest du überhaupt nicht mehr wissen, wo du lägst. Warte, es wird mir gleich einfallen!«
Petrizki ging hinter den Verschlag und legte sich auf sein Bett.
»Halt einmal! So lag ich, so stand er. Ja, ja; ja, ja ... Und da ist er!« Wirklich zog Petrizki den Brief unter der Matratze hervor, wo er ihn versteckt hatte.
Wronski nahm den Brief und den von seinem Brüder geschriebenen Zettel in Empfang. Es war genau das, was er erwartet [226] hatte: ein Brief von seiner Mutter mit Vorwürfen, daß er nicht zu ihr gekommen sei, und ein Zettel von seinem Bruder, der ihm schrieb, er müsse ihn dringend sprechen. Wronski wußte, daß es sich immer um dieselbe Sache handele. ›Was geht das die an!‹ dachte er, knickte den Brief und den Zettel mehrmals zusammen und schob sie zwischen die Knöpfe seines Waffenrocks, um sie während des Fahrens aufmerksam zu lesen. Im Flur des Häuschens begegneten ihm zwei Offiziere, der eine von seinem Regiment, der andere von einem anderen.
Wronskis Quartier bildete immer den Sammelplatz für alle Offiziere.
»Wohin?«
»Ich muß nach Peterhof.«
»Ist das Pferd aus Zarskoje gekommen?«
»Ja, aber ich habe es noch nicht gesehen.«
»Es heißt, Machotins Gladiator sei lahm geworden.«
»Unsinn! Aber wie werdet ihr nur bei diesem Schmutze reiten können?« sagte der zweite.
»Da kommen meine Retter!« schrie Petrizki, als er die Eintretenden erblickte. (Vor ihm stand sein Bursche mit Schnaps und Salzgurken auf einer Platte.) »Jaschwin hier hat gesagt, ich solle trinken, um wieder frisch zu werden.«
»Na, ihr habt uns gestern mit euerem Heidenlärm gehörig geärgert«, sagte einer der Hinzugekommenen. »Die ganze Nacht habt ihr uns nicht schlafen lassen.«
»Nein, und nun erst der Schluß der ganzen Geschichte!« erzählte Petrizki. »Wolkow kletterte aufs Dach und sagte, er sei so traurig. Ich rief: ›Hierher die Musik! Einen Trauermarsch!‹ Und so schlief er auf dem Dache bei den Klängen des Trauermarsches ein.«
»Du mußt Schnaps trinken, unbedingt Schnaps trinken, und dann Selterswasser mit viel Zitrone«, meinte Jaschwin, der über den liegenden Petrizki gebeugt dastand wie eine Mutter, die einem Kinde zuredet, eine Arznei einzunehmen. »Und dann ein bißchen Champagner, etwa so ein Fläschchen.«
»Na, das ist ein verständiger Rat. Bleib doch noch hier, Wronski, und trink mit!«
»Nein. Auf Wiedersehen, meine Herren! Heute trinke ich nicht.«
»Du wirst wohl dadurch zu schwer? Na, dann trinken wir allein. Bring Selterswasser und Zitronen!«
»Wronski!« rief ihm einer noch nach, als er schon auf den Flur hinausging.
»Was?«
[227] »Du solltest dir die Haare schneiden lassen; die machen dich sonst zu schwer, besonders auf der Glatze.«
Wronski bekam in der Tat vorzeitig einen kahlen Kopf. Er lachte vergnügt auf, wobei er seine vortrefflichen Zähne zeigte, schob die Mütze auf den kahlen Kopf, ging hinaus und stieg in den Wagen.
»Nach dem Stall!« rief er dem Kutscher zu und wollte schon den Brief und den Zettel hervorholen, um sie durchzulesen; aber dann änderte er seine Absicht, um nicht vor der Besichtigung des Pferdes seine Gedanken zu zerstreuen. ›Nachher!‹ sagte er bei sich.
Der behelfsmäßige Stall, eine Bretterbude, war unmittelbar neben der Rennbahn eingerichtet, und dahin hatte sein Pferd nach seiner Anordnung schon tags zuvor übergeführt werden sollen. Er hatte es noch nicht gesehen. In diesen letzten Tagen hatte er das Tier nicht selbst zur Vorübung geritten, sondern den Trainer damit beauftragt, und jetzt wußte er gar nicht, in welchem Zustand sein Pferd angekommen war und sich augenblicklich befand. Kaum war er aus dem Wagen gestiegen, als sein Stallknecht, der sogenannte Junge, der seinen Wagen schon von weitem erkannt hatte, den Trainer herausrief. Der dürre Engländer, in hohen Stiefeln und kurzer Jacke, rasiert bis auf einen Haarbüschel am Kinn, kam ihm mit dem ungeschickten Gange der Jockeis, die Ellbogen auseinanderspreizend und sich hin und her wiegend, entgegen.
»Nun, was macht Frou-Frou?« fragte Wronski auf englisch.
»All right, Sir!« sagte die Stimme des Engländers irgendwo im Inneren der Kehle. »Es ist besser, wenn Sie nicht zu ihr gehen«, fügte er hinzu und lüftete seinen Hut. »Ich habe ihr den Kappzaum angelegt, und das Pferd ist aufgeregt. Es ist besser, wenn Sie nicht hingehen; das beunruhigt das Pferd.«
»Nein, ich will doch hingehen. Ich möchte sie gern sehen.«
»Nun, dann kommen Sie«, erwiderte stirnrunzelnd der Engländer, immer in derselben Weise, ohne den Mund zu öffnen, und ging, mit den Ellbogen umherarbeitend, mit seinem haltlosen Gange voran.
Sie betraten den kleinen Hof vor der Baracke. Der diensttuende Stallknecht, ein hübscher, strammer Bursche in sauberer Jacke, mit einem Besen in der Hand, begrüßte die Eintretenden und schloß sich ihnen an. In der Baracke standen fünf Pferde in den Boxen, und Wronski wußte, daß heute auch sein wichtigster [228] Mitbewerber hergebracht sein und dastehen mußte, Machotins Gladiator, ein fünf Werschok hoher Fuchs. Noch lieber als seinen eigenen Renner hätte Wronski diesen Gladiator gesehen, den er noch nicht kannte; aber er wußte, daß er ihn nach den Anstandsgesetzen des Rennsports nicht sehen dürfe, ja daß es sogar unpassend sei, nach ihm auch nur zu fragen. Aber während er den Gang entlang schritt, öffnete der Stallknecht die Tür zu der zweiten Box links, und Wronski erblickte einen kräftig gebauten Fuchs mit weißen Füßen. Er wußte, daß dies Gladiator war; aber mit einem Gefühle, wie wenn sich jemand von einem fremden geöffneten Briefe abwendet, drehte er sich weg und ging zu Frou-Frous Box.
»Hier ist das Pferd von Mak ... Mak ... ich kann diesen Namen nie ordentlich herausbekommen«, sagte der Engländer über die Schulter weg und wies mit dem Daumen, an dem ein schmutziger Nagel saß, nach der Box Gladiators.
»Von Machotin? Ja, das ist mein einziger ernsthafter Gegner«, erwiderte Wronski.
»Wenn Sie ihn ritten«, sagte der Engländer, »würde ich auf Sie setzen.«
»Frou-Frou hat mehr Temperament, Gladiator mehr Kraft«, versetzte Wronski und lächelte über das seiner Reitkunst gespendete Lob.
»Beim Hindernisreiten kommt alles auf das Reiten und den pluck an«, bemerkte der Engländer.
Pluck, das heißt Energie und Kühnheit, fühlte Wronski nicht nur in ausreichendem Maße in sich, sondern, was noch weit wichtiger war, er war auch fest überzeugt, daß niemand diesen pluck in höherem Grade besitzen könne als er.
»Sie wissen genau, daß es nicht nötig war, das Pferd schwitzen zu lassen?«
»Nein, es war nicht nötig«, antwortete der Engländer. »Bitte, sprechen Sie nicht laut! Das Pferd regt sich auf«, fügte er hinzu und deutete mit einer Kopfbewegung nach der geschlossenen Box, vor der sie standen und aus der man das Hinundhertreten der Füße des Pferdes im Stroh hörte.
Er öffnete die Tür, und Wronski trat in die Box, die nur durch ein kleines Fensterchen schwaches Licht empfing. In der Box stand ein dunkelbraunes Pferd mit einem Kappzaum und stampfte in dem frischen Stroh umher. Nachdem Wronski sich in dem Halbdunkel der Box umgeblickt hatte, umfaßte er noch einmal unwillkürlich mit einem Gesamtblicke die ganze Gestalt seines Lieblingspferdes. Frou-Frou war ein Pferd von Mittelgröße und im Körperbau nicht tadellos. Es war sehr schmal im [229] Knochengerüst; wiewohl der Brustkorb sich stark nach vorn ausbuchtete, war die Brust doch nur schmal. Das Hinterteil hing etwas herab, und an den Vorderbeinen und namentlich an den Hinterbeinen war eine merkliche Krummbeinigkeit vorhanden. Die Muskeln der Hinter- und der Vorderbeine waren nicht besonders massig; aber dafür war das Pferd am Sattelgurt außerordentlich breit, was besonders jetzt bei seiner Trainierung und seinem mageren Bauche auffiel. Die Knochen seiner Beine unterhalb der Knie schienen, von vorn gesehen, nicht dicker als ein Finger zu sein, waren dagegen, von der Seite betrachtet, ungewöhnlich breit. Das ganze Tier war, mit Ausnahme der Rippen, gleichsam von den Seiten her zusammengedrückt und hinten hinabgezogen. Aber es besaß im höchsten Maße einen Vorzug, der alle solche Mängel vergessen ließ; dieser Vorzug war das Blut, jenes Blut, das nach dem englischen Ausdruck ›sich zeigt‹. Aus dem Adernetz, das sich in der feinen, beweglichen, atlasglatten Haut ausbreitete, traten die Muskeln scharf heraus, die so fest wie Knochen zu sein schienen. Der magere Kopf mit den vorstehenden, glänzenden, munteren Augen verbreiterte sich am Maule zu den herausragenden Nüstern, deren Innenhaut mit blutroten Äderchen durchzogen war. In der ganzen Gestalt und namentlich in der Bildung des Kopfes lag ein Ausdruck von Bestimmtheit und Energie und doch zugleich von Zartheit. Es war eines von jenen Tieren, die anscheinend nur deswegen nicht sprechen, weil es ihnen die mechanische Einrichtung ihres Mundes nicht gestattet.
Wronski wenigstens hatte den Eindruck, als verstünde die Stute alles, was er jetzt bei ihrem Anblicke empfand.
Sobald Wronski zu ihr hineintrat, zog sie die Luft tief einatmend in sich hinein, verdrehte ihr ihm zugewandtes vorstehendes Auge dermaßen, daß das Weiße sich von Blut rot färbte, sah von der gegenüberliegenden Seite der Box nach den Eintretenden hin, rüttelte ein wenig mit dem Kappzaum und trat mit federnden Bewegungen von einem Fuße auf den anderen.
»Nun, da sehen Sie, wie aufgeregt sie ist«, sagte der Engländer.
»O meine Liebe, Gute, o!« rief Wronski, indem er zu der Stute hintrat und sie zu besänftigen suchte.
Aber je näher er heranging, um so mehr regte sie sich auf. Nur als er sich ihrem Kopfe näherte, wurde sie auf einmal still, und ihre Muskeln zitterten unter dem feinen, zarten Fell. Wronski streichelte ihr den festen Hals, legte auf dem scharfen Kamm eine nach der anderen Seite hinübergefallene Strähne der Mähne zurecht und näherte sein Gesicht ihren weit geöffneten [230] Nüstern, die so dünn schienen wie die Flügel einer Fledermaus. Sie atmete mit geblähten Nüstern geräuschvoll ein und aus, zuckte zusammen, drückte die spitzen Ohren an den Kopf und streckte die festen, schwarzen Lippen nach Wronski aus, als ob sie ihn am Ärmel fassen wollte. Aber da sie sich des Kappzaumes erinnerte, so schüttelte sie mit diesem und begann wieder mit ihren fein gedrechselten Füßen hin und her zu treten.
»Immer ruhig, meine Liebe, Gute, immer ruhig!« sagte er und streichelte sie noch einmal mit der Hand über das Hinterteil; dann verließ er die Box in dem frohen Bewußtsein, daß das Pferd sich in der besten Verfassung befinde.
Die Erregung des Pferdes war auch auf Wronski übergegangen; er fühlte, wie ihm das Blut zum Herzen strömte und daß er, gerade wie das Pferd, Lust bekam, wilde Bewegungen mit den Gliedern zu machen und um sich zu beißen; es war ihm bänglich und froh zugleich zumute.
»Also ich verlasse mich auf Sie«, sagte er zu dem Engländer. »Seien Sie um halb sieben zur Stelle!«
»All right!« erwiderte der Engländer. »Wohin fahren Sie, Mylord?« fragte er unvermutet, indem er diesmal die Anrede Mylord gebrauchte, deren er sich sonst fast nie bediente.
Verwundert hob Wronski den Kopf in die Höhe und blickte mit jenem Blicke, auf den er sich verstand, dem Engländer nicht in die Augen, sondern auf die Stirn, erstaunt über die Dreistigkeit der Frage. Aber da er sich sagte, daß der Engländer, indem er so fragte, in ihm nicht den Herrn, sondern sozusagen einen Jockei gesehen habe, antwortete er ihm:
»Ich muß zu Brjanski; in einer Stunde bin ich wieder zu Hause.«
›Wie oft ist heute schon diese Frage an mich gerichtet worden!‹ sagte er bei sich selbst und errötete, was bei ihm nur selten vorkam. Der Engländer richtete einen forschenden Blick auf ihn, und als ob er wüßte, wohin Wronski fahren wollte, fügte er hinzu:
»Das erste Erfordernis ist, daß man sich vor dem Rennen in ruhiger Gemütsstimmung befindet. Seien Sie heiter, und lassen Sie sich durch nichts die Laune verderben!«
»All right!« erwiderte Wronski lächelnd, sprang in den Wagen und befahl dem Kutscher, nach Peterhof zu fahren.
Kaum war er einige Schritte gefahren, als eine dunkle Wolke, die schon seit dem Vormittag mit Regen gedroht hatte, heraufzog und ein Platzregen sich ergoß.
›Schlimm!‹ dachte Wronski, indem er das Verdeck des Wagens in die Höhe schlug. ›Schmutzig war es so schon; nun wird's der [231] reine Sumpf sein.‹ Während er so allein im geschlossenen Wagen saß, holte er den Brief seiner Mutter und den Zettel seines Bruders hervor und las beide.
Ja, es war immer dieselbe Geschichte. Alle, seine Mutter, sein Bruder, alle hielten sie es für nötig, sich in seine Herzensangelegenheiten zu mischen. Diese Einmischung rief in ihm einen ordentlichen Ingrimm hervor, eine Empfindung, die er nur selten hatte. ›Was geht es sie an? Warum hält es jeder für seine Pflicht, sich um mich Sorgen zu machen? Warum drängen sie sich mir auf? Weil sie sehen, daß hier etwas vorgeht, was sie nicht begreifen können. Handelte es sich um eine der gewöhnlichen faden Liebschaften, wie sie in der Gesellschaft gang und gäbe sind, so würden sie mich in Ruhe lassen. Aber sie fühlen, daß dies denn doch von anderer Art ist, daß dies keine Spielerei ist und daß diese Frau mir teuerer ist als mein Leben. Und dergleichen ist ihnen unverständlich, und darum ärgern sie sich. Unser Schicksal, mag es jetzt sein, wie es will, und sich künftig gestalten, wie es will, haben wir uns selbst geschaffen, und wir dürfen uns nicht darüber beklagen‹, sagte er zu sich, wobei er mit dem Worte ›wir‹ sich und Anna zusammenfaßte. ›Aber nein, sie halten für nötig, uns zu belehren, wie wir leben sollen. Sie haben nicht einmal einen Begriff davon, was Glück ist; sie wissen nicht, daß es ohne diese Liebe für uns kein Glück und kein Unglück gibt, sondern geradezu kein Leben‹, dachte er.
Er ärgerte sich über alle diese Menschen wegen ihrer Einmischung eben deshalb, weil er im Grunde seines Herzens fühlte, daß sie recht hatten. Er fühlte, daß die Liebe, die ihn mit Anna verband, nicht ein augenblicklicher Rausch sei, der vergehen werde, wie gewöhnliche Liebschaften vergehen, ohne in ihrem Leben andere Spuren zurückzulassen als angenehme oder unangenehme Erinnerungen. Er fühlte, wie qualvoll seine und ihre Lage war, welche Schwierigkeit es für sie beide hatte, so den Augen der ganzen Gesellschaft ausgesetzt ihre Liebe zu verbergen, zu lügen und zu betrügen und List anzuwenden und beständig an andere Leute zu denken, während doch die Leidenschaft, die sie verknüpfte, so mächtig war, daß sie beide alles andere außer ihrer Liebe vergaßen.
Er erinnerte sich, lebhaft aller jener häufig vorgekommenen Fälle, wo sie sich zu Lüge und Täuschung genötigt gesehen hatten, die doch seiner Natur so zuwider waren; er erinnerte sich besonders lebhaft daran, daß er mehrmals an ihr ein Gefühl der Scham über diese Notwendigkeit, zu lügen und zu betrügen, wahrgenommen hatte. Und es überkam ihn ein sonderbares Gefühl, das er schon manchmal seit dem Beginn seiner [232] Beziehungen zu Anna gehabt hatte. Es war dies ein Gefühl des Ekels vor irgend etwas: ob vor Alexei Alexandrowitsch oder vor sich selbst oder vor der ganzen Gesellschaft, das wußte er selbst nicht recht. Aber er hatte dieses sonderbare Gefühl immer möglichst schnell verscheucht. Und auch jetzt schüttelte er sich, um es loszuwerden, und setzte seinen Gedankengang fort.
›Ja, sie war früher unglücklich, aber stolz und ruhig; jetzt hingegen kann sie nicht ruhig und selbstbewußt sein, obwohl sie sich nichts merken lassen möchte. Ja, diesem Zustand muß ein Ende gemacht werden‹, sagte er zu sich selbst mit aller Bestimmtheit.
Und zum ersten Male bildete sich in seinem Kopfe der klare Gedanke, daß dieses Lügen ein Ende nehmen müsse, und zwar je eher, desto besser. ›Wir beide, sie und ich, müssen uns von allem lossagen und uns in irgendeinem Winkel allein mit unserer Liebe verbergen‹, sagte er zu sich.
Der Regenguß dauerte nicht lange, und als Wronski in vollem Trabe des Deichselpferdes, das die schon ohne Lenkriemen durch den Schmutz dahingaloppierenden Seitenpferde mit sich zog, in Peterhof ankam, schaute die Sonne schon wieder hervor, und die Dächer der Landhäuser und die alten Linden in den Gärten zu beiden Seiten der Hauptstraße blitzten in nassem Glanze, und das Wasser tropfte lustig von den Zweigen und rann von den Dächern herunter. Er dachte nicht mehr daran, wie dieser Platzregen die Rennbahn verderbe, sondern jetzt freute er sich darüber, daß er dank diesem Regen sie aller Wahrscheinlichkeit nach zu Hause treffen werde, und zwar allein, da er wußte, daß Alexei Alexandrowitsch, der erst kürzlich vom Auslande aus dem Bade zurückgekehrt war, es vorgezogen hatte, nicht nach Peterhof hinauszuziehen, sondern in Petersburg wohnen zu bleiben.
In der Hoffnung, sie allein zu finden, fuhr Wronski, wie er das stets zu tun pflegte, um weniger die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nicht über die kleine Brücke hinüber, sondern stieg vorher aus und ging zu Fuß. Er benutzte nicht die nach der Straße zu gelegene Haustür, sondern ging über den Hof.
»Ist der Herr gekommen?« fragte er den Gärtner.
»Nein. Aber die gnädige Frau ist zu Hause. Haben Sie die Güte, nach der Vordertür zu gehen; es sind Leute von der Dienerschaft da, die Ihnen öffnen werden.«
[233] »Nein, ich möchte durch den Garten gehen.«
Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie allein sei, wurde in ihm der Wunsch rege, sie vollständig zu überraschen, da er nicht versprochen hatte, heute zu kommen, und sie gewiß nicht dachte, daß er vor dem Rennen noch herüberfahren werde. So ging er denn, den Säbel festhaltend, mit vorsichtigen Schritten auf dem mit Blumen eingefaßten Kieswege nach der Terrasse hin, die nach dem Garten zu lag. Er hatte jetzt alles vergessen, was ihm unterwegs über die Peinlichkeit und Schwierigkeit seiner Lage durch den Sinn gegangen war. Er dachte jetzt nur an eines: daß er sie im nächsten Augenblicke sehen werde, nicht allein in der Einbildung, sondern lebend und ganz, so, wie sie in Wirklichkeit war. Er ging bereits, mit dem ganzen Fuße auftretend, um kein Geräusch zu verursachen, die abgeschrägten Stufen der Terrasse hinan, als ihm plötzlich etwas einfiel, was er immer vergaß und was doch die schmerzlichste Seite in seinen Beziehungen zu ihr bildete: ihr Sohn mit seinem fragenden und, wie es ihm vorkam, feindseligen Blicke.
Dieser Knabe war ihrem Verkehr häufiger als alle anderen Personen hinderlich. Sobald er zugegen war, erlaubten sich weder Wronski noch Anna, etwas zu sagen, was sie nicht vor aller Ohren hätten wiederholen können, ja, sie erlaubten sich nicht einmal, von den Dingen, die der Knabe doch nicht verstanden hätte, auch nur in Andeutungen zu reden. Sie hatten sich darüber nicht miteinander verabredet, sondern das hatte sich ganz von selbst so gemacht. Sie hätten es ihrer selbst für unwürdig gehalten, dieses Kind zu täuschen. In seiner Gegenwart sprachen sie miteinander, als ob sie nur ein paar Bekannte wären. Aber trotz dieser Vorsicht merkte doch Wronski häufig, daß der Knabe einen aufmerksamen, verwunderten Blick auf ihn richtete und eine eigentümliche Schüchternheit gegen ihn zeigte oder vielmehr sich ganz ungleichmäßig ihm gegenüber benahm, bald freundlich, bald kühl und blöde. Es war, als hätte das Kind eine Empfindung dafür, daß zwischen diesem Manne und seiner Mutter irgendwelche wichtige Beziehung bestehe, deren Bedeutung es nicht verstehen könne.
Und wirklich fühlte der Knabe, daß er diese Beziehung nicht verstehen könne; er strengte sich an, sich darüber klarzuwerden, welches Gefühl er diesem Manne gegenüber haben müsse, konnte aber nicht damit ins reine kommen. Mit der Feinfühligkeit des Kindes sah er klar, daß sein Vater, seine Gouvernante, seine Wärterin, alle jenen Mann nicht leiden konnten, ja mit Abneigung und Furcht auf ihn blickten, wiewohl sie nichts über ihn sagten, daß aber seine Mutter in ihm ihren besten Freund sah.
[234] ›Was hat das zu bedeuten? Was für ein Mann ist das? Wie soll ich ihn lieben? Wenn ich das nicht verstehe, so ist das gewiß meine Schuld, und ich bin entweder ein dummer oder ein unartiger Junge‹, dachte das Kind, und daher kam jener forschende, fragende, oft feindselige Ausdruck und die Scheu und die Ungleichmäßigkeit des Benehmens, durch die Wronski sich so peinlich berührt fühlte. Die Gegenwart dieses Kindes rief jedesmal und unvermeidlich bei Wronski jenes sonderbare Gefühl eines Ekels ohne eigentlichen Gegenstand hervor, das er in der letzten Zeit so oft empfunden hatte. Die Gegenwart dieses Kindes weckte bei Wronski und bei Anna ein Gefühl, wie es ein Seefahrer haben mag, wenn er am Kompaß sieht, daß die Richtung, in der sein Schiff schnell dahinfährt, von der ordnungsmäßigen weit abweicht, sich aber sagen muß, daß es nicht in seiner Macht liegt, die Bewegung zu hemmen, daß jede Minute ihn mehr und mehr abtreibt und daß das Einwilligen in die Abweichung von der ordnungsmäßigen Richtung gleichbedeutend ist mit dem Einwilligen in seinen Untergang.
Dieses Kind mit seinem naiven, ungetrübten Blicke für das Leben war der Kompaß, der ihnen den Grad der Abweichung von dem Wege der Pflicht angab, von dem Wege, den sie zwar kannten, aber nicht kennen wollten.
Aber diesmal war der kleine Sergei nicht zu Hause, und sie war völlig allein; sie saß auf der Terrasse und wartete auf die Rückkehr ihres Sohnes, der spazierengegangen und dabei vom Regen überrascht worden war. Sie hatte einen Diener und ein Mädchen ausgeschickt, um ihn zu suchen, und saß nun da und wartete. Sie trug ein weißes Kleid mit breiter Stickerei und saß in einer Ecke der Terrasse hinter blühenden Gewächsen und hörte den herankommenden Wronski nicht. Den schwarzlockigen Kopf vorbeugend, preßte sie die Stirn gegen eine kalte Gießkanne, die auf dem Geländer stand, und hatte ihre beiden schönen Hände mit den ihm so wohlbekannten Ringen um die Gießkanne gelegt. Die Schönheit ihrer ganzen Gestalt, des Kopfes, des Halses, der Arme überraschte Wronski jedesmal wie etwas Neues, Unerwartetes. Er blieb stehen und betrachtete sie voll Entzücken. Aber kaum schickte er sich an, auf der Terrasse einen Schritt zu tun, um sich ihr zu nähern, als sie auch schon seine Annäherung bemerkte, die Gießkanne zurückstieß und ihm ihr heißes Gesicht zuwandte.
»Was ist Ihnen? Sind Sie nicht wohl?« fragte er auf französisch, indem er zu ihr hintrat. Er hatte auf sie zustürzen wollen; aber da ihm einfiel, daß es möglicherweise jemand sehen könnte, blickte er nach der Verandatür und errötete, wie er [235] jedesmal errötete, wenn er fühlte, daß er auf seiner Hut sein und sich umschauen müsse.
»Nein, ich bin ganz gesund«, antwortete sie, indem sie sich erhob und die Hand, die er ihr hinstreckte, kräftig drückte. »Ich hatte dich nicht erwartet.«
»Mein Gott, was für kalte Hände!« sagte er.
»Du hast mich erschreckt«, erwiderte sie. »Ich bin allein und warte auf meinen kleinen Sergei; er ist spazierengegangen; sie müssen von dieser Seite kommen.« Aber obwohl sie sich alle Mühe gab, ruhig zu sein, zitterten doch ihre Lippen.
»Verzeihen Sie mir, daß ich gekommen bin; aber ich konnte den Tag nicht hingehen lassen, ohne Sie zu sehen«, fuhr er auf französisch fort; dieser Sprache bediente er sich stets, um einerseits das zwischen ihnen unmögliche kühle russische Sie, anderseits das gefährliche russische Du zu vermeiden.
»Was ist denn zu verzeihen? Ich freue mich ja so!«
»Aber Sie sind nicht wohl, oder Sie haben einen Kummer«, fuhr er fort, ohne ihre Hand loszulassen, und beugte sich über sie. »Woran haben Sie gedacht?«
»Immer an ein und dasselbe«, antwortete sie lächelnd.
Sie sagte die Wahrheit. Man hätte sie fragen können, wann man wollte, woran sie denke, immer hätte sie wahrheitsgemäß antworten können, sie denke an ein und dasselbe, an ihr Glück und an ihr Unglück. So hatte sie gerade jetzt, wo er zu ihr getreten war, daran gedacht, warum doch andere Frauen, zum Beispiel Betsy (sie wußte von deren geheimem Verhältnis zu Tuschkewitsch), von all dergleichen so gar keine Sorgen hatten, während sie deswegen solche Qual ausstehen mußte. Heute hatte dieser Gedanke, aus bestimmtem Anlaß, sie ganz besonders gepeinigt. Sie fragte ihn nach dem Rennen. Er antwortete ihr, und da er sah, daß sie erregt war, so begann er, in der Absicht, sie zu zerstreuen, ihr im allerharmlosesten Tone Einzelheiten von den Vorbereitungen zum Rennen zu erzählen.
›Soll ich es ihm sagen oder nicht?‹ dachte sie, während sie in seine ruhigen, freundlichen Augen blickte. ›Er ist so glücklich, so ganz mit seinem Rennen beschäftigt, daß er meine Nachricht nicht in der gehörigen Weise auffassen, nicht die ganze Bedeutung dieses Ereignisses für uns verstehen wird.‹
»Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, woran Sie dachten, als ich kam«, sagte er, sein Erzählen unterbrechend. »Bitte, sagen Sie es mir!«
Sie antwortete nicht, sondern blickte ihn, den Kopf ein wenig vorneigend, von unten her mit ihren schönen, durch die langen Wimpern hindurchleuchtenden Augen fragend an. Ihre Hand, [236] die mit einem abgerissenen Blatte spielte, zitterte leise. Er sah dies, und sein Gesicht nahm den Ausdruck jener Ergebenheit, jener sklavischen Unterwürfigkeit an, der von jeher einen so starken Eindruck auf sie gemacht hatte.
»Ich sehe, daß etwas vorgefallen ist. Kann ich etwa auch nur einen Augenblick ruhig sein, wenn ich weiß, daß Sie einen Kummer haben, den ich nicht mit Ihnen teilen darf? Um Gottes willen, reden Sie!« bat er noch einmal in flehendem Tone.
›Ja‹, dachte sie, während sie ihn immer noch ebenso anblickte und fühlte, daß ihre Hand mit dem Blatte immer stärker zitterte, ›ich würde es ihm nie verzeihen, wenn er nicht die ganze Bedeutung dieses Ereignisses verstehen sollte. Es ist besser, wenn ich nichts sage; wozu soll ich ihn auf die Probe stellen?‹
»Um Gottes willen, reden Sie!« drängte er von neuem, indem er ihre Hand ergriff.
»Soll ich es sagen?«
»Ja, ja, ja!«
»Ich bin in anderen Umständen«, sagte sie leise und langsam.
Das Blatt in ihrer Hand zitterte immer heftiger, aber sie wandte die Augen nicht von Wronski ab, um zu sehen, wie er diese Mitteilung aufnehmen werde. Er erblaßte, wollte etwas erwidern, hielt aber inne, ließ ihre Hand los und senkte den Kopf. ›Ja, er hat die ganze Bedeutung dieses Ereignisses verstanden‹, dachte sie und drückte ihm dankbar die Hand.
Trotzdem irrte sie sich in der Annahme, daß er die Bedeutung dieser Nachricht in derselben Weise verstehe, wie sie sie als Frau verstand. Bei dieser Mitteilung hatte er mit verzehnfachter Stärke einen Anfall jenes sonderbaren, ihn mitunter überkommenden Gefühls des Ekels gegen irgend jemand erlitten; aber zugleich hatte er erkannt, daß jene Krisis, die er herbeigewünscht hatte, jetzt eingetreten war, daß es unmöglich war, die Sache länger vor dem Ehemanne zu verheimlichen, und daß mit Notwendigkeit dieser unnatürlichen Lage bald auf die eine oder andere Weise ein Ende gemacht werden müsse. Aber außerdem war ihre Erregung in physischer Hinsicht auch auf ihn übergegangen. Er sah sie mit einem Blicke voll Rührung und Ergebenheit an, küßte ihr die Hand, stand auf und ging schweigend auf der Terrasse auf und ab.
»Ja«, sagte er dann, indem er entschlossen zu ihr trat. »Weder Sie noch ich haben unser Verhältnis als eine Spielerei betrachtet, und jetzt ist unser Schicksal entschieden. Diesem Lügenspiel, in dem wir leben, müssen wir unbedingt ein Ende machen«, äußerte er, sich nach allen Seiten umschauend.
»Ein Ende machen? Wie sollen wir ein Ende machen, Alexei?« [237] fragte sie leise. Sie hatte sich jetzt beruhigt, und auf ihrem Gesichte strahlte ein zärtliches Lächeln.
»Du mußt deinen Mann verlassen und dein Leben mit dem meinen vereinigen.«
»Es ist auch so schon vereinigt«, antwortete sie kaum hörbar.
»Ja, aber völlig, völlig.«
»Aber wie soll ich das machen, Alexei? Belehre mich, wie ich das machen soll«, sagte sie mit trübem Spott über die Trostlosigkeit ihrer Lage. »Gibt es denn einen Ausweg aus einer solchen Lage? Bin ich denn nicht die Frau meines Mannes?«
»Aus jeder Lage gibt es einen Ausweg«, erwiderte er. »Man muß sich nur zu einem Entschlusse aufraffen. Alles ist besser als die Lage, in der du jetzt lebst. Ich sehe ja, wie du dich um alles quälst, um die Meinung der Welt und um deinen Sohn und um deinen Mann.«
»Ach, um meinen Mann nicht«, sagte sie mit einem ungezwungenen Lächeln. »Ich weiß nicht, wie es kommt; aber ich denke gar nicht an ihn. Er ist für mich nicht vorhanden.«
»Du sprichst nicht aufrichtig. Ich kenne dich. Du quälst dich auch um ihn.«
»Aber er weiß ja von nichts«, erwiderte sie, und plötzlich stieg ihr eine tiefe Röte ins Gesicht; Wangen, Stirn und Hals wurden dunkelrot, und Tränen der Scham traten ihr in die Augen. »Wir wollen gar nicht von ihm sprechen.«
Wronski hatte schon mehrmals, wenn auch nicht mit solcher Entschiedenheit wie jetzt, den Versuch gemacht, sie zu einer ernstlichen Prüfung ihrer Lage zu veranlassen, und war jedesmal bei ihr auf die gleiche Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit der Beurteilung gestoßen, die sie auch jetzt seiner Aufforderung gegenüber bekundet hatte. Es war, als ob in ihrer Lebenslage etwas enthalten sei, was sie sich nicht klarmachen könne oder nicht klarmachen wolle; es war, als ob sie, die wahre Anna, sich in sich selbst zurückzöge und dafür eine andere hervorträte, ein seltsames, ihm fremdes Weib, das er nicht liebte, sondern fürchtete, und das sich ihm widersetzte. Aber heute war er entschlossen, alles freiheraus zu sagen.
»Ob er es weiß oder nicht«, sprach Wronski in seinem gewöhnlichen festen, ruhigen Tone, »ob er es weiß oder nicht, das ist für uns nicht von Wichtigkeit. Wir können nicht ... Sie können nicht in dieser Lage bleiben, namentlich jetzt nicht.«
[238] »Was soll ich also nach Ihrer Ansicht tun?« fragte sie mit demselben leisen Anfluge von Spott.
Sie, die eben noch so gefürchtet hatte, er könne ihre Schwangerschaft leichtnehmen, war jetzt unzufrieden damit, daß er aus diesem Ereignisse die Notwendigkeit folgerte, etwas zu unternehmen.
»Ihm alles offen darlegen und ihn verlassen.«
»Sehr wohl. Nehmen wir an, daß ich das tue«, antwortete sie. »Wissen Sie, was er darauf antworten wird? Ich kann alles voraussagen«, und in ihren Augen, die noch einen Augenblick vorher einen so zärtlichen Ausdruck hatten, flammte ein boshafter Glanz auf. »›Ah, Sie lieben einen anderen und haben sich mit ihm in ein verbrecherisches Verhältnis eingelassen?‹« (Sie machte ihren Mann nach und redete genauso, wie er zu reden pflegte: sie betonte stark das Wort ›verbrecherisch‹.) »›Ich habe Sie im voraus auf die Folgen in religiöser Hinsicht, in rechtlicher Hinsicht und in bezug auf das Familienleben aufmerksam gemacht. Sie haben nicht auf mich gehört. Jetzt kann ich nicht dulden, daß Unehre über meinen Namen gebracht werde‹« (›und über den Namen meines Sohnes‹, hatte sie hinzufügen wollen; aber es widerstand ihr, ihren Sohn in diese Spötterei mit hineinzubringen), »›daß Unehre über meinen Namen gebracht werde‹, und noch manches in diesem Stile«, fügte sie hinzu. »In Summa wird er mir in seinem Amtsstil mit aller Klarheit und Bestimmtheit sagen, daß er mich nicht freigeben könne, daß er aber alle in seiner Macht stehenden Maßregeln treffen werde, um ein Ärgernis zu verhüten. Und dann wird er mit Ruhe und Peinlichkeit ausführen, was er angekündigt hat. So wird sich die Sache gestalten. Er ist eben kein Mensch, sondern eine Maschine, und eine boshafte Maschine, wenn er zornig wird«, fügte sie hinzu, indem sie sich in Gedanken Alexei Alexandrowitsch mit allen Einzelheiten seiner Gestalt und seiner Redeweise vergegenwärtigte und ihm alles, was sie an ihm nur irgend Unschönes finden könnte, als Schuld anrechnete und wegen des schweren Vergehens, das sie sich ihm gegenüber hatte zuschulden kommen lassen, ihm nichts verzieh.
»Aber Anna«, meinte Wronski in dem Bemühen, sie zu beruhigen, mit weicher, überredender Stimme. »Es ist doch trotzdem notwendig, es ihm zu sagen; dann werden wir je nach seiner Handlungsweise die unserige einrichten.«
»Was meinen Sie also? Soll ich fliehen?«
»Warum nicht auch das? Ich sehe keine Möglichkeit, in diesem Zustande zu verharren. Und ich meine das nicht mit Rücksicht auf mich, – ich sehe, daß Sie leiden.«
[239] »Ja, ich soll fliehen und Ihre Geliebte werden«, sagte sie bitter.
»Anna!« erwiderte er in zärtlich vorwurfsvollem Tone.
»Ja«, fuhr sie fort, »Ihre Geliebte werden und alles zugrunde richten.«
Wieder hatte sie sagen wollen: ›meinen Sohn‹, aber sie konnte dieses Wort nicht herausbringen.
Wronski vermochte nicht zu begreifen, wie sie mit ihrer kraftvollen, ehrlichen Natur diesen Zustand steter Unwahrhaftigkeit ertragen und nicht den Wunsch hegen konnte, aus ihm herauszukommen; aber er erriet nicht, daß die Hauptursache ihres Verhaltens das Wort Sohn war, das sie sich nicht überwinden konnte, auszusprechen. Wenn sie an ihren Sohn dachte und an sein künftiges Verhältnis zu seiner Mutter, die seinem Vater davongegangen war, dann packte sie eine solche Angst vor diesem Schritte, daß sie nicht weiter überlegen konnte, sondern nach Frauenart sich nur mit unwahren Gedanken und Worten zu beruhigen suchte, damit nur ja alles beim alten bleibe und sie nicht an die entsetzliche Frage zu denken brauche, was aus ihrem Sohne werden solle.
»Ich bitte dich, ich bitte dich flehentlich«, sagte sie in plötzlich ganz anderem, aufrichtigem, zärtlichem Tone und ergriff seine Hand, »rede nie wieder mit mir davon!«
»Aber Anna ...«
»Nie wieder. Überlaß das mir! Ich kenne in vollem Umfange das Unwürdige und Entsetzliche meiner Lage; aber da einen Ausweg zu finden, ist nicht so leicht, wie du denkst. Überlaß das mir und höre auf mich! Rede nie wieder mit mir davon! Versprichst du mir das? – Nein, nein, versprich es mir!«
»Ich verspreche dir alles; aber ruhig kann ich nicht sein, besonders nach dem, was du mir gesagt hast. Ich kann nicht ruhig sein, wenn du nicht ruhig sein kannst.«
»Ich?« erwiderte sie. »Ja, ich quäle mich manchmal; aber das wird vorübergehen, wenn du nie wieder mit mir davon reden wirst. Nur dann, wenn du mit mir davon redest, nur dann quält es mich.«
»Das verstehe ich nicht«, antwortete er.
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn, »wie schwer es deiner ehrlichen Natur wird, zu lügen, und du tust mir leid deswegen. Ich denke oft, daß du dir um meinetwillen dein Leben zerstört hast.«
»Genau dasselbe habe auch ich diesen Augenblick gedacht: Wie du nur hast um meinetwillen alles opfern können!« erwiderte er. »Ich kann es mir nicht verzeihen, daß du unglücklich bist.«
[240] »Ich wäre unglücklich?« versetzte sie, indem sie zu ihm hintrat und ihn mit einem entzückten Lächeln der Liebe anblickte. »Ich bin wie ein Hungriger, dem man zu essen gegeben hat. Vielleicht friert er noch, vielleicht sind seine Kleider zerrissen, und er schämt sich; aber unglücklich ist er nicht. Ich wäre unglücklich? Nein, hier ist mein Glück ...«
In diesem Augenblick hörte sie die Stimme ihres Sohnes, der sich dem Hause näherte; sie schaute sich mit einem schnellen Blicke auf der Terrasse um und erhob sich hastig. In ihren Augen leuchtete das ihm wohlbekannte Feuer auf; mit einer schnellen Bewegung hob sie ihre schönen, mit Ringen geschmückten Hände in die Höhe, faßte seinen Kopf, schaute ihn mit einem langen Blicke an, näherte ihm ihr Gesicht mit den geöffneten, lächelnden Lippen, küßte ihn schnell auf den Mund und auf beide Augen und schob ihn dann von sich. Sie wollte fortgehen, aber er hielt sie zurück.
»Wann?« fragte er flüsternd und blickte sie entzückt an.
»Heute nacht um eins«, flüsterte sie, seufzte tief und ging dann mit ihrem leichten, schnellen Schritt ihrem Sohne entgegen.
Diesen hatte der Regen im Großen Garten überrascht, und er hatte mit der Kinderfrau längere Zeit in einer Laube gesessen.
»Also auf Wiedersehen!« sagte sie zu Wronski. »Ich muß jetzt bald zum Rennen fahren. Betsy hat versprochen, mich abzuholen.«
Wronski warf einen Blick auf die Uhr und brach eilig auf.
Als Wronski auf der Terrasse des Kareninschen Landhauses nach der Uhr gesehen hatte, war er so aufgeregt und mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen, daß er zwar die Zeiger auf dem Zifferblatte gesehen hatte, aber nicht zur Erkenntnis hatte kommen können, wieviel Uhr es war. Er ging auf die Landstraße hinaus und begab sich, vorsichtig durch den Schmutz schreitend, zu seinem Wagen. Er war von seinem Gefühl für Anna so erfüllt, daß er gar nicht daran dachte, wieviel Uhr es sei und ob er noch Zeit habe, zu Brjanski zu fahren. Es war ihm, wie das nicht selten vorkommt, nur eine äußere Erinnerungsfähigkeit geblieben, die ihm angab, in welcher Reihenfolge er sich vorgenommen hatte, die einzelnen Handlungen zu verrichten. Er trat zu seinem Kutscher, der auf dem Bocke in dem schon schräg fallenden Schatten einer dichten Linde eingeschlummert war, betrachtete einen Augenblick die schillernden Mückenschwärme, [241] die über den schweißbedeckten Pferden umherschwirrten, weckte dann den Kutscher, sprang in den Wagen und befahl ihm, zu Brjanski zu fahren. Erst als er bereits sieben Werst zurückgelegt hatte, kam er wieder so weit zur Besinnung, daß er nach der Uhr sah und begriff, daß es halb sechs und somit schon sehr spät war.
Es fanden an diesem Tage mehrere Rennen statt: ein Rennen der Leibwache, dann ein Offiziersrennen über zwei Werst, eines über vier Werst und das, bei dem er selbst mitritt. Zu seinem Rennen kam er, wenn er sogleich hinfuhr, völlig zur rechten Zeit; aber wenn er erst noch zu Brjanski fuhr, so kam er erst im allerletzten Augenblick hin und erst dann, wenn schon der ganze Hof da war. Das war übel. Aber er hatte Brjanski sein Wort gegeben, noch zu ihm zu kommen, und daher entschloß er sich, weiterzufahren, und befahl dem Kutscher, die Pferde scharf anzutreiben.
Er kam bei Brjanski an, blieb fünf Minuten bei ihm und jagte zurück. Diese schnelle Fahrt beruhigte ihn. Alles Bedrückende, das in seinem Verhältnisse zu Anna lag, die ganze Ungewißheit, die nach ihrem Gespräche zurückgeblieben war, all das kam ihm jetzt aus dem Sinn und den Gedanken; mit heller Freude und lebhafter. Erregung dachte er nun an das Rennen und daran, daß er doch noch zur rechten Zeit kommen werde, und nur zuweilen flammte der Gedanke an die Wonne des für die heutige Nacht bevorstehenden Zusammenseins wie ein heller Lichtschein in seinem Inneren auf.
Das Gefühl der Spannung wegen des bevorstehenden Rennens wurde bei ihm immer stärker und stärker, je mehr er in die Umgebung der Rennen hinein kam und einen Wagen nach dem anderen überholte, die von den Landhäusern und aus Petersburg zu den Rennen fuhren.
In seinem Heim war niemand mehr zu Hause; alle waren sie schon auf der Rennbahn, und nur sein Diener wartete auf ihn am Torwege. Während er sich umkleidete, berichtete ihm der Diener, das zweite Rennen habe schon begonnen; es seien viele Herren gekommen, um sich nach ihm zu erkundigen, und der Stallbursche aus dem Rennstall sei schon zweimal dagewesen.
Nachdem Wronski sich ohne Hast umgekleidet hatte (er überhastete sich niemals und verlor nie die Selbstbeherrschung), fuhr er nach den Baracken. Schon von den Baracken aus erblickte er das Meer von Wagen, Fußgängern und Soldaten, das die Rennbahn umgab, und die von Menschen wimmelnden Tribünen. Wahrscheinlich begann gerade das dritte Rennen, da er in dem [242] Augenblicke, als er in die Baracke trat, ein Glockenzeichen hörte. Als er sich dem Stalle näherte, begegnete er Machotins weißfüßigem Fuchse Gladiator, der, eingehüllt in eine gelb und blaue Decke mit gewaltig groß aussehenden, blau eingefaßten Ohren, nach der Rennbahn geführt wurde.
»Wo ist Cord?« fragte er den Stallburschen.
»Im Stall. Er sattelt.«
In der offenstehenden Box stand Frou-Frou schon gesattelt und sollte eben hinausgeführt werden.
»Ich komme doch nicht zu spät?«
»All right, all right!« antwortete der Engländer. »Seien Sie nur nicht aufgeregt.«
Wronski umfaßte noch einmal mit einem Blicke die prächtigen Formen des ihm so lieben Pferdes, das am ganzen Leibe zitterte; nur mit Überwindung riß er sich von diesem Anblicke los und ging aus der Baracke hinaus. Er kam zu den Tribünen gerade im geeignetsten Augenblick, als er niemandes Aufmerksamkeit auf sich zog. Das Vier-Werst-Rennen ging eben zu Ende, und aller Augen richteten sich auf den führenden Chevaliergardisten und den an zweiter Stelle liegenden Leibhusaren, die beide mit letzter Kraft ihre Pferde antrieben und sich dem Pfosten näherten. Von der Mitte und von außen her drängte alles nach dem Pfosten hin, und die dort stehende Gruppe von Soldaten und Offizieren des Chevalier-Garderegiments drückte mit lautem Jubelgeschrei ihre Freude über den unerwarteten Sieg ihres Offiziers und Kameraden aus. Wronski mischte sich unbemerkt mitten unter die Menge, fast in demselben Augenblick, als das Glockenzeichen ertönte, das das Rennen als beendet erklärte, und der hochgewachsene, mit Schmutz bespritzte Chevaliergardist, der Erster geworden war, sich auf den Sattel zurücksinken ließ und seinem grauen, vom Schweiß ganz dunkel gewordenen, schwer atmenden Hengste die Zügel nachließ.
Der Hengst mäßigte den schnellen Lauf seines großen Körpers, indem er mit Anstrengung die Füße gegen den Boden stemmte, und der Chevaliergardist blickte um sich, wie jemand, der aus einem schweren Traume erwacht, und lächelte mühsam. Ein Schwarm von Freunden und anderen Zuschauern umringte ihn.
Wronski vermied absichtlich die bevorzugte, besonders vornehme Schar von Zuschauern, die sich in gemessenem und doch ungezwungenem Benehmen vor den Tribünen bewegte und miteinander plauderte. Er hatte erkannt, daß sich dort auch Frau Karenina und Betsy und die Frau seines Bruders befanden, und ging geflissentlich nicht zu ihnen hin, um seine Gedanken nicht abzulenken. Aber fortwährend traf er auf Bekannte, die ihn [243] anhielten, ihm Einzelheiten über die erledigten Rennen erzählten und ihn fragten, warum er erst so spät gekommen sei.
Während die Sieger zur Empfangnahme der Preise in die Loge gerufen wurden und die Augen aller sich dorthin wandten, trat Wronskis älterer Bruder Alexander, Oberst mit den Achselschnüren der Generaladjutanten, zu ihm, ein Mann von mittlerer Gestalt, ebenso stämmig wie Alexei, aber schöner und von frischerer Gesichtsfarbe, mit roter Nase und offenem, ehrlichem Trinkergesicht.
»Hast du mein Zettelchen bekommen?« fragte er. »Man trifft dich ja nie zu Hause.«
Alexander Wronski war trotz seinem lockeren Lebenswandel, wobei namentlich seine Trunksucht allgemein bekannt war, ein vollendeter Hofmann.
Jetzt, als er mit seinem Bruder über eine ihm äußerst unangenehme Angelegenheit sprach und wußte, daß die Augen vieler auf sie beide gerichtet sein konnten, zeigte er eine so freundlich lächelnde Miene, als ob er sich mit seinem Bruder über irgendwelchen unwichtigen Gegenstand scherzend unterhielte.
»Ja, ich habe deinen Zettel erhalten und begreife wirklich nicht, worüber du, gerade du, dir Sorge machst«, antwortete Alexei.
»Ich mache mir darüber Sorge, daß man mir soeben, wie etwas Bemerkenswertes, mitgeteilt hat, du seiest noch nicht hier, und man habe dich am Montag in Peterhof gesehen.«
»Es gibt Angelegenheiten, die nur der Beurteilung der unmittelbar Beteiligten unterliegen, und die Angelegenheit, um die du dir solche Sorge machst, ist von der Art.«
»Ja, aber dann darf man nicht Offizier oder Beamter sein und nicht ...«
»Ich bitte dich, mische dich nicht in meine Angelegenheiten. Damit ist die Sache erledigt.«
Alexei Wronskis finsteres Gesicht war blaß geworden, und sein vorstehender Unterkiefer bebte, was bei ihm nur selten vorkam. Als sehr gutherziger Mensch wurde er selten zornig; aber wenn er es einmal wurde und sein Kinn zu zittern begann, dann war er gefährlich, und das wußte auch Alexander Wronski. Aber dieser lächelte heiter.
»Ich hatte dir ja nur den Brief unserer Mutter übermitteln wollen. Antworte ihr und rege dich jetzt vor dem Reiten nicht auf! Bonne chance!« fügte er lächelnd hinzu und ging von ihm weg.
Aber unmittelbar darauf wurde Wronski wieder durch eine freundschaftliche Anrede aufgehalten.
[244] »Du willst wohl deine Freunde nicht kennen? Guten Tag, mon cher!« rief Stepan Arkadjewitsch, der auch hier, mitten in all dieser Petersburger Pracht und Vornehmheit, nicht minder als in Moskau durch seine frische Gesichtsfarbe und seinen glänzenden, auseinandergekämmten Backenbart auffiel. »Ich bin gestern angekommen und freue mich sehr, deinen Triumph mit anzusehen. Wann treffen wir uns?«
»Komm morgen in unser Kasino!« erwiderte Wronski, drückte ihm mit ein paar entschuldigenden Worten den Mantelärmel und ging in die Mitte der Rennbahn, wohin bereits die Pferde für das große Hindernisrennen geführt wurden.
Die schweißbedeckten, abgematteten Pferde, die soeben gelaufen waren, wurden von Stallknechten in den Stall geführt, und eines nach dem anderen er schienen die neuen, frischen Pferde für das bevorstehende Rennen. Sie waren größtenteils englischer Herkunft. In ihren Kappen und mit den eingezogenen Bäuchen sahen sie seltsamen, riesigen Vögeln ähnlich. Rechts wurde die schmächtige, schöne Frou-Frou herbeigeführt, die auf ihren elastischen, ziemlich langen Fesseln wie auf Sprungfedern einherschritt. Nicht weit von ihr wurde gerade dem großohrigen Gladiator die Decke abgenommen. Die mächtigen, schönen, völlig regelmäßigen Formen des Hengstes mit dem wundervollen Hinterteil und den ungewöhnlich kurzen, unmittelbar über den Hufen sitzenden Fesseln zogen unwillkürlich Wronskis Aufmerksamkeit auf sich. Er wollte soeben an sein eigenes Pferd herantreten, da hielt ihn wieder ein Bekannter auf.
»Da ist ja auch Karenin«, sagte der Bekannte, nachdem sie einige Worte gewechselt hatten. »Er sucht seine Frau; sie sitzt aber in der Mitte der Loge. Haben Sie sie nicht gesehen?«
»Nein, ich habe sie nicht gesehen«, antwortete Wronski und ging zu seinem Pferde, ohne auch nur nach der Stelle hinzusehen, wohin, als nach Annas Platz, der andere gewiesen hatte.
Kaum hatte Wronski den Sattel besichtigt, über den er noch eine Anordnung geben mußte, als schon die Reiter zur Loge gerufen wurden, um ihre Nummern zu ziehen und zum Start abgefertigt zu werden. Mit ernsten, strengen, zum Teil sogar mit bleichen Gesichtern versammelten sich die Offiziere, siebzehn an der Zahl, bei der Loge und zogen ihre Nummern. Wronski erhielt Nummer sieben. Dann erscholl der Ruf: »Aufsitzen!«
Wronski war sich bewußt, daß er und die anderen Reiter jetzt den Mittelpunkt bildeten, auf den alle Blicke gerichtet waren, und in einem Zustande seelischer Spannung, in dem er gewöhnlich besonders langsam und ruhig in seinen Bewegungen wurde, [245] trat er an sein Pferd heran. Cord hatte, um den Glanz des Rennens zu erhöhen, seinen Paradeanzug angelegt: schwarzen, zugeknöpften Oberrock, steif gestärkten Kragen, bis an die Backen reichend, runden, schwarzen Hut und Stulpstiefel. Er war wie immer ruhig und würdevoll und hielt selbst das Pferd, davorstehend, an beiden Zügeln. Frou-Frou zitterte immer noch wie im Fieber. Ihr blitzendes Auge schielte nach dem herantretenden Wronski hin. Wronski steckte einen Finger unter den Sattelgurt. Das Pferd schielte noch stärker, entblößte die Zähne und legte das eine Ohr an. Der Engländer verzog seinen Mund, um ein Lächeln darüber zu zeigen, daß eine von ihm ausgeführte Sattelung erst noch nachgesehen werde.
»Sitzen Sie auf; Sie werden dann weniger aufgeregt sein.«
Wronski sah sich zum letzten Male nach seinen Gegnern um. Er wußte, daß er sie während des Reitens selbst nicht mehr sehen werde. Zwei von ihnen waren schon zum Startplatz vorausgeritten. Wronskis Freund Galzin, ein gefährlicher Gegner, bewegte sich im Kreise um seinen braunen Hengst herum, der ihn nicht aufsitzen ließ. Dort galoppierte ein kleiner Leibhusar in engen Reithosen, wie eine Katze zusammengekrümmt auf der Kruppe sitzend, die Engländer nachahmend. Fürst Kusowlew saß ganz blaß auf seiner Vollblutstute aus dem Grabower Gestüt, die ein Engländer am Zaume führte. Wronski und alle seine Kameraden kannten Kusowlew und seine Besonderheiten: seine »schwachen Nerven« und seinen ungeheueren Ehrgeiz. Sie wußten, daß er sich vor allem möglichen fürchtete, daß er sich davor fürchtete, ein gewöhnliches Dienstpferd zu reiten; aber jetzt, gerade weil es wirklich gefährlich war, gerade weil sich die Leute dabei die Hälse brachen und bei jedem Hindernisse ein Arzt, ein Krankenwagen mit aufgenähtem Kreuz und eine Barmherzige Schwester standen, jetzt hatte er sich entschlossen, das Rennen mitzureiten. Ihre Blicke trafen sich, und Wronski nickte ihm freundlich und beifällig zu. Nur einen sah er nicht: seinen Hauptgegner Machotin auf dem Gladiator.
»Überhasten Sie sich nicht beim Reiten«, sagte Cord zu Wronski, »und beobachten Sie eines: Halten Sie sie bei den Hindernissen nicht zurück und treiben Sie sie nicht an; lassen Sie ihr freie Wahl, es zu machen, wie sie will.«
»Schön, schön«, antwortete Wronski und faßte die Zügel.
»Wenn es möglich ist, so nehmen Sie die Führung; aber geben Sie bis zum letzten Augenblicke nicht die Hoffnung auf, selbst wenn Sie hinten sein sollten.«
Das Pferd hatte keine Zeit, sich wegzudrehen, als Wronski schon mit einer gewandten, energischen Bewegung in den [246] stählernen, gezähnten Steigbügel trat und leicht, aber fest seinen kräftigen Körper auf das knarrende Leder des Sattels gleiten ließ. Während er den rechten Fuß in den Steigbügel steckte, ordnete er mit den ihm geläufigen Griffen die doppelten Zügel zwischen den Fingern, und Cord zog die Hände zurück. Als ob sie nicht recht wüßte, mit welchem Fuße sie zuerst auftreten solle, setzte sich Frou-Frou, mit ihrem langen Halse die Zügel ausziehend, wie auf Sprungfedern in Bewegung und schaukelte den Reiter auf ihrem geschmeidigen Rücken. Cord folgte ihnen in beschleunigtem Gange. Das aufgeregte Pferd versuchte bald auf der einen, bald auf der anderen Seite den Reiter zu täuschen und den Zügel noch weiter auszuziehen, und Wronski bemühte sich vergeblich mit Stimme und Hand, es zu beruhigen.
Sie waren auf ihrem Wege zum Start bereits zu dem aufgestauten Flüßchen gelangt. Einige von den Reitern waren Wronski voraus, die übrigen waren hinter ihm zurück, als er plötzlich hinter sich auf dem schmutzigen Wege das Geräusch eines galoppierenden Pferdes hörte und ihn Machotin auf seinem weißfüßigen, großohrigen Gladiator überholte. Machotin lächelte, so daß seine langen Zähne sichtbar wurden; aber Wronski warf ihm einen grimmigen Blick zu. Er konnte den Menschen überhaupt nicht leiden, hielt ihn jetzt für seinen gefährlichsten Gegner und ärgerte sich über ihn, weil er an ihm vorbeigaloppierte und ihm dadurch seine Frou-Frou in Aufregung versetzte. Diese warf den linken Fuß zum Galopp in die Höhe, machte zwei Sprünge und ging, unwillig über die straff angezogenen Zügel, in einen stoßenden Trab über, der den Reiter fortwährend in die Höhe warf. Auch Cord machte ein finsteres Gesicht und lief fast im Trabe hinter Wronski her.
Es beteiligten sich an dem Rennen im ganzen siebzehn Offiziere. Das Rennen sollte auf der großen, vier Werst langen, elliptischen Bahn vor der Tribüne vor sich gehen. Auf dieser Bahn waren neun Hindernisse angebracht: das Flüßchen, eine große, anderthalb Meter hohe, feste Hürde unmittelbar vor der Tribüne, ein trockener Graben, ein Wassergraben, ein doppelter Abhang, ein irischer Wall, der eines der schwierigsten Hindernisse war, bestehend aus einem mit Reisig besteckten Walle, hinter dem sich noch ein dem Pferde nicht sichtbarer Graben befand, so daß das Pferd entweder beide Hindernisse überspringen [247] oder stürzen und sich schwer beschädigen mußte; dann noch zwei nasse Gräben und ein trockener. Das Ende der Bahn war der Tribüne gegenüber. Aber das Rennen begann nicht auf der Bahn selbst, sondern ungefähr zweihundert Meter seitwärts davon, und auf dieser Strecke befand sich das erste Hindernis: das aufgestaute Flüßchen in einer Breite von etwas mehr als zwei Metern; dieses konnten die Reiter nach ihrem Belieben entweder überspringen oder in einer Furt durchreiten.
Dreimal stellten sich die Reiter in gerader Linie auf; aber jedesmal brach das eine oder das andere Pferd vorzeitig vor, und alle mußten wieder zum Ausgangspunkte zurückreiten. Der Oberst Sestrin, ein erfahrener Starter, war schon ganz ärgerlich geworden, als er endlich zum vierten Male »Los!« rief und die Reiter sich ordnungsmäßig in Bewegung setzten.
Alle Augen, alle Operngläser waren auf das bunte Häuflein der Reiter gerichtet, als diese sich in Linie aufstellten.
»Sie sind gestartet! Sie laufen!« erscholl es nun nach der erwartungsvollen Stille von allen Seiten.
Gruppen von Fußgängern, auch einzelne, begannen von einer Stelle zur anderen zu laufen, um besser sehen zu können. Gleich im ersten Augenblick zog sich die geschlossene Reiterschar auseinander, und man konnte sehen, wie sie zu zweien, zu dreien, auch einer hinter dem anderen sich dem Flüßchen näherten. Die Zuschauer hatten den Eindruck gehabt, daß sie alle zugleich davongaloppiert waren; die Reiter aber waren sich des Sekunden betragenden Zeitunterschiedes bewußt, der für sie große Wichtigkeit hatte.
Die aufgeregte und gar zu nervöse Frou-Frou hatte den ersten Augenblick verpaßt, und mehrere Pferde hatten gleich vom Start an einen Vorsprung vor ihr; aber noch ehe sie das Flüßchen erreicht hatten, überholte Wronski, der mit aller Kraft das sich in die Zügel legende Pferd zurückhielt, mit Leichtigkeit drei seiner Vordermänner, und vor ihm blieb nur noch Machotins Fuchs Gladiator übrig, dessen Hinterteil unmittelbar vor Wronski leicht und gleichmäßig auf und nieder ging, und dann allen voraus die entzückende Diana, die den halb lebenden, halb toten Kusowlew trug.
In den ersten Augenblicken hatte Wronski weder sich noch sein Pferd in seiner Gewalt. Bis zum ersten Hindernisse, dem Flüßchen, war er nicht imstande, die Bewegungen seines Pferdes zu bestimmen.
Gladiator und Diana kamen zusammen dort an; fast im gleichen Augenblick richteten sie sich an dem Flüßchen auf und flogen nach der anderen Seite hinüber; sanft und unmerklich, [248] als wenn sie flöge, schwang sich hinter ihnen Frou-Frou in die Höhe; aber in demselben Augenblicke, da Wronski sich in der Luft fühlte, erblickte er plötzlich, fast unter den Füßen Frou-Frous, Kusowlew, der sich mit seiner Diana am anderen Ufer des Flüßchens auf dem Boden wälzte. Kusowlew hatte nach dem Sprunge die Zügel fahren lassen, und das Pferd hatte sich mit ihm überschlagen. Diese Einzelheiten erfuhr Wronski erst später; jetzt sah er nur, daß gerade unter Frou-Frous Füße, da, wo sie hintreten mußte, ein Bein oder der Kopf von Diana zu liegen kommen mußte. Aber Frou-Frou machte wie eine fallende Katze während des Sprunges eine kräftige Bewegung mit den Beinen und dem Rücken, wodurch sie einen Zusammenstoß mit dem anderen Pferde vermied, und jagte weiter.
›O du mein liebes Tierchen!‹ dachte Wronski.
Hinter dem Flüßchen hatte Wronski sein Pferd völlig in der Gewalt und begann es zurückzuhalten, da er beabsichtigte, die große Hürde erst nach Machotin zu nehmen und erst auf der folgenden, hindernisfreien Strecke von etwa vierhundert Metern zu versuchen, ob er ihn nicht überholen könne.
Die große Hürde stand unmittelbar vor der kaiserlichen Loge. Der Kaiser, der ganze Hof und die Volksmenge blickten nach ihnen, nach ihm und dem eine Pferdelänge vor ihm dahinjagenden Machotin, als sie sich dem Teufel (so wurde die feste Hürde genannt) näherten. Wronski fühlte diese Blicke, die sich von allen Seiten auf ihn richteten, aber er sah nichts als die Ohren und den Hals seines Pferdes und den Erdboden, der ihm scheinbar entgegengelaufen kam, und die Kruppe und die weißen Füße Gladiators, die schnell und taktmäßig vor ihm auf und nieder gingen und immer in derselben Entfernung von ihm blieben. Gladiator hob sich in die Höhe, sprang, ohne anzuschlagen, schwenkte den kurzen Schweif und entschwand Wronskis Blicken.
»Bravo!« rief eine Stimme.
In demselben Augenblick tauchten vor Wronskis Augen, unmittelbar vor ihm, die Bretter der Hürde auf. Ohne die geringste Veränderung seiner Bewegung hob sich das Pferd unter seinem Reiter in die Höhe, die Bretter verschwanden, und nur hinter sich hörte Wronski etwas anschlagen. Aufgeregt durch den voransprengenden Gladiator, hatte sich das Pferd vor der Hürde zu früh gehoben und mit einem Hinterfuße dagegen geschlagen. Aber sein Tempo änderte sich nicht, und Wronski, der ein Schmutzklümpchen ins Gesicht bekommen hatte, nahm wahr, daß er sich wieder in derselben Entfernung von Gladiator befand. Er sah wieder dessen Kruppe und kurzen Schweif vor sich, [249] wieder dieselben sich nicht entfernenden, in schneller Bewegung begriffenen weißen Füße.
In demselben Augenblicke, als Wronski dachte, daß es jetzt an der Zeit sein dürfte, Machotin zu überholen, beschleunigte Frou-Frou von selbst, als ob sie seine Gedanken erraten hätte, ohne jede Aufmunterung ihren Lauf erheblich und begann sich Machotin zu nähern, und zwar von der vorteilhaftesten Seite, von der Strickseite. Aber Machotin gab die Strickseite nicht frei. Kaum regte sich bei Wronski der Gedanke, daß es möglich wäre, ihn auch auf der Außenseite zu überholen, als Frou-Frou auch schon den Fuß wechselte und das Überholen gerade auf diese Weise versuchte. Frou-Frous Schulter, die schon vom Schweiße eine dunklere Färbung annahm, kam in gleiche Linie mit Gladiators Kruppe. Einige Sprünge liefen sie nebeneinanderher. Aber vor dem Hindernis, dem sie sich jetzt näherten, begann Wronski, um nicht einen großen Kreis beschreiben zu müssen, mit den Zügeln zu arbeiten und überholte Machotin schnell gerade auf dem Doppelabhang. Er sah für einen Augenblick dessen von Schmutz bespritztes Gesicht. Es kam ihm sogar vor, als ob er lächle. Wronski hatte Machotin überholt; aber er fühlte ihn sofort hinter sich und hörte unaufhörlich nahe hinter seinem Rücken den gleichmäßigen Galopp und die noch ganz frisch klingenden Atemstöße Gladiators.
Die beiden folgenden Hindernisse, der Graben und die Hürde, wurden mit Leichtigkeit genommen; aber Wronski hörte das Schnauben und die Sätze Gladiators aus noch größerer Nähe. Er trieb sein Pferd an und spürte mit Freude, daß es ohne Mühe seinen Lauf beschleunigte und der Schall der Hufschläge Gladiators wieder aus der früheren Entfernung kam.
Wronski führte das Rennen, genau wie es seine Absicht gewesen war und wie es ihm Cord geraten hatte, und jetzt fühlte er sich seines Erfolges sicher. Seine Erregung, seine Freude und seine Zärtlichkeit für Frou-Frou wuchsen immer mehr. Gern hätte er sich umgesehen; aber er wagte nicht, dies zu tun, und war darauf bedacht, seine Ruhe wiederzugewinnen und das Pferd nicht anzutreiben, um ihm einen ebenso großen Vorrat an Kraft zu erhalten, wie ihn nach seiner Überzeugung Gladiator noch besaß. Es blieb noch ein besonders schwieriges Hindernis übrig; nahm er dieses früher als die anderen, so kam er als erster ans Ziel. Er jagte dem irischen Walle zu. Gleichzeitig mit Frou-Frou erblickte er diesen Wall schon von fern, und im selben Augenblick stieg in ihnen beiden, in ihm und dem Pferde, ein kurzer Zweifel auf. Er merkte an den Ohren des Pferdes eine gewisse Unentschlossenheit und hob die Peitsche, fühlte [250] aber sofort, daß sein Zweifel unbegründet war: das Pferd wußte, was es zu tun hatte. Es erhöhte sein Tempo, und im gleichen Takte, genau wie der Reiter es sich vorausgedacht hatte, hob es sich in die Höhe, stieß sich von der Erde ab und überließ sich dem Beharrungsvermögen, durch das es weit über den Graben hinweggetragen wurde; und in ganz demselben Takte, ohne Anstrengung, mit demselben Fuße, jagte Frou-Frou weiter.
»Bravo, Wronski!« riefen ihm mehrere Stimmen aus einer Gruppe von Herren zu (er wußte, daß es Freunde aus seinem Regimente waren), die sich an diesem Hindernisse aufgestellt hatten. Er hörte unverkennbar Jaschwins Stimme heraus, sah ihn aber nicht.
›O du mein prächtiges Tier!‹ sagte er in seinem Inneren zu Frou-Frou und horchte dabei auf das hin, was hinter ihm vorging. ›Er ist hinübergekommen!‹ dachte er, als er Gladiators Hufschläge wieder hinter sich hörte. Jetzt war nur noch der letzte, anderthalb Meter breite Wassergraben übrig. Wronski blickte nicht einmal danach hin; aber in dem Wunsche, mit einem erheblichen Vorsprunge Erster zu werden, begann er mit den Zügeln kreisförmig zu arbeiten, indem er im Takte der Sätze den Kopf des Pferdes hob und senkte. Er fühlte, daß Frou-Frou den Lauf aus ihrem letzten Kräftevorrat bestritt; nicht nur ihr Hals und ihre Schultern waren naß, sondern auch am Widerrist, am Kopfe und an den spitzen Ohren saßen dicke Schweißtropfen, und sie atmete scharf und kurz. Aber er wußte, daß dieser Kräftevorrat für die noch übrigen vierhundert Meter völlig ausreichte. Nur daran, daß er sich dem Erdboden näher fühlte, und an der besonderen Weichheit der Bewegung merkte Wronski, wie sehr die Stute ihre Geschwindigkeit gesteigert hatte. Den Graben überflog sie, als ob sie ihn gar nicht bemerkte. Sie flog darüber hin wie ein Vogel; aber im selben Augenblicke fühlte Wronski zu seinem Schrecken, daß er sich der Bewegung des Pferdes nicht angepaßt, sondern – er wußte selbst nicht, wie es zugegangen war – eine abscheulich ungeschickte, unverzeihliche Bewegung gemacht, sich in den Sattel hatte zurückfallen lassen. Plötzlich änderte sich die Lage seines Körpers, und er begriff, daß sich etwas Furchtbares ereignet hatte. Er war noch nicht imstande, sich über das Geschehene klare Rechenschaft zu geben, als bereits dicht neben ihm die weißen Füße des Fuchshengstes auftauchten und Machotin in schnellem Galopp vorbeiflog. Wronski berührte mit dem einen Fuß die Erde, und sein Pferd sank über diesen Fuß nieder. Kaum hatte er Zeit gehabt, den Fuß herauszuziehen, als Frou-Frou auch schon auf eine Seite fiel, schwer röchelte und mit ihrem feinen, schweißbedeckten [251] Halse vergebliche Anstrengungen machte, sich aufzurichten; sie schlug auf der Erde zu seinen Füßen um sich wie ein angeschossener Vogel. Durch seine ungeschickte Bewegung hatte Wronski ihr das Rückgrat gebrochen. Aber zum Verständnis dieses Herganges kam er erst weit später. Jetzt sah er nur, daß Machotin sich schnell entfernte, er selbst aber taumelnd, allein, auf der schmutzigen, unbeweglichen Erde dastand und vor ihm, schwer atmend, Frou-Frou lag und, den Kopf zu ihm hin drehend, ihn mit ihrem wundervollen Auge ansah. Immer noch ohne Verständnis des Geschehenen, riß Wronski die Stute am Zügel. Von neuem machte sie mit dem ganze Leibe krampfhafte Bewegungen wie ein Fisch, so daß die Sattelflügel knarrten; die Vorderfüße bekam sie frei; aber nicht imstande, das Hinterteil in die Höhe zu heben, kam sie sofort ins Schwanken und fiel wieder auf die Seite. Das Gesicht von Leidenschaft ganz entstellt, bleich und mit zitterndem Unterkiefer, stieß Wronski sie mit dem Stiefelabsatz gegen den Leib und begann von neuem am Zügel zu zerren. Aber sie bewegte sich nicht, drückte die Nase gegen die Erde und sah nur mit ihrem sprechenden Blicke ihren Herrn an.
»Aaah!« kam es bei Wronski wie ein Gebrüll heraus, und er griff sich an den Kopf. »Aaah! Was habe ich getan!« schrie er. »Und das Rennen habe ich verloren! Und es ist meine Schuld, meine eigene, schmähliche, unverzeihliche Schuld! Und dieses unglückliche, liebe, zugrunde gerichtete Pferd! Aaah! Was habe ich getan!«
Eine Menge Zuschauer, auch ein Arzt und ein Heilgehilfe sowie viele Offiziere seines Regiments kamen herbeigelaufen. Zu seinem Unglück fühlte er, daß er heil und unverletzt war. Das Pferd hatte sich den Rücken gebrochen und mußte erschossen werden. Wronski war nicht imstande, auf Fragen zu antworten und konnte mit niemandem sprechen. Er wandte sich ab, und ohne seine Mütze aufzuheben, die ihm vom Kopfe gefallen war, ging er aus der Rennbahn weg, er wußte selbst nicht, wohin. Er fühlte sich grenzenlos unglücklich. Zum ersten Male in seinem Leben hatte er ein schweres, schweres Unglück durchzumachen, ein nicht wiedergutzumachendes Unglück und ein Unglück, an dem er selbst schuld war.
Jaschwin holte ihn mit der Mütze ein, begleitete ihn nach Hause, und nach einer halben Stunde erlangte Wronski seine Fassung wieder. Aber die Erinnerung an dieses Rennen blieb lange in seiner Seele die drückendste und quälendste seines Lebens.
[252]Alexei Alexandrowitschs äußeres Verhältnis zu seiner Frau war dasselbe geblieben wie vorher. Der einzige Unterschied bestand darin, daß er durch seine amtliche Tätigkeit noch stärker in Anspruch genommen war als früher. Wie in den vorhergehenden Jahren war er auch diesmal beim Beginn des Frühjahrs in ein ausländisches Bad gereist, um seine Gesundheit wiederherzustellen, die durch die von Jahr zu Jahr schlimmer werdende winterliche Arbeit angegriffen war. Und wie gewöhnlich war er im Juli zurückgekehrt und hatte sich sofort mit doppelter Tatkraft wieder an seine gewohnte Arbeit gemacht. Und wie gewöhnlich war seine Frau in die Sommerfrische übergesiedelt, während er in Petersburg geblieben war.
Seit jenem Gespräch nach der Abendgesellschaft bei der Fürstin Twerskaja hatte er mit Anna nie wieder von seinem Verdachte und von seiner Eifersucht geredet, und sein gewöhnlicher Ton, durch den er andere Menschen nachahmte und verspottete, paßte in der denkbar besten Weise zu seinem jetzigen Verhältnis zu seiner Frau. Er benahm sich etwas kühler gegen sie. Es schien, als wäre er nur ein klein wenig unzufrieden mit ihr wegen jenes ersten nächtlichen Gespräches, das sie abgelehnt hatte. In der Art, wie er mit ihr verkehrte, lag eine leise Spur von Verdrossenheit, aber nicht mehr. ›Du hast dich mit mir nicht aussprechen wollen‹, sagte er gleichsam in Gedanken zu ihr, ›nun hast du davon den Schaden. Jetzt wirst du bald kommen und mich bitten; aber dann werde ich auf keine Aussprache mehr eingehen. Nun, wie du willst!‹ sagte er in Gedanken, wie wenn jemand nach vergeblichen Versuchen, einen Brand zu löschen, über die Nutzlosigkeit seiner Anstrengungen ärgerlich würde und zu dem brennenden Gegenstande sagte: ›Na, da hast du's; nun verbrennst du durch deine Schuld!‹
Er, dieser kluge und in dienstlichen Angelegenheiten so scharfsinnige Mann, begriff nicht, wie sinnlos ein solches Verhältnis zu seiner Frau war. Er begriff das nicht, weil er sich geradezu davor fürchtete, seine jetzige Lage zu verstehen, und in seiner Seele den Schubkasten, in dem sich sein Familiensinn befand, das heißt seine Gefühle für seine Frau und seinen Sohn, zugemacht, verschlossen und versiegelt hatte. Er, sonst ein so sorgsamer Vater, war seit dem Ende dieses Winters sehr kühl gegen seinen Sohn geworden und bediente sich ihm gegenüber desselben höhnischen Tones wie seiner Frau gegenüber. ›Nun, junger Mann?‹ pflegte er ihn anzureden.
Alexei Alexandrowitsch glaubte und sprach das auch aus, daß [253] er noch in keinem Jahre amtlich so viel zu tun gehabt habe wie in diesem; aber er gestand sich nicht ein, daß er in diesem Jahre sich allerlei mühsame Geschäfte selbst erst aussann und daß dies eines der Mittel war, um jenes Fach nicht öffnen zu müssen, in dem seine Gefühle für seine Frau und seinen Sohn und seine Gedanken über diese beiden lagen und ihm, je länger sie dort lagen, um so furchtbarer wurden. Hätte jemand das Recht gehabt, Alexei Alexandrowitsch zu fragen, was er über das Betragen seiner Frau denke, so würde der sanfte, friedliche Alexei Alexandrowitsch nichts darauf geantwortet haben, wohl aber sehr zornig auf den Menschen geworden sein, der eine solche Frage an ihn gerichtet hätte. Aus ebendiesem Grunde nahm auch Alexei Alexandrowitschs Gesicht eine Miene stolzer, strenger Ablehnung an, wenn sich jemand bei ihm nach dem Befinden seiner Frau erkundigte. Er wollte an das Verhalten und an die Gefühle seiner Frau nicht denken und dachte auch wirklich nicht daran.
Das Landhaus, das Alexei Alexandrowitsch dauernd gemietet hatte, lag in Peterhof, und gewöhnlich verlebte auch die Gräfin Lydia Iwanowna den Sommer an demselben Orte, in Annas Nachbarschaft und in beständigem Verkehr mit ihr. Aber in diesem Jahre hatte die Gräfin Lydia Iwanowna darauf verzichtet, in Peterhof zu wohnen, war auch nicht ein einziges Mal bei Anna Arkadjewna zu Besuch gewesen und hatte Alexei Alexandrowitsch gegenüber auf die Unschicklichkeit von Annas engem Verkehr mit Betsy und Wronski andeutend hingewiesen. Alexei Alexandrowitsch hatte sie in scharfem Tone unterbrochen, seine Ansicht dahin ausgesprochen, seine Frau stehe über jedem Verdachte, und war seitdem einem Zusammentreffen mit der Gräfin Lydia Iwanowna aus dem Wege gegangen. Er wollte nicht sehen und sah wirklich nicht, daß in der Gesellschaft bereits viele Leute scheel auf seine Frau blickten; er wollte nicht begreifen und begriff wirklich nicht, warum seine Frau mit so besonderem Eifer gewünscht hatte, lieber nach Zarskoje Selo überzusiedeln, wo Betsy wohnte und von wo das Lager des Wronskischen Regiments nicht weit entfernt war. Er gestattete sich nicht, darüber nachzudenken, und dachte auch wirklich nicht darüber nach; aber obgleich er es in seinem tiefsten Innern niemals gegen sich selbst aussprach und keinerlei Beweise, ja nicht einmal Verdachtsgründe dafür hatte, war er doch mit zweifelloser Sicherheit davon überzeugt, daß er ein betrogener Ehemann war, und war darüber tief unglücklich.
Wie oft hatte Alexei Alexandrowitsch während seines achtjährigen glücklichen Zusammenlebens mit seiner Frau im Hinblick [254] auf fremde treulose Ehefrauen und betrogene Ehemänner bei sich selbst gesagt: ›Wie kann man es nur so weit kommen lassen? Wie kann man nur eine so greuliche Lage fortdauern lassen, statt ihr mit starker Hand ein Ende zu machen?‹ Aber jetzt, wo dieses Unglück sein eigenes Haupt betroffen hatte, dachte er nicht daran, dieser Lage ein Ende zu machen, ja, er wollte sie überhaupt nicht kennen, wollte sie ebendeshalb nicht kennen, weil sie gar zu schrecklich, gar zu widernatürlich war.
Seit seiner Rückkehr aus dem Auslande war Alexei Alexandrowitsch zweimal im Landhause gewesen. Das eine Mal hatte er dort zu Mittag gegessen, das andere Mal einen Abend mit Gästen dort verlebt; aber übernachtet hatte er dort nie, was er doch in früheren Jahren zu tun gewohnt gewesen war.
Der Tag des Rennens war für Alexei Alexandrowitsch besonders stark besetzt; er hatte sich schon am Morgen einen genauen Tagesplan entworfen und beschlossen, gleich nach einem frühen Mittagessen zu seiner Frau nach dem Landhause zu fahren und von dort zum Rennen, für welches das Erscheinen des ganzen Hofes angesagt war und bei dem er daher auch anwesend sein mußte. Zu seiner Frau wollte er deswegen heranfahren, weil er sich vorgenommen hatte, sie des Anstandes wegen einmal in der Woche zu besuchen. Außerdem mußte er ihr an diesem Tage, als dem fünfzehnten des Monats, der eingeführten Ordnung gemäß das Wirtschaftsgeld einhändigen.
Wie gewöhnlich hielt er seine Gedanken in strenger Zucht und gestattete ihnen, während er das alles in bezug auf seine Frau überlegte, nicht, sich über diese Grenze hinaus mit Dingen, die seine Frau betrafen, zu beschäftigen.
Den Vormittag über hatte Alexei Alexandrowitsch außerordentlich viel zu tun. Tags zuvor hatte ihm die Gräfin Lydia Iwanowna eine Schrift eines berühmten, zur Zeit sich in Petersburg aufhaltenden Chinareisenden zugesandt, nebst einem Briefe, in dem sie ihn bat, den Reisenden, als einen in vieler Hinsicht interessanten und wertvollen Mann, persönlich zu empfangen. Alexei Alexandrowitsch hatte am Abend nicht mehr Zeit gehabt, die Schrift ganz durchzulesen, und las sie nun am Morgen zu Ende. Dann erschienen Bittsteller; es begannen die Vorträge, die Empfänge, die Beschlußfassung über Ernennung und Absetzung von Beamten, über zu erteilende Gratifikationen, Pensionen, Gehälter; dann mußte mancherlei Briefwechsel erledigt werden: lauter Handwerksarbeit, wie Alexei Alexandrowitsch sich ausdrückte, die sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Darauf folgte eine persönliche Angelegenheit: der Besuch seines [255] Arztes und der seines Geschäftsführers. Dieser nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Der Geschäftsführer übergab ihm nur die nötigen Gelder und erstattete einen kurzen Rechenschaftsbericht über den Stand der Vermögensangelegenheiten; dieser Stand war nicht besonders erfreulich, da im letzten Jahre infolge der häufigen Reisen die Ausgaben ungewöhnlich groß gewesen waren, so daß sich ein Fehlbetrag ergab. Dagegen nahm der Arzt, der einer der angesehensten in Petersburg und mit Alexei Alexandrowitsch persönlich befreundet war, recht viel Zeit in Anspruch. Alexei Alexandrowitsch hatte ihn an diesem Tage gar nicht erwartet und war über sein Erscheinen erstaunt und noch mehr darüber, daß der Arzt ihn sehr eingehend über seinen Gesundheitszustand ausfragte, seine Brust behorchte und seine Leber beklopfte und befühlte. Alexei Alexandrowitsch wußte nicht, daß seine Freundin Lydia Iwanowna auf Grund ihrer Wahrnehmung, daß Alexei Alexandrowitschs Gesundheit in diesem Jahre gar nicht gut sei, den Arzt gebeten hatte, doch einmal zu ihm zu fahren und den Kranken zu untersuchen. ›Tun Sie es um meinetwillen!‹ hatte die Gräfin Lydia Iwanowna gesagt.
›Ich werde es um Rußlands willen tun, Gräfin‹, hatte der Arzt erwidert.
›Ja, er ist ein unschätzbarer Mann!‹ hatte die Gräfin ausgerufen.
Der Arzt war mit Alexei Alexandrowitsch sehr unzufrieden. Er fand, daß die Leber bedeutend vergrößert, die Ernährung vermindert und der Erfolg der Badekur gleich Null sei. Er verordnete ihm möglichst viel körperliche Bewegung und möglichst wenig geistige Anstrengung und vor allen Dingen Vermeidung aller Aufregung, also gerade etwas, was für Alexei Alexandrowitsch ebenso unmöglich war wie die Unterlassung des Atemholens. Und als der Arzt sich entfernt hatte, blieb Alexei Alexandrowitsch mit dem unangenehmen Bewußtsein zurück, daß irgend etwas mit ihm nicht richtig sei und daß es dafür keine Heilung gebe.
Als der Arzt von Alexei Alexandrowitsch weggegangen war, stieß er auf den Stufen vor der Haustür mit dem ihm wohlbekannten Herrn Sljudin, dem Subdirektor Alexei Alexandrowitschs, zusammen. Sie kannten sich von der Universität her, und obgleich sie jetzt nur selten miteinander zusammenkamen, schätzten sie sich doch wechselseitig sehr und waren gute Freunde; und darum sprach der Arzt zu Sljudin seine Meinung über den Patienten offenherziger aus, als er es irgendeinem anderen gegenüber getan haben würde.
[256] »Wie freue ich mich, daß Sie bei ihm gewesen sind«, sagte Sljudin. »Er ist nicht recht gesund, und mir scheint ... Nun, wie steht es?«
»Die Sache ist die«, antwortete der Arzt und winkte über Sljudins Kopf hinweg seinem Kutscher zu, er möchte vorfahren, »die Sache ist die«, sagte er noch einmal, indem er einen Finger eines seiner Glacéhandschuhe mit seinen beiden weißen Händen faßte und straff zog, »wenn Sie eine Saite nicht spannen und sie in diesem Zustand zu zerreißen versuchen, so ist das sehr schwer; aber spannen Sie sie bis zum äußersten Grade der Möglichkeit an und üben Sie dann nur einen mäßigen Druck mit dem Finger aus, so wird sie reißen. Und er bei seiner unausgesetzten Tätigkeit, bei seiner Gewissenhaftigkeit im Arbeiten, er ist bis zum äußersten Grade angespannt, und ein anderweitiger Druck ist vorhanden, und zwar ein recht schwerer Druck«, schloß der Arzt und zog dabei die Brauen bedeutsam in die Höhe. »Werden Sie bei dem Rennen sein?« fügte er hinzu, während er in den Wagen stieg, der inzwischen vorgefahren war. »Ja, ja, selbstverständlich, es raubt einem viel Zeit«, antwortete er noch auf etwas, was Sljudin gesagt, er selbst aber nicht mehr deutlich verstanden hatte.
Nach dem Arzte, dessen Besuch soviel Zeit gekostet hatte, erschien der berühmte Reisende, und Alexei Alexandrowitsch, der sowohl seine früheren Kenntnisse von diesem Gegenstande wie auch die soeben beim Lesen der Schrift neugewonnenen im Gespräche verwertete, überraschte den Reisenden durch sein tiefes Wissen auf diesem Gebiete und durch seinen weitreichenden, klaren Blick für diese Dinge.
Zugleich mit dem Reisenden wurde ihm auch der Besuch eines Gouvernements-Adelsmarschalls gemeldet, der nach Petersburg gekommen war und mit dem er verhandeln mußte. Nachdem dieser wieder gegangen war, mußte die ›Handwerksarbeit‹ mit dem Subdirektor zu Ende geführt werden, und dann mußte sich Alexei Alexandrowitsch noch wegen einer sehr ernsten, wichtigen Sache zu einer hochgestellten Persönlichkeit begeben. Er brachte es nur mit Mühe fertig, um fünf Uhr, der von ihm für das Mittagessen festgesetzten Zeit, zurück zu sein, und nachdem er mit seinem Subdirektor zusammen gespeist hatte, lud er diesen ein, mit ihm nach dem Landhause und zum Rennen zu fahren.
Ohne sich selbst über den Grund dieser Handlungsweise Rechenschaft abzulegen, suchte Alexei Alexandrowitsch es jetzt immer so einzurichten, daß er mit seiner Frau nur in Gegenwart eines Dritten zusammen war.
[257]Anna stand im oberen Stockwerk vor dem Spiegel und steckte mit Annuschkas Hilfe die letzte Schleife an ihr Kleid, als sie vor der Haustür das knirschende Geräusch von Rädern auf dem Kies hörte.
›Für Betsy ist es noch zu früh‹, dachte sie, sah durch das Fenster und erblickte den Wagen, aus dem eben Alexei Alexandrowitsch seinen Kopf mit dem schwarzen Hute und den ihr so wohlbekannten Ohren heraussteckte. ›Das kommt mir unerwünscht; er wird doch nicht die Nacht über hierbleiben?‹ dachte sie, und alle die Folgen, die das haben konnte, erschienen ihr so entsetzlich und furchtbar, daß sie, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, mit heiterem, strahlendem Gesichte aus dem Zimmer den beiden Herren entgegenging; sie fühlte, daß der ihr schon wohlbekannte Geist der Lüge und des Truges in ihr wieder lebendig wurde, überließ sich sofort seinen Eingebungen und begann zu reden, ohne selbst zu wissen, was sie sagen werde.
»Ah, das ist einmal nett!« sagte sie, reichte ihrem Manne die Hand und begrüßte Sljudin als einen Freund des Hauses mit einem freundlichen Lächeln. »Ich hoffe, du bleibst über Nacht hier?« das waren die ersten Worte, die ihr der Geist des Truges zuflüsterte, »und jetzt wollen wir zusammen zum Rennen fahren. Nur schade, daß ich mich mit Betsy verabredet habe. Sie will mich abholen.«
Alexei Alexandrowitsch runzelte bei dem Namen Betsy die Stirn.
»Oh, ich werde die Unzertrennlichen nicht trennen«, antwortete er in seinem gewöhnlichen scherzenden Tone. »Ich werde mit Michail Wasiljewitsch zusammen fahren. Auch ist mir ärztlicherseits empfohlen worden, recht viel zu gehen; ich werde also unterwegs aussteigen und eine Strecke zu Fuß gehen und mir dabei vorstellen, daß ich noch im Badeort sei.«
»Wir haben noch viel Zeit«, sagte Anna. »Wünschen die Herren nicht eine Tasse Tee?«
Sie klingelte.
»Bringen Sie Tee und sagen Sie zu Sergei, daß Alexei Alexandrowitsch gekommen ist. Nun, wie steht es denn mit deiner Gesundheit? Michail Wasiljewitsch, Sie sind in diesem Jahre noch nie bei mir hier draußen gewesen; sehen Sie nur, wie schön es auf meiner Terrasse ist«, sagte sie, sich bald an den einen, bald an den andern wendend.
Sie sprach ungezwungen und natürlich, aber zu viel und zu [258] schnell. Sie fühlte das selbst und um so mehr, da sie an dem forschenden Blicke, mit dem Michail Wasiljewitsch sie ansah, merkte, daß er sie beobachtete.
Michail Wasiljewitsch trat sogleich auf die Terrasse hinaus.
Sie setzte sich neben ihren Mann.
»Du siehst nicht recht wohl aus«, sagte sie zu ihm.
»Ja«, antwortete er, »heute ist der Arzt bei mir gewesen und hat mir eine Stunde Zeit geraubt. Es kommt mir vor, als hätte ihn einer meiner Freunde zu mir geschickt; so kostbar ist ihnen meine Gesundheit.«
»Und was hat er gesagt?«
Sie fragte ihn allerlei über seine Gesundheit und über seine Tätigkeit und redete ihm zu, sich mehr Erholung zu gönnen und zu ihr in die Sommerfrische herauszuziehen.
Alles dies sagte sie schnell und in heiterem Tone und mit einem besonderen Glanze in den Augen; aber Alexei Alexandrowitsch maß diesem Tone jetzt keine Bedeutung bei. Er hörte nur ihre Worte und faßte sie nur in ihrem natürlichen Sinne auf. Er antwortete ihr ungezwungen, wenn auch in seiner scherzhaften Art. Dieses ganze Gespräch hatte keine besondere Eigentümlichkeit; aber in der Folgezeit konnte Anna an diese kurze Begebenheit nie ohne ein schmerzhaftes, peinliches Gefühl der Scham zurückdenken.
Der kleine Sergei kam, von seiner Gouvernante geführt, herein. Hätte Alexei Alexandrowitsch es sich nicht zum Grundsatz gemacht gehabt, keine Beobachtungen anzustellen, so würde er den scheuen, verlegenen Blick bemerkt haben, mit dem der Knabe zuerst den Vater und dann die Mutter ansah. Aber er wollte nichts sehen und sah auch wirklich nichts.
»Ah, junger Mann! Er ist gewachsen. Wahrhaftig, er wird ordentlich schon ein Mann. Guten Tag, junger Mann!«
Er reichte dem erschrockenen Kinde die Hand.
Sergei hatte sich auch früher schon immer dem Vater gegenüber sehr schüchtern benommen; jetzt nun gar, wo Alexei Alexandrowitsch angefangen hatte, ihn »junger Mann« zu nennen, und wo er die Rätselfrage in seinem Kopfe herumwälzte, ob Wronski ein Freund oder ein Feind sei, jetzt hatte er sich dem Vater ganz und gar entfremdet. Wie schutzflehend sah er sich nach der Mutter um. Nur bei der Mutter fühlte er sich wohl. Alexei Alexandrowitsch knüpfte ein Gespräch mit der Gouvernante an und hielt währenddessen seinen Sohn an der Schulter gefaßt, was diesem entsetzlich unbehaglich war; Anna sah, daß er nahe daran war, in Tränen auszubrechen.
Als Anna, die bei Sergeis Eintritt errötet war, jetzt bemerkte, [259] wie unbehaglich sich der Knabe fühlte, sprang sie schnell auf, hob Alexei Alexandrowitschs Hand von der Schulter ihres Sohnes weg, küßte ihren Sohn, führte ihn auf die Terrasse und kehrte sofort wieder zurück.
»Nun wird es aber Zeit«, bemerkte sie nach einem Blicke auf ihre Uhr. »Warum nur Betsy nicht kommt? ...«
»Ja«, sagte Alexei Alexandrowitsch, indem er aufstand, die Finger durcheinanderschob und knacken ließ. »Ich bin auch noch deshalb hergekommen, um dir Geld zu bringen, da nach dem Sprichworte auch eine Nachtigall vom bloßen Singen nicht satt wird. Ich denke, du wirst welches brauchen.«
»Nein, ich brauche noch kein Geld wieder ... oder doch, ja«, antwortete sie, ohne ihn anzusehen, und errötete dabei bis an die Haarwurzeln. »Aber ich denke, du wirst nach dem Rennen doch noch wieder herkommen?«
»O gewiß!« erwiderte Alexei Alexandrowitsch. »Da ist ja auch die Zierde von Peterhof, die Fürstin Twerskaja«, fügte er hinzu, als er bei einem Blicke durch das Fenster ein englisches Geschirr mit außerordentlich hoch angebrachtem, winzigem Wagenkasten bemerkte. »Was für eine Pracht! Entzückend! Nun, dann wollen wir auch abfahren.«
Die Fürstin Twerskaja stieg nicht aus; nur ihr Lakai in Gamaschen, Pelerine und schwarzem Hut sprang an der Haustür ab.
»Ich gehe, auf Wiedersehen!« sagte Anna, küßte ihren Sohn, trat zu Alexei Alexandrowitsch hin und reichte ihm die Hand. »Es war sehr liebenswürdig von dir, daß du hergekommen bist.«
Alexei Alexandrowitsch küßte ihr die Hand.
»Nun, dann auf Wiedersehen! Du kommst also nachher noch einmal, um mit mir Tee zu trinken. Das ist ja prächtig!« rief sie heiter und strahlend beim Hinausgehen. Aber sobald sie ihn nicht mehr sah, fühlte sie auf ihrer Hand nach der Stelle, die seine Lippen berührt hatten, und zuckte wie vor Ekel zusammen.
Als Alexei Alexandrowitsch beim Rennen erschien, saß Anna bereits auf der Tribüne neben Betsy, in der Loge, wo sich die ganze höhere Gesellschaft zu versammeln pflegte. Sie erblickte ihren Mann schon von weitem. Zwei Menschen, ihr Mann und ihr Geliebter, waren für sie die beiden Brennpunkte des Lebens, und ohne Hilfe der äußeren Sinnesorgane spürte sie deren Nähe. Schon von weitem hatte sie die Annäherung ihres Mannes gefühlt, [260] und sie verfolgte ihn unwillkürlich mit den Augen in den Menschenwogen, durch die er sich hinbewegte. Sie sah, wie er der Loge näher kam, indem er bald untertänige Verbeugungen leutselig erwiderte, bald Gleichgestellte freundschaftlich und zerstreut begrüßte, bald eifrig bemüht war, einen Blick von den Mächtigen dieser Welt zu erhaschen, und dabei seinen großen, runden Hut abnahm, der ihm die oberen Ränder der Ohrmuscheln niederdrückte. Sie kannte alle diese Angewohnheiten, und sie waren ihr alle widerwärtig. ›Nur Ehrgeiz, nur der Wunsch, etwas in der Welt zu erreichen, das ist alles, was in seiner Seele vorhanden ist‹, dachte sie, ›aber jedes höhere Streben, Religiosität, Interesse für die Verbreitung der Bildung, das ist ihm alles nur Mittel, um etwas zu erreichen.‹
An den Blicken, die er nach der Damenloge richtete (er schaute gerade auf Anna hin, konnte sie aber in dem Meere von Tüll, Bändern, Federn, Sonnenschirmen und Blumen nicht erkennen), merkte sie, daß er sie suchte; aber sie tat absichtlich, als sähe sie ihn nicht.
»Alexei Alexandrowitsch!« rief ihn die Fürstin Betsy an. »Sie suchen gewiß Ihre Frau; hier ist sie!«
Er lächelte in seiner kühlen Art.
»Hier ist so viel Glanz, daß die Augen geblendet umherirren«, erwiderte er und trat in die Loge hinein. Er lächelte seiner Frau so zu, wie eben ein Ehemann lächeln muß, wenn er seiner Frau wieder begegnet, mit der er vor kurzem noch zusammengewesen ist, und begrüßte die Fürstin und seine anderen Bekannten, indem er einem jeden zukommen ließ, was ihm gebührte, also an die Damen Scherzworte richtete und mit den Männern Begrüßungen austauschte. Unten neben der Loge stand ein von Alexei Alexandrowitsch hochgeschätzter, durch seinen Verstand und seine Bildung bekannter Generaladjutant; Alexei Alexandrowitsch knüpfte ein Gespräch mit ihm an.
Es war gerade eine Pause zwischen zwei Rennen, und daher wurde die Unterhaltung durch nichts gestört. Der Generaladjutant äußerte sich mißbilligend über den Rennsport; Alexei Alexandrowitsch trat dem entgegen und verteidigte ihn. Anna horchte, ohne ein Wort zu verlieren, auf seine hohe, gleichmäßige Stimme, und jedes seiner Worte schien ihr unaufrichtig, und ihr Ohr empfand gleichsam einen physischen Schmerz davon.
Als das Vier-Werst-Rennen mit Hindernissen begann, beugte sie sich vor und blickte unverwandt zu Wronski hin, der zu seinem Pferde ging und es bestieg, und gleichzeitig hörte sie die widerwärtige, gleichmäßig weitersprechende Stimme ihres Mannes. Die Angst um Wronski peinigte sie; aber noch mehr[261] peinigte sie die hohe Stimme ihres Mannes mit dem ihr so wohlbekannten Tonfall; es schien ihr, als wolle diese Stimme überhaupt nie verstummen.
›Ich bin eine schlechte Frau, ein verworfenes Weib‹, dachte sie. ›Aber ich verabscheue die Lüge, ich kann die Lüge nicht ausstehen; ihm hingegen ist die Lüge geradezu das tägliche Brot. Er weiß alles, er sieht alles; wie mag es mit seinem Gefühl, mit seiner Empfindung stehen, wenn er sich dabei mit solcher Ruhe unterhalten kann? Wenn er mich tötete, wenn er Wronski tötete, so würde ich ihn dafür achten. Aber nein, was er will, ist nur Unwahrhaftigkeit und Wahrung des äußeren Anstandes.‹ So sprach Anna bei sich, ohne recht zu überlegen, was für ein Verhalten sie denn eigentlich von ihrem Manne verlangte und welche Eigenschaften sie an ihm zu sehen wünschte. Auch das entging ihr, daß Alexei Alexandrowitschs jetzige besonders große Gesprächigkeit, die ihr so sehr mißfiel, lediglich ein Ausdruck seiner inneren Erregung und Unruhe war. Wie ein Kind, das sich gestoßen hat, durch Springen seine Muskeln in Bewegung setzt, um dadurch den Schmerz zu betäuben, so bedurfte auch Alexei Alexandrowitsch notwendig einer geistigen Bewegung, um jene Vermutungen über seine Frau zu betäuben, die sich ihm bei Anwesenheit seiner Frau und bei Anwesenheit Wronskis, und wenn er dessen Namen immer wieder hören mußte, gewaltsam aufdrängten. Und wie es dem Kinde die Natur eingibt, zu springen, so gab sie es ihm ein, ein hübsches, verständiges Gespräch zu führen. Er äußerte sich folgendermaßen:
»Die Gefährlichkeit ist bei militärischen Rennen, bei Kavallerierennen, eine notwendige Bedingung. Wenn England in der Kriegsgeschichte auf die glänzendsten Reitertaten hinweisen kann, so wird dies nur dem Umstande verdankt, daß dieses Land sowohl bei den Tieren wie bei den Menschen diese Kraft im Laufe der Zeit zielbewußt ausgebildet hat. Der Sport ist meiner Ansicht nach von hoher Bedeutung; aber wir sehen bei ihm wie bei allen Dingen eben nur das Alleräußerlichste.«
»Doch nicht bloß das Äußerliche«, warf die Fürstin Twerskaja dazwischen. »Ein Offizier soll sich soeben zwei Rippen gebrochen haben.«
Auf Alexei Alexandrowitschs Gesicht erschien das ihm eigentümliche Lächeln, das nur die Zähne sichtbar werden ließ, aber im übrigen völlig nichtssagend war.
»Allerdings, Fürstin«, versetzte er, »ist das nichts Äußerliches, sondern etwas Innerliches. Aber darum handelt es sich nicht«, hier wandte er sich wieder an den General, mit dem er das Gespräch in ernstem Tone fortsetzte; »Sie dürfen nicht vergessen, [262] daß bei dem Rennen Offiziere reiten, die sich für diesen Beruf nach freier Wahl entschieden haben, und Sie werden zugeben müssen, daß ein jeder Beruf auch seine Kehrseite hat. Der gefährliche Sport gehört geradezu zu den Pflichten eines Offiziers. Der rohe Sport des Faustkampfes oder der spanischen Toreadors ist ein Zeichen von Barbarei. Aber der auf ein besonderes Ziel gerichtete Sport ist ein Zeichen kultureller Entwicklung.«
»Nein, ich komme ein andermal nicht wieder her; das regt mich doch gar zu sehr auf«, sagte die Fürstin Betsy. »Nicht wahr, Anna?«
»Aufregend ist es; aber man kann sich doch nicht davon losreißen«, meinte eine andere Dame. »Wäre ich eine Römerin gewesen, so hätte ich an keinem Kampftage im Zirkus gefehlt.«
Anna erwiderte nichts und blickte, ohne das Opernglas abzusetzen, immer nach einer Stelle hin.
In diesem Augenblick ging ein hoher General durch die Loge. Alexei Alexandrowitsch unterbrach seine Auseinandersetzung, stand eilig, aber dabei doch würdevoll auf und verbeugte sich tief vor dem vorübergehenden Offizier.
»Sie reiten das Rennen nicht mit?« fragte ihn der Offizier scherzend.
»Mein Rennen ist schwieriger«, antwortete Alexei Alexandrowitsch achtungsvoll.
Und obgleich diese Erwiderung eigentlich keinen rechten Sinn hatte, machte der hohe Offizier doch eine Miene, als habe er von einem geistreichen Manne ein geistreiches Wort vernommen und verstehe völlig la pointe de la sauce 1.
»Es sind da zwei Standpunkte zu unterscheiden«, fuhr Alexei Alexandrowitsch von neuem in seiner Darlegung fort, »der der aktiv Beteiligten und der der Zuschauer. Die Lust an solchen Schauspielen ist bei den Zuschauern, das muß ich zugeben, ein sicheres Zeichen eines niedrigen Bildungsgrades; aber ...«
»Nun, Fürstin, wollen wir wetten?« erscholl von unten her die Stimme Stepan Arkadjewitschs, der sich an Betsy wandte. »Auf wen halten Sie?«
»Anna und ich halten auf den Fürsten Kusowlew«, erwiderte Betsy.
»Ich auf Wronski. Um ein Paar Handschuhe!«
»Es gilt!«
»Wie hübsch das Rennen ist, nicht wahr?«
Alexei Alexandrowitsch hatte einen Augenblick geschwiegen, während dies dicht neben ihm gesprochen wurde; aber dann begann er sogleich wieder:
»Ich muß zugeben, daß unmännliche Spiele ...«
[263] Aber er konnte nicht weiterreden, da in diesem Augenblicke die Reiter starteten und alle Gespräche abgebrochen wurden. Auch Alexei Alexandrowitsch verstummte. Alle waren aufgestanden und hatten sich nach dem Flüßchen hingewandt. Für das Rennen hatte Alexei Alexandrowitsch kein Interesse, und daher blickte er nicht nach den Reitern hin, sondern er ließ seine müden Augen durch die Reihen der Zuschauer wandern. Sein Blick blieb auf Anna haften.
Ihr Gesicht war blaß und tiefernst. Sie sah offenbar nichts und niemanden außer einem einzigen. Ihre Hand preßte sich krampfhaft um den Fächer zusammen, und sie atmete kaum. Er betrachtete sie einen Augenblick; dann wandte er sich eilig ab und sah nach anderen Gesichtern hin.
›Da, diese Dame da‹, sagte er zu sich selbst, ›und dort noch andere Damen sind auch sehr aufgeregt; das ist etwas sehr Natürliches.‹ Er wollte seine Frau nicht noch einmal ansehen; aber er fühlte seinen Blick unwillkürlich wieder dorthin gezogen. So schaute er denn von neuem in dieses Gesicht, bemüht, das nicht zu lesen, was doch so deutlich darauf geschrieben stand, und gegen seinen Willen las er darauf mit Entsetzen, was zu wissen er sich sträubte.
Der erste Sturz eines Reiters – Kusowlew war am Flüßchen gestürzt – setzte alle in Aufregung; aber an Annas blassem, triumphierendem Gesichte sah Alexei Alexandrowitsch deutlich, daß der, nach dem sie hinsah, nicht gestürzt war. Als dann Machotin und Wronski die große Hürde genommen hatten und darauf der ihnen folgende Offizier an dieser selben Stelle auf den Kopf stürzte und schwerverletzt besinnungslos liegenblieb und ein dumpfes Gemurmel des Schreckens durch die ganze Zuschauerschaft ging, da sah Alexei Alexandrowitsch, daß Anna diesen Vorfall gar nicht einmal bemerkt hatte und nur mit Mühe begriff, wovon um sie herum gesprochen wurde. Aber immer häufiger und häufiger und mit immer größerer Hartnäckigkeit betrachtete er sie. Obgleich Anna in den Anblick des dahinjagenden Wronski ganz versunken war, fühlte sie doch den Blick der kalten Augen ihres Mannes von der Seite her auf sich gerichtet.
Sie sah sich einen Augenblick um, blickte ihn fragend an, zog leicht die Brauen zusammen und wandte sich wieder von ihm ab.
Es war, als ob sie zu ihm sagte: ›Ach, mir ist alles gleich!‹ Und von nun an blickte sie kein einziges Mal mehr nach ihm hin.
Es war ein Unglücksrennen: von den siebzehn Reitern stürzten und verletzten sich mehr als die Hälfte. Am Schlusse des Rennens waren alle Zuschauer in großer Erregung, die noch dadurch erhöht wurde, daß der Kaiser sich mißfällig geäußert hatte.
1 (frz.) das Wesen der Sache.
Alle sprachen laut ihre Mißbilligung aus; alle wiederholten die von irgend jemand gebrauchte Wendung: ›Nun fehlt nur noch der Zirkus mit den Löwen‹, und alle waren dermaßen von Entsetzen erfüllt, daß, als Wronski stürzte und Anna laut aufstöhnte, darin nichts Auffallendes lag. Aber gleich darauf ging auf Annas Gesicht eine Veränderung vor, die denn doch unbedingt eine Verletzung des Anstandes bildete. Sie war vollständig außer sich; sie bewegte zuckend die Glieder wie ein ergriffener Vogel; mehrmals wollte sie aufstehen und weggehen, ohne selbst recht zu wissen, wohin; dann wieder wandte sie sich an Betsy.
»Wir wollen wegfahren, wir wollen wegfahren!« sagte sie.
Aber Betsy hörte nicht nach ihr hin. Sich über die Brüstung der Loge hinabbeugend, sprach sie mit einem General, der zu ihr herangetreten war.
Alexei Alexandrowitsch ging zu Anna hin und bot ihr höflich seinen Arm.
»Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir gehen«, sagte er auf französisch; aber Anna horchte darauf hin, was der General sagte, und beachtete ihren Mann gar nicht.
»Wie es heißt, hat er sich ebenfalls das Bein gebrochen«, sagte der General. »Eine ganz unerhörte Geschichte!«
Anna hob, ohne ihrem Manne zu antworten, das Glas an die Augen und blickte nach der Stelle hin, wo Wronski gestürzt war; aber die Entfernung war so weit und das Menschengedränge dort so groß, daß sich nichts unterscheiden ließ. Sie setzte das Glas wieder ab und wollte gehen; aber in diesem Augenblicke galoppierte ein Offizier herbei und machte dem Kaiser eine Meldung. Anna beugte sich vor, um zu hören.
»Stiwa, Stiwa!« rief sie ihrem Bruder zu.
Aber dieser hörte sie nicht. Wieder wollte sie aus der Loge hinaus.
»Ich biete Ihnen noch einmal meinen Arm an, wenn Sie weggehen wollen«, sagte Alexei Alexandrowitsch, indem er ihre Hand berührte.
Mit einer Miene des Widerwillens wich sie von ihm zurück und antwortete, ohne ihm ins Gesicht zu sehen:
»Nein, nein, lassen Sie mich nur; ich bleibe hier.«
Sie sah jetzt, daß von dem Orte, wo Wronski gestürzt war, ein Offizier quer durch die Bahn zu der Tribüne eilte. Betsy winkte ihm mit dem Taschentuche, daß er zu ihr herankommen möchte. Der Offizier brachte die Nachricht, der Reiter sei unverletzt, aber das Pferd habe sich das Rückgrat gebrochen.
[265] Sobald Anna dies gehört hatte, setzte sie sich schnell wieder hin und verbarg das Gesicht hinter dem Fächer. Alexei Alexandrowitsch sah, daß sie weinte und nicht imstande war, ihre Tränen zurückzuhalten oder das Aufschluchzen zu unterdrücken, unter dem sich ihre Brust hob. Er stellte sich als Deckung vor sie hin und wollte ihr so Zeit geben, die Herrschaft über sich wiederzugewinnen.
»Ich biete Ihnen zum dritten Male meinen Arm an«, sagte er nach einiger Zeit. Anna blickte ihn an und schwankte, was sie ihm erwidern sollte. Aber die Fürstin Betsy kam ihr zu Hilfe.
»Nein, Alexei Alexandrowitsch, ich habe Anna hergebracht, und ich habe versprochen, sie auch wieder zurückzubringen«, mischte sie sich ein.
»Verzeihen Sie, Fürstin«, versetzte er; er lächelte höflich, blickte ihr jedoch fest in die Augen. »Aber ich sehe, daß Anna nicht ganz wohl ist, und möchte daher, daß sie mit mir fährt.«
Anna blickte erschrocken um sich, erhob sich gehorsam und legte ihre Hand in den Arm ihres Mannes.
»Ich will zu ihm schicken und mich erkundigen lassen und sende Ihnen dann Nachricht«, flüsterte Betsy ihr zu.
Beim Hinausgehen aus der Loge sprach Alexei Alexandrowitsch genauso wie sonst immer mit Bekannten, auf die sie trafen, und auch Anna sah sich genötigt zu antworten und zu reden wie immer; aber sie war halb bewußtlos und schritt wie im Traume am Arme ihres Mannes dahin.
›Ist er verletzt oder nicht? Ist es wahr, daß er unbeschädigt ist? Wird er kommen oder nicht? Werde ich ihn heute wiedersehen?‹ dachte sie.
Schweigend setzte sie sich in Alexei Alexandrowitschs Wagen, und schweigend fuhren sie aus dem Gedränge der Wagen hinaus. Trotz allem, was Alexei Alexandrowitsch gesehen hatte, vermied er es auch jetzt, über den wahren Seelenzustand seiner Frau nachzudenken. Er hatte nur äußere Merkmale gesehen. Er hatte gesehen, daß sie sich unpassend benommen hatte, und hielt es für seine Pflicht, ihr dies zu sagen. Aber es wurde ihm sehr schwer, nicht noch mehr zu sagen, sondern nur ebendies. Er öffnete den Mund, um ihr zu sagen, wie unpassend sie sich benommen habe; aber unwillkürlich sagte er etwas ganz anderes.
»Es ist doch seltsam, wie wir alle uns zu diesen schrecklichen Schauspielen hingezogen fühlen«, sagte er. »Ich bemerke ...«
»Was? Ich verstehe nicht«, unterbrach ihn Anna in geringschätzigem Tone.
Er fühlte sich gekränkt und begann nun sogleich von dem, was er eigentlich zu sagen beabsichtigt hatte.
[266] »Ich muß Ihnen sagen ...«, fing er an.
›Jetzt kommt es, jetzt kommt die Aussprache‹, dachte sie, und es wurde ihr bange zumute.
»Ich muß Ihnen sagen, daß Sie sich heute unpassend benommen haben«, sagte er zu ihr auf französisch.
»Inwiefern habe ich mich unpassend benommen?« fragte sie laut; sie wandte rasch den Kopf zu ihm und blickte ihm gerade in die Augen, aber ganz und gar nicht mehr mit der früheren heuchlerischen Heiterkeit, sondern mit einer entschlossenen Miene, unter der sie nur mit Mühe ihre Angst verbarg.
»Vergessen Sie nicht ...«, sagte er und deutete auf das offene Fenster hinter dem Rücken des Kutschers hin.
Er erhob sich halb und zog die Scheibe in die Höhe.
»Was haben Sie unpassend gefunden?« fragte sie noch einmal.
»Die Verzweiflung, die Sie bei dem Sturze eines der Reiter nicht zu verbergen vermochten.«
Er wartete, was sie wohl erwidern werde; aber sie schwieg und blickte vor sich hin.
»Ich habe Sie schon früher einmal gebeten, sich in Gesellschaft so zu benehmen, daß auch die bösen Zungen nichts Nachteiliges über Sie sagen können. Es hat eine Zeit gegeben, da ich von dem innerlichen Verhältnis zwischen uns beiden sprach; davon spreche ich jetzt nicht mehr. Ich rede jetzt nur noch von unserem äußeren Verhältnis. Sie haben sich unpassend benommen, und ich möchte wünschen, daß sich das nicht wiederholt.«
Sie hatte kaum die Hälfte von dem gehört, was er gesagt hatte; sie fürchtete sich vor ihm, auch waren ihre Gedanken damit beschäftigt, ob es wohl wahr sei, daß Wronski sich nicht beschädigt habe. Hatte sich das auf ihn bezogen, als gesagt wurde, der Reiter sei unverletzt, aber das Pferd habe sich das Rückgrat gebrochen? Als ihr Mann zu Ende gesprochen hatte, beschränkte sie sich auf ein gekünsteltes, spöttisches Lächeln und gab ihm keine Antwort, weil ihr das, was er gesagt hatte, gar nicht zum Verständnis gekommen war. Alexei Alexandrowitsch war, als er anfing zu sprechen, festen Mutes gewesen; aber als er sich dann in voller Klarheit bewußt wurde, worüber er eigentlich sprach, da teilte sich die Furcht, die sie empfand, auch ihm mit. Er sah ihr Lächeln und geriet in einen seltsamen Irrtum.
›Sie lächelt über meinen Verdacht. Ja, sie wird im nächsten Augenblick dasselbe sagen, was sie mir damals gesagt hat: daß mein Verdacht unbegründet ist, daß er lächerlich ist.‹
Jetzt, wo die Enthüllung der ganzen Wahrheit wie ein Schwert über ihm schwebte, wünschte er nichts so sehr, als daß sie, wie das erste Mal, ihm spöttisch antworten möge, sein Verdacht sei [267] lächerlich und ermangle jeder Begründung. Das, was er wußte, war so furchtbar, daß er jetzt bereit war, sich zu stellen, als ob er alles glaube. Aber der Ausdruck ihres Gesichtes, das angstvoll und finster aussah, benahm ihm die Hoffnung, daß sie wieder zur Lüge greifen werde.
»Vielleicht irre ich mich«, sagte er. »In diesem Falle bitte ich um Verzeihung.«
»Nein, Sie irren sich nicht«, erwiderte sie langsam und blickte voll Verzweiflung in sein kaltes Gesicht. »Ich war wirklich in Verzweiflung, und auch jetzt kann ich mich vor der Verzweiflung nicht retten. Ich höre Sie reden und denke an ihn. Ich liebe ihn, ich bin seine Geliebte; Sie sind mir unerträglich, ich fürchte mich vor Ihnen, ich hasse Sie ... Machen Sie mit mir, was Sie wollen.«
Sie lehnte sich in eine Ecke des Wagens zurück, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte. Alexei Alexandrowitsch saß da, ohne sich zu regen, und blickte unverändert wie vorher geradeaus. Aber sein ganzes Gesicht nahm plötzlich die feierliche Starrheit einer Leiche an und behielt diesen Ausdruck während der ganzen Fahrt bis zum Landhause bei. Als sie sich dem Hause näherten, wendete er seinen Kopf, immer noch mit dem gleichen Ausdrucke, nach ihr hin.
»Nun wohl! Aber ich verlange die Beobachtung des äußeren Anstandes bis zu dem Zeitpunkte«, hier begann seine Stimme zu zittern, »wo ich die nötigen Maßnahmen zur Wahrung meiner Ehre getroffen und Ihnen mitgeteilt haben werde.«
Er stieg zuerst aus und war ihr beim Aussteigen behilflich. Mit Rücksicht auf die Dienerschaft drückte er ihr die Hand; dann stieg er wieder in den Wagen und fuhr nach Petersburg.
Gleich nach seiner Abfahrt kam ein Diener von der Fürstin Betsy und überbrachte Anna eine Karte:
»Ich habe zu Wronski hingeschickt und mich nach seinem Befinden erkundigen lassen; er schreibt mir, er sei gesund und unverletzt, aber in Verzweiflung.«
›Also wird er kommen‹, sagte sie sich. ›Wie gut habe ich daran getan, dem andern alles zu sagen.‹
Sie blickte auf die Uhr. Es fehlten noch drei Stunden, und die Erinnerung an die Einzelheiten ihres letzten Beisammenseins erhitzte ihr Blut.
›Mein Gott, wie hell es ist! Das ist ja ängstlich; aber dann habe ich es auch wieder gern, wenn ich sein Gesicht sehen kann, und ich liebe das märchenhafte Licht dieser hellen Nächte ... Mein Mann! Ach ja! ... Nun, Gott sei Dank, daß ich mit ihm völlig fertig bin.‹
[268]Wie an allen Orten, wo Menschen einigermaßen zahlreich zusammenkommen, so vollzog sich auch in dem kleinen deutschen Badeorte, den die Familie Schtscherbazki aufgesucht hatte, der übliche sozusagen soziale Kristallisationsprozeß, der jedem Mitgliede der menschlichen Gesellschaft einen festen, unveränderlichen Platz anweist. Wie nach festem, unveränderlichem Gesetze ein Wasserteilchen bei Kälte die bestimmte Form eines Schneekristalls erhält, so nahm auch jede neue Persönlichkeit, die in dem Badeorte ankam, sofort den ihr zukommenden Platz ein.
»Fürst Schtscherbazki samt Gemahlin und Tochter« kamen auf Grund der von ihnen gemieteten Wohnung und auf Grund ihres Namens und auf Grund des Ranges der Bekannten, die sie dort vorfanden, durch diese Kristallisation sofort an ihren bestimmten, gottgewollten Platz.
In dem Badeorte befand sich in diesem Jahre eine wirkliche deutsche Fürstin, und infolgedessen vollzog sich die Kristallisation der Gesellschaft noch wirksamer als zu andern Zeiten. Die Fürstin Schtscherbazkaja wünschte durchaus, ihre Tochter der hohen Frau vorzustellen, und vollzog diesen Akt wirklich schon am zweiten Tage. Kitty verneigte sich tief und anmutig in ihrem aus Paris verschriebenen »sehr einfachen«, das heißt höchst eleganten Sommerkleide. Die deutsche Fürstin sagte: »Ich hoffe, daß die Rosen bald auf dieses hübsche Gesichtchen zurückkehren werden«, und nun waren die Schtscherbazkis sofort auf ein bestimmtes Geleise der Lebenshaltung gestellt, aus dem herauszukommen nicht mehr möglich war. Schtscherbazkis wurden auch mit einer englischen Lady und ihrer Familie bekannt, und mit einer deutschen Gräfin und ihrem Sohne, der im letzten Kriege verwundet worden war, und mit einem schwedischen Gelehrten und mit einem Monsieur Canut und seiner Schwester. Hauptsächlich aber verkehrten Schtscherbazkis (das hatte sich ganz von selbst so gemacht) mit einer Moskauer Dame, Marja Jewgenjewna Rtischtschewa, und ihrer Tochter, die Kitty unsympathisch war, weil sie, ebenso wie sie selbst, an Liebeskummer krankte, und mit einem Moskauer Obersten, den Kitty von ihrer Kindheit an nur in Uniform und mit Achselstücken gesehen und gekannt hatte und der hier mit seinen kleinen Augen und dem offenen Hals und der bunten Krawatte recht komisch aussah und außerdem seinen Bekannten dadurch langweilig wurde, daß man sich gar nicht wieder von ihm losmachen konnte, wenn man sich einmal in ein Gespräch mit ihm eingelassen [269] hatte. Als alles dies eine so feste Form angenommen hatte, begann Kitty sich sehr zu langweilen, um so mehr, da ihr Vater, der Fürst, nach Karlsbad gereist und sie mit der Mutter allein zurückgeblieben war. Sie hatte kein Interesse an den Leuten, die sie schon kannte, da sie wußte, daß sie an ihnen nichts Neues mehr entdecken werde. Ihre hauptsächlichste und liebste Beschäftigung in diesem Badeorte bestand darin, die, die sie noch nicht kannte, zu beobachten und zu erraten, was das wohl für Leute sein möchten. Es lag in Kittys Charakter, von allen Menschen das Beste zu denken, und ganz besonders von denen, die sie nicht kannte. Auch während sie jetzt zu erraten suchte, wer und was diese Leute wohl seien und was für Beziehungen zwischen ihnen beständen, malte sie sich die schönsten, edelsten Charaktere aus und glaubte in dem, was sie beobachtete, eine Bestätigung ihrer Mutmaßungen zu finden.
Ihre besondere Teilnahme erregte unter diesen Persönlichkeiten ein russisches Fräulein, das zusammen mit einer älteren, kranken russischen Dame nach dem Badeorte gekommen war, mit einer Madame Stahl, wie sie von allen genannt wurde. Madame Stahl gehörte zur obersten Schicht der Gesellschaft, war aber so krank, daß sie nicht gehen konnte und nur ganz selten an besonders schönen Tagen in einem Rollstuhl am Brunnen erschien. Indessen sprach die Fürstin Schtscherbazkaja ihre Ansicht dahin aus, daß Madame Stahl nicht sowohl infolge ihrer Krankheit wie aus Stolz den Verkehr mit den anwesenden Russen meide. Das russische Fräulein versah bei dieser Madame Stahl die Stelle einer Pflegerin und war auch mit allen andern Schwerkranken, deren es in dem Badeorte eine ganze Menge gab, bekannt und nahm sich ihrer in der unbefangensten, natürlichsten Weise an. Dieses russische Fräulein war nach Kittys Beobachtungen keine Verwandte der Madame Stahl, dabei aber auch keine für Lohn angenommene Pflegerin. Sie wurde von Madame Stahl Warjenka genannt, von anderen Mademoiselle Warjenka. Mit lebhaftem Interesse stellte Kitty ihre Beobachtungen an über die Beziehungen dieses Fräuleins zu Frau Stahl und zu andern ihr unbekannten Personen; ja noch mehr: Kitty empfand, wie das nicht selten vorkommt, eine unerklärliche Neigung zu dieser Mademoiselle Warjenka und fühlte, wenn ihre Blicke sich trafen, daß auch jene an ihr Gefallen fand.
Mademoiselle Warjenka sah nicht so aus, als habe sie die erste Jugend bereits hinter sich, sondern eher wie ein Wesen, dem die Jugend überhaupt versagt ist; man konnte sie auf neunzehn Jahre schätzen, aber auch auf dreißig Jahre. Betrachtete man ihre Gesichtszüge, so konnte man sie trotz ihrer kränklichen [270] Hautfarbe eher hübsch als häßlich nennen. Auch eine schöne Gestalt hätte man ihr zusprechen können, wäre nicht ihr Körper allzu mager und ihr Kopf für ihre mittlere Größe unverhältnismäßig groß gewesen; aber auf Männer konnte sie keine Anziehungskraft ausüben. Sie glich einer schönen, zwar noch vollblättrigen, aber doch schon verblühten, duftlosen Blume. Außerdem konnte sie auch noch deswegen auf die Männer nicht anziehend wirken, weil ihr das mangelte, was Kitty im Übermaße besaß: das tiefinnerliche Lebensfeuer und das Bewußtsein der eigenen Anziehungskraft.
Sie schien stets mit Dingen von entschieden ernstem Charakter beschäftigt zu sein, und es machte daher den Eindruck, als könne sie für nichts Andersartiges Sinn haben. Auf Kitty übte sie gerade durch diesen starken Gegensatz zu ihrer eigenen Person eine besondere Anziehungskraft aus. Kitty fühlte, daß sie bei diesem Mädchen und dessen ganzer Lebensgestaltung ein vorbildliches Beispiel für das finden werde, wonach sie jetzt so schmerzlich suchte: ernste Lebensinteressen und Lebenswerte, außerhalb der ihr jetzt so zuwider gewordenen gesellschaftlichen Beziehungen eines jungen Mädchens zum männlichen Geschlechte, die ihr jetzt als eine schmähliche Ausstellung einer auf einen Käufer wartenden Ware erschienen. Je länger Kitty ihre unbekannte Freundin beobachtete, um so mehr kam sie zu der Überzeugung, daß dieses Mädchen wirklich das ideale Wesen sei, als das es ihr erschien, und um so sehnlicher wünschte sie mit ihr bekannt zu werden.
Die beiden Mädchen begegneten einander mehrmals täglich, und bei jeder Begegnung fragten Kittys Augen: ›Wer sind Sie? Was sind Sie? Nicht wahr, Sie sind wirklich das prächtige Wesen, für das ich Sie halte? Aber glauben Sie ja nicht‹, fügte ihr Blick hinzu, ›daß ich so dreist bin, Ihnen meine Bekanntschaft aufdrängen zu wollen. Ich freue mich einfach Ihres Anblicks und habe Sie sehr gern.‹ – ›Ich habe Sie auch sehr gern‹, erwiderte der Blick des unbekannten Mädchens, ›und Sie sind sehr, sehr lieb und nett. Und ich würde Sie noch lieber haben, wenn ich nur mehr Zeit hätte.‹ Und in der Tat, Kitty sah, daß sie stets beschäftigt war: entweder führte sie die Kinder einer russischen Familie vom Brunnen nach Hause, oder sie brachte einer Kranken ein Umschlagtuch und wickelte sie darin ein, oder sie war bemüht, einen nervösen Kranken zu unterhalten und zu zerstreuen, oder sie kaufte für jemand Backwerk zum Kaffee.
Bald nach der Ankunft der Familie Schtscherbazki begannen beim morgendlichen Brunnentrinken noch zwei Personen regelmäßig zu erscheinen, die die allgemeine Aufmerksamkeit, jedoch [271] nicht in freundlichem Sinne, auf sich zogen. Es waren dies: ein Mann von hohem Wuchse, aber gebückter Haltung, mit gewaltig großen Händen, in einem kurzen, für seine Gestalt nicht passenden alten Überzieher, mit schwarzen, naiv blickenden und dabei doch furchterregenden Augen, und eine sehr schlecht und geschmacklos gekleidete Frau mit pockennarbigem, aber sehr gutem, freundlichem Gesichte. Als Kitty diese beiden Personen als Russen erkannt hatte, begann sie sofort, sich über sie in ihrer Phantasie einen schönen, rührenden Roman zurechtzumachen. Aber die Fürstin, die aus der Kurliste ersehen hatte, daß dies Nikolai Ljewin und Marja Nikolajewna waren, klärte Kitty darüber auf, was für ein schlechter Mensch dieser Ljewin sei, und so lösten sich denn alle ihre phantastischen Träumereien über dieses Paar in nichts auf. Nicht nur, weil die Mutter ihr mancherlei über diesen Menschen erzählt hatte, sondern auch, weil dieser Mensch Konstantins Bruder war, erschienen ihr diese beiden Personen auf einmal im höchsten Grade abstoßend. Dieser Ljewin erregte ihr jetzt durch seine Gewohnheit, mit dem Kopfe zu zucken, ein unüberwindliches Gefühl des Widerwillens.
Es schien ihr, als ob in seinen großen, schrecklichen Augen, die ihr hartnäckig folgten, ein Ausdruck von Haß und Spott liege, und sie bemühte sich, Begegnungen mit ihm zu vermeiden.
Eines Tages war ein recht garstiges Wetter; den ganzen Vormittag regnete es, und die Kranken drängten sich mit Schirmen im Wandelgang.
Kitty wandelte dort mit ihrer Mutter und dem Moskauer Obersten hin und her, der vergnügt in seinem europäischen Oberrock einherstolzierte, den er sich in Frankfurt fertig gekauft hatte. Sie gingen auf der einen Seite des Wandelganges und bemühten sich, einem Zusammentreffen mit Ljewin auszuweichen, der auf der andern Seite ging. Warjenka, die wie gewöhnlich ein dunkles Kleid und einen schwarzen Hut mit hinuntergebogenen Krempen trug, wanderte mit einer blinden Französin den Wandelgang in seiner ganzen Länge auf und ab, und jedesmal, wenn sie und Kitty einander begegneten, warfen sie sich wechselseitig einen freundlichen Blick zu.
»Mama, darf ich sie anreden?« sagte Kitty. Sie war ihrer unbekannten Freundin mit den Blicken gefolgt und hatte bemerkt, daß diese zum Brunnen ging, wo sich ein Zusammentreffen leicht ermöglichen ließ.
[272] »Nun, wenn das so sehr dein Wunsch ist, so will ich mich zunächst nach ihr erkundigen und dann selbst mit ihr anknüpfen«, erwiderte die Mutter. »Was hast du denn Besonderes an ihr gefunden? Wahrscheinlich ist sie eine Gesellschafterin. Wenn du es gern möchtest, will ich mich mit Madame Stahl bekannt machen. Ich habe ihre belle-sœur gekannt«, fügte die Fürstin, stolz den Kopf erhebend, hinzu.
Kitty wußte, daß ihre Mutter sich dadurch verletzt fühlte, daß Frau Stahl es anscheinend vermied, ihre Bekanntschaft zu machen. So drang Kitty nicht weiter in sie.
»Nein, wie lieb und gut sie ist!« sagte sie, als sie nach Warjenka gerade in dem Augenblicke hinschaute, da diese der Französin einen Becher Brunnen reichte. »Sehen Sie nur, wie natürlich und lieb alles an ihr ist.«
»Mit deinen engouements 1 bist du höchst komisch«, versetzte die Fürstin. »Aber wir wollen lieber umkehren«, fügte sie hinzu, da sie bemerkte, daß ihnen Ljewin mit seiner Begleiterin und einem deutschen Arzte entgegenkam und zu diesem laut und in ärgerlichem Tone redete.
Sie wandten sich gerade um, um zurückzugehen, als sie plötzlich nicht mehr nur ein lautes Reden, sondern geradezu ein Schreien hörten. Ljewin war stehengeblieben und schrie, und auch der Arzt war nun in Erregung gekommen. Eine Menge Menschen sammelten sich um die Streitenden. Die Fürstin und Kitty entfernten sich eilig; der Oberst aber gesellte sich zu dem Menschenschwarm, um zu hören, was es denn gäbe.
Nach einigen Minuten holte der Oberst sie wieder ein.
»Was ging da eigentlich vor?« fragte die Fürstin.
»Es ist eine wahre Schande!« antwortete der Oberst. »Wovor man sich geradezu fürchten muß, das ist, mit Russen im Auslande zusammenzutreffen. Dieser lange Herr hat sich mit dem Arzte gezankt, ihm Grobheiten gesagt, weil er ihn falsch behandle, und sogar mit dem Stocke ausgeholt. Es ist geradezu eine Schande!«
»Ach, wie greulich!« sagte die Fürstin. »Nun, und wie hat denn die Sache geendet?«
»Zum Glück hat da eine Dame eingegriffen ... diese Dame mit dem pilzförmigen Hute. Sie scheint eine Russin zu sein«, antwortete der Oberst.
»Mademoiselle Warjenka?« fragte Kitty freudig.
»Jawohl, jawohl. Die fand schneller als die andern Leute das richtige Mittel: sie faßte diesen Herrn unter den Arm und führte ihn weg.«
»Sehen Sie wohl, Mama!« sagte Kitty zu ihrer Mutter. »Und da wundern Sie sich noch, daß ich von ihr entzückt bin!«
[273] Vom folgenden Tage an bemerkte Kitty bei der Beobachtung ihrer unbekannten Freundin, daß Mademoiselle Warjenka nunmehr auch schon zu Ljewin und der Frauensperson, die dieser bei sich hatte, in demselben Verhältnis stand wie zu ihren anderen protégés 2. Sie trat zu ihnen, redete mit ihnen und diente der Frau, die keine einzige fremde Sprache sprach, als Dolmetscherin.
Kitty setzte nun ihrer Mutter noch mehr mit Bitten zu, sie möchte ihr doch erlauben, mit Warjenka eine Bekanntschaft anzuknüpfen. Und so unangenehm es der Fürstin auch war, sozusagen den ersten Schritt zu einer Bekanntschaft mit dieser Frau Stahl zu tun, die sich so viel zu dünken schien, so stellte sie nun doch Nachfragen über Warjenka an, und nachdem sie von verschiedenen Seiten eine Auskunft erhalten hatte, aus der sich entnehmen ließ, daß von dieser Bekanntschaft nichts Schlimmes, wenn auch nicht eigentlich sonderlich viel Gutes zu erwarten war, so ging sie selbst zuerst bei Gelegenheit auf Warjenka zu und machte sich mit ihr bekannt.
Sie hatte dazu einen Augenblick gewählt, da ihre Tochter zum Brunnen gegangen, Warjenka aber vor einem Bäckerladen stehengeblieben war.
»Gestatten Sie mir, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte sie mit ihrem würdevollen Lächeln. »Meine Tochter ist ordentlich verliebt in Sie. Sie kennen mich vielleicht nicht. Ich ...«
»O doch; das ist ja auch viel natürlicher, als daß ich Ihnen bekannt sein könnte, Fürstin«, erwiderte Warjenka eilig.
»Was haben Sie gestern für ein gutes Werk an unserm bedauernswerten Landsmann getan!« sagte die Fürstin.
Warjenka errötete.
»Ich wüßte nicht; ich habe ja wohl eigentlich gar nichts getan«, versetzte sie.
»Gewiß doch! Sie haben diesen Herrn Ljewin vor ernsten Unannehmlichkeiten bewahrt.«
»Ach, sa compagne 3 rief mich an, und da suchte ich ihn zu beruhigen; er ist sehr krank und war mit seinem Arzte unzufrieden. Ich bin es gewohnt, mit solchen Kranken umzugehen.«
»Ja, ich habe gehört, daß Sie in Mentone mit Madame Stahl, wenn ich recht unterrichtet bin, Ihrer Frau Tante, zusammen wohnen. Ich habe ihre belle-sœur gekannt.«
»Nein, sie ist nicht meine Tante. Ich nenne sie maman, bin aber nicht verwandt mit ihr; ich bin nur von ihr erzogen worden«, antwortete Warjenka und errötete dabei wieder.
Das sagte sie so schlicht und natürlich, und auf ihrem lieben, guten Gesichte lag ein solcher Ausdruck von Wahrhaftigkeit und [274] Offenheit, daß die Fürstin begriff, warum Kitty dieses Fräulein Warjenka so liebgewonnen hatte.
»Nun, und was wird dieser Ljewin jetzt tun?« fragte die Fürstin.
»Er reist ab«, erwiderte Warjenka.
In diesem Augenblicke kam Kitty vom Brunnen her hinzu, strahlend vor Freude darüber, daß ihre Mutter eine Bekanntschaft mit ihrer unbekannten Freundin angeknüpft hatte.
»Nun, siehst du, Kitty, dein heißer Wunsch, die Bekanntschaft von Mademoiselle ...«
»Warjenka«, half Warjenka lächelnd ein; »so werde ich allgemein genannt.«
Kitty war ganz rot geworden vor Freude und drückte lange ihrer neuen Freundin schweigend die Hand, die jedoch den Druck nicht erwiderte, sondern regungslos in der ihrigen lag. Aber wenn auch die Hand den Druck nicht erwiderte, so glänzte doch Mademoiselle Warjenkas Gesicht von einem stillen, frohen, wiewohl ein wenig trüben Lächeln, das ihre großen, aber schönen Zähne sichtbar werden ließ.
»Ich habe das selbst schon lange gewünscht«, sagte sie.
»Aber Sie sind so in Anspruch genommen ...«
»Ach, im Gegenteil, ich habe gar nichts zu tun«, versetzte Warjenka; aber in demselben Augenblicke mußte sie sich von ihren neuen Bekannten trennen, weil zwei kleine Mädchen, die Töchter eines kranken Russen, auf sie zugelaufen kamen.
»Warjenka, Mama ruft!« schrien sie.
Und Warjenka folgte ihnen.
Die Einzelheiten, die die Fürstin über Warjenkas Vergangenheit und über ihre Beziehungen zu Madame Stahl in Erfahrung gebracht hatte, waren folgende.
Madame Stahl, von der die einen sagten, sie habe ihren Mann zu Tode gequält, die andern, er habe sie durch seinen sittenlosen Lebenswandel unglücklich gemacht, war immer eine kränkliche, überspannte Frau gewesen. Als sie, bereits nach der Scheidung von ihrem Manne, ihr erstes Kind gebar, starb dieses gleich nach der Geburt, und ihre Verwandten, die ihre hochgradige Erregbarkeit kannten und fürchteten, daß diese Nachricht ihr den Tod bringen könne, schoben ihr ein anderes Kind unter; sie wählten dazu das in derselben Nacht und in demselben Hause in Petersburg geborene Töchterchen eines Hofkoches. Dies war Warjenka. Madame Stahl erfuhr in der Folge, daß Warjenka nicht ihre [275] Tochter sei; aber sie zog sie dennoch weiter auf, um so mehr, da Warjenka bald darauf ihre beiden Eltern verlor und auch sonst keine nahen Verwandten hatte.
Madame Stahl lebte nun schon mehr als zehn Jahre ununterbrochen im Auslande, im Süden, und verließ fast nie das Bett. Manche sagten, Madame Stahl habe sich geflissentlich eine Stellung in der Gesellschaft als tugendhafte, tief religiöse Frau geschaffen; andere waren überzeugt, daß sie wirklich im Grunde ihres Herzens jenes sittlich hochstehende, nur für das Wohl der Mitmenschen lebende Wesen sei, als das sie sich darstellte. Niemand wußte, welcher Konfession sie angehörte, ob der katholischen oder der protestantischen oder der rechtgläubigen; aber eins war unzweifelhaft: sie stand in freundschaftlichen Beziehungen zu den höchsten Persönlichkeiten aller Kirchen und Bekenntnisse.
Warjenka lebte mit ihr beständig im Auslande, und alle, die Madame Stahl kannten, kannten auch Mademoiselle Warjenka, wie alle sie nannten, und hatten sie gern.
Nachdem die Fürstin alle diese Einzelheiten erfahren hatte, fand sie in einer Annäherung ihrer Tochter an Warjenka nichts Bedenkliches, um so weniger, da Warjenka gute Manieren und eine vortreffliche Bildung besaß; sie sprach ausgezeichnet Französisch und Englisch. Und was die Hauptsache war: sie überbrachte von Frau Stahl den Ausdruck ihres Bedauerns, daß sie wegen ihrer Krankheit das Vergnügen entbehren müsse, die Bekanntschaft der Fürstin zu machen.
Nachdem Kitty so mit Warjenka einmal bekannt geworden war, fühlte sie sich von ihrer Freundin immer mehr und mehr bezaubert und entdeckte an ihr alle Tage neue Vorzüge.
Die Fürstin, die gehört hatte, Warjenka singe sehr gut, bat sie, ob sie nicht am Abend zu ihnen kommen und etwas vorsingen wolle.
»Kitty spielt, und wir haben hier ein Klavier, allerdings kein sehr gutes; aber Sie würden uns eine so große Freude damit machen«, sagte die Fürstin mit einem gemachten Lächeln, durch das sich Kitty jetzt besonders unangenehm berührt fühlte, da sie schon gemerkt hatte, daß Warjenka überhaupt nicht gern sang. Indessen kam Warjenka am Abend und brachte ein Notenheft mit. Die Fürstin hatte auch Marja Jewgenjewna mit ihrer Tochter und den Oberst eingeladen.
Warjenka schien in keiner Weise darüber verlegen zu sein, daß auch Personen, die sie nicht kannte, zugegen waren, und trat sogleich ans Klavier. Sie konnte sich nicht selbst begleiten, sang aber sehr gut vom Blatte. Kitty, die gut spielte, begleitete sie.
[276] »Sie besitzen ein ungewöhnliches Talent«, sagte die Fürstin zu Warjenka, nachdem diese das erste Lied sehr schön vorgetragen hatte.
Auch Marja Jewgenjewna und ihre Tochter bedankten sich bei ihr und lobten ihren Gesang.
»Sehen Sie nur«, sagte der Oberst bei einem Blick durch das Fenster, »welch ein Publikum sich angesammelt hat, um Ihnen zuzuhören.«
In der Tat hatte sich eine ziemlich große Menschenmenge unter den Fenstern zusammengeschart.
»Ich freue mich sehr, daß es Ihnen Vergnügen macht«, erwiderte Warjenka schlicht.
Kitty blickte mit Stolz auf ihre Freundin. Sie war entzückt über Warjenkas Kunst und über ihre Stimme und über ihre Miene, am allermeisten aber über ihr ganzes Wesen, darüber, daß Warjenka sich offenbar auf ihren Gesang nichts einbildete und den Lobsprüchen gegenüber vollständig gleichmütig blieb. In ihrer Haltung schien nur die Frage zu liegen: ›Soll ich noch mehr singen, oder ist's nun genug?‹
›Wenn ich das wäre‹, dachte Kitty im stillen, ›wie stolz würde ich darauf sein! Wie würde ich mich freuen, auf diese Menschenmenge unter den Fenstern hinabzublicken! Aber ihr ist das alles ganz gleichgültig. Sie läßt sich nur von dem Wunsche leiten, meiner maman keine abschlägige Antwort zu geben, sondern ihr einen Gefallen zu tun. Was hat sie nur für eine eigenartige Seele? Woher nimmt sie die Kraft, auf alles mit Gleichmut hinzublicken und eine sichere Ruhe zu bewahren? Ach, wenn ich das doch auch verstände, wenn ich doch das von ihr lernen könnte!‹ So dachte Kitty, während sie dieses stille Gesicht betrachtete. Die Fürstin bat Warjenka, noch etwas zu singen, und Warjenka sang ein anderes Lied, ebenso fließend, untadelig und schön, während sie in gerader Haltung neben dem Klaviere stand und mit ihrer mageren, gebräunten Hand den Takt darauf angab.
Die folgende Nummer im Hefte war ein italienisches Lied. Kitty spielte das Vorspiel und blickte Warjenka an.
»Wir wollen dieses Lied weglassen«, sagte Warjenka errötend.
Erschrocken und fragend hielt Kitty ihre Augen auf Warjenkas Gesicht geheftet.
»Nun, dann also ein anderes«, versetzte sie hastig und schlug die Blätter um; sie hatte sofort durchschaut, daß mit diesem Liede für Warjenka irgendeine Erinnerung verknüpft sein mußte.
»Nein«, antwortete Warjenka und legte lächelnd ihre Hand auf die Noten, »nein, wir wollen es doch singen.« Und sie sang [277] dieses Lied ebenso schön und mit der gleichen kühlen Ruhe wie die vorhergehenden.
Als sie geendet hatte, bedankten sich wieder alle bei ihr und gingen dann zum Tee. Kitty und Warjenka aber begaben sich in das Gärtchen neben dem Hause.
»Nicht wahr, mit diesem Liede verknüpft sich für Sie irgendeine Erinnerung?« fragte Kitty. »Teilen Sie mir nichts darüber mit«, fügte sie hastig hinzu, »sagen Sie mir nur, ob es der Fall ist.«
»Warum sollte ich es Ihnen nicht mitteilen? Ich will es Ihnen sagen«, erwiderte Warjenka schlicht und einfach, und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ja, es ist eine Erinnerung damit verbunden, und sie ist mir früher sehr schmerzlich gewesen. Ich habe einen Mann geliebt und ihm dieses Lied oft gesungen.«
Kitty blickte sie, ohne ein Wort zu sagen, mit großen, weit geöffneten Augen gerührt an.
»Ich liebte ihn, und er liebte mich; aber seine Mutter wollte es nicht, und so heiratete er eine andere. Er wohnt jetzt nicht weit von uns, und ich sehe ihn manchmal. Sie hätten wohl nicht gedacht, daß auch ich einen Roman erlebt habe?« sagte sie, und auf ihrem hübschen Gesichte flackerte flüchtig ein Rest von jenem Feuer auf, das – davon war Kitty überzeugt – einst gewiß ihr ganzes Inneres durchleuchtet und durchglüht hatte.
»Warum hätte ich glauben sollen, daß das nicht der Fall gewesen wäre? Wäre ich ein Mann, so würde ich, nachdem ich Sie kennengelernt hätte, keine andere mehr lieben können. Es ist mir unbegreiflich, wie er seiner Mutter zu Gefallen von Ihnen lassen und Sie unglücklich machen konnte; er muß kein Herz gehabt haben.«
»O nein, er ist ein sehr guter Mensch, und ich bin ja auch gar nicht unglücklich; im Gegenteil, ich bin sehr glücklich. Nun, wie ist's? Heute singen wir wohl nicht mehr?« fügte sie hinzu, indem sie sich nach dem Hause wandte.
»Wie gut Sie sind, wie gut Sie sind!« rief Kitty aus, hielt sie zurück und küßte sie. »Wenn ich Ihnen doch nur ein klein wenig ähnlich sein könnte!«
»Wozu brauchen Sie jemandem ähnlich zu sein? So wie Sie sind, sind Sie gut«, erwiderte Warjenka mit ihrem sanften, müden Lächeln.
»Nein, ich bin gar nicht gut. Aber sagen Sie mir doch ... Bitte, bleiben Sie noch einen Augenblick; wir wollen uns noch einmal hinsetzen«, sagte Kitty und zog sie neben sich auf die Bank nieder. »Sagen Sie mir doch, ist es Ihnen nicht kränkend, denken [278] zu müssen, daß ein Mann Ihre Liebe verschmäht hat, Ihre Liebe nicht hat haben mögen?«
»Aber er hat sie ja gar nicht verschmäht; ich glaube, daß er mich wirklich geliebt hat; aber er war ein gehorsamer Sohn ...«
»Das mag sein; aber wenn er es nun nicht auf den Wunsch seiner Mutter getan hätte, sondern einfach nach seinem eigenen Willen?« sagte Kitty und wurde sich bewußt, daß sie ihr Geheimnis verraten hatte und ihr vor Schamröte erglühendes Gesicht sie überführte.
»Dann hätte er schlecht gehandelt, und ich würde mich um ihn nicht grämen«, antwortete Warjenka, die offenbar durchschaute, daß es sich jetzt nicht mehr um sie, sondern um Kitty handelte.
»Aber die Kränkung?« sagte Kitty. »Die Kränkung kann man doch nicht vergessen, die kann man nicht vergessen.« Sie dachte an ihren Blick auf dem letzten Balle in dem Augenblick, da die Musik plötzlich aufgehört hatte.
»Worin liegt denn die Kränkung? Sie haben doch nicht schlecht gehandelt?«
»Schlimmer als schlecht – so daß ich mich schämen muß.«
Warjenka wiegte den Kopf hin und her und legte ihre Hand auf Kittys Arm.
»Schämen? Worüber?« fragte sie. »Sie werden doch einem Mann, dem Sie gleichgültig waren, nicht gesagt haben, daß Sie ihn liebten?«
»Selbstverständlich nicht; ich habe nie auch nur ein Wort gesagt; aber er wußte es doch. Aus Blicken, aus dem ganzen Benehmen. Nein, nein, und wenn ich hundert Jahre alt werde, kann ich es nicht vergessen.«
»Was meinen Sie denn eigentlich? Ich verstehe Sie nicht. Es kommt doch nur darauf an, ob Sie ihn jetzt noch lieben oder nicht«, sagte Warjenka, die alles beim richtigen Namen nannte.
»Ich hasse ihn; ich kann mir selbst nicht verzeihen.«
»Was können Sie sich denn nicht verzeihen?«
»Daß ich mir eine solche Beschämung, eine solche Kränkung zugezogen habe.«
»Ach, wenn alle so empfindlich sein wollten wie Sie«, erwiderte Warjenka. »Es gibt kein Mädchen, das nicht hätte so etwas durchmachen müssen. Und all das ist doch so unwichtig.«
»Ja, was ist denn dann aber wichtig?« fragte Kitty und blickte ihr mit neugieriger Verwunderung ins Gesicht.
»Ach, es gibt viel Wichtiges«, versetzte Warjenka lächelnd.
»Nun, was denn?«
»Ach, es gibt vieles, was weit wichtiger ist«, antwortete Warjenka, [279] wußte aber nicht recht, was sie sagen sollte. Aber in diesem Augenblicke hörten sie aus dem Fenster die Stimme der Fürstin:
»Kitty, es wird kühl! Nimm ein Tuch um oder komm ins Zimmer!«
»Es ist wirklich Zeit, daß ich gehe«, sagte Warjenka und stand auf. »Ich muß auch noch zu Madame Berthe gehen; sie hat mich darum gebeten.«
Kitty hielt ihre Hand gefaßt, und ihr stummer Blick fragte bittend mit leidenschaftlicher Neugier: ›Was ist es denn, was ist denn dieses Wichtigste, das einem solche Ruhe des Gemütes verleiht? Sie wissen es; sagen Sie mir es doch!‹ Aber Warjenka verstand gar nicht, wonach Kittys Blick sie fragte. Sie dachte nur daran, daß sie heute noch Madame Berthe besuchen und sich so einrichten müsse, daß sie rechtzeitig um zwölf Uhr zu Hause bei maman zum Tee sei. Sie ging ins Zimmer, nahm ihre Noten, verabschiedete sich von allen und schickte sich an zu gehen.
»Erlauben Sie, ich werde Sie begleiten«, sagte der Oberst.
»Gewiß, Sie können doch jetzt bei Nacht nicht allein gehen«, stimmte ihm die Fürstin zu. »Oder wenigstens möchte ich meine Parascha mit Ihnen mitschicken.«
Kitty sah, daß Warjenka nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte, als sie hörte, daß man für sie eine Begleitung als notwendig erachtete.
»Nicht doch; ich gehe immer allein, und es ist mir noch nie etwas zugestoßen«, sagte sie und griff nach ihrem Hute. Sie küßte Kitty noch einmal, und ohne gesagt zu haben, was denn nun jenes Wichtige sei, verschwand sie festen, flinken Schrittes, mit den Noten unter dem Arm, in dem Halbdunkel der Sommernacht und nahm ihr Geheimnis mit sich, was das Wichtige sei, dem sie diese beneidenswerte Ruhe und Würde zu verdanken hatte.
Kitty wurde auch mit Frau Stahl bekannt, und diese Bekanntschaft, im Verein mit der Freundschaft zu Warjenka, übte nicht nur einen starken Einfluß auf ihre Lebensanschauungen aus, sondern tröstete sie auch in ihrem Kummer. Sie fand diesen Trost darin, daß sich ihr, dank dieser Bekanntschaft, eine völlig neue Welt erschloß, die mit ihrer Vergangenheit nichts gemein hatte, eine erhabene, schöne Welt, von deren Höhe man mit ruhigem Gemüte auf diese Vergangenheit hinblicken konnte. Es erschloß sich ihr die Erkenntnis, daß es außer dem triebmäßigen [280] Leben, dem sie sich bisher hingegeben hatte, auch ein geistiges Leben gebe. Dieses Leben erschloß sich ihr in der Religion, aber in einer Religion, die nichts gemein hatte mit der, die ihr von Kindheit an bekannt war und ihren Ausdruck darin fand, daß man die Mittagsmesse besuchte und den Abendgottesdienst im Witwenhause, wo man sich mit seinen Bekannten treffen konnte, und daß man beim Geistlichen Bibelstellen in altslawischer Sprache auswendig lernte. Dies war im Gegensatze dazu eine erhabene, geheimnisvolle Religion, die mit einer ganzen Reihe schöner Gedanken und Gefühle verknüpft war, eine Religion, an die man nicht nur glauben konnte, weil es befohlen war, sondern die man auch lieben konnte.
Kitty lernte dies alles nicht aus Worten. Madame Stahl sprach mit ihr wie mit einem lieben Kinde, auf das man mit Freude hinblickt wie auf eine Erinnerung an die eigene Jugendzeit, und deutete nur einmal darauf hin, daß bei allem menschlichen Leide nur Liebe und Glaube Trost gewähren und daß Christus mit jedem menschlichen Kummer, auch mit dem nichtigsten, Mitleid habe; aber dann lenkte sie sofort das Gespräch auf ein anderes Gebiet. Aber Kitty lernte aus jeder ihrer Bewegungen, aus jedem ihrer Worte, aus jedem ihrer, wie Kitty sie nannte, himmlischen Blicke und namentlich aus ihrer ganzen Lebensgeschichte, die sie durch Warjenka erfuhr, aus alledem lernte sie, was das Wichtige war, das sie bis dahin nicht gekannt hatte.
Aber wie edel auch Frau Stahls Charakter war, wie rührend ihre ganze Lebensgeschichte, wie hochsinnig und zärtlich ihre Worte, so nahm Kitty doch an ihr auch einzelne Züge wahr, die sie befremdeten. Sie bemerkte, daß, als sie von Madame Stahl nach ihren Angehörigen befragt wurde und Auskunft gab, diese geringschätzig lächelte, was doch der christlichen Liebe zuwiderlief. Ferner bemerkte sie, als sie einmal Madame Stahl in ihrer Wohnung im Gespräch mit einem katholischen Priester antraf, daß diese geflissentlich ihr Gesicht im Schatten des Lampenschirmes hielt und in eigentümlicher Weise lächelte. So unbedeutend diese beiden Beobachtungen auch waren, so machten sie Kitty doch ganz betroffen und ließen in ihr Zweifel über Frau Stahl aufsteigen. Warjenka dagegen, die so einsam dastand, ohne Verwandte, ohne Freunde, mit einer traurigen Enttäuschung im Herzen, Warjenka, die sich nichts wünschte, über nichts klagte, die war für Kitty jenes schlechthin vollkommene Wesen, von dem sie sich bisher nur in ihrer Einbildungskraft ein Bild geschaffen hatte. An Warjenka hatte sie einsehen gelernt, daß man nur sich selbst zu vergessen und andere zu lieben brauche, um ruhig, glücklich und gut zu sein. Und so zu sein, [281] war Kittys Streben. Nachdem Kitty jetzt erkannt hatte, was jenes Wichtigste war, begnügte sie sich nicht damit, begeistert dafür zu schwärmen, sondern sie gab sich sofort mit ganzer Seele diesem neuen Leben hin, das sich vor ihr aufgetan hatte. Auf Grund von Warjenkas Mitteilungen über das viele Gute, was Madame Stahl und andere von ihr mit Namen genannte Frauen wirkten, arbeitete Kitty sich schon jetzt einen Plan für ihr künftiges Leben aus. Sie wollte, ebenso wie Frau Stahls Nichte Aline, von der ihr Warjenka viel erzählt hatte, wo auch immer sie ihren Wohnsitz haben würde, die Unglücklichen aufsuchen, ihnen helfen soviel als nur irgend möglich, Neue Testamente verteilen, den Kranken, den Verbrechern und den Sterben den aus den Evangelien vorlesen. Der Gedanke, Verbrechern das Evangelium vorzulesen, wie dies Aline tat, hatte für Kitty etwas besonders Reizvolles. Aber alles dies waren geheime Zukunftsträumereien, über die Kitty weder mit ihrer Mutter noch mit Warjenka sprach.
Übrigens fand Kitty in Erwartung der Zeit, da sie ihre Pläne würde in größerem Maßstabe zur Ausführung bringen können, auch bereits jetzt in diesem Badeorte, wo es so viele Kranke und Unglückliche gab, mühelos mancherlei Gelegenheit, ihre neuen Lebensgrundsätze in die Tat umzusetzen und so ihrer Freundin Warjenka nachzueifern.
Anfangs bemerkte die Fürstin nur, daß Kitty sich unter dem starken Einflusse ihres engouement, wie sie es nannte, für Frau Stahl und besonders für Warjenka befand. Sie sah, daß Kitty ihre bewunderte Warjenka nicht nur in deren Tätigkeit nachahmte, sondern diese Nachahmung sich unwillkürlich auch auf deren Art zu gehen, zu sprechen und mit den Augen zu blinzeln erstreckte. Aber später nahm die Fürstin wahr, daß sich bei ihrer Tochter, unabhängig von dieser Bezauberung, eine ernste seelische Umwandlung vollzog.
Die Fürstin sah, daß Kitty abends oft in einem französischen Neuen Testamente las, das ihr von Frau Stahl geschenkt worden war, während sie doch früher dergleichen nie getan hatte; daß sie ihre Bekannten aus den vornehmeren Kreisen mied und mit den Kranken umging, die sich unter Warjenkas Pflege befanden, und namentlich mit der armen Familie eines kranken Malers Petrow. Kitty war augenscheinlich stolz darauf, daß sie bei dieser Familie die Pflichten einer barmherzigen Schwester erfüllte. Alles dies war ganz schön und gut, und die Fürstin hatte nichts dagegen, um so weniger, da Frau Petrowa eine durchaus anständige Frau war und die deutsche Fürstin, der Kittys Tätigkeit bekannt geworden war, sie gelobt und einen Engel [282] des Trostes genannt hatte. Es wäre alles sehr schön gewesen, wenn dabei keine Übertreibung stattgefunden hätte; aber die Fürstin Schtscherbazkaja sah, daß ihre Tochter in Übertreibung hineingeriet, und sprach sich darüber auch zu ihr aus.
»Il ne faut jamais rien outrer 1«, sagte sie zu ihr.
Aber die Tochter gab ihr keine Antwort; sie dachte nur in ihrem Herzen, daß man von einem Übermaß im christlichen Handeln doch nicht reden könne. Was für ein Übermaß sei denn möglich bei der Befolgung einer Lehre, die befehle, die andere Backe hinzuhalten, wenn man auf die eine einen Schlag erhalte, und auch den Rock hinzugeben, wenn einem der Mantel genommen werde? Der Fürstin aber mißfiel diese Übertreibung, und noch mehr mißfiel es ihr, daß, wie ihr nicht entging, Kitty nicht ihr ganzes Herz vor ihr auf schließen mochte. Denn in der Tat machte Kitty aus ihren neuen Ansichten und Gefühlen der Mutter gegenüber ein Geheimnis. Und sie tat das nicht etwa, weil sie ihre Mutter nicht verehrt und geliebt hätte, sondern lediglich deshalb, weil das eben ihre Mutter war. Sie hätte von dieser ihrer neuen Gemütsrichtung jedem andern eher Kenntnis gegeben als gerade der Mutter.
»Ich wundere mich, daß Anna Pawlowna schon so lange nicht bei uns gewesen ist«, sagte eines Tages die Fürstin (Anna Pawlowna war Frau Petrowas Name). »Ich habe sie aufgefordert; aber ich hatte den Eindruck, als ob sie uns etwas übelgenommen hätte.«
»Ich habe nichts bemerkt, maman«, antwortete Kitty; aber sie war dunkelrot geworden.
»Bist du in letzter Zeit bei ihnen gewesen?«
»Wir haben vor, morgen eine Spazierfahrt in die Berge zu machen«, erwiderte Kitty.
»Nun schön, tut das!« antwortete die Fürstin; sie blickte der Tochter in das verlegene Gesicht und bemühte sich, die Ursache dieser Verwirrung zu erraten.
An demselben Tage kam Warjenka zum Mittagessen und brachte die Mitteilung, Anna Pawlowna habe den Gedanken, morgen in die Berge zu fahren, wieder aufgegeben. Die Fürstin bemerkte, daß Kitty wieder errötete.
»Kitty, hast du vielleicht irgendwelche Mißhelligkeit mit Petrows gehabt?« fragte die Fürstin, als sie beide wieder allein waren. »Warum schickt sie ihre Kinder nicht mehr her und kommt auch selbst nicht mehr zu uns?«
Kitty erwiderte, es sei zwischen ihnen nichts vorgefallen, und sie könne durchaus nicht begreifen, warum Anna Pawlowna, wie es allerdings scheine, auf sie böse sein sollte. Kittys Antwort [283] entsprach durchaus der Wahrheit. Sie kannte den Grund für Anna Pawlownas verändertes Benehmen ihr gegenüber nicht, aber allerdings ahnte sie ihn. Sie ahnte etwas, was sie der Mutter nicht sagen konnte, ja was sie nicht einmal sich selbst eingestehen mochte. Es war eine von den Sachen, die man zwar zu wissen glaubt, über die man aber nicht einmal mit sich selbst deutlich reden mag; so schrecklich und beschämend wäre es, wenn man sich geirrt hätte.
Wieder und wieder ging sie in ihrer Erinnerung alle ihre Beziehungen zu dieser Familie durch. Sie gedachte der unverstellten Freude, die sich immer auf Anna Pawlownas rundem, gutmütigem Gesichte gemalt hatte, sooft sie einander trafen; sie gedachte ihrer geheimen Beratungen über den Kranken, der Verabredungen darüber, wie sie ihn von der ihm ärztlich verbotenen Arbeit abhalten und ihn zu fleißigem Spazierengehen veranlassen könnten; sie dachte an die Anhänglichkeit des jüngsten Knaben, der sie ›meine Kitty‹ nannte und ohne sie nicht schlafen gehen wollte. Wie schön das alles gewesen war! Dann vergegenwärtigte sie sich Petrows entsetzlich abgemagerte Gestalt, mit dem langen Halse, in dem braunen Oberrocke, sein spärliches, gelocktes Haar, seine fragenden blauen Augen, die ihr in der ersten Zeit so schrecklich gewesen waren, und seine peinlichen Anstrengungen, in ihrer Gegenwart frisch und munter zu erscheinen. Sie erinnerte sich, wie schwer es ihr anfangs geworden war, den Widerwillen zu überwinden, den sie gegen ihn wie gegen alle Schwindsüchtigen empfand, und wie sie sich bemüht hatte, einen Stoff zu ersinnen, über den sie mit ihm reden könnte. Sie dachte auch an die schüchternen, gerührten Blicke, mit denen er sie anzusehen pflegte, und an ihre seltsame, aus Mitleid und Unbehaglichkeit gemischte Empfindung, und wie sie dann bei dieser Tätigkeit sich ihrer eigenen Tugendhaftigkeit bewußt gewesen war. Wie schön war das alles gewesen! Aber alles nur in der ersten Zeit. Jetzt seit einigen Tagen war alles plötzlich zunichte geworden. Anna Pawlowna benahm sich gegen sie mit gekünstelter Liebenswürdigkeit und ließ sie und ihren Mann keinen Augenblick unbeobachtet.
Sollte vielleicht seine rührende Freude, sooft er sie sah, die Ursache zu Anna Pawlownas kühlem Verhalten sein?
›Ja‹, sagte sich Kitty, in ihren Erinnerungen herumsuchend, ›Anna Pawlowna hatte in ihrem Wesen etwas Unnatürliches, was gar nicht zu ihrer Herzensgüte stimmte, als sie vorgestern ganz ärgerlich sagte: »Da hat er nun die ganze Zeit auf Sie gewartet und hat nicht wollen Kaffee trinken, ehe Sie nicht da wären, obgleich er darüber ganz schwach geworden ist.« – Ja, [284] vielleicht war es ihr auch nicht recht, als ich ihm neulich das Umschlagtuch reichte. Das war doch etwas so Unbedeutendes, Gleichgültiges; aber er nahm das in einer so ungeschickten Weise auf und bedankte sich so lange dafür, daß auch ich ganz verlegen wurde. Und dann die Geschichte mit meinem Bild, das ihm so gut gelungen war. Und besonders seine verwirrten, zärtlichen Blicke! ... Ja, ja, es ist so!‹ dachte Kitty entsetzt. ›Aber nein, das kann, das darf nicht sein! Er ist so bejammernswert!‹ sagte sie bei sich.
Dieser Zweifel verdarb ihr die Freude an ihrer neuen Lebenseinrichtung.
1 (frz.) Man soll niemals etwas übertreiben.
Noch vor dem eigentlichen Ende seiner Kurzeit kehrte Fürst Schtscherbazki zu den Seinigen zurück. Nach dem Kuraufenthalte in Karlsbad hatte er noch in Baden und Kissingen russische Bekannte besucht, um, wie er sich ausdrückte, einmal wieder russischen Duft zu riechen.
Die Ansichten des Fürsten und der Fürstin über das Leben im Auslande standen zueinander in schroffstem Gegensatze. Die Fürstin fand draußen alles schön und herrlich, und obwohl sie in der russischen Gesellschaft eine fest begründete Stellung hatte, bemühte sie sich im Ausland, einer europäischen Dame zu gleichen (was sie eben nicht war, da sie doch Russin war und blieb), und verstellte sich daher, was ihr zum Teil recht unbequem wurde. Der Fürst dagegen fand im Ausland alles greulich, das europäische Leben war ihm widerwärtig, er blieb seinen russischen Gewohnheiten treu und bemühte sich im Auslande absichtlich, sich noch weniger europafreundlich zu zeigen, als er es in Wirklichkeit war.
Der Fürst kehrte magerer zurück, die Haut an seinen Backen hing sackartig herunter; aber er befand sich in höchst vergnügter Stimmung. Seine vergnügte Stimmung steigerte sich noch mehr, als er sah, daß Kitty vollständig wiederhergestellt war. Die Nachricht von Kittys Freundschaft mit Frau Stahl und Warjenka und die Mitteilungen der Fürstin über die von ihr beobachtete Veränderung, die mit Kitty vorgegangen war, machten den Fürsten allerdings stutzig und erregten bei ihm das gewöhnliche Gefühl der Eifersucht gegen alles, wofür sich seine Tochter außer ihm interessierte, und die Befürchtung, die Tochter könnte sich auf ein ihm unzugängliches Gebiet begeben und sich so seinem Einflusse entziehen. Aber diese unangenehmen Nachrichten gingen unter in dem Meere jener Gutmütigkeit und [285] Heiterkeit, die in seinem Wesen lag und durch die Karlsbader Kur noch zugenommen hatte.
Am Tage nach seiner Ankunft ging der Fürst in seinem langen Überrock, mit seinen russischen Runzeln und seinen schwammigen Hängebacken, die von einem steif gestärkten Kragen gestützt wurden, in heiterster Gemütsstimmung mit seiner Tochter zum Brunnen.
Es war ein wunderschöner Morgen: die sauberen, freundlichen Häuschen mit den Gärtchen davor, der Anblick der rotbackigen, rotarmigen, vom Biertrinken kräftigen, fröhlich arbeitenden deutschen Dienstmädchen, dazu die helle Sonne: alles machte das Herz lustig; aber je mehr sie sich dem Brunnen näherten, um so häufiger trafen sie auf Kranke, und ihr Anblick wirkte noch trauriger in dem gewöhnlichen Strom des wohlgeordneten deutschen Lebens. Kitty fühlte sich durch diesen Gegensatz nicht mehr überrascht; der helle Sonnenschein, das heiter glänzende Grün der Bäume und Grasflächen, die Klänge der Musik bildeten nach ihrer Auffassung den natürlichen Rahmen für alle diese bekannten Gesichter und für die Veränderungen zum Schlimmeren oder zum Besseren, die sie an ihnen verfolgte. Dem Fürsten dagegen erschien dieser strahlende Glanz des Junimorgens und die Klänge des Orchesters, das einen flotten Modewalzer spielte, und besonders der Anblick der von Gesundheit strotzenden Dienstmädchen als etwas Unpassendes und Ungeheuerliches in der Nebeneinanderstellung mit diesen traurig einherschleichenden Leichnamen, die sich hier von allen Enden Europas zusammengefunden hatten.
Obgleich er ein Gefühl des Stolzes empfand und ihm sogar beinahe zumute war, wie wenn seine eigene Jugend wiedergekehrt sei, als er so mit seiner Lieblingstochter am Arme einherschritt, so scheute und schämte er sich doch gewissermaßen wegen seines kräftigen Ganges und seiner kernigen, wohlgenährten Glieder. Er hatte eine ähnliche Empfindung, wie wenn jemand unbekleidet in eine Gesellschaft träte.
»Mach mich mit deinen neuen Freunden bekannt!« sagte er zu seiner Tochter und drückte dabei mit dem Ellbogen ihren Arm. »Ich habe sogar dieses garstige Soden liebgewonnen, weil es dich wieder so zurechtgebracht hat. Nur traurig, sehr traurig ist es hier bei euch. Wer ist das hier?«
Kitty nannte ihm die Namen der Begegnenden, mit denen sie Bekanntschaft gemacht oder auch nicht gemacht hatte. Dicht am Eingang in den Kurgarten trafen sie die blinde Madame Berthe mit einer Führerin, und der Fürst freute sich über den gerührten Gesichtsausdruck der alten Französin, als sie Kittys Stimme[286] hörte. Sie zog ihn sofort mit dem echt französischen Überschwange von Liebenswürdigkeit in ein Gespräch, pries ihn glücklich, weil er eine so allerliebste Tochter habe, und erhob Kitty geradezu in den Himmel, indem sie sie, obwohl sie dabeistand, einen wahren Schatz, eine Perle, einen Engel des Trostes nannte.
»Nun, dann ist sie ein Engel zweiten Grades«, erwiderte der Fürst lächelnd. »Als den Engel ersten Grades bezeichnet sie selbst Mademoiselle Warjenka.«
»Oh, Mademoiselle Warjenka, das ist ein wahrhaftiger Engel«, stimmte Madame Berthe bei. »Allez 1!«
In der Wandelbahn trafen sie auch Warjenka selbst. Sie kam sehr eilig aus der entgegengesetzten Richtung; in der Hand trug sie ein elegantes rotes Täschchen.
»Sehen Sie, nun ist auch mein Papa angekommen!« sagte Kitty zu ihr. Warjenka machte so ungezwungen und natürlich, wie sie alles tat, eine Bewegung, die eine Art Mittelding zwischen Verbeugung und Knicks war, und begann sofort ganz schlicht und ohne Verlegenheit, wie sie mit allen Leuten sprach, mit dem Fürsten zu reden.
»Selbstverständlich kenne ich Sie und sehr genau«, sagte der Fürst zu ihr mit einem Lächeln, an dem Kitty zu ihrer Freude erkannte, daß ihre Freundin dem Vater gefiel. »Wohin wollen Sie denn so eilig?«
»Maman ist hier«, antwortete sie, sich zu Kitty wendend. »Sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen, und der Arzt hat ihr geraten, in ihrem Stuhl an die Luft zu fahren. Ich bringe ihr ihre Arbeit.«
»Das ist also der Engel ersten Grades«, sagte der Fürst, nachdem Warjenka sich entfernt hatte.
Kitty sah, daß er Lust hatte, über Warjenka seine Späßchen zu machen, dies aber doch nicht fertigbrachte, weil ihm Warjenka so gut gefallen hatte.
»Nun werde ich hier ja wohl alle deine Freunde kennenlernen«, fügte er hinzu, »auch Madame Stahl, wenn sie mir die Ehre erweist, mich wiederzuerkennen.«
»Hast du sie denn früher gekannt, Papa?« fragte Kitty ängstlich, da sie bemerkt hatte, daß bei Erwähnung der Madame Stahl ein spöttisches Leuchten in den Augen des Fürsten aufgezuckt war.
»Ich habe ihren Mann und sie einigermaßen gekannt, noch ehe sie unter die Pietisten ging.«
»Was sind das, Pietisten, Papa?« fragte Kitty. Sie war schon darüber ganz erschrocken, daß das, was sie an Frau Stahl so [287] hoch schätzte, überhaupt eine bestimmte Benennung haben sollte.
»Ich weiß es selbst nicht genau. Ich weiß nur, daß sie Gott für alles dankt, für jedes Unglück ... selbst dafür, daß ihr Mann gestorben ist, dankt sie Gott. Na, und das kommt etwas komisch heraus, da sie sehr schlecht miteinander gelebt haben ... Wer ist das da? Eine Jammergestalt!« fragte er, als er auf einer Bank einen Kranken bemerkte, einen Mann von hohem Wuchs, in einem braunen Überrock und weißen Beinkleidern, die an seinen fleischlosen, knochigen Beinen seltsame Falten schlugen. Dieser Herr lüftete den Strohhut, den er auf dem spärlichen, lockigen Haare trug; es wurde eine hohe Stirn sichtbar, über die sich von dem Druck des Hutes ein roter Streifen hinzog.
»Das ist der Maler Petrow«, antwortete Kitty errötend. »Und da ist seine Frau«, fügte sie hinzu und zeigte auf Anna Pawlowna, die, wie mit Absicht, gerade in dem Augenblicke, als sie näher kamen, ihrem kleinen Kinde nacheilte, das auf einem Steige davonlief.
»Wie jammervoll er aussieht, und was für ein liebes, gutes Gesicht er hat!« sagte der Fürst. »Warum bist du nicht zu ihm hingegangen? Er schien dir etwas sagen zu wollen.«
»Nun, dann wollen wir hingehen!« versetzte Kitty und wandte sich entschlossen um. »Wie steht es heute mit Ihrem Befinden?« fragte sie den Kranken. Petrow stand, sich auf seinen Stock stützend, auf und blickte den Fürsten schüchtern an.
»Das ist meine Tochter«, sagte der Fürst. »Gestatten Sie mir, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Der Maler verbeugte sich und lächelte, wobei seine weißen, sonderbar glänzenden Zähne sichtbar wurden.
»Wir haben Sie gestern erwartet, Prinzessin«, sagte er zu Kitty.
Er wankte, als er das sagte, und suchte dann durch eine Wiederholung dieser Bewegung den Anschein zu erwecken, als hätte er sie auch zuerst absichtlich gemacht.
»Ich wollte kommen; aber Warjenka sagte mir, Anna Pawlowna lasse bestellen, daß Sie die Spazierfahrt aufgegeben hätten.«
»Wie denn aufgegeben!« versetzte Petrow, der ganz rot im Gesicht wurde und sofort zu husten begann. Er suchte mit den Augen seine Frau. »Anna, Anna!« rief er laut, und an seinem dünnen, weißen Halse traten dicke Adern wie Stricke hervor.
Anna Pawlowna kam herbei.
»Wie konntest du der Prinzessin sagen lassen, wir würden nicht ausfahren?« flüsterte er ihr, stimmlos geworden, mit gereiztem Wesen zu.
[288] »Guten Morgen, Prinzessin!« sagte Anna Pawlowna mit einem gemachten Lächeln, das von ihrem früheren Benehmen so grundverschieden war. »Es ist mir sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen«, wandte sie sich zu dem Fürsten. »Sie wurden schon lange hier erwartet, Fürst.«
»Wie konntest du der Prinzessin sagen lassen, wir würden nicht ausfahren?« flüsterte der Maler noch einmal heiser und in noch zornigerem Tone; seine Erregung war offenbar dadurch noch gesteigert worden, daß ihm die Stimme versagte und er dem, was er sagen wollte, nicht den gewünschten Ausdruck zu geben vermochte.
»Mein Gott! Ich dachte, wir würden nicht fahren«, antwortete die Frau ärgerlich.
»Wie konntest du das denken, da ich doch ...« Er kam ins Husten hinein und machte eine still ergebene Bewegung mit der Hand, daß er nicht weiterreden könne.
Der Fürst lüftete den Hut und ging mit seiner Tochter weiter.
»Oh, oh! Diese Unglücklichen!« sagte er schwer seufzend.
»Ja, Papa«, erwiderte Kitty. »Und dabei mußt du wissen, daß sie drei Kinder haben und keinen Dienstboten und so gut wie gar keine Mittel. Er bekommt eine kleine Summe von der Akademie«, erzählte sie lebhaft und suchte dadurch ihre Erregung über Anna Pawlownas so sonderbar ihr gegenüber verändertes Benehmen zu übertäuben. – »Und da ist ja auch Madame Stahl«, sagte Kitty und zeigte auf einen Rollstuhl, auf dem, von Kissen umgeben, in ein grau und blaues Tuch gehüllt, unter einem Sonnenschirme etwas lag. Es war Frau Stahl. Hinter ihr stand ein kräftiger deutscher Dienstmann mit mürrischer Miene, der den Rollstuhl schob. Neben ihr stand ein blonder schwedischer Graf, den Kitty nur dem Namen nach kannte. Mehrere Kranke waren in einiger Entfernung von dem Rollstuhl stehengeblieben und blickten nach dieser Dame wie nach einer außerordentlichen Erscheinung hin. Der Fürst ging auf sie zu, und sogleich bemerkte Kitty wieder in seinen Augen das spöttische Aufleuchten, das ihr so befremdend war. Er trat an Madame Stahl heran und redete sie in jenem ausgezeichneten Französisch, das heutzutage nicht mehr viele zu sprechen verstehen, mit vollendeter Höflichkeit und Liebenswürdigkeit an.
»Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern; aber ich muß mich Ihnen ins Gedächtnis zurückrufen, um Ihnen für die Güte, die Sie meiner Tochter erwiesen haben, zu danken«, sagte er, wobei er den Hut ab genommen hatte und nicht wieder aufsetzte.
»Fürst Alexander Schtscherbazki«, antwortete Madame Stahl [289] und hob ihre himmlischen Augen zu ihm in die Höhe, in denen Kitty aber einen gewissen Ausdruck von Mißvergnügen zu bemerken glaubte. »Ich freue mich sehr. Ich habe Ihre Tochter so sehr liebgewonnen.«
»Ihr Befinden ist noch immer nicht nach Wunsch?«
»Ach, daran bin ich schon gewöhnt«, erwiderte Madame Stahl und stellte den Fürsten und den schwedischen Grafen einander vor.
»Sie haben sich sehr wenig verändert«, sagte der Fürst zu ihr. »Ich habe seit zehn oder elf Jahren nicht die Ehre gehabt, Sie zu sehen.«
»Ja, Gott legt uns das Kreuz auf, aber er verleiht uns auch die Kraft, es zu tragen. Man wundert sich oft, wozu sich dieses Leben so lange hinzieht ... Von der andern Seite!« wandte sie sich ärgerlich an Warjenka, die es ihr beim Einhüllen der Beine in ein Tuch nicht nach Wunsch machte.
»Doch gewiß, damit Sie noch viel Gutes tun können«, versetzte der Fürst; seine Augen lachten.
»Darüber zu urteilen, steht uns nicht zu«, erwiderte Frau Stahl, der die leise Färbung in dem Gesichtsausdruck des Fürsten nicht entgangen war. »Also Sie werden mir dieses Buch schicken, lieber Graf? Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür«, wandte sie sich an den jungen Schweden.
»Ah!« rief der Fürst, als er den Moskauer Obersten erblickte, der in ihrer Nähe stand. Er verbeugte sich vor Frau Stahl, trat mit seiner Tochter von ihr zurück und ging mit dem Obersten, der sich ihnen anschloß, weiter.
»Das ist nun unsere Aristokratie, Fürst!« bemerkte in dem Wunsche, sarkastisch zu sein, der Moskauer Oberst, der über Frau Stahl scharf urteilte, weil er nicht zu ihren Bekannten gehörte.
»Sie ist immer noch dieselbe«, antwortete der Fürst.
»Sie haben sie wohl noch vor ihrer Krankheit gekannt, Fürst? Ich meine, bevor sie sich für die Dauer hingelegt hat?«
»Ja. Ich besinne mich noch auf die näheren Umstände, als sie sich legte.«
»Es heißt, sie stände seit zehn Jahren nicht mehr auf ...«
»Sie steht nicht auf, weil sie sehr kurze Beine hat; sie ist recht schlecht gebaut ...«
»Papa, das ist nicht möglich!« rief Kitty.
»Böse Zungen wollen das behaupten, mein Herzchen. Und deine Warjenka hat auch bei ihr ein schweres Dasein«, fügte er hinzu. »Ja, ja, diese kranken Damen!«
»O nein, Papa«, erwiderte Kitty eifrig. »Warjenka vergöttert [290] sie. Und dann tut sie so viel Gutes! Da kannst du fragen, wen du willst! Sie und Aline Stahl sind überall bekannt.«
»Das kann ja sein«, sagte er und drückte mit seinem Ellbogen ihren Arm. »Aber noch besser ist es, das Gute so zu tun, daß niemand, man mag fragen, wen man will, davon weiß.«
Kitty schwieg; sie hätte wohl etwas zu erwidern gehabt; aber auch dem Vater mochte sie ihre geheimsten Gedanken nicht enthüllen. Aber seltsam: obwohl sie sich dagegen sträubte, sich der Ansicht ihres Vaters unterzuordnen und sie in ihr innerstes Heiligtum aufzunehmen, so fühlte sie doch, daß jenes gottähnliche Bild der Frau Stahl, das sie einen ganzen Monat lang in ihrer Seele getragen hatte, unwiederbringlich verschwunden war, so wie eine Gestalt, die wir in einem hingeworfenen Kleide zu sehen glaubten, verschwindet, sobald wir uns darüber klarwerden, wie das leere Kleid in Wirklichkeit daliegt. Es blieb nur eine kurzbeinige Frau übrig, die dauernd lag, weil sie eine schlechte Figur hatte, und die fügsame Warjenka quälte, wenn sie ihr das Tuch nicht nach Wunsch umwickelte. Und wie sie auch ihre Einbildungskraft anstrengte, es war ihr nicht mehr möglich, sich das frühere Bild der Madame Stahl wiederherzustellen.
1 (frz.) Lassen Sie uns gehen!
Der Fürst steckte alle Leute mit seiner fröhlichen Stimmung an: seine Angehörigen, seine Bekannten und sogar den deutschen Wirt, bei dem Schtscherbazkis wohnten.
Als er mit Kitty vom Brunnen zurückgekehrt war, wo er auch den Obersten, Marja Jewgenjewna und Warjenka eingeladen hatte, den Kaffee bei ihm zu Hause zu trinken, ließ der Fürst einen Tisch und Stühle in das Gärtchen unter einen Kastanienbaum bringen und dort das Frühstück auftragen. Auch der Wirt und die Dienerschaft wurden unter der Einwirkung seiner frohen Laune ganz munter und lebendig. Sie kannten seine Freigebigkeit, und eine halbe Stunde später blickte der kranke Hamburger Doktor, der im oberen Stockwerk wohnte, mit Neid durch das Fenster nach dieser lustigen russischen Gesellschaft von gesunden Menschen hinunter, die sich da unter dem Kastanienbaum versammelt hatte. In dem geringelten, zitternden Schatten des Laubwerks stand der weißgedeckte Tisch, besetzt mit dem Kaffeegeschirr, mit Brot, Butter, Käse und kaltem Wildbret. An dem einen Ende saß die Fürstin in einem Häubchen mit lila Bändern und verteilte die Tassen und die Butterbrötchen. Am anderen Ende saß, tüchtig essend und heiter plaudernd, der [291] Fürst; neben sich hatte er seine Einkäufe ausgebreitet: geschnitzte Kästchen, Berlocken, Papiermesser der verschiedensten Art, kurz einen ganzen Haufen von Dingen, die er in allen Badeorten erstanden hatte, nach denen er gekommen war, und verschenkte sie nun nach allen Seiten; auch das Dienstmädchen Lieschen wurde bedacht, ebenso wie der Wirt, mit dem er in seinem komischen schlechten Deutsch scherzte, nicht das Brunnentrinken habe Kitty gesund gemacht, sondern seine vorzügliche Beköstigung, ganz besonders die Suppe mit Backpflaumen. Die Fürstin zog ihren Mann ein bißchen auf wegen seiner russischen Gewohnheiten, war aber so lebhaft und vergnügt, wie sie es während des ganzen Badeaufenthaltes noch nicht gewesen war. Der Oberst lächelte, wie immer, zu den Späßen des Fürsten; nur in der Beurteilung des nichtrussischen Europas, das er seiner Ansicht nach genau studiert hatte, stand er auf seiten der Fürstin. Die gutmütige Marja Jewgenjewna schüttelte sich vor Lachen bei allem, was der Fürst Komisches vorbrachte, und Warjenka war, was Kitty noch nie gesehen hatte, ganz matt geworden von dem leisen, aber anhaltenden Lachen, zu dem die Späßchen des Fürsten sie reizten.
Auch Kitty hatte an alledem ihre Freude, ohne daß sie jedoch vermocht hätte, ihre sorgenvolle Stimmung loszuwerden. Sie konnte das Rätsel nicht lösen, das ihr der Vater, ohne es eigentlich zu beabsichtigen, durch seine lustige Ansicht über ihre Freunde und über die ihr so liebgewordene Lebensweise aufgegeben hatte. Zu diesem Rätsel trat noch die Veränderung ihres Verhältnisses zu Petrows, die heute in so zweifelloser und unangenehmer Weise zutage getreten war. Alle waren heiter, nur Kitty konnte nicht heiter sein, und das quälte sie noch mehr. Sie hatte eine ähnliche Empfindung, wie sie sie als Kind gehabt hatte, wenn sie zur Strafe in ihr Zimmer eingeschlossen war und das vergnügte Lachen ihrer Schwestern hörte.
»Wozu hast du denn eigentlich diese Unmenge von Sachen gekauft?« fragte die Fürstin lächelnd und reichte ihrem Manne eine Tasse Kaffee hin.
»Ja, man geht so spazieren, und da kommt man an einen Laden, und da fordern einen die Leute auf, man möchte doch etwas kaufen: ›Erlaucht, Exzellenz, Durchlaucht!‹ Na, und wenn sie erst sagen: ›Durchlaucht!‹, dann kann ich nicht mehr widerstehen, und so sind zehn Taler hin.«
»Das kommt nur davon, daß du dich langweilst«, meinte die Fürstin.
»Natürlich, nur davon. Man langweilt sich so, daß man gar nicht weiß, was man anfangen soll.«
[292] »Wie kann man sich überhaupt nur langweilen, Fürst? Es gibt jetzt so viel Interessantes in Deutschland«, bemerkte Marja Jewgenjewna.
»Aber ich kenne alles Interessante schon: die Suppe mit Backpflaumen kenne ich, und die Erbswurst kenne ich, alles kenne ich.«
»Nein, aber das müssen Sie doch selbst sagen, Fürst, die gesamte Einrichtung des Lebens hier in Deutschland ist wirklich interessant«, sagte der Oberst.
»Was ist denn daran interessant? Alle sind sie hier mit sich zufrieden wie ein Kupferdreier; sie haben alle ihre Gegner besiegt. Aber was habe ich denn für einen Grund zur Zufriedenheit? Ich habe niemanden besiegt; wohl aber muß ich mir hier die Stiefel allein ausziehen und sie obendrein noch selbst vor die Tür stellen. Am Morgen heißt es früh aufstehen, sich schleunigst anziehen und in den Speisesaal gehen, um scheußlich schlechten Tee zu trinken. Wie anders bei uns zu Hause! Man wacht auf, ohne sich damit im geringsten zu beeilen; dann ärgert man sich ein bißchen über irgend etwas; man brummt ein bißchen; dann sammelt man so allmählich seine Gedanken; man überlegt sich alles in Ruhe; man überhastet sich nicht.«
»Aber Sie vergessen: Zeit ist Geld!« wandte der Oberst ein.
»Ja, ja! Aber es kommt darauf an, was es für Zeit ist. Manche Zeit ist von der Art, daß man einen ganzen Monat davon gut und gern für einen halben Rubel hingeben möchte; und dann wieder manchmal ist einem eine halbe Stunde für alle Schätze der Welt nicht feil. Meinst du nicht auch, Katjenka? Was hast du denn? Du siehst ja so trübselig aus?«
»Mir fehlt nichts.«
»Wo wollen Sie denn schon hin? Bleiben Sie doch noch ein Weilchen!« wandte er sich an Warjenka.
»Ich muß nach Hause«, antwortete Warjenka und stand auf; sie mußte immer noch von neuem lachen. Indessen zwang sie sich zu einer ruhigen Haltung, empfahl sich und ging in das Haus, um ihren Hut zu holen. Kitty begleitete sie. Sogar Warjenka erschien ihr jetzt als eine andere. Sie war zwar in ihren Augen nicht schlechter geworden; aber sie war jetzt doch eine andere als die, die sie früher in Kittys Vorstellung gewesen war.
»Ach, ich habe schon seit langer Zeit nicht mehr so gelacht!« sagte Warjenka, indem sie ihren Sonnenschirm und ihr Täschchen zusammensuchte. »Wie nett Ihr Papa ist!«
Kitty schwieg.
»Wann sehen wir uns wieder?« fragte Warjenka.
»Maman wollte nachher zu Petrows gehen. Werden Sie nicht auch da sein?« fragte Kitty, um Warjenka auszuhorchen.
[293] »Ja, ich werde da sein«, antwortete Warjenka. »Sie machen sich zur Abreise fertig, und da habe ich versprochen, ihnen beim Einpacken behilflich zu sein.«
»Nun, dann will ich auch hinkommen.«
»Ach, nicht doch, wozu denn das?«
»Warum nicht? Warum nicht? Warum nicht?« rief Kitty mit weit geöffneten Augen und hielt Warjenka, um sie nicht wegzulassen, an ihrem Sonnenschirm fest. »Nein, warten Sie, warum nicht?«
»Ach, ich meinte nur so. Ihr Papa ist doch angekommen, und dann ist es Petrows auch nur peinlich, wenn Sie da helfen wollen.«
»Nein, sagen Sir mir, warum mögen Sie es nicht, daß ich Petrows öfter besuche? Nicht wahr, Sie mögen es nicht? Warum also nicht?«
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Warjenka ruhig.
»Nein, bitte, antworten Sie mir!«
»Soll ich alles sagen?« fragte Warjenka.
»Jawohl! Alles, alles!« antwortete Kitty hastig.
»Etwas Besonderes ist ja eigentlich gar nicht zu sagen. Es ist nur dies: Michail Alexejewitsch (so hieß der Maler) hatte ursprünglich die Absicht, schon früher abzureisen, und jetzt möchte er am liebsten gar nicht fort«, antwortete Warjenka lächelnd.
»Weiter, weiter!« drängte Kitty und blickte Warjenka finster an.
»Ja, und da hat nun Anna Pawlowna, ich weiß nicht, wie das gekommen ist, aber sie hat gesagt, er wolle nur deswegen nicht fort, weil Sie hier wären. Das hätte sie ja natürlich nicht sagen sollen; aber daher ist der Streit gekommen. Ihretwegen. Sie wissen ja, wie reizbar solche Kranke sind.«
Kitty machte ein immer finstreres Gesicht und schwieg; Warjenka sprach allein weiter, bemüht, sie zu besänftigen und zu beruhigen; denn sie sah, daß sich ein Ausbruch, sie wußte nicht wovon, ob von Tränen oder von Worten, vorbereitete.
»Es ist also wohl besser, wenn Sie nicht hingehen ... Und Sie verstehen mich gewiß und nehmen es mir nicht übel ...«
»Es geschieht mir recht, es geschieht mir recht!« stieß Kitty hastig hervor, riß ihrer Freundin den Sonnenschirm aus den Händen und starrte an ihr vorbei.
Warjenka wollte lächeln, als sie den kindischen Zorn ihrer Freundin sah, fürchtete aber, sie dadurch zu beleidigen.
»Inwiefern geschieht Ihnen recht? Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte sie.
»Jawohl, ich habe das verdient, weil das alles von mir nur Heuchelei war, weil das alles nur kläglich ausgesonnen war [294] und nicht von Herzen kam. Was ging mich dieser fremde Mensch an? Und das Ergebnis ist nun, daß ich schuld an einem Streite geworden bin und getan habe, worum mich kein Mensch gebeten hatte. Weil eben alles nur Heuchelei war, jawohl, Heuchelei, Heuchelei ...«
»Aber wozu sollten Sie denn geheuchelt haben?« fragte Warjenka leise.
»Ach, wie dumm, wie schändlich von mir! Und ich hatte es ja gar nicht nötig ... Alles nur Heuchelei!« rief sie und machte dabei den Sonnenschirm immer auf und zu.
»Aber wozu denn? Wozu denn also?«
»Um besser zu scheinen vor den Menschen und vor mir selbst und vor Gott, um alle zu betrügen. Nein, nie wieder lasse ich mich auf so etwas ein. Wenn ich auch schlecht bin, aber wenigstens will ich keine Lügnerin, keine Betrügerin sein.«
»Aber wer ist denn hier eine Betrügerin?« fragte Warjenka vorwurfsvoll. »Sie reden ja so, als ob ...«
Aber Kittys Anfall von jäher Hitze war noch nicht zu Ende; sie ließ Warjenka nicht ausreden.
»Sie meine ich nicht, Sie meine ich ganz und gar nicht. Sie sind ein Wesen von idealer Vollkommenheit. Ja, ja, ich weiß, daß Sie ein solches Wesen sind; aber was ist dagegen zu machen, daß ich schlecht bin? Das wäre alles nicht geschehen, wenn ich nicht schlecht wäre. Nun, dann will ich eben sein, wie ich bin; aber heucheln will ich nicht mehr. Was geht mich Anna Pawlowna an? Mögen sie leben, wie sie wollen; und ich will auch leben, wie ich will. Ich kann mich nicht anders machen, als ich bin ... Und all das ist nicht das Richtige, nicht das Richtige ...«
»Was ist denn nicht das Richtige?« fragte Warjenka verständnislos.
»Das alles ist nicht das Richtige. Ich kann nicht anders leben, als mein Herz es mir eingibt; aber Sie und die andern leben nach Regeln und Grundsätzen. Ich habe Sie liebgewonnen, ganz einfach, ohne jede Absicht, Sie aber mich wohl nur, um mich zu retten und zu belehren!«
»Sie sind ungerecht«, versetzte Warjenka.
»Ich sage ja nichts über andere; ich rede nur von mir.«
»Kitty!« erscholl die Stimme der Mutter. »Komm doch einmal her und zeige dem Papa deine Blutapfelsinen!«
Mit stolzer Miene nahm Kitty, ohne sich mit ihrer Freundin versöhnt zu haben, das Körbchen mit den Blutapfelsinen vom Tische und ging zu ihrer Mutter hin.
»Was ist dir? Warum bist du so rot?« fragten Vater und Mutter wie aus einem Munde.
[295] »O nichts!« antwortete sie. »Ich komme gleich wieder!« Damit lief sie zurück.
›Sie ist noch da!‹ dachte sie. ›Was soll ich ihr nur sagen, o mein Gott! Was habe ich getan, was habe ich gesagt? Warum habe ich sie so gekränkt? Was soll ich nun machen? Was soll ich ihr sagen?‹ dachte Kitty und blieb an der Tür stehen.
Warjenka saß mit dem Hute auf dem Kopfe am Tische; in den Händen hatte sie den Sonnenschirm und betrachtete die Feder, die Kitty zerbrochen hatte. Sie hob den Kopf in die Höhe.
»Warjenka, verzeihen Sie mir, bitte, verzeihen Sie mir!« flüsterte Kitty, zu ihr tretend. »Ich weiß gar nicht mehr, was ich gesagt habe. Ich ...«
»Ich hatte Sie wirklich nicht kränken wollen«, meinte Warjenka lächelnd.
Der Friede war geschlossen. Aber mit der Ankunft des Vaters hatte sich für Kitty jene ganze Welt, in der sie zuletzt gelebt hatte, verändert. Sie sagte sich zwar nicht von allem los, was sie kennengelernt hatte; aber sie sah ein, daß sie sich getäuscht hatte, als sie geglaubt hatte, sie könne das sein, was sie sein wollte. Sie erwachte gleichsam aus einer Betäubung; sie wurde sich der ganzen Schwierigkeit bewußt, sich ohne Heuchelei und Prahlerei auf der Höhe zu erhalten, zu der sie sich hatte erheben wollen. Außerdem drückte auf ihr Gemüt diese ganze Umgebung voller Kummer, Krankheiten und Sterbender, in der sie jetzt lebte. Die Anstrengungen, mit denen sie sich hatte zwingen wollen, all dies zu lieben, erschienen ihr als eine Qual, und sie sehnte sich danach, so bald wie möglich wieder in frische Luft zu kommen, nach Rußland, nach Jerguschowo, wohin, wie sie aus einem Briefe erfahren hatte, ihre Schwester Dolly mit den Kindern bereits übergesiedelt war.
Aber ihre Liebe zu Warjenka hatte sich nicht vermindert. Beim Abschied bat Kitty sie inständig, doch zu ihnen nach Rußland zu Besuch zu kommen.
»Ich komme, wenn Sie verheiratet sein werden«, erwiderte Warjenka.
»Ich heirate nie.«
»Nun, dann komme ich auch niemals.«
»Nun, dann will ich nur deswegen heiraten. Aber denken Sie auch an Ihr Versprechen! Hören Sie wohl?« betonte Kitty.
Die Voraussage des Arztes hatte sich bewahrheitet. Kitty kehrte in die Heimat, nach Rußland, geheilt zurück. Sie war zwar nicht mehr so sorglos und heiter wie früher; aber sie war ruhig in ihrem Gemüte. Der Moskauer Kummer war nur noch eine Erinnerung.
[296]Sergei Iwanowitsch Kosnüschew wollte sich von der geistigen Arbeit erholen und reiste daher, statt sich nach seiner Gewohnheit ins Ausland zu begeben, Ende Mai zu seinem Bruder aufs Land. Nach seiner Überzeugung war das Leben auf dem Lande das beste, das man sich überhaupt nur denken konnte. Um dieses Leben gründlich zu genießen, kam er jetzt zu seinem Bruder. Konstantin Ljewin war über seine Ankunft sehr erfreut, um so mehr, da er seinen Bruder Nikolai für diesen Sommer nicht mehr erwartete. Aber trotz all seiner Liebe und Verehrung für Sergei Iwanowitsch war ihm das Zusammenleben mit diesem auf dem Lande nicht recht behaglich. Es war ihm unbehaglich, ja geradezu peinlich, zu sehen, welche Stellung sein Bruder dem Landleben gegenüber einnahm. Für Konstantin Ljewin war das platte Land die Stätte seines Daseins, das heißt seiner Freuden, seiner Leiden, seiner Arbeit; für Sergei Iwanowitsch war das Landleben einerseits eine Erholung von der Arbeit, anderseits ein nützliches Gegengift gegen die städtische Verderbtheit, das er mit Genuß und mit dem Bewußtsein seiner Nützlichkeit einnahm. Für Konstantin [5] Ljewin war das platte Land deswegen so schön, weil es ihm ein Arbeitsfeld darbot, und zwar ein Feld für eine unzweifelhaft nützliche Arbeit; für Sergei Iwanowitsch besonders deswegen, weil es einem dort möglich, ja sogar eine Art Pflicht war, sich dem Müßiggange hinzugeben. Außerdem war auch Sergei Iwanowitschs Verhältnis zum Landvolk nicht nach Konstantins Geschmack. Sergei Iwanowitsch pflegte zu sagen, er liebe das Landvolk und kenne es genau, und unterhielt sich oft mit den Bauern, was er sehr gut, ohne Verstellung und Heuchelei, fertig brachte, und aus jedem derartigen Gespräche zog er allgemeine Schlußfolgerungen zum Beweise der Vortrefflichkeit des Landvolkes und zum Beweise seiner genauen Kenntnis des Bauernlebens. Eine solche Stellungnahme dem Landvolk gegenüber mißfiel Konstantin Ljewin. Für ihn war das Landvolk nur der wichtigste Teilnehmer an der gemeinsamen Arbeit, und trotz seiner Achtung vor dem Bauernstande [5] und seiner sozusagen verwandtschaftlichen Liebe zu ihm, die er, wie er selbst sagte, wahrscheinlich mit der Milch seiner bäuerlichen Amme eingesogen hatte, war er mit diesem Mitarbeiter keineswegs zufrieden: mitunter zwar geriet er in Entzücken über die Kraft, die Sanftmut und das Gerechtigkeitsgefühl dieser Leute; aber sehr oft, wenn bei der gemeinsamen Arbeit auch noch andere Eigenschaften erfordert wurden, packte ihn ein wahrer Ingrimm über dieses Volk wegen seiner Achtlosigkeit, Unordentlichkeit, Trunksucht und Verlogenheit. Hätte jemand Konstantin Ljewin gefragt, ob er das Landvolk liebe, so würde er entschieden nicht gewußt haben, was er darauf antworten solle. Er liebte das Landvolk und liebte es auch wieder nicht, gerade wie er es mit der Menschheit im allgemeinen tat. Selbstverständlich konnte man von ihm, einem so gutherzigen Menschen, mit größerem Rechte sagen, daß er die Menschheit liebte, als daß er sie nicht liebte; und geradeso war es deshalb auch mit seiner Stellung dem Landvolke gegenüber. Aber das Landvolk wie ein besonderes Wesen zu lieben oder nicht zu lieben, dazu war er nicht imstande, nicht nur weil er mit dem Landvolke lebte und alle seine Interessen mit denen des Landvolkes eng verknüpft waren, sondern auch weil er sich selbst als einen Teil des Landvolkes betrachtete, zwischen sich und dem Landvolke keinen eigentlichen Unterschied in bezug auf gute und schlechte Eigenschaften wahrnahm und seine Person dem Landvolke nicht als etwas grundsätzlich Verschiedenes gegenüberzustellen vermochte. Dazu kam noch folgendes: Obgleich er lange Zeit in den engsten Beziehungen mit den Bauern gelebt hatte, als Gutsherr und als Schiedsrichter und ganz besonders als Ratgeber (denn die Bauern hatten Vertrauen zu ihm und kamen von vierzig Werst weit her, um ihn um Rat zu fragen), so hatte er trotzdem ganz und gar kein bestimmtes Urteil über das Landvolk und würde durch die Frage, ob er das Landvolk kenne, ebenso in Verlegenheit gesetzt worden sein wie durch die Frage, ob er das Landvolk liebe. Zu behaupten, daß er das Landvolk kenne, hätte für ihn auf derselben Stufe gestanden, wie zu behaupten, daß er die Menschen kenne. Er stellte beständig seine Beobachtungen an und lernte Menschen von jeder Art kennen (darunter auch aus dem Bauernstande Leute, die er für brave, interessante Menschen halten mußte), entdeckte unaufhörlich an ihnen neue Charakterzüge, änderte sein früheres Urteil über sie und bildete sich ein neues. Ganz anders Sergei Iwanowitsch. Gerade wie er das Landleben liebte und pries im Gegensatz zu einem Leben, das er nicht liebte, genau ebenso liebte er auch das Landvolk im Gegensatze zu einer Menschenklasse, [6] die er nicht liebte, und ebenso sah er das Landvolk als etwas der Menschheit im allgemeinen Gegenüberstehendes an. In seinem Geiste, der alles gern in einen gewissen Zusammenhang brachte, hatte er sich bestimmte, scharf umrissene Vorstellungen vom Leben des Landvolkes zurechtgemacht, die er allerdings zum Teil aus dem wirklichen Leben des Landvolkes abgeleitet, hauptsächlich aber aus dem Gegensatze gebildet hatte. Niemals änderte er seine Meinung über das Landvolk, und niemals geriet sein Wohlwollen für dieses ins Wanken.
Wenn zwischen den Brüdern Meinungsverschiedenheiten in der Beurteilung des Landvolkes zur Sprache kamen, so war Sergei Iwanowitsch seinem Bruder immer gerade dadurch überlegen, daß er fest bestimmte Begriffe vom Landvolke, von seinem Charakter, von seinen Eigenschaften und Bestrebungen hatte; Konstantin Ljewin hingegen besaß hiervon keine bestimmten, unveränderlichen Begriffe, so daß er bei diesen Erörterungen sich leicht auf Widersprüchen mit sich selbst ertappen ließ.
Nach Sergei Iwanowitschs Urteil war sein jüngerer Bruder ein prächtiger junger Mensch, der, wie er sich auf französisch ausdrückte, ›le cœur bien placé‹, das Herz auf dem rechten Flecke habe, dessen Denken aber, bei allerdings ziemlich rascher Auffassung, doch gar zu sehr von den Eindrücken des Augenblicks abhängig und darum nicht frei von Widersprüchen sei. Mit der freundlichen Herablassung des älteren Bruders erklärte er ihm manchmal die eigentliche Bedeutung der Dinge, konnte aber an einem Meinungsaustausch mit ihm kein Vergnügen finden, weil dieser ihm den Sieg gar zu leicht machte.
Konstantin Ljewin hielt seinen Bruder für einen Mann von gewaltigem Verstande und hervorragender Bildung, für einen edlen Menschen im höchsten Sinne des Wortes, dazu noch mit der Fähigkeit ausgestattet, für das Wohl der Gesamtheit zu wirken. Aber je älter er wurde und je genauer er seinen Bruder kennenlernte, um so häufiger kam ihm im tiefsten Grunde der Seele der Gedanke, daß diese Fähigkeit, für das Wohl der Gesamtheit zu wirken (eine Fähigkeit, deren er sich selbst völlig bar wußte), vielleicht gar kein Vorzug, sondern im Gegenteil ein Mangel sei, nicht ein Mangel an guten, ehrlichen, edlen Wünschen und Bestrebungen, sondern ein Mangel an Lebenskraft, ein Mangel an dem, was man Herz nennt, ein Mangel an jenem Streben, das den Menschen zwingt, aus all den zahllosen sich darbietenden Lebenswegen einen einzigen zu wählen und diesem sein ganzes Interesse zuzuwenden. Je mehr er seinen Bruder kennenlernte, um so deutlicher nahm er wahr, daß Sergei Iwanowitsch (ganz ebenso wie viele andere Männer, die für das[7] Beste der Gesamtheit wirkten) nicht durch sein Herz zu diesem Interesse am Besten der Gesamtheit hingeführt, sondern durch die Tätigkeit des Verstandes zu der Überzeugung von der Zweckmäßigkeit dieser Beschäftigung gelangt war und sich eben nur deshalb dieser Beschäftigung widmete. In dieser Auffassung wurde Ljewin noch durch die Beobachtung bestärkt, daß seinem Bruder die Fragen nach dem Besten der Gesamtheit und nach der Unsterblichkeit der Seele nicht in höherem Grade zu Herzen gingen als die Fragen, die eine Schachpartie oder die sinnreiche Bauart einer neuen Maschine betrafen.
Außerdem brachte für Konstantin Ljewin das Zusammenleben mit seinem Bruder auf dem Lande auch insofern eine Unbequemlichkeit mit sich, als Ljewin auf dem Lande, namentlich im Sommer, beständig mit der Wirtschaft zu tun hatte und der lange Sommertag nicht ausreichte, um alles, was nötig war, zu schaffen, Sergei Iwanowitsch dagegen sich ausruhte. Aber obgleich er sich jetzt ausruhte, das heißt nicht an seinem Buche arbeitete, so war er doch an geistige Tätigkeit dermaßen gewöhnt, daß er gern die Gedanken, die ihm kamen, in schöner, gedrängter Form aussprach und gern einen Zuhörer dafür hatte. Der gegebene und natürliche Zuhörer aber war sein Bruder. Und darum war es trotz der freundschaftlichen Zwanglosigkeit ihres Verkehrs Konstantin peinlich, ihn allein zu lassen. Sergei Iwanowitsch liebte es, sich in der prallen Sonne aufs Gras zu legen und, während er sich so braten ließ, gemächlich zu plaudern.
»Du glaubst gar nicht«, sagte er zu seinem Bruder, »welch ein Genuß dieses Faulenzerleben für mich ist. Im Kopfe habe ich keinen einzigen Gedanken; alles ist wie ausgefegt.«
Aber dem Jüngeren war es langweilig, so dazusitzen und ihm zuzuhören, besonders da er wußte, daß die Leute, wenn er nicht dabei wäre, den Dünger auf das Feld bringen würden, ohne das Feld vorher ordentlich in Beete abzuteilen, und ihn, wenn er es nicht beaufsichtigte, Gott weiß wie hinwerfen würden und daß sie die Pflugmesser an den neuen Pflügen nicht ordentlich anschrauben würden, so daß sie losgingen, und dann sagen würden, diese neuen Pflüge, das sei doch eine törichte Erfindung, da seien die alten Hakenpflüge eine ganz andere Sache, und so weiter.
»Lauf doch nicht soviel in der Hitze umher!« sagte Sergei Iwanowitsch zu ihm.
»Ach, ich möchte nur für einen Augenblick mal ins Kontor gehen«, antwortete Ljewin und lief aufs Feld.
Anfang Juni ereignete sich ein Unfall: die alte Kinderfrau und Wirtschafterin Agafja Michailowna trug einen Steintopf mit Pilzen, die sie soeben eingesalzen hatte, in den Keller, glitt dabei aus, fiel und verstauchte sich das Handgelenk. Man ließ den Landschaftsarzt kommen, einen jungen, geschwätzigen Menschen, der erst vor kurzem die Universität verlassen hatte. Er untersuchte die Hand, erklärte, sie sei nicht ausgerenkt, und ließ sich mit größtem Vergnügen in ein Gespräch mit dem berühmten Sergei Iwanowitsch Kosnüschew ein; um dabei seine aufgeklärten Anschauungen zum Ausdruck zu bringen, erzählte er ihm alle möglichen Klatschgeschichten aus dem Kreise und führte bittere Klage über die schlechten Zustände in der Verwaltung auf dem Lande. Sergei Iwanowitsch hörte ihm aufmerksam zu und stellte seinerseits manche Fragen; angeregt dadurch, daß er einmal einen neuen Zuhörer hatte, wurde auch er gesprächig, machte einige scharf betonte, gewichtige Bemerkungen, die der junge Arzt mit achtungsvoller Wertschätzung aufnahm, und geriet so in jene, seinem Bruder wohlbekannte, angeregte Stimmung, die sich bei ihm gewöhnlich nach einem lebhaften, geistsprühenden Gespräche einstellte. Nachdem der Arzt wieder weggefahren war, bekam Sergei Iwanowitsch Lust, nach dem Flusse zu fahren, um dort zu angeln. Er angelte gern und war gewissermaßen stolz darauf, daß er es fertigbrachte, an einer so stumpfsinnigen Beschäftigung Geschmack zu finden.
Konstantin Ljewin, der zum Pflügen und auf die Wiesen mußte, erbot sich, den Bruder mit dem Einspänner hinzubringen.
Es war die Zeit des Jahres, wo der Sommer auf seiner Höhe ist: wo die Getreideernte des laufenden Jahres sich bereits veranschlagen läßt; wo die Sorgen um die Aussaat für das künftige Jahr beginnen und die Heuernte heranrückt; wo der Roggen schon ganz in Ähren steht und graugrün mit seinen noch leichten, nicht vollen Ähren im Winde wogt; wo der grüne Hafer, mit den dazwischen verstreuten gelben Grasbüscheln, ungleichmäßig auf den Spätsaaten herauskommt; wo der frühe Buchweizen schon aufblüht und den Erdboden verdeckt; wo die vom Vieh steinhart gestampften Brachfelder zur Hälfte umgepflügt sind, mit Auslassung der Wege, in deren Erdboden der Hakenpflug nicht eindringt; wo die ausgefahrenen, schon etwas angetrockneten Düngerhaufen bei Sonnenuntergang ihren Geruch mit dem des Wiesenklees vereinen und in den Niederungen, der Sense harrend, wie ein zusammenhängendes Meer die wohlbehüteten [9] Wiesen daliegen, mit den schwärzlichen Haufen von ausgejäteten Sauerampferstauden darin.
Es war die Zeit, da in der Feldarbeit vor Beginn der alljährlich sich wiederholenden und alljährlich alle Kräfte der Landbevölkerung in Anspruch nehmenden Ernte eine kurze Ruhepause eintritt. Das Getreide stand prächtig, und es waren nun die hellen, warmen Sommertage mit den taureichen, kurzen Nächten gekommen.
Die Brüder mußten durch einen Wald fahren, um zu den Wiesen zu gelangen. Voll Bewunderung betrachtete Sergei Iwanowitsch die ganze Zeit hindurch die Schönheit des dichtbelaubten Waldes: bald zeigte er seinem Bruder eine alte Linde, die auf der Schattenseite ganz dunkel, nur mit lauter gelben Nebenblättchen gesprenkelt, aussah und nahe daran war, aufzublühen, bald die wie Smaragd glänzenden jungen, heurigen Schößlinge an den Bäumen. Konstantin Ljewin sprach nicht gern über die Schönheit der Natur und hörte nicht gern darüber sprechen. Die Worte beeinträchtigten nach seinem Gefühle die Schönheit dessen, was er sah. Er sagte zu allem, was sein Bruder sprach, ja, begann aber unwillkürlich an andere Dinge zu denken. Als sie aus dem Walde herauskamen, wurde seine ganze Aufmerksamkeit durch den Anblick des sich einen Hügel hinaufziehenden Brachfeldes in Anspruch genommen, das stellenweise mit gelbem Grase bestanden, stellenweise umgeworfen und schachbrettartig zerschnitten, stellenweise mit Düngerhaufen besetzt und stellenweise auch schon geackert war. Über das Feld hin fuhr eine lange Reihe von Fuhren. Ljewin zählte die Wagen und sah mit Befriedigung, daß die nötige Menge angefahren wurde. Beim Anblick der Wiesen gingen seine Gedanken dann zur Frage der Heuernte über. Die Heuernte hatte für ihn immer etwas, was sein Herz besonders nahe anging. Als sie bei der Wiese angelangt waren, hielt Ljewin das Pferd an.
Der Morgentau lag noch reichlich im tieferen Grunde des Grases, und daher bat Sergei Iwanowitsch, um sich nicht die Füße naß zu machen, seinen Bruder, ihn im Einspänner über die Wiese nach dem Weidengebüsch hinzufahren, wo viele Barsche vorhanden zu sein pflegten. So leid es auch Konstantin Ljewin war, sein Gras zu zerdrücken, so fuhr er doch in die Wiese hinein. Das hohe Gras wickelte sich weich um die Räder des Wagens und um die Füße des Pferdes und ließ seinen Samen an den nassen Speichen der Räder und an den Fesseln des Pferdes zurück.
Der Bruder setzte sich unter einen Busch und brachte seine Angeln in Ordnung; Ljewin aber führte das Pferd beiseite, band [10] es an und ging in das von keinem Windhauch bewegte, gewaltige, graugrüne Meer der Wiese hinein. Das seidige Gras mit dem reifenden Samen reichte ihm in dieser Gegend, die durch das jährliche Austreten des Flusses bewässert wurde, fast bis zum Gürtel.
Nachdem er die Wiese quer durchschritten hatte, trat er wieder auf den Weg hinaus und begegnete dort einem alten Manne mit einem verschwollenen Auge, der einen Korb mit einem Bienenschwarm trug.
»Nun, hast du wieder einen neuen Schwarm gefangen, Fomitsch?« fragte er.
»Gott bewahre, Konstantin Dmitrijewitsch! Man kann froh sein, wenn man nur die eigenen behält. Da, dieser Schwarm hier ist mir schon zum zweitenmal davongegangen ... Ein Glück noch, daß die Kinder ihm nachgerannt sind und ihn eingeholt haben. Bei uns wird gerade gepflügt. Da haben sie ein Pferd ausgespannt und sind ihm nachgejagt ...«
»Nun, was meinst du, Fomitsch? Sollen wir mähen, oder sollen wir noch warten?«
»Na ja, nach unserer Regel muß man bis zum Peterstag warten. Aber Sie lassen ja immer schon früher mähen. Na, so Gott will, wird es eine schöne Heuernte werden. Das Vieh wird die Hülle und Fülle haben.«
»Aber wie denkst du über das Wetter?«
»Das steht in Gottes Hand. Vielleicht wird auch das Wetter gut bleiben.«
Ljewin ging wieder zu seinem Bruder.
Dieser hatte noch nichts gefangen; aber er langweilte sich nicht und schien in heiterster Stimmung zu sein. Ljewin sah, daß er, durch das Gespräch mit dem Arzte angeregt, Lust hatte, ein bißchen zu reden. Ljewin hingegen wollte möglichst schnell nach Hause zurück, um das Erforderliche wegen der Beschaffung von Mähern für den nächsten Tag anzuordnen und so seinem Zweifel über die Heuernte, der ihn stark beschäftigte, ein Ende zu machen.
»Nun, komm, dann wollen wir wieder fahren!« sagte er.
»Wozu sollen wir denn so eilen?« erwiderte jener. »Laß uns doch noch ein Weilchen sitzen! Aber was bist du naß geworden! Wenn ich auch nichts fange, es ist doch schön. Jede Art von Jagd hat das Gute, daß man dabei mit der Natur in innige Berührung kommt. Sieh nur, wie wunderhübsch dieses stahlgraue Wasser ist! Diese Wiesenufer«, fuhr er fort, »erinnern mich immer an ein Rätsel – besinnst du dich? Das Gras spricht zum Wasser: ›Wir und schwanken ...‹«
»Ich kenne das Rätsel nicht«, antwortete Ljewin in gedrücktem Tone.
»Weißt du, ich habe eben an dich gedacht«, hob Sergei Iwanowitsch von neuem an. »Nach den Erzählungen dieses Arztes zu urteilen, muß es ja bei euch hier im Kreise ganz toll zugehen; und er ist ein ganz intelligenter junger Mensch. Ich habe es dir schon früher einmal gesagt und wiederhole es dir: es ist nicht gut, daß du die Versammlungen nicht mehr besuchst und dich überhaupt von der ganzen Kreisverwaltung zurückgezogen hast. Wenn sich die anständigen Leute davon fernhalten, dann wird natürlich alles Gott weiß was für einen Verlauf nehmen. Wir bezahlen eine ganze Masse Geld; aber das geht für die Gehälter drauf, und von Schulen, Heilgehilfen, Hebammen, Apotheken ist keine Rede; nichts davon ist vorhanden.«
»Ich habe es ja versucht«, antwortete Ljewin leise und widerwillig. »Aber ich kann es nicht. Was soll ich da machen!«
»Aber was kannst du denn nicht? Ich muß gestehen, daß ich das nicht begreife. Gleichgültigkeit oder Verständnislosigkeit sind ja doch bei dir ausgeschlossen; ist es wirklich nur Trägheit von dir?«
»Weder das erste noch das zweite noch das dritte. Ich habe es versucht und habe eingesehen, daß ich dabei nichts zu leisten vermag«, erwiderte Ljewin.
Er hörte ohne rechte Aufmerksamkeit, was sein Bruder sagte. Er blickte über den Fluß hinüber nach dem Ackerlande und bemerkte da etwas Schwarzes, konnte aber nicht erkennen, ob es nur ein Pferd oder der Verwalter zu Pferde sei.
»Warum vermagst du denn nichts zu leisten? Du hast einen Versuch gemacht und deiner Ansicht nach kein Glück damit gehabt, und nun hast du gleich die Flinte ins Korn geworfen. Wie kann man nur so wenig Ehrgeiz haben?«
»Ehrgeiz«, versetzte Ljewin, bei dem dieses Wort einen wunden Punkt getroffen hatte, »was hier der Ehrgeiz soll, verstehe ich nicht! Hätte man mir auf der Universität gesagt, daß andere die Integralrechnung verständen und ich sie nicht verstände, da wäre der Ehrgeiz in Frage gekommen. Hier aber muß man doch zunächst die Überzeugung haben, daß man die für diese Tätigkeit erforderlichen Fähigkeiten besitzt, und namentlich, daß diese ganze Tätigkeit wirklich so wichtig ist.«
»Na, sag mal! Ist denn das etwa nicht wichtig?« rief Sergei Iwanowitsch, etwas verstimmt darüber, daß sein Bruder etwas, wofür er selbst sich interessierte, unwichtig fand, und ganz besonders darüber, daß der Bruder ihm offenbar fast gar nicht zuhörte.
[12] »Mir scheint es nicht wichtig, und mich interessiert es nicht; also was verlangst du da weiter von mir?« antwortete Ljewin. Er hatte unterdessen erkannt, daß das, was er in der Ferne sah, der Verwalter war und daß der Verwalter wahrscheinlich die Bauern vom Pflügen entließ, da sie ihre Hakenpflüge umstürzten. ›Sollten sie wirklich schon mit dem Pflügen fertig sein?‹ dachte er.
»Na, aber so höre doch zu!« sagte der ältere Bruder und verzog mißmutig sein schönes, kluges Gesicht. »Es muß doch alles seine Grenzen haben. Es ist ja sehr schön, ein Original zu sein und die Aufrichtigkeit zu lieben und alle Falschheit zu hassen – das weiß ich alles sehr wohl, aber das, was du da sagst, hat entweder gar keinen Sinn, oder es hat einen sehr schlimmen Sinn. Wie kannst du es für unwichtig erachten, daß das Landvolk, das du deiner Versicherung nach liebst ...«
›Das habe ich nie versichert‹, dachte Konstantin Ljewin.
»... ohne Hilfe dahinstirbt? Rohe, unwissende Bauernweiber, die als Geburtshelferinnen dienen, martern die Kinder zu Tode, und das Volk verharrt in tiefster Unwissenheit und ist der Willkür jedes Schreibers preisgegeben; dir aber ist das Mittel, dem abzuhelfen, in die Hand gelegt, und doch schaffst du keine Abhilfe, weil das alles deiner Meinung nach nicht wichtig ist.«
Und Sergei Iwanowitsch stellte ihm die Wahl: »Entweder bist du so wenig intelligent, daß du nicht zu beurteilen vermagst, was du alles leisten kannst, oder du bist nicht geneigt, deine Bequemlichkeit, deinen Stolz oder ich weiß nicht, was sonst noch dranzugehen, um dies zu leisten.«
Konstantin Ljewin fühlte, daß ihm nichts übrigblieb als entweder zu Kreuze zu kriechen oder sich zu einem Mangel an Interesse für das Gemeinwohl zu bekennen. Und das kränkte und ärgerte ihn.
»Es trifft sowohl das eine wie das andere zu«, sagte er in entschlossenem Tone. »Ich sehe keine Möglichkeit ...«
»Wie? Ist es denn unmöglich, bei vernünftiger Verwendung der verfügbaren Geldmittel dem Landvolke ärztliche Beihilfe zugänglich zu machen?«
»Meines Erachtens ist das unmöglich ... Unser Kreis umfaßt viertausend Quadratwerst, und bei der Beschaffenheit unserer Wege zur Zeit der Schneeschmelze, bei unseren Schneestürmen, bei unserer Arbeitszeit sehe ich keine Möglichkeit, an jeder Stelle ärztliche Hilfe darzubieten. Und ich habe auch überhaupt kein Vertrauen zur medizinischen Wissenschaft.«
»Na, erlaube mal, das ist aber doch ungerecht ... Ich könnte dir Tausende von Beispielen anführen ... Nun, und die Schulen?«
[13] »Wozu brauchen wir Schulen?«
»Was redest du da? Kann etwa ein Zweifel an dem Nutzen der Bildung bestehen? Wenn sie für dich gut und nützlich ist, so ist sie es auch für jeden.«
Konstantin Ljewin fühlte sich moralisch an die Wand gedrückt; daher geriet er in Hitze und kam unwillkürlich mit dem Hauptgrunde seiner Gleichgültigkeit gegen das Beste der Gesamtheit heraus.
»Es mag sein, daß das alles ganz gut ist; aber wozu soll ich mir Sorge machen um die Einrichtung ärztlicher Beratungsstellen, die ich doch nie benutzen werde, und um die Einrichtung von Schulen, wohin ich meine Kinder nicht schicken werde und wohin auch die Bauern ihre Kinder nicht werden schicken wollen; und ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob es zweckmäßig ist, daß die Bauernkinder hingehen«, fügte er hinzu.
Sergei Iwanowitsch war einen Augenblick ganz überrascht über diese unerwartete Anschauungsweise; dann aber entwarf er sofort einen neuen Angriffsplan.
Er schwieg ein Weilchen, nahm eine Angel heraus, warf sie an einer anderen Stelle hinein und wandte sich dann lächelnd zu seinem Bruder.
»Na, erlaube mal ... Erstens, eine ärztliche Beratungsstelle hat sich als ein notwendiges Bedürfnis herausgestellt. Wir haben doch eben erst für Agafja Michailowna den Landschaftsarzt von wer weiß wie weit her holen lassen müssen.«
»Na, ich glaube, daß ihre Hand doch krumm bleiben wird.«
»Das ist doch noch die Frage ... Ferner wird ein Bauer, ein Arbeiter, der lesen und schreiben kann, für dich dadurch brauchbarer und wertvoller.«
»Nein, da kannst du fragen, wen du willst«, antwortete Konstantin Ljewin in entschiedenem Tone, »ein Mensch, der lesen und schreiben kann, ist als Arbeiter erheblich schlechter. Na, und die Wege, die lassen sich nicht ausbessern; und die Brücken, kaum daß sie fertig sind, werden sie auch schon gestohlen.«
»Übrigens«, erwiderte mit zusammengezogenen Brauen Sergei Iwanowitsch, der Einreden nicht leiden konnte, und namentlich nicht solche, die unaufhörlich von einem Punkte zum andern hin und her sprangen und ohne allen Zusammenhang neue Gesichtspunkte einführten, so daß man nicht mehr wußte, worauf man antworten sollte. »Übrigens, darum handelt es sich nicht. Erlaube einmal! Gibst du zu, daß die Bildung für das Volk ein Segen ist?«
»Ja, das gebe ich zu«, erwiderte Ljewin, ohne zu überlegen, und wurde sich gleich darauf bewußt, daß er etwas gesagt hatte, [14] was seiner Ansicht nicht entsprach. Er merkte, daß, nachdem er dies zugegeben hatte, ihm bewiesen werden würde, daß er vorher leeres Zeug geredet habe, das eines vernünftigen Sinnes entbehre. Auf welche Weise ihm das bewiesen werden würde, wußte er noch nicht; aber daß es ein unzweifelhafter, logischer Beweis sein werde, das wußte er, und nun erwartete er diesen Beweis.
Die Widerlegung gestaltete sich weit einfacher, als es Konstantin Ljewin erwartet hatte.
»Wenn du sie als einen Segen anerkennst«, sagte Sergei Iwanowitsch, »so kannst du als Ehrenmann nicht umhin, ein solches Werk zu lieben und dich dafür zu interessieren, und daher muß es dir eine Herzenssache sein, dabei mitzuarbeiten.«
»Aber ich gebe ja noch gar nicht zu, daß dieses Werk gut ist«, warf Konstantin Ljewin errötend ein.
»Wie? Aber du sagtest doch eben erst ...«
»Ich meine, ich erkenne es weder als gut noch als möglich an.«
»Das letzte kannst du nicht wissen, ehe du nicht dafür alle Anstrengungen gemacht hast.«
»Na, wollen mal annehmen«, erwiderte Ljewin, obwohl er es ganz und gar nicht annahm, »wollen mal annehmen, die Sache verhielte sich so; so sehe ich trotzdem nicht ein, warum ich mir damit Mühe machen soll.«
»Wie meinst du das?«
»Nein, wenn wir nun doch einmal in ein Gespräch darüber gekommen sind«, sagte Ljewin, »so erkläre mir die Sache auch vom philosophischen Standpunkte aus.«
»Ich verstehe nicht, was hierbei die Philosophie soll«, versetzte Sergei Iwanowitsch, und zwar, wie es Ljewin vorkam, in einem Tone, als wolle er dem Bruder nicht das Recht zuerkennen, über Philosophie mitzureden. Und darüber ärgerte sich Ljewin.
»Was sie hierbei soll? Das will ich dir gleich sagen!« begann er hitzig. »Ich glaube, daß die Triebfeder aller unserer Handlungen doch immer das persönliche Glück ist. Hier nun in unseren Verwaltungseinrichtungen auf dem Lande vermag ich als Edelmann nichts zu erblicken, was zu meinem Wohlbefinden beitragen könnte. Die Wege sind nicht besser geworden und können nicht besser werden; meine Pferde fahren mich auch auf schlechten Wegen. Ärzte und ärztliche Beratungsstellen habe ich nicht nötig. Den Friedensrichter habe ich nicht nötig; ich habe mich noch nie an ihn gewendet und werde mich nie an ihn wenden. Schulen sind für mich nicht nur entbehrlich, sondern sogar, wie ich dir schon gesagt habe, nachteilig. Ich habe von den Verwaltungseinrichtungen auf dem Lande weiter nichts als die Verpflichtung, achtzehn Kopeken die Deßjatine zu bezahlen, nach [15] der Stadt zu fahren, dort in einem Bette zu schlafen, wo ich von Wanzen zerbissen werde, und alles mögliche sinnlose, widerwärtige Gerede mit anzuhören. Dazu aber treibt mich kein persönliches Interesse an.«
»Erlaube«, unterbrach ihn Sergei Iwanowitsch lächelnd, »ein persönliches Interesse war es auch nicht, das uns dazu antrieb, für die Aufhebung der Leibeigenschaft zu wirken, und wir haben doch dafür gewirkt.«
»Nein«, unterbrach ihn seinerseits wieder Konstantin, der immer hitziger wurde. »Die Aufhebung der Leibeigenschaft, das war eine ganz andere Sache. Dabei lag allerdings ein persönliches Interesse vor. Jene Zustände lasteten wie ein schwerer Druck auf uns, auf allen rechtlich denkenden Menschen, und diesen Druck wollten wir gern loswerden. Aber dazu habe ich keine Lust, als Kreistagsmitglied dazusitzen, darüber zu verhandeln, wieviel Arbeiter zur Ausräumung der Abortgruben erforderlich sind und wie die Wasserleitung in der Stadt angelegt werden soll, wo ich doch gar nicht wohne, oder Geschworener zu sein und über einen Bauern zu Gericht zu sitzen, der einen Schinken gestohlen hat, und sechs Stunden lang all den Unsinn mit anzuhören, den die Verteidiger und Staatsanwälte zusammendreschen, und wie der Vorsitzende meinen alten dämlichen Aljoschka fragt: ›Gestehen Sie zu, Herr Angeklagter, die in Entwendung eines Schinkens bestehende Handlung begangen zu haben?‹ und wie der dann antwortet: ›Hä?‹«
Konstantin Ljewin war von dem eigentlichen Thema bereits ganz abgekommen und fing an, den Vorsitzenden und den dämlichen Aljoschka nachzuahmen; aber seiner Meinung nach gehörte das alles zur Sache.
Sergei Iwanowitsch jedoch zuckte mit den Achseln.
»Nun, was willst du denn eigentlich mit alledem sagen?«
»Ich will damit nur sagen, daß ich die Rechte, die mich und mein eigenes Interesse berühren, jederzeit mit meiner ganzen Kraft verteidigen werde, wie ich denn damals, als bei uns Studenten Haussuchungen gehalten und unsere Briefe von den Gendarmen gelesen wurden, bereit war, mit aller Kraft diese Rechte zu verteidigen und für mein Recht auf Bildung und Freiheit einzutreten. Ich habe Verständnis für die Wehrpflicht, die das Schicksal meiner Kinder, meiner Brüder sowie mein eigenes berührt; über alles, was mich selbst angeht, bin ich bereit, ernstlich nachzudenken; aber über die Verwendung der vierzigtausend Rubel Landschaftsgelder mitzuberaten oder über den halb blödsinnigen Aljoschka zu Gericht zu sitzen, dafür habe ich kein Verständnis, und dazu bin ich nicht imstande.«
[16] Konstantin Ljewin sprach, als ob ein Damm, der seine Worte bisher gehemmt hatte, plötzlich gebrochen wäre. Sergei Iwanowitsch lächelte.
»Aber es kann doch kommen, daß du selbst morgen vor Gericht gezogen wirst; nun, würde es dir dann an genehmer sein, von dem alten Kriminalgericht abgeurteilt zu werden?«
»Ich werde nicht vor Gericht gezogen werden. Ich schneide niemandem den Hals ab und habe kein Gericht nötig. Weißt du«, fuhr er fort und sprang wieder auf etwas ganz Fremdartiges über, »unsere landschaftlichen Einrichtungen und was so drum und dran hängt, das kommt mir alles gerade so vor wie die Birkenstämmchen, die wir zu Pfingsten in die Erde zu stecken pflegten, damit es aussehen sollte wie ein Wäldchen, und ich kann diese Birkenstämmchen nicht von Herzen begießen und nicht an ihr Fortkommen glauben.«
Sergei Iwanowitsch zuckte nur mit den Achseln, um durch diese Gebärde seine Verwunderung darüber auszudrücken, woher in aller Welt auf einmal diese Birkenstämmchen in ihre Erörterungen hineingeraten seien, obwohl er sofort verstanden hatte, was sein Bruder damit sagen wollte.
»Entschuldige, aber auf diese Weise ist keine Auseinandersetzung möglich«, bemerkte er. Aber Konstantin Ljewin legte Wert darauf, sich wegen jenes Mangels zu rechtfertigen, den er an sich kannte, nämlich wegen seiner Gleichgültigkeit gegen das Wohl der Gesamtheit, und fuhr fort:
»Ich glaube«, sagte er, »daß keine Tätigkeit dauerhaft und ersprießlich sein kann, wenn sie nicht im persönlichen Interesse wurzelt. Das ist eine allgemeine, eine philosophische Wahrheit!« Er betonte mit Entschiedenheit das Wort »philosophische«, wie wenn er zeigen wollte, daß er wie jeder andere das Recht habe, über Philosophie zu sprechen.
Sergei Iwanowitsch lächelte abermals. ›Auch der da hat so eine Art von eigener Philosophie, die seinen Neigungen dienen muß‹, dachte er.
»Na, weißt du, von der Philosophie bleib lieber davon!« sagte er. »Die Hauptaufgabe der Philosophie aller Zeiten hat gerade darin bestanden, jene notwendige Verbindung zu erkennen, die zwischen dem persönlichen Interesse und dem allgemeinen Interesse besteht. Aber das gehört nicht zur Sache; folgendes jedoch gehört dazu: ich brauche den Vergleich, dessen du dich bedientest, nur ein wenig zu ändern, um ihn für mich zu verwerten. Die Birkenstämmchen, um die es sich hier handelt, sind keineswegs einfach in die Erde hineingestoßen, sondern manche von ihnen sind eingepflanzt, andere aus Samen gezogen, und man[17] muß mit ihnen recht sorgsam und vorsichtig umgehen. Nur die Völker haben eine Zukunft, nur die Völker kann man geschichtliche Völker nennen, die ein deutliches Gefühl dafür haben, was an ihren Einrichtungen von Wichtigkeit und Bedeutung ist und denen diese Einrichtungen lieb und wert sind.«
Und nun trug Sergei Iwanowitsch die Untersuchung auf das philosophisch-historische Gebiet hinüber, auf das ihm Konstantin Ljewin nicht folgen konnte, und wies ihm die ganze Verkehrtheit seiner Ansicht nach.
»Was nun den Umstand anlangt, daß dir diese neuen Einrichtungen nicht gefallen, so liegt das, nimm mir's nicht übel, an unsrer russischen Trägheit und an unserm Herrendünkel; ich bin aber überzeugt, daß das bei dir nur eine zeitweilige Verirrung ist und vorübergehen wird.«
Konstantin schwieg. Er fühlte, daß er auf der ganzen Linie geschlagen war, hatte aber zugleich die Empfindung, daß das, was er hatte sagen wollen, von seinem Bruder nicht verstanden worden war. Er wußte nur nicht, warum es nicht verstanden worden war: ob deshalb, weil er es nicht verstand, seine Meinung klar zum Ausdruck zu bringen, oder weil der Bruder ihn nicht verstehen wollte oder weil er nicht imstande war, ihn zu verstehen. Aber er vertiefte sich nicht weiter in diese Überlegungen, sondern begann, ohne seinem Bruder etwas zu erwidern, über eine ganz andere, ihn persönlich betreffende Angelegenheit nachzudenken.
Sergei Iwanowitsch wickelte die letzte Angel auf, band das Pferd los, und sie fuhren heim.
Die persönliche Angelegenheit, die Ljewin während des Gespräches mit seinem Bruder sich hatte im Kopfe herumgehen lassen, war folgende: als er im vorigen Jahre einmal hinausgefahren war, um das Heumähen zu besichtigen, und sich dabei über den Verwalter hatte ärgern müssen, da hatte er sein beliebtes Beruhigungsmittel angewandt: er hatte einem Bauern die Sense weggenommen und selbst zu mähen angefangen.
Diese Arbeit hatte ihm so gut gefallen, daß er nachher noch mehrmals zu ihr gegriffen hatte; er hatte die ganze Wiese vor dem Hause gemäht und sich in diesem Jahre gleich bei Frühlingsanfang vorgenommen, mehrere volle Tage mit den Bauern zusammen zu mähen. Aber mit der Ankunft des Bruders war er wieder unschlüssig geworden, ob er mähen solle oder nicht. [18] Es war ihm peinlich, den Bruder ganze Tage lang allein zu lassen; auch fürchtete er, der Bruder werde sich wegen dieser Arbeit über ihn lustig machen. Als er jedoch über die Wiese gegangen war und sich der fröhlichen Stimmung erinnert hatte, in die ihn damals das Mähen versetzt hatte, da war er in seinem Vorsatze zu mähen beinahe wieder fest geworden. Nun, nach dem aufregenden Gespräche mit dem Bruder, kam ihm sein Vorhaben wieder ins Gedächtnis.
›Ich bedarf dringend körperlicher Bewegung; sonst verschlechtert sich entschieden mein Charakter‹, sagte er sich und beschloß zu mähen, ohne Rücksicht auf die peinliche Empfindung seinem Bruder und dem Bauernvolke gegenüber.
Am Abend ging Konstantin Ljewin ins Kontor, traf Anordnungen für die bevorstehenden Arbeiten und schickte nach den Nachbardörfern, um für morgen Mäher zu bestellen, damit die Kalinowü-Wiese, die größte und beste von allen, gemäht werden könne.
»Ja, und dann schicken Sie doch auch, bitte, meine Sense zu Tit; er soll sie dengeln und morgen mit hinausbringen; vielleicht mähe ich auch mit«, sagte er, bemüht, seiner Verlegenheit Herr zu werden.
Der Verwalter antwortete lächelnd: »Wie Sie befehlen.«
Abends beim Tee teilte Ljewin es auch seinem Bruder mit.
»Es scheint, wir werden jetzt anhaltend gutes Wetter haben«, sagte er. »Morgen fange ich an zu mähen.«
»Das ist eine Arbeit, die ich sehr gern habe«, erwiderte Sergei Iwanowitsch.
»Ich habe sie außerordentlich gern. Ich habe schon früher manchmal mit den Bauern zusammen gemäht, und morgen habe ich vor, den ganzen Tag zu mähen.«
Sergei Iwanowitsch hob den Kopf in die Höhe und sah seinen Bruder neugierig an.
»Wie meinst du das? Ganz ebenso wie die Bauern, den ganzen Tag?«
»Ja, das macht viel Vergnügen«, antwortete Ljewin.
»Jedenfalls eine vorzügliche körperliche Übung; nur wirst du es schwerlich aushalten können«, erwiderte Sergei Iwanowitsch ohne allen Spott.
»Ich habe es schon versucht. Am Anfang ist es ja schwer; nachher findet man sich hinein. Ich denke, ich werde hinter den andern nicht zurückbleiben ...«
»Na so was! Aber sag mal, was machen denn die Bauern dazu für Gesichter? Die spötteln gewiß darüber, daß der Herr solche sonderbaren Einfälle hat?«
[19] »Nein, das glaube ich nicht; und dann ist es auch eine so lustige und zugleich eine so schwere Arbeit, daß man gar keine Zeit hat, sich Gedanken zu machen.«
»Aber wie wirst du es denn mit dem Mittagessen halten, wenn du da mit ihnen zusammen bist? Dir eine Flasche Lafitte und eine gebratene Pute hinschicken zu lassen, würde doch nicht recht passend sein.«
»Nein; während ihrer Ruhepausen will ich nach Hause kommen, sonst nicht.«
Am andern Morgen stand Konstantin Ljewin früher als sonst auf; aber allerlei Wirtschaftssachen hielten ihn auf, und als er auf seinem Pferde zur Wiese hinauskam, gingen die Mäher schon in der zweiten Reihe.
Schon von der Anhöhe aus erblickte er unter sich den im Schatten liegenden, bereits gemähten Teil der Wiese mit den grauen, durch das Mähen entstandenen Streifen und mit schwarzen Haufen, die von den Röcken der Mäher gebildet wurden; die Mäher hatten ihre Röcke an der Stelle niedergelegt, wo sie die erste Reihe begonnen hatten.
In dem Maße, wie er näher kam, wurden ihm immer deutlicher die Bauern sichtbar, die in langgestreckter Reihe einer hinter dem andern einherschritten und in verschiedener Art die Sensen schwangen; manche hatten die Röcke anbehalten, andere waren in Hemd und Hose. Er zählte ihrer zweiundvierzig Mann.
Sie bewegten sich langsam über den unebenen Wiesengrund hin, wo ehemals ein Teich gewesen war. Einige von seinen eigenen Bauern erkannte Ljewin. Da war der alte Jermil, der ein sehr langes weißes Hemd (nach Bauernsitte über der Hose) trug und sich bei jedem Schwunge der Sense tief bückte; da war der junge Wasili, Ljewins früherer Kutscher, der bei jedem Streiche weit ausholte. Da war auch Tit, in der Kunst des Mähens Ljewins Berater, ein kleines, mageres Männchen. Er schritt, ohne sich zu bücken, als erster vor den anderen dahin und schnitt, als ob er mit der Sense spiele, seine breite Reihe nieder.
Ljewin stieg vom Pferde, band es neben dem Wege an und begab sich zu Tit, der aus einem Busche eine zweite Sense hervorholte und ihm hinreichte.
»Sie ist in Ordnung, Herr, scharf wie ein Rasiermesser; sie mäht ganz von selbst«, sagte Tit, indem er lächelnd die Mütze abnahm und ihm die Sense übergab.
Ljewin nahm die Sense und holte ein paarmal damit aus. Nach Beendigung ihrer Reihen traten die schweißbedeckten Mäher einer nach dem andern fröhlich auf den Weg und begrüßten, ein wenig spöttisch lächelnd, ihren Herrn. Sie blickten [20] ihn alle an; aber keiner sagte etwas, bis ein hochgewachsener Alter, mit runzligem, bartlosem Gesichte, in einer Jacke von Schaffell, auf den Weg heraustrat und sich an ihn wandte:
»Vergiß nicht, Herr: wer angefangen hat, muß auch bis zu Ende durchhalten!« sagte er, und Ljewin hörte ein unterdrücktes Lachen unter den Mähern.
»Ich werde mir Mühe geben, nicht zurückzubleiben«, antwortete er, stellte sich hinter Tit auf und wartete auf den neuen Beginn der Arbeit.
»Vergiß nicht, was ich gesagt habe«, sagte der Alte noch einmal.
Tit machte einen Platz frei, und Ljewin trat hinter ihn. Das Gras neben dem Wege war, wie in der Regel, niedrig, und Ljewin, der lange nicht gemäht hatte und den die vielen auf ihn gerichteten Blicke befangen machten, mähte in den ersten Augenblicken schlecht, obgleich er kräftig ausholte. Hinter sich hörte er Stimmen:
»Er setzt die Sense ungeschickt an; der Stiel liegt zu hoch; sieh mal, wie er sich bücken muß«, sagte einer.
»Drück mehr mit dem Sensenhacken an!« ermahnte ihn ein andrer.
»Schadet nichts! Laß nur gut sein, er wird schon in Zug kommen«, meinte der Alte. »Sieh nur, wie er drauflosgeht! ... Du nimmst den Strich zu breit, du wirst müde werden ... Ja, ja, es heißt ganz richtig: wenn sich der Gutsherr plagt, so hat er den Segen davon! Aber sieh mal, was hast du für einen Kamm stehen lassen! Dafür könnte unsereiner einen Buckel voll Prügel besehen.«
Jetzt kamen sie in weicheres Gras, und Ljewin, der auf die Bemerkungen hörte, aber nicht antwortete, ging immer hinter Tit her und gab sich Mühe, möglichst gut zu mähen. Sie hatten ungefähr hundert Schritte zurückgelegt. Tit ging stets gleichmäßig vorwärts, ohne stehenzubleiben und ohne die geringste Müdigkeit merken zu lassen; bei Ljewin aber regte sich bereits die Besorgnis, ob er auch werde bis zu Ende aushalten können, so müde war er schon.
Er fühlte, daß er die Sense mit seiner letzten Kraft schwang, und beschloß, Tit zu bitten, daß er anhalten möchte. Aber in diesem Augenblick blieb Tit von selbst stehen, bückte sich, nahm eine Handvoll Gras, wischte die Sense ab und begann sie zu wetzen. Ljewin reckte sich zurecht und blickte sich, tief aufatmend, um. Hinter ihm kam ein Bauer, der offenbar ebenfalls müde geworden war; denn er blieb sogleich, ohne zu Ljewin ganz heranzukommen, stehen und machte sich an das Wetzen. [21] Tit wetzte seine eigene Sense und die Sense Ljewins, und dann gingen sie weiter.
Bei diesem zweiten Angriff wiederholte sich derselbe Vorgang. Tit schritt, einen Hieb nach dem andern führend, dahin, ohne stehenzubleiben und ohne müde zu werden. Ljewin ging hinter ihm her und gab sich alle Mühe, nicht zurückzubleiben, und es wurde ihm immer schwerer und schwerer: es kam der Augenblick, wo er fühlte, daß er keine Kraft mehr hatte; aber gerade in diesem Augenblicke blieb Tit stehen und wetzte.
So mähten sie die erste Reihe herunter. Diese lange Reihe hatte Ljewin besonders schwer gefunden. Aber dafür fühlte er sich auch sehr glücklich, als sie an das Ende der Reihe gelangt waren und Tit die Sense auf die Schulter nahm und langsamen Schrittes auf den Stapfen zurückging, die seine Stiefelhacken auf dem gemähten Streifen hinterlassen hatten, und er, Ljewin, ebenso auf dem von ihm gemähten Streifen zurückging. Und seine frohe Stimmung wurde auch dadurch nicht beeinträchtigt, daß ihm der Schweiß nur so über das Gesicht strömte und von der Nase tropfte und sein ganzer Rücken so naß war, als wenn er im Wasser gelegen hätte. Namentlich freute er sich darüber, daß er jetzt wußte, er werde bis zu Ende aushalten können.
Getrübt wurde sein Vergnügen nur dadurch, daß seine Reihe nicht gut ausgefallen war. ›Ich will weniger mit dem Arm schwingen und mehr mit dem ganzen Oberkörper‹, dachte er, als er Tits schnurgerade gemähte Reihe mit seiner eigenen zackig und ungleichmäßig daliegenden Reihe verglich.
Bei der ersten Reihe war Tit, wie Ljewin bemerkte, besonders schnell vorwärts gegangen, wohl um den Herrn auf die Probe zu stellen, und diese Reihe war gerade besonders lang gewesen. Die folgenden Reihen wurden Ljewin schon leichter; aber er mußte trotzdem alle seine Kräfte anspannen, um nicht hinter den Bauern zurückzubleiben.
Er hatte keinen andern Gedanken und keinen anderen Wunsch, als nicht hinter den Bauern zurückzubleiben und die Arbeit so gut wie möglich auszuführen. Er hörte nichts als das Zischen der Sensen und sah nur vor sich die gerade aufgerichtete, von ihm wegschreitende Gestalt Tits, den ausgebuchteten Halbkreis, den der Sensenhieb auf der Wiese bildete, die langsam und wellenartig sich neigenden Gräser und Blumenköpfchen an der Schneide seiner Sense und in einiger Entfernung das Ende der Reihe, wo die Ruhepause eintreten würde.
Ohne sich Rechenschaft geben zu können, was das war und woher es kam, empfand er auf einmal mitten in der Arbeit ein angenehmes Gefühl von Kühle an seinen heißen, schweißbedeckten [22] Gliedern. Er blickte nach dem Himmel hinauf, während seine Sense gewetzt wurde. Eine tief herabhängende, schwere Wolke war herbeigezogen und schickte einen tüchtigen Regen herab. Manche von den Bauern gingen zu ihren Röcken hin und zogen sie an; andere regten gerade wie Ljewin nur erfreut die Schultern bei der angenehmen Erfrischung.
Eine Reihe nach der andern legten sie so zurück. Lange und kurze Reihen folgten aufeinander, mit gutem und mit schlechtem Grase. Ljewin hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren und wußte schlechterdings nicht, ob es jetzt spät oder früh war. In seiner Arbeit vollzog sich jetzt eine Veränderung, die ihm einen außerordentlichen Genuß gewährte. Mitten in der Arbeit kamen ihm Minuten, in denen er vollständig vergaß, was er tat; er fühlte sich so leicht, und gerade in solchen Minuten fiel seine Reihe fast ebenso schön und gleichmäßig aus wie die Reihe Tits. Aber sobald er sich wieder dessen bewußt wurde, was er tat, und anfing, sich Mühe zu geben, um es recht gut zu machen, empfand er sofort den ganzen schweren Druck der Arbeit, und die Reihe fiel schlecht aus.
Als er so wieder einmal eine Reihe hinter sich gebracht hatte, wollte er die folgende in Angriff nehmen; aber Tit blieb stehen, trat an den Alten heran und sprach leise etwas mit ihm. Beide blickten nach der Sonne. ›Wovon mögen sie wohl reden, und warum macht er sich nicht an die nächste Reihe?‹ dachte Ljewin, ohne darauf zu verfallen, daß die Bauern bereits ohne Unterbrechung nicht weniger als vier Stunden gemäht hatten und nun ihre Frühstückszeit da war.
»Nun wollen wir frühstücken, Herr!« sagte der Alte.
»Ist es denn schon Zeit? Na schön, dann tut das!«
Ljewin übergab Tit seine Sense und ging mit den Bauern, die zu ihren Röcken gingen, um ihr Brot herauszuholen, über die leicht vom Regen übersprühten Schwaden der langen abgemähten Fläche zu seinem Pferde. Erst jetzt wurde er sich darüber klar, daß seine Wettervoraussage falsch gewesen war und der Regen ihm sein Heu naß gemacht hatte.
»Der Regen wird das Heu verderben«, sagte er.
»Nein, Herr, der schadet nicht«, erwiderte der Alte. »Mähe, wenn der Himmel weint; harke, wenn die Sonne scheint.«
Ljewin band das Pferd los und ritt nach Hause, um Kaffee zu trinken.
Sergei Iwanowitsch war soeben aufgestanden. Nachdem Ljewin Kaffee getrunken hatte, ritt er gleich wieder nach der Wiese hinaus, noch ehe Sergei Iwanowitsch mit seiner Toilette fertig geworden und ins Eßzimmer gekommen war.
Nach dem Frühstück erhielt Ljewin in der Reihe der Mäher seinen Platz nicht mehr an der früheren Stelle, sondern zwischen jenem spaßliebenden Alten, der ihn gleich anfangs ermahnt und jetzt aufgefordert hatte, sein Nebenmann zu werden, und einem jungen Bauern, der sich erst im Herbst verheiratet hatte und für den dies der erste Sommer war, wo er an der Heuernte teilnahm.
Der Alte schritt in gerader Haltung voraus; gleichmäßig und breit setzte er die etwas auswärts gedrehten Füße von einer Stelle auf die andere, und mit einer genauen, sich unverändert wiederholenden Bewegung, die ihn anscheinend nicht mehr Mühe kostete als das Schlenkern mit den Armen beim Gehen, legte er wie spielend einen gleichmäßigen, hohen Schwaden nieder. Es war nicht, als ob er arbeitete, sondern als ob die scharfe Sense ganz von selbst durch das saftige Gras zischte.
Hinter Ljewin ging der junge Michail. In seinem hübschen, jugendlichen Gesichte, über dem er um die Haare ein aus frischem Grase gedrehtes Seil gebunden hatte, arbeiteten alle Muskeln vor Anstrengung mit; aber sobald man ihn ansah, lächelte er. Er war augenscheinlich bereit, eher zu sterben, als daß er zugestanden hätte, daß ihm die Arbeit schwerfalle.
Ljewin ging zwischen den beiden. Gerade in der größten Hitze erschien ihm das Mähen nicht so anstrengend. Der Schweiß, der an ihm herunterfloß, kühlte ihn ab, und die Sonne, die ihm auf dem Rücken, dem Kopfe und den bis zum Ellbogen entblößten Armen brannte, verlieh ihm Kraft und Ausdauer bei der Arbeit; und immer häufiger stellte sich bei ihm jener mehrere Minuten währende bewußtlose Zustand ein, in dem er gar nicht an das dachte, was er tat. Die Sense mähte ganz von selbst. Das waren glückliche Augenblicke. Noch vergnüglicher waren die Augenblicke, wenn sie an den Fluß gelangten, auf den die Reihen stießen, und dann der Alte mit einem festen, nassen Grasbüschel die Sense abwischte, ihre stählerne Klinge in dem frischen Wasser das Flusses abspülte, den Wetzsteinköcher vollschöpfte und ihn Ljewin zum Trinken anbot.
»Na, trink mal von meinem Kwaß! Der schmeckt! He?« sagte er mit den Augen zwinkernd.
Und in der Tat hatte Ljewin noch nie ein Getränk mit solchem Genuß geschlürft wie dieses laue Wasser mit dem darin schwimmenden Grün und dem Rostgeschmack von der Blechdose. Und gleich darauf folgte das glückselige, langsame Dahinschlendern mit der Sense im Arm, wobei man sich den herabrinnenden Schweiß abtrocknen, aus vollster Brust Atem holen und die [24] ganze, sich lang hinziehende Reihe der Mäher, und alles, was ringsum im Walde und auf dem Felde geschah, betrachten konnte.
Je länger Ljewin mähte, um so häufiger wurden für ihn diese Zeiten der Selbstvergessenheit, wo nicht mehr die Hände die Sense schwangen, sondern die Sense selbst hinter sich den ganzen, von Bewußtsein und Leben erfüllten Körper bewegte und die Arbeit, ohne daß er an sie dachte, wie durch Zauberei ordnungsmäßig und regelrecht ganz von selbst vor sich ging. Das waren die glückseligsten Augenblicke.
Schwer wurde es nur dann, wenn es erforderlich war, diese unbewußt gewordene Bewegung zu unterbrechen und zu denken, wenn zum Beispiel ein bewachsener Erdhöcker oder eine nicht ausgejätete Sauerampferstaude ummäht werden mußte. Der Alte bewerkstelligte das mit größter Leichtigkeit. Kam er an einen Höcker, so änderte er die Bewegung und mähte bald mit dem Sensenhacken, bald mit dem spitzen Ende den Höcker von beiden Seiten mit kurzen Hieben rein. Und während er dergleichen tat, sah und beobachtete er doch alles, worauf er traf; bald pflückte er eine Siegwurz ab und aß sie auf oder gab sie Ljewin zum Essen, bald warf er mit dem spitzen Ende der Sense einen Zweig beiseite, bald betrachtete er ein Wachtelnest, von dem das Weibchen erst dicht unter der Sense aufgeflogen war, bald fing er eine kleine Schlange, die ihm in den Weg kam, hob sie, wie auf einer Gabel, mit der Sense in die Höhe, zeigte sie Ljewin und schleuderte sie zur Seite.
Sowohl Ljewin wie dem jungen Burschen hinter ihm fielen solche Veränderungen der Bewegungen schwer. Sie befanden sich beide, nachdem sie sich einmal in eine bestimmte kräftige Bewegung eingearbeitet hatten, in einer Art von Arbeitswut und waren nicht imstande, die Bewegung zu verändern und gleichzeitig auch noch zu beobachten, was vor ihnen war.
Ljewin merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Hätte ihn jemand gefragt, wie lange er schon gemäht habe, so würde er gesagt haben: eine halbe Stunde; und doch rückte die Mittagszeit schon heran. Als sie die Reihe zurückgingen, um eine neue anzufangen, lenkte der Alte Ljewins Aufmerksamkeit auf eine Menge kleiner Mädchen und Knaben, die von verschiedenen Seiten her, kaum sichtbar, durch das hohe Gras und auf dem Wege nach den Mähern hinstrebten und Bündel mit Brot sowie oben mit Lappen verstopfte Krüge mit Kwaß schleppten, so daß die Last ihnen die schwachen Ärmchen herunterzog.
»Sieh mal, da kommen die Käferchen angekrochen!« sagte er, indem er auf sie hinzeigte, und blickte, die Augen mit der Hand beschützend, nach der Sonne.
[25] Sie erledigten noch zwei Reihen dann blieb der Alte stehen.
»Na, Herr, jetzt kommt das Mittagessen!« sagte er in entschiedenem Tone. Und sobald die Mäher beim Flusse angelangt waren, begaben sie sich über die Schwaden hinweg zu ihren Röcken, wo die Kinder, die das Mittagessen gebracht hatten, saßen und auf sie warteten. Die Bauern setzten sich zusammen, die von weiter her gekommen in den Schatten ihrer Wagen, die aus der Nähe stammenden unter Weidengebüsch, über das sie Gras geworfen hatten.
Ljewin setzte sich zu ihnen; er hatte keine Lust wegzureiten.
Alle Befangenheit vor dem Herrn war schon längst verschwunden. Die Bauern schickten sich an, ihre Mahlzeit einzunehmen. Manche wuschen sich; von den jüngeren Männern badeten einige im Flusse; andere machten sich ihr Ruheplätzchen zurecht, banden die Brotbündel auf und öffneten die Krüge mit Kwaß. Der Alte brockte Brot in eine Schüssel mit Wasser, zerdrückte es mit dem Löffelstiel, goß noch Wasser aus dem Wetzsteinköcher hinzu, schnitt noch etwas Brot hinein und streute Salz dazu; dann wandte er sich nach Osten, um zu beten.
»Nun, wie ist's, Herr? Willst du meine Brotsuppe kosten?« fragte er und ließ sich vor seiner Schüssel auf die Knie nieder.
Die Brotsuppe war so schmackhaft, daß Ljewin seine Absicht, nach Hause zu reiten, um dort zu Mittag zu essen, aufgab. Er aß mit dem Alten zusammen und unterhielt sich mit ihm über dessen häusliche Angelegenheiten, die sein lebhaftes Interesse erregten; auch teilte er von seinen eigenen Angelegenheiten dem Alten allerlei mit, was diesen interessieren konnte. Er fühlte sich ihm näher als seinem Bruder, und die Zuneigung, die er gegen diesen Menschen empfand, rief auf seinem Gesicht unwillkürlich ein freundliches Lächeln hervor. Als der Alte dann wieder aufstand, sein Gebet verrichtete und sich gleich an derselben Stelle unter dem Busche niederlegte, wobei er einen Haufen Gras als Kopfkissen benutzte, da legte sich Ljewin gleichfalls hin, und trotz der lästigen Fliegen und Käfer, die bei dem hellen Sonnenschein besonders zudringlich waren und ihn an dem schweißbedeckten Gesicht und am übrigen Körper kitzelten, schlief er sofort ein und erwachte erst, als die Sonne nach der anderen Seite des Busches herumgegangen war und ihn mit ihren Strahlen traf. Der Alte schlief schon längst nicht mehr; er saß aufrecht da und dengelte die Sensen der jüngeren Leute.
Ljewin blickte rings um sich und erkannte den Ort gar nicht wieder; so sehr hatte sich alles verändert. Die gewaltige Fläche der Wiese war abgemäht und schimmerte mit ihren bereits stark duftenden Schwaden geschnittenen Grases, von den schrägen [26] Strahlen der Abendsonne beleuchtet, in einem eigentümlichen neuen Glanze. Die durch das Mähen freigelegten Büsche am Flusse und der Fluß selbst, der vorher nicht sichtbar gewesen war, aber jetzt wie Stahl in seinen Krümmungen glänzte, und die Mäher, die sich wieder regten und aufstanden, und die steile Graswand an dem noch nicht gemähten Teile der Wiese, und die Habichte, die über der kahlen Wiese kreisten: alles das bot ein ganz neues Bild dar. Als Ljewin seine Gedanken wieder gesammelt hatte, begann er zu überlegen, wieviel bereits gemäht sei und wieviel an diesem Tage noch geschafft werden könne.
Die geleistete Arbeit war für zweiundvierzig Mann außerordentlich groß. Die ganze große Wiese, an der früher zur Zeit der Fronarbeit dreißig Sensen zwei Tage lang gemäht hatten, war schon abgemäht; ungemäht waren nur die Ecken mit kurzen Reihen übrig. Aber Ljewin hatte den dringenden Wunsch, daß an diesem Tage möglichst viel gemäht werden möchte, und ärgerte sich über die Sonne, die sich so schnell hinabsenkte. Er verspürte keine Müdigkeit; er wünschte nur, daß noch recht schnell recht viel geschafft werden möchte.
»Nun, wie denkst du darüber? Mähen wir noch die Maschkin-Höhe?« fragte er den Alten.
»Wie Gott will; hoch steht die Sonne ja nicht mehr. Du gibst doch wohl den Leuten ein Schnäpschen?«
Während des Vesperbrotes, als die Mäher sich wieder hingesetzt und die Raucher zu rauchen angefangen hatten, verkündete der Alte den Leuten: »Wenn die Maschkin-Höhe noch fertiggemäht wird, gibt's Schnaps.«
»Nanu! Warum sollten wir die nicht fertigkriegen? Los, Tit! Das schaffen wir schnell! Essen können wir noch in der Nacht. Los!« riefen sie durcheinander, und während die Mäher noch ihr Brot zu Ende kauten, traten sie schon wieder an.
»Na, Kinder, haltet euch dran!« rief Tit und mähte fast im Trabe als erster los.
»Zu! Zu!« rief der Alte, der eilig hinter ihm herschritt und ihn mühelos einholte. »Nimm dich in acht, ich werde dich schneiden!«
Jung und alt mähte um die Wette. Aber obgleich sie so eilten, verdarben sie doch das Gras nicht, und die Schwaden wurden ebenso sauber und ordentlich hingelegt wie vorher. Die letzte noch übrige Ecke wurde in fünf Minuten erledigt. Die letzten Mäher gingen noch in ihren Reihen, als die vordersten schon ihre Röcke über die Schultern nahmen und über den Weg hinüber nach der Maschkin-Höhe wanderten.
Die Sonne senkte sich schon zu den Bäumen herab, als sie mit ihren klappernden Wetzsteinköchern in die kleine Waldschlucht [27] bei der Maschkin-Höhe kamen. Das Gras reichte ihnen in der Mitte der Schlucht bis an den Gürtel; es war zart und weich und breithalmig, stellenweise im Walde bunt durchwachsen von Stiefmütterchen.
Nach kurzer Beratung, ob man beim Mähen längs oder quer gehen solle, nahm Prochor Jermilin, gleichfalls ein berühmter Mäher, ein riesenhafter, schwarzhaariger Bauer, die Spitze. Er schritt eine Reihe ab, kehrte dann wieder um und mähte ein Stückchen rein, und nun ordneten sich alle hinter ihm in langer Linie; jeder ging zuerst in der Schlucht bergab und stieg dann drüben allmählich den Berg hinan bis an den Saum des Waldes. Die Sonne sank schon hinter den Wald hinab, und es fiel bereits Tau. Nur auf der Höhe waren die Mäher noch in der Sonne; unten hingegen, wo schon die Dünste aufstiegen, und auf der andern Seite gingen sie im frischen, tauigen Schatten. Es wurde mit Aufgebot aller Kraft gearbeitet.
Das mit saftigem Tone abgehauene, würzig duftende Gras legte sich in hohen Schwaden nieder. Bei der Kürze der Reihen drängten sich die Mäher überall; die Wetzsteinköcher klapperten; die aufeinanderstoßenden Sensen klirrten; die Wetzsteine fuhren zischend an den Sensen hin; mit fröhlichen Zurufen trieben die Leute einander wechselseitig zur Eile an.
Ljewin ging auch jetzt wieder zwischen dem jungen Burschen und dem Alten. Der Alte, der seine Schaffelljacke wieder angezogen hatte, war noch ebenso lustig, spaßliebend und leichtbeweglich wie vorher. Im Walde stießen sie fortwährend auf Birkenpilze, die in dem saftigen Grase üppig gewachsen waren und nun von den Sensen zerschnitten wurden. Aber der Alte bückte sich jedesmal, wenn er auf einen Pilz stieß, und schob ihn sich an der Brust unter das Hemd. »Den bringe ich meiner Alten auch noch mit«, sagte er dabei.
So leicht es auch war, das feuchte, weiche Gras zu mähen, so schwierig war es, an den steilen Abhängen der Schlucht hinunter und hinauf zu steigen. Aber dem Alten machte das nichts aus. Immer gleichmäßig die Sense schwingend, stieg er in seinen großen Bastschuhen mit kleinen, festen Schritten langsam die steile Böschung hinan, und obgleich er am ganzen Leibe zitterte und die unter dem Hemde herabgerutschten Hosen schlotterten, ließ er doch auf seinem Wege keinen Grashalm ungemäht und keinen Pilz ungepflückt und machte mit den Bauern und mit Ljewin seine Späßchen ganz wie vorher. Ljewin ging hinter ihm und dachte oft, er werde sicher zu Fall kommen, da er mit der Sense einen Abhang hinanstieg, der so steil war, daß es auch ohne Sense nicht leicht gewesen wäre hinaufzukommen; aber er [28] kam doch hinauf und verrichtete seine Arbeit ordnungsmäßig. Er hatte ein Gefühl, als ob irgendeine äußere Gewalt ihn in Bewegung setzte.
Die Maschkin-Höhe war gemäht, die letzten Reihen fertiggebracht; die Mäher zogen ihre Röcke an und machten sich fröhlich auf den Heimweg. Ljewin setzte sich auf sein Pferd, nahm mit Bedauern von den Bauern Abschied und ritt nach Hause. Vom Berge aus sah er sich noch einmal um: die Leute waren in dem Nebel, der sich aus der Niederung erhob, nicht mehr zu sehen; er hörte nur ihre munteren, derben Stimmen, ihr Lachen und den Klang der aneinanderstoßenden Sensen.
Sergei Iwanowitsch hatte schon längst seine Mittagsmahlzeit beendet, trank auf seinem Zimmer Zitronenlimonade mit Eis und sah dabei die soeben von der Post gekommenen Zeitungen und Zeitschriften durch, als Ljewin zu ihm hereingestürzt kam. Aber wie sah Ljewin aus: die wirren Haare klebten ihm, feucht von Schweiß, an der Stirn; auch die Kleidung an Rücken und Brust war von Schweiß naß und dunkel. Sehr vergnügt rief er seinem Bruder zu:
»Wir haben die ganze Wiese fertigbekommen! Ach, wie schön war das, ganz wundervoll! Und wie hast du den Tag verlebt?« Das gestrige unangenehme Gespräch hatte Ljewin vollständig vergessen.
»Um des Himmels willen, wie siehst du aus!« rief Sergei Iwanowitsch und betrachtete im ersten Augenblick seinen Bruder mit lebhafter Mißbilligung. »Und die Tür, die Tür! Mach doch die Tür zu!« schrie er. »Du hast sicher ein ganzes Dutzend hereingelassen.«
Sergei Iwanowitsch konnte die Fliegen nicht ausstehen; daher öffnete er in seinem Zimmer die Fenster nur des Nachts und hielt die Türen immer sorgsam geschlossen.
»Gott bewahre! Nicht eine einzige! Und wenn ich wirklich welche hereingelassen haben sollte, so werde ich sie dir wieder wegfangen. Du glaubst gar nicht, was das für ein Genuß war! Na, und du, wie hast du denn den Tag verbracht?«
»Oh, ganz gut. Aber hast du wirklich den ganzen Tag gemäht? Ich denke mir, du wirst hungrig sein wie ein Wolf. Dein Kusma hat alles für dich bereitgestellt.«
»Nein, ich habe überhaupt keine Lust zu essen. Ich habe schon da draußen gegessen. Aber ich will gehen und mich waschen.«
[29] »Na, dann geh nur, geh nur; ich werde auch gleich zu dir ins Eßzimmer kommen«, sagte Sergei Iwanowitsch und sah seinen Bruder kopfschüttelnd an. »Geh doch, mach schnell!« fügte er lächelnd hinzu, packte seine Drucksachen zusammen und schickte sich auch seinerseits an, hinauszugehen. Er war selbst auf einmal so vergnügt geworden und mochte sich gar nicht von seinem Bruder trennen. »Aber wo bist du denn während des Regens gewesen?«
»Ach, das war ja eigentlich gar kein Regen! Kaum getröpfelt hat es. Also ich komme sofort. Also du hast den Tag angenehm verbracht? Na, das ist ja prächtig!« Und Ljewin ging fort, um sich umzukleiden.
Fünf Minuten darauf fanden sich die Brüder im Eßzimmer wieder zusammen. Ljewin glaubte zwar gar keinen Appetit zu haben und setzte sich nur, um Kusma nicht zu kränken, an den gedeckten Tisch; aber sobald er zu essen anfing, kamen ihm die Speisen ungewöhnlich schmackhaft vor. Sergei Iwanowitsch sah ihm lächelnd zu.
»Ach ja, es ist auch ein Brief für dich da«, sagte er. »Kusma, bitte, hole ihn doch von unten herauf! Aber vergiß nicht, die Tür ordentlich zuzumachen.«
Der Brief war von Oblonski. Ljewin las ihn laut vor. Oblonski schrieb aus Petersburg: »Ich habe einen Brief von Dolly erhalten; sie ist in Jerguschow und kann da gar nicht zurechtkommen. Bitte, fahre doch einmal zu ihr hin und unterstütze sie mit deinem Rate; du weißt ja mit all solchen Sachen Bescheid. Sie wird sich außerordentlich freuen, dich wiederzusehen. Sie ist da ganz allein, die Ärmste. Meine Schwiegermutter ist mit der übrigen Familie immer noch im Auslande.«
»Das ist ja ausgezeichnet! Ich will auf jeden Fall zu ihr hinüberfahren«, sagte Ljewin. »Oder wir könnten auch beide zusammen hinfahren. Sie ist eine ganz prächtige Frau. Nicht wahr?«
»Sie wohnt wohl nicht weit von hier?«
»Etwa dreißig Werst. Es mögen auch vierzig sein. Aber ausgezeichneter Weg. Wir werden sehr gut fahren.«
»Ich werde mit großem Vergnügen mitkommen«, erwiderte Sergei Iwanowitsch, noch immer lächelnd.
Der Anblick seines jüngeren Bruders versetzte ihn unwillkürlich in eine heitere Stimmung.
»Na, an Appetit fehlt es dir ja nicht!« bemerkte er, während er sein über den Teller gebeugtes braunrot gebranntes Gesicht und den gleichfarbigen Hals betrachtete.
»Es schmeckt mir vorzüglich! Du glaubst gar nicht, welch ein nützliches Gegenmittel gegen alle möglichen Torheiten eine derartige [30] Lebensweise ist. Ich möchte die ärztliche Wissenschaft mit einem neuen terminus technicus bereichern: Arbeitskur.«
»Na, du hast eine solche Kur ja doch wohl nicht nötig.«
»Nein, aber bei allerlei Nervenleiden würde sie gute Dienste tun.«
»Ja, das müßte man praktisch erproben. Ich wollte eigentlich auch zum Mähen nach der Wiese kommen, um dir zuzusehen; aber die Hitze war so unerträglich, daß ich nicht weiter als bis zum Walde gekommen bin. Da habe ich ein Weilchen gesessen und bin dann durch den Wald nach dem Dorfe gegangen; dort traf ich deine alte Amme und sondierte bei ihr ein bißchen über die Ansichten, die die Bauern über dich haben. Soviel ich habe merken können, findet dein Treiben nicht den Beifall der Bauern. Sie sagte: ›Das ist keine Arbeit für einen Herrn.‹ Überhaupt scheint mir, daß in der Auffassung der Bauern die Merkmale der Tätigkeit, die nach ihrer Meinung den Herren zukommt, sehr genau festgestellt sind. Und sie wollen nichts davon wissen, daß die Herren die Grenzen überschreiten, die sie ihnen mit ihrem Begriffsvermögen gesetzt haben.«
»Das mag ja sein; aber ich habe von dieser Arbeit einen solchen Genuß, wie ich ihn in meinem ganzen Leben noch nicht gekostet habe. Und es ist ja doch nichts Böses dabei, nicht wahr?« versetzte Ljewin. »Wenn es ihnen nicht gefällt, kann ich ihnen nicht helfen. Übrigens glaube ich, daß es mit dieser Unzufriedenheit nicht gar so schlimm ist. Wie?«
»Du bist«, fuhr Sergei Iwanowitsch fort, »wie ich sehe, überhaupt mit diesem Tage zufrieden.«
»Sehr zufrieden. Wir haben die ganze Wiese abgemäht. Und mit einem ganz prächtigen alten Manne habe ich mich da angefreundet! Du kannst dir gar keine Vorstellung davon machen, wie nett und interessant das war.«
»Na also, du bist mit deinem heutigen Tagewerk zufrieden. Und ich desgleichen mit dem meinigen. Erstens habe ich zwei Schachaufgaben gelöst, und eine davon war recht hübsch: es wird zuerst ein Bauer gezogen. Ich werde es dir noch zeigen. Und dann habe ich über unser gestriges Gespräch nachgedacht.«
»Worüber? Über unser gestriges Gespräch?« fragte Ljewin. Er kniff nach beendeter Mahlzeit glückselig die Augen zusammen und stöhnte wohlig, vermochte sich aber schlechterdings nicht zu besinnen, was das gestern für ein Gespräch gewesen sein sollte.
»Ich finde, daß du teilweise recht hast. Unsere Meinungsverschiedenheit besteht darin, daß du das persönliche Interesse als die treibende Kraft hinstellst, ich dagegen der Ansicht bin, daß jeder Mensch, der auf einer gewissen Bildungsstufe steht, [31] Interesse für das Gemeinwohl haben muß. Vielleicht hast du darin recht, daß eine durch ein materielles Interesse hervorgerufene Tätigkeit wünschenswerter wäre. Im allgemeinen aber bist du deinem ganzen Wesen nach zu sehr prime-sautier 1, wie die Franzosen sagen: du willst eine leidenschaftliche, kraftvolle Tätigkeit oder gar keine.«
Ljewin hörte seinem Bruder zu, verstand aber gar nichts und wollte auch nichts verstehen. Er fürchtete nur, der Bruder könnte eine Frage an ihn richten, bei der sich dann herausstellen würde, daß er gar nicht aufgepaßt habe.
»Ja, so ist das, mein lieber Konstantin«, sagte Sergei Iwanowitsch und klopfte ihm auf die Schulter.
»Ja, gewiß, selbstverständlich. Ich bin ja nicht auf meine Ansicht versessen«, antwortete Ljewin mit dem Lächeln eines schuldbewußten Kindes. ›Worüber hatten wir eigentlich miteinander gestritten?‹ dachte er. ›Natürlich, ich habe recht, und er hat auch recht, und alles ist in schönster Ordnung.‹ Und laut fuhr er fort: »Ich muß nur noch ins Kontor gehen und allerlei anordnen.« Er stand auf, reckte sich und lächelte.
Sergei Iwanowitsch lächelte gleichfalls.
»Wenn du noch ein bißchen spazierengehen willst, so können wir ja zusammen gehn«, sagte er; denn das Zusammensein mit seinem Bruder, von dem ordentlich ein Hauch von Frische und Tatkraft ausging, machte ihm wirklich Freude. »Komm; wir können ja auch noch zum Kontor gehen, wenn du dahin mußt.«
»Ach, Herrgott!« rief Ljewin so laut, daß Sergei Iwanowitsch erschrocken zusammenfuhr.
»Was hast du, was hast du denn?«
»Was macht denn Agafja Michailownas Hand?« fragte Ljewin und schlug sich gegen die Stirn. »Die hatte ich ja ganz und gar vergessen!«
»Sie ist bedeutend besser.«
»Na, ich will aber doch einmal zu ihr hinlaufen. Ehe du unten deinen Hut aufgesetzt hast, bin ich wieder da.«
Seine Stiefelabsätze schlugen, als er die Treppe hinunterstürmte, so schnell an die Stufen, daß es wie eine Klapper klang.
1 (frz.) naturwüchsig, impulsiv.
Während Stepan Arkadjewitsch nach Petersburg gereist war, um eine ganz selbstverständliche, allen Beamten bekannte, wiewohl den Nichtbeamten unverständliche, unerläßliche Pflicht zu erfüllen, ohne deren Erfüllung man überhaupt nicht Beamter [32] sein kann – nämlich sich im Ministerium in Erinnerung zu bringen –, und während er zur Erfüllung dieser Pflicht fast alles im Hause vorhandene Geld mitgenommen hatte und die Zeit lustig und vergnügt bei Pferderennen und mit Besuchen in den Landhäusern verbrachte: unterdessen war Dolly mit den Kindern aufs Land übergesiedelt, um die Ausgaben nach Möglichkeit zu verringern. Sie war nach dem Gute Jerguschowo gezogen, das sie bei ihrer Verheiratung als Mitgift bekommen hatte, nach ebendem Gute, wo im Frühjahr der Wald verkauft worden war; es lag von Ljewins Gut Pokrowskoje ungefähr fünfzig Werst entfernt.
In Jerguschowo war das große alte Herrenhaus schon seit langer Zeit völlig verfallen, und schon Dollys Vater hatte zum Ersatz ein Nebengebäude vergrößern und einrichten lassen. Dieses Nebengebäude war vor zwanzig Jahren, als Dolly noch ein Kind war, für die Familie geräumig genug und ganz behaglich gewesen, wenn es auch wie alle Nebengebäude der Anfahrtsallee und dem Süden seine Flanke zukehrte. Aber jetzt war dieses Nebengebäude alt und muffig. Schon als Stepan Arkadjewitsch im Frühjahr wegen des Waldverkaufs nach dem Gute gefahren war, hatte ihn Dolly gebeten, das Haus nachzusehen und die erforderlichen Ausbesserungen anzuordnen. Stepan Arkadjewitsch, der, wie alle schuldbewußten Ehemänner, sehr um die Bequemlichkeit seiner Frau besorgt war, hatte das Haus selbst besichtigt und alles, was nach seiner Ansicht nötig war, angeordnet. Nach seiner Auffassung mußten die sämtlichen Möbel mit Kretonne überzogen, Gardinen aufgehängt, der Garten gesäubert, Blumen darin gepflanzt und über den Teich eine kleine Brücke gebaut werden; aber er vergaß viele andere notwendige Dinge, deren Mangel Darja Alexandrowna nachher sehr schmerzlich empfand.
Obgleich sich Stepan Arkadjewitsch die größte Mühe gab, ein sorglicher Vater und Gatte zu sein, so vermochte er doch schlechterdings nicht den Gedanken festzuhalten, daß er eine Frau und Kinder habe. Er hatte die Neigungen eines Junggesellen und richtete sich in seinem ganzen Tun nur nach diesen. Nach Moskau zurückgekehrt, erklärte er seiner Frau voll Stolz, alle Vorbereitungen seien getroffen, das Haus werde wie ein Putzkästchen aussehen, und er rate ihr dringend, dorthin überzusiedeln. Daß seine Frau aufs Land zog, war für Stepan Arkadjewitsch in vieler Hinsicht sehr angenehm und erwünscht: für die Kinder war es gesund, die Ausgaben wurden dadurch geringer, und er selbst fühlte sich dann freier. Darja Alexandrowna ihrerseits war der Ansicht, daß ein Sommeraufenthalt [33] auf dem Lande für die Kinder geradezu notwendig sei, namentlich für das kleine Mädchen, das nach dem Scharlachfieber noch gar nicht wieder zurechtkommen wollte; auch freute sie sich darauf, von all den kleinen Demütigungen erlöst zu werden, den kleinen Schulden beim Holzhändler, beim Fischhändler, beim Schuhmacher; denn diese Schulden waren ihr eine Pein. Außerdem war ihr die Reise aufs Land noch deshalb erwünscht, weil sie ihre Schwester Kitty zu bewegen hoffte, zu ihr aufs Land zu kommen; diese sollte um die Mitte des Sommers aus dem Auslande zurückkehren, und es waren ihr kalte Bäder verordnet worden. Kitty schrieb aus dem Badeorte, nichts könne ihr reizvoller erscheinen, als den Sommer mit Dolly zusammen in Jerguschowo zu verleben, wo alles für sie beide voll von Kindheitserinnerungen sei.
Zuerst hatte Dolly auf dem Lande eine recht schwere Zeit durchzumachen. Sie hatte als Kind auf dem Lande gelebt und sich aus jener Zeit die Vorstellung bewahrt, daß das Leben auf dem Lande eine Erlösung von allen städtischen Unannehmlichkeiten bedeute, daß das Leben dort, wenn auch nicht unterhaltsam (darüber tröstete sich Dolly leicht), so doch dafür billig und bequem sei: man habe da alles, es sei alles billig, alles könne man sich verschaffen, und es tue den Kindern gut. Aber jetzt, wo sie als Hausfrau auf das Land kam, sah sie, daß die Dinge ganz anders lagen, als sie gedacht hatte.
Am Tage nach ihrer Ankunft kam ein gehöriger Platzregen, und in der Nacht kam das Wasser auf dem Vorflur und im Kinderzimmer durch die Decke, so daß die Bettchen in die Wohnstube hinübergetragen werden mußten. Eine Gesindeköchin war nicht vorhanden; von den neun Kühen waren nach Aussage der Viehmagd einige noch Färsen, andere waren mit dem ersten Kalbe trächtig, wieder andere waren schon zu alt oder auch harteutrig. Weder Butter noch Milch war in genügender Menge vorhanden, nicht einmal für die Kinder. Eier gab es nicht. Eine Henne war nirgends zu bekommen; zum Braten und Kochen wurden alte, zähe Hähne mit violettem Fleisch verwendet. Weiber zum Scheuern waren nicht zu haben; sie hatten alle auf den Kartoffelfeldern zu tun. Spazierenzufahren war unmöglich, weil das Deichselpferd stätisch war und in der Gabeldeichsel ausschlug. Auch zum Baden war nirgends eine Möglichkeit; das ganze Ufer des Flusses war vom Vieh zerstampft und lag nach der Landstraße hin frei da. Man konnte nicht einmal im Garten spazierengehen, weil das Vieh durch den zerbrochenen Zaun in den Garten hineinkam, darunter auch ein furchtbarer Stier, der entsetzlich brüllte und von dem man sich daher wohl auch versehen [34] konnte, daß er stieß. Ordentliche Kleiderschränke gab es nicht; die, die da waren, ließen sich nicht zumachen und öffneten sich von selbst, wenn jemand an ihnen vorbeiging. Es mangelte an eisernen und irdenen Kochtöpfen; desgleichen fehlte ein Waschkessel; und in der Mädchenstube fand sich nicht einmal ein Plättbrett.
Als Darja Alexandrowna in dieses von ihrem Standpunkte aus furchtbare Elend hineingeraten war, befand sie sich in der ersten Zeit, statt Ruhe und Erholung zu finden, geradezu in Verzweiflung: sie quälte und plackte sich, soweit ihre Kraft nur irgend reichte; sie fühlte, daß es aus dieser Lage keine Rettung gab, und mußte fortwährend die Tränen zurückdrängen, die ihr in die Augen traten. Der Verwalter, ein ehemaliger Wachtmeister, an dem Stepan Arkadjewitsch wegen seines hübschen Äußeren und seines achtungsvollen Benehmens Gefallen gefunden und den er deshalb vom Pförtner zum Verwalter befördert hatte, zeigte für Darja Alexandrownas Nöte keinerlei Teilnahme; er sagte nur achtungsvoll: »Es ist nichts zu machen; die Leute sind gar zu unbrauchbar«, und leistete ihr nicht die geringste Hilfe.
Die Lage schien hoffnungslos. Aber es gab im Oblonskischen Hause wie in vielen Familien eine wenig hervortretende und doch sehr wichtige und nützliche Persönlichkeit; und das war hier Matrona Filimonowna. Sie beruhigte ihre Herrin, versicherte ihr, es werde sich alles schon wieder »einrenken« (das war ein Lieblingsausdruck bei ihr, und von ihr hatte ihn Matwei erst übernommen), und griff selbst ohne Hast und Aufregung wacker mit zu.
Sie hatte sich sofort an die Frau des Verwalters herangemacht und gleich am ersten Tage mit ihr und dem Verwalter unter den Akazien Tee getrunken und alle möglichen Wirtschaftsangelegenheiten durchgesprochen. Bald bildete sich unter den Akazien ein von Matrona Filimonowna geleiteter Klub, und durch diesen Klub, dessen Mitglieder die Frau des Verwalters, der Dorfschulze und der Gutsschreiber waren, wurden allmählich die Schwierigkeiten des Daseins behoben, und nach einer Woche hatte sich tatsächlich alles »eingerenkt«. Das Dach war ausgebessert, eine Gevatterin des Dorfschulzen als Köchin angenommen; Hühner waren gekauft; die Kühe hatten angefangen Milch zu geben; die Lücken des Gartenzaunes waren durch Stangen geschlossen; der Zimmermann hatte eine Wäschemangel angefertigt; an den Schränken waren Vorlegehaken angebracht, so daß sie sich nicht mehr von selbst öffneten, und ein Plättbrett, mit Zeug von einem Soldatenmantel bezogen, ruhte nun mit[35] dem einen Ende auf einer Stuhllehne, mit dem andern auf einer Kommode, und in der Mädchenstube hatte es angefangen, nach heißen Plätteisen zu riechen.
»Na, sehen Sie wohl? Und Sie waren schon ganz in Verzweiflung«, sagte Matrona Filimonowna, stolz auf das Plättbrett weisend.
Sogar ein Badehäuschen wurde aus Rahmen mit Strohmatten erbaut. Lilly begann zu baden, und Darja Alexandrownas Hoffnung auf ein wenn auch nicht ruhiges, so doch bequemes Leben auf dem Lande ging nun wenigstens teilweise in Erfüllung. Ruhig, wirklich ruhig konnte Darja Alexandrowna mit ihren sechs Kindern überhaupt nicht sein. Das eine wurde krank; ein anderes konnte krank werden; einem dritten fehlte irgend etwas an der Kleidung; ein viertes zeigte Anzeichen eines schlechten Charakters, und so weiter. Zeiten der Ruhe kamen nur äußerst selten vor und waren immer nur von ganz kurzer Dauer. Aber diese Geschäftigkeit und Unruhe bildete für Darja Alexandrowna das einzige mögliche Glück. Wäre ihr Geist nicht in dieser Weise beschäftigt gewesen, so hätte sie nichts weiter gehabt als ihre Gedanken an den Gatten, der sie nicht liebte. Und dazu kam noch dies: wie schwer auch die Befürchtung möglicher Krankheiten, die Krankheiten selbst und der Kummer bei der Wahrnehmung von Anzeichen übler Neigungen der Kinder auf der Mutter lasteten, so vergalten ihr doch schon jetzt die Kinder selbst alle ihre Bekümmernisse durch kleine Freuden. Diese Freuden waren so klein, daß sie leicht unbeachtet blieben wie Goldkörner im Sande, und in schlimmen Augenblicken sah die Mutter nur die Bekümmernisse, den Sand; aber es gab auch gute Augenblicke, in denen sie nur die Freuden sah, nur das Gold.
Jetzt, in der Einsamkeit des Lebens auf dem Lande wurde sie sich dieser Freuden immer öfter und öfter bewußt. Oft, wenn sie ihre Kinder ansah, machte sie alle möglichen Anstrengungen, um sich selbst zu der Überzeugung zu bringen, daß sie sich irre und nach Mutterart von ihren Kindern zu sehr eingenommen sei; aber trotzdem konnte sie nicht umhin, sich zu sagen, daß ihre Kinder doch ganz prächtige Kinder seien, alle sechs, jedes auf andere Art, aber sämtlich Kinder, wie man sie selten findet – und sie war glücklich über sie und stolz auf sie.
Ende Mai, als alles schon mehr oder weniger in Ordnung gekommen war, erhielt Darja Alexandrowna von ihrem Manne eine Antwort auf ihre Klagen über die auf dem Gute vorgefundenen Übelstände. Er bat sie in dem Briefe um Verzeihung, daß er nicht alles bedacht habe, und versprach, sobald sich eine Möglichkeit dazu bieten werde, selbst zu kommen. Aber eine solche Möglichkeit bot sich nicht, und so war sie bis Anfang Juni allein auf dem Gute.
In den Petri-Fasten, an einem Sonntage, fuhr Darja Alexandrowna zur Messe, um mit allen ihren Kindern das Abendmahl zu nehmen. Sie hatte früher in vertraulichen philosophischen Gesprächen mit der Mutter, der zweiten Schwester und Freundinnen diese sehr oft durch den freigeistigen Standpunkt, den sie der Religion gegenüber einnahm, in Erstaunen versetzt. Sie hatte eine eigene, sonderbare Religion für sich und glaubte namentlich ganz fest an eine Seelenwanderung, während sie sich um die Dogmen der Kirche wenig kümmerte. Aber in ihrer eigenen Familie erfüllte sie (und zwar nicht etwa nur, um damit ein Beispiel zu geben, sondern von ganzem Herzen) streng alle Forderungen der Kirche, und der Umstand, daß ihre Kinder ungefähr seit einem Jahr nicht zum Abendmahl gegangen waren, beunruhigte sie sehr, und mit Matrona Filimonownas vollster Zustimmung und Billigung beschloß sie, dies jetzt im Sommer mit den Kindern zu tun.
Darja Alexandrowna überlegte mehrere Tage vorher, was sie allen Kindern anziehen solle. Es wurden Kleider angefertigt, umgeändert und gewaschen, Säume und Stufen ausgelassen, Knöpfe angenäht und Bänder zurechtgemacht. Über Tanjas Kleid, das die Engländerin zu schneidern übernommen hatte, mußte Darja Alexandrowna sich furchtbar ärgern. Die Engländerin hatte beim Umändern die Abnäher an falscher Stelle angebracht, die Armlöcher zu weit ausgeschnitten und das Kleid beinahe vollständig verdorben. Das Kleid saß dem Kinde so schlecht in den Achseln, daß es einem weh tat, wenn man es nur ansah. Aber Matrona Filimonowna kam auf den guten Gedanken, es sollten Keile eingesetzt und dann ein kleiner Überwurf angefertigt werden. Die Sache wurde auf diese Weise in Ordnung gebracht; aber mit der Engländerin hätte es beinahe einen bösen Zank gegeben. Jedoch am Sonntagmorgen war alles fertig und bereit, und um neun Uhr (Darja Alexandrowna hatte den Geistlichen gebeten, mit der Messe bis zu diesem Zeitpunkte zu warten) standen die Kinder, vor Freude strahlend, in ihrem [37] Staate vor der Haustür beim Wagen und warteten auf ihre Mutter.
Vor den Wagen war statt des störrischen »Raben« dank der Fürsprache Matrona Filimonownas der Braune des Verwalters gespannt, und Darja Alexandrowna, die sich mit der Sorge um ihre Kleidung etwas länger aufgehalten hatte, kam nun in einem weißen Musselinkleide heraus und stieg in den Wagen.
Darja Alexandrowna hatte sich mit großer Sorgfalt und nicht ohne innere Erregung frisiert und angekleidet. Früher hatte sie sich um ihrer selbst willen geputzt, um hübsch auszusehen und zu gefallen, aber dann war es ihr, je älter sie wurde, immer unangenehmer geworden, sich zu putzen, weil sie sah, wie unschön sie geworden war. Jetzt indessen hatte sie sich wieder einmal mit Vergnügen und mit einer Art von Aufregung geputzt. Jetzt hatte sie sich nicht um ihrer selbst willen, nicht um schön auszusehen, geputzt, sondern um nicht als Mutter dieser reizenden Kinder den Gesamteindruck zu verderben. Und als sie zum letzten Male in den Spiegel geblickt hatte, war sie mit sich zufrieden gewesen. Sie sah gut aus, nicht in der Weise gut, wie sie früher auf Bällen gut auszusehen gewünscht hatte, aber gut für den Zweck, den sie jetzt im Auge hatte.
In der Kirche war niemand außer einigen Bauern und Gutsknechten mit ihren Weibern. Aber Darja Alexandrowna sah oder glaubte wenigstens zu sehen, daß sie und ihre Kinder das Entzücken aller Anwesenden hervorriefen. Die Kinder waren nicht nur äußerlich schön in ihren festlichen Kleidern, sondern auch ihr artiges Benehmen machte einen sehr hübschen Eindruck. Alexei stand allerdings nicht ganz untadelig da; er drehte sich fortwährend um und wollte sein Jäckchen von hinten sehen; aber er war trotzdem ganz allerliebst. Tanja stand da wie eine Erwachsene und gab auf die Kleinen acht. Aber die Kleinste, Lilly, war geradezu entzückend in ihrem kindlichen Staunen über alles, und es war schwer, ein Lächeln zu unterdrücken, als sie nach Empfang des Abendmahls sagte: »Please, some more. 1«
Bei der Heimfahrt hatten die Kinder das Gefühl, daß etwas Feierliches vor sich gegangen sei, und verhielten sich sehr ruhig und artig.
Auch zu Hause ging zunächst alles gut. Aber beim Frühstück fing Grigori an zu pfeifen, und was das Schlimmste war, er gehorchte der Engländerin nicht; diese teilte ihm daher nichts von der süßen Pastete zu. Darja Alexandrowna hätte es an einem solchen Tage nicht bis zu einer Bestrafung kommen lassen, wenn sie zugegen gewesen wäre; aber sie mußte die Anordnung der Engländerin aufrechterhalten, und so bestätigte sie denn deren [38] Urteil, daß Grigori keine Pastete bekommen solle. Dies brachte in die allgemeine Freude eine kleine Störung.
Grigori weinte und sagte, Nikolai habe auch gepfiffen, und der werde nicht bestraft; und er weinte nicht um die Pastete, das sei ihm ganz egal, sondern weil sie ungerecht gegen ihn seien. Das war nun doch gar zu traurig, und Darja Alexandrowna beschloß, mit der Engländerin über den Fall Rücksprache zu nehmen und dann dem kleinen Grigori zu verzeihen. Sie wollte sich daher zu ihr begeben; aber als sie dabei durch den Saal ging, erblickte sie eine Szene, die ihr Herz mit solcher Freude erfüllte, daß ihr die Tränen in die Augen traten und sie dem Übeltäter ohne weiteres selbst verzieh.
Der Bestrafte saß im Saale auf dem Fensterbrett des Eckfensters; vor ihm stand Tanja mit einem Teller. Unter dem Vorwande, daß sie gern ihren Puppen etwas zu essen bringen möchte, hatte sie sich von der Engländerin die Erlaubnis erbeten, ihre Pastete nach dem Kinderzimmer zu tragen, und hatte sie statt dessen ihrem Bruder gebracht. Während er fortfuhr, über die Ungerechtigkeit der erlittenen Strafe zu weinen, aß er von der Pastete, die ihm Tanja gebracht hatte, und sagte unter Schluchzen: »Iß du auch mit; wir wollen zusammen essen ... beide zusammen.«
Auf Tanja wirkte zunächst das Mitleid mit Grigori, dann auch das Bewußtsein ihrer tugendhaften Tat; beides trieb auch ihr die Tränen in die Augen; aber sie aß, ohne sich zu weigern, ihren Teil.
Beim Anblick der Mutter erschraken sie; aber als sie ihr ins Gesicht sahen, merkten sie, daß ihr Tun günstig aufgefaßt werde, fingen an zu lachen, wischten sich, den Mund noch immer voll Pastete, die lächelnden Lippen mit den Händen ab und beschmierten dabei ihre strahlenden Gesichter über und über mit Tränen und Eingemachtem.
»Um Gottes willen! Das neue weiße Kleid! Tanja! Grigori!« rief die Mutter, bemüht, das Kleid zu retten; aber sie lächelte glückselig und entzückt mit Tränen in den Augen.
Sie ließ den Kindern die neuen Kleider ausziehen, den Mädchen Blusen, den Knaben alte Jäckchen anziehen und den Wagen anspannen (und zwar zum Verdruß des Verwalters wieder mit dem Braunen in der Gabeldeichsel), um mit den Kindern zum Pilzesuchen und nach dem Badehäuschen zu fahren. Ein kreischendes Jubelgeschrei erhob sich im Kinderzimmer und dauerte bis zur Abfahrt fort.
Es wurde ein ganzer Korb voll Pilze gesammelt; sogar Lilly fand einen Birkenpilz. Früher pflegte es dabei so zuzugehen, daß [39] Miß Hull einen Pilz fand und ihn ihr dann zeigte; aber jetzt hatte sie selbst einen großen Birkenpilz gefunden, und es gab ein allgemeines Jubelgeschrei: »Lilly hat einen Birkenpilz gefunden.«
Dann fuhren sie zum Flusse; die Pferde wurden unter die Birken gestellt, und man ging in das Badehäuschen. Der Kutscher Terenti band die Pferde, die sich mit den Schweifen die Bremsen davonscheuchten, an einen Baum, legte sich, das hohe Gras plattdrückend, im Schatten einer Birke nieder und rauchte seinen Bauerntabak; das fröhliche Kreischen der Kinder tönte aus dem Badehäuschen, ohne auch nur einen Augenblick zu verstummen, zu ihm herüber.
Obgleich es viel Mühe machte, alle Kinder zu beaufsichtigen und ihren Mutwillen zu zügeln, und obgleich es eine schwere Aufgabe war, alle diese zu den verschiedenen Beinen gehörigen Strümpfchen, Höschen und Schuhchen im Kopf zu behalten und nicht zu verwechseln, alle die Bändchen und Knöpfchen aufzubinden und aufzuknöpfen, so war doch für Darja Alexandrowna, die selbst immer gern gebadet hatte und es für sehr zuträglich für die Kinder hielt, nichts ein so großer Genuß wie dieses Baden mit allen Kindern zusammen. Alle diese dicken Beinchen anzufassen, indem sie ihnen die Strümpfe auszog, diese nackten Körperchen auf die Arme zu nehmen und ins Wasser zu tauchen und ihr bald fröhliches, bald erschrockenes Kreischen zu hören und diese atemlosen Gesichter mit den weit offenen, ängstlichen, lustigen Augen und alle ihre munter umherspritzenden kleinen Engelchen zu sehen, das war für sie der größte Genuß.
Als schon die Hälfte der Kinder wieder angekleidet war, kamen einige Bauernweiber in ihrem Sonntagsstaat, die ausgegangen waren, um Bärenklau und Bibernell zu suchen, zu dem Badehäuschen und blieben schüchtern an der Tür stehen. Matrona Filimonowna hatte eine von ihnen herbeigerufen, um ihr ein Laken und ein Hemdchen, die ins Wasser gefallen waren, zum Trocknen zu geben, und Darja Alexandrowna ließ sich nun mit den Weibern in ein Gespräch ein. Die Weiber, die anfangs die Fragen nicht verstanden und in die vor den Mund gehaltene Hand hineinlachten, wurden bald dreister und fingen an zu reden; von vornherein gewannen sie Darja Alexandrownas Gunst dadurch, daß sie ihr aufrichtiges Entzücken über die Kinder aussprachen.
»Sieh mal, du nettes Mädel, du bist ja weiß wie Zucker«, sagte die eine, indem sie Tanja bewundernd betrachtete und den Kopf hin und her wiegte. »Aber mager, mager ...«
»Ja, sie ist krank gewesen.«
[40] »Na so was, das Würmchen haben sie auch gebadet«, sagte eine andere mit Bezug auf den Säugling.
»Nein, die ist nicht mit gebadet; sie ist erst drei Monate alt«, antwortete Darja Alexandrowna stolz.
»Ei, sieh mal an!«
»Hast du auch Kinder?«
»Ich habe vier gehabt; zwei sind mir davon am Leben geblieben, ein Knabe und ein Mädchen. Vor den Fasten habe ich das Mädchen entwöhnt.«
»Wie alt ist sie denn?«
»Im zweiten Jahr.«
»Warum hast du sie denn so lange genährt?«
»Das ist bei uns so üblich: drei Fastenzeiten ...«
Und nun wurde das Gespräch für Darja Alexandrowna sehr interessant: wie es mit der Entbindung gegangen sei, was für Krankheiten das Kind durchgemacht habe, wo der Mann sei, ob er viel zu Hause sei.
Darja Alexandrowna mochte sich von den Weibern gar nicht trennen, so lebhaft interessierte sie das Gespräch mit ihnen, so völlig stimmten die beiderseitigen Interessen überein. Am meisten Vergnügen machte es ihr, daß sie deutlich sah, wie sie von all diesen Frauen besonders deswegen angestaunt und bewundert wurde, weil sie so viele und so hübsche Kinder hatte. Auch brachten die Weiber Darja Alexandrowna durch ihr Erstaunen über die Engländerin zum Lachen, während diese sich gekränkt fühlte, weil sie sah, daß man über sie lachte, ohne daß sie den Grund begriff. Eine der jungen Frauen nämlich beobachtete die Engländerin, die sich zuletzt nach den andern wieder ankleidete, und als diese sich nun schon den dritten Unterrock anzog, konnte sich die Bauernfrau einer Bemerkung nicht enthalten: »Seht mal bloß, sie zieht sich einen Rock nach dem andern an, immer mehr, und wird nie fertig!« sagte sie, und alle brachen in lautes Gelächter aus.
1 (engl.) Etwas mehr, bitte.
Umgeben von all ihren frisch gebadeten Kindern mit den nassen Köpfen, war Darja Alexandrowna, die sich ein Tuch um den Kopf gebunden hatte, bei der Heimfahrt schon nicht mehr weit von ihrem Hause entfernt, als der Kutscher zu ihr sagte: »Da kommt ein Herr gegangen; ich glaube, es ist der aus Pokrowskoje.«
Darja Alexandrowna blickte nach vorn und freute sich, als sie in grauem Überrock und mit grauem Hute die wohlbekannte [41] Gestalt Ljewins erblickte, der ihnen entgegenkam. Sie freute sich ja auch sonst immer, wenn sie mit ihm zusammentraf; aber augenblicklich war es ihr besonders lieb, daß er sie in ihrer ganzen mütterlichen Herrlichkeit zu sehen bekam. Und in der Tat konnte niemand dies verständnisvoller würdigen als Ljewin.
Als er sie erblickte, meinte er eines jener Bilder vor sich zu sehen, wie er sie sich über sein eigenes zukünftiges Familienleben ausgemalt hatte.
»Sie sehen ja ganz wie eine Gluckhenne aus, Darja Alexandrowna.«
»Ach, wie freue ich mich«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen.
»So! Sie sagen, Sie freuen sich, und haben mich gar nicht wissen lassen, daß Sie jetzt hier wohnen. Ich habe meinen Bruder zu Besuch. Eben erst habe ich von Stiwa die Nachricht erhalten, daß Sie hier sind.«
»Von Stiwa?« fragte Darja Alexandrowna verwundert.
»Ja, er schreibt, daß Sie hierher übergesiedelt seien, und meint, Sie würden mir erlauben, Ihnen in der einen oder andern Weise behilflich zu sein«, erwiderte Ljewin; aber sobald er das gesagt hatte, wurde er plötzlich verlegen, brach ab und ging nun schweigend neben dem Wagen her, wobei er junge Lindentriebe abriß und an ihnen herumkaute. Was ihn verlegen gemacht hatte, war der Gedanke, es könne Darja Alexandrowna unangenehm sein, daß ein Fremder ihr Hilfe anbiete in einer Sache, die eigentlich ihr Mann hätte in Ordnung bringen müssen. Und in der Tat fand Darja Alexandrowna diese Art Stepan Arkadjewitschs nicht sehr passend, Geschäfte, die ihm im Interesse seiner Familie oblagen, Fremden aufzuladen. Und sie merkte sofort, daß Ljewin das durchschaute. Eben wegen dieser Feinheit des Verständnisses und wegen dieses Zartgefühls mochte sie ihn so gern leiden.
»Ich habe mir natürlich gesagt«, fuhr Ljewin endlich fort, »daß das nur bedeuten sollte, Sie wünschten mich zu sehen, und habe mich sehr darüber gefreut. Ich kann mir selbstverständlich denken, daß Ihnen, Ihrem städtischen Haushalte gegenüber, hier manches fremd vorkommt, und wenn Sie irgend etwas bedürfen sollten, so stehe ich ganz zu Ihren Diensten.«
»O nein, danke«, erwiderte Dolly. »In der ersten Zeit gab es allerdings manche Unbequemlichkeit; aber jetzt ist alles wunderschön in Ordnung gekommen; das ist das Verdienst meiner alten Kinderfrau«, fügte sie hinzu und wies auf Matrona Filimonowna. Diese merkte, daß von ihr die Rede sei, und lächelte Ljewin vergnügt und freundlich zu. Sie kannte ihn und wußte, [42] daß das ein guter Mann für das Fräulein wäre, und wünschte, daß die Sache zustande käme.
»Belieben Sie sich in den Wagen zu setzen; wir rücken hier ein bißchen zusammen«, sagte sie zu ihm.
»Danke, ich gehe lieber. Kinder, wer kommt zu mir her? Dann wollen wir mit den Pferden um die Wette laufen.«
Die Kinder kannten Ljewin nur sehr wenig und erinnerten sich nicht, wann sie ihn wohl gesehen haben mochten; aber sie zeigten ihm gegenüber nicht jene auffällige Scheu und Abneigung, die Kinder sich verstellenden Erwachsenen gegenüber so oft bekunden und wofür sie so oft streng gescholten werden. Verstellung auf irgendwelchem Gebiete kann den klügsten, scharfsichtigsten Mann täuschen; aber das beschränkteste Kind erkennt sie, mag sie auch noch so kunstvoll versteckt sein, und wendet sich voll Widerwillen ab. Ljewin mochte ja sonst viele Mängel an sich haben, aber von Heuchelei war keine Spur an ihm, und daher bezeigten ihm die Kinder dieselbe Freundlichkeit, die sie auf dem Gesichte der Mutter wahrnahmen. Auf seine Aufforderung sprangen die beiden ältesten sofort zu ihm hinunter und liefen mit ihm ebenso unbefangen, wie sie es mit der Kinderfrau oder mit Miß Hull oder mit der Mutter getan hätten. Auch Lilly wollte gern zu ihm hin, und die Mutter reichte sie ihm hinaus; er setzte sie sich auf die Schulter und lief so mit ihr.
»Haben Sie keine Angst, haben Sie keine Angst, Darja Alexandrowna!« rief er der Mutter heiter lächelnd zu. »Es ist ganz unmöglich, daß ich ihr weh tue oder sie fallen lasse.«
Und da sie sah, mit welcher Kraft und Behendigkeit, mit welcher sorglichen Achtsamkeit, ja übermäßigen Vorsicht er sich beim Laufen bewegte, beruhigte sich die Mutter und lächelte ihm gleichfalls vergnügt und beifällig zu.
Hier auf dem Lande und im Verkehr mit den Kindern und der ihm sehr sympathischen Darja Alexandrowna kam Ljewin in jene, bei ihm nicht seltene, kindlich fröhliche Gemütsstimmung hinein, die Darja Alexandrowna an ihm ganz besonders gern hatte. Während er mit den Kindern lief, gab er ihnen turnerische Anweisungen, brachte zugleich Miß Hull durch sein schlechtes Englisch zum Lachen und erzählte Darja Alexandrowna allerlei von seiner Beschäftigung hier auf dem Lande.
Nach dem Mittagessen saß Darja Alexandrowna mit ihm allein auf der Veranda und begann nun von Kitty zu reden.
»Wissen Sie es? Kitty wird herkommen und bei mir den Sommer verleben.«
»Wirklich?« erwiderte er; er war dunkelrot geworden und [43] fügte, um den Gegenstand des Gespräches zu wechseln, sogleich hinzu: »Darf ich Ihnen also zwei Kühe schicken? Wenn Sie mit mir darüber abzurechnen wünschen, so können Sie mir ja fünf Rubel monatlich bezahlen, wenn Sie sich kein Gewissen daraus machen, mich so zu behandeln.«
»Nein, ich danke bestens. Diese Sache ist bei uns schon in guter Ordnung.«
»Nun, dann möchte ich einmal Ihre Kühe ansehen und, wenn Sie gestatten, Anweisung geben, wie sie gefüttert werden sollen. Die Hauptsache ist eine zweckmäßige Fütterung.«
Und um nur das Gespräch in eine andere Bahn zu bringen, setzte er ihr seine Theorie der Milchwirtschaft auseinander, die darin gipfelte, daß die Kuh nur die Maschine zur Umwandlung des Futters in Milch sei und so weiter.
Er redete über diesen Gegenstand und wünschte dabei leidenschaftlich, Genaueres über Kitty zu hören, bangte aber gleichzeitig davor. Er fürchtete, daß seine so mühsam erworbene Ruhe wieder vernichtet werden könne.
»Das mag ja sein; aber all dergleichen muß beaufsichtigt werden, und wer wird das hier bei mir tun?« antwortete Darja Alexandrowna nur widerstrebend.
Sie hatte ihre Wirtschaft jetzt mit Matrona Filimonownas Beihilfe so weit in Ordnung gebracht, daß sie nichts darin ändern mochte; und zudem traute sie auch Ljewins landwirtschaftlichen Kenntnissen nicht recht. Seine Auseinandersetzung, daß die Kuh eine Maschine zur Milcherzeugung sei, war ihr verdächtig. Sie meinte, derartige Vorschläge könnten im Betriebe der Wirtschaft nur störend wirken. Nach ihrer Auffassung lag die Sache viel einfacher: man brauche nur, wie Matrona Filimonowna ihr erklärt hatte, der Buntscheckigen und der Weißbauchigen mehr Futter und Trank zu geben und nicht zuzulassen, daß der Koch das Spülicht aus der Küche für die Kuh der Waschfrau wegtrage. Das war ihr verständlich. Dagegen erschienen ihr Vorschläge über Kleienfütterung und Grasfütterung unsicher und unklar. Und was die Hauptsache war: sie wollte jetzt über Kitty sprechen.
»Kitty schreibt mir, sie wünsche nichts sehnlicher als Einsamkeit und Ruhe«, sagte Dolly, nachdem beide ein Weilchen geschwiegen hatten.
»Und wie ist es mit ihrer Gesundheit? Geht es besser?« fragte Ljewin in merklicher Aufregung.
[44] »Gott sei Dank, sie ist völlig wiederhergestellt. Ich habe nie daran geglaubt, daß sie brustkrank wäre.«
»Ach, das freut mich recht!« rief Ljewin, und Dolly fand, während er das sagte und sie dann schweigend ansah, auf seinem Gesichte einen Ausdruck rührender Hilflosigkeit.
»Hören Sie mal, Konstantin Dmitrijewitsch«, sagte Darja Alexandrowna, und sie lächelte dabei in ihrer gutmütigen und zugleich ein wenig spöttischen Weise, »warum sind Sie eigentlich auf Kitty böse?«
»Ich? Ich bin nicht böse auf sie«, versetzte Ljewin.
»Doch, doch, Sie sind böse auf sie. Warum sind Sie denn, als Sie in Moskau waren, weder zu uns noch zu ihnen gekommen?«
»Darja Alexandrowna«, erwiderte er und errötete bis an die Haarwurzeln, »ich muß mich wundern, daß Sie bei Ihrer Herzensgüte das nicht fühlen. Sie müßten doch Mitleid mit mir haben, da Sie wissen ...«
»Was weiß ich denn?«
»Sie wissen, daß ich ihr einen Antrag gemacht habe und abgewiesen worden bin«, brachte Ljewin heraus, und die ganze Zärtlichkeit, die er noch einen Augenblick vorher für Kitty empfunden hatte, wich in seiner Seele dem Gefühle des Ingrimms über die erlittene Kränkung.
»Warum glauben Sie, daß ich das weiß?«
»Weil es alle wissen.«
»Darin irren Sie sich denn doch; ich für meine Person habe es nicht gewußt, wiewohl ich es vermutete.«
»So. Nun, dann wissen Sie es jetzt.«
»Ich wußte nur so viel, daß irgend etwas geschehen war, worüber sie sich schrecklich grämte; sie hat mich gebeten, ich möchte nie mit ihr davon zu reden anfangen. Nun, und wenn sie es mir nicht gesagt hat, so hat sie es niemandem gesagt. Aber was ist denn zwischen Ihnen beiden eigentlich vorgefallen? Sagen Sie es mir doch!«
»Ich habe Ihnen ja schon gesagt, was vorgefallen ist.«
»Wann ist denn das vorgefallen?«
»Als ich zum letztenmal bei Ihnen war.«
»Wissen Sie, ich muß Ihnen sagen«, erwiderte Darja Alexandrowna, »sie tut mir furchtbar leid, ganz furchtbar leid. Aber Sie, Sie leiden ja nur aus verletztem Stolz.«
»Kann sein«, versetzte Ljewin, »aber ...«
Sie unterbrach ihn.
»Aber sie, die Ärmste, tut mir furchtbar, ganz furchtbar leid. Jetzt ist mir alles verständlich geworden.«
»Nun, entschuldigen Sie mich, Darja Alexandrowna«, sagte [45] er und stand auf. »Leben Sie wohl, Darja Alexandrowna! Auf Wiedersehen!«
»Aber nicht doch! Bleiben Sie noch!« versetzte sie und faßte ihn am Ärmel. »Bleiben Sie noch, setzen Sie sich!«
»Ich bitte inständigst: wir wollen über diesen Gegenstand nicht weiter sprechen«, sagte er und setzte sich wieder hin; aber er fühlte zugleich, daß in seinem Herzen eine Hoffnung, die er schon für tot und begraben gehalten hatte, wieder erwachte und sich regte.
»Wenn ich Sie nicht so gern hätte«, sagte Darja Alexandrowna, und die Tränen traten ihr dabei in die Augen, »wenn ich Sie nicht kennte, wie ich Sie kenne ...«
Das Gefühl, das er für tot gehalten hatte, lebte immer mehr und mehr auf, gewann an Kraft und nahm Ljewins Herz wieder in Besitz.
»Ja, jetzt ist mir alles verständlich geworden«, fuhr Darja Alexandrowna fort. »Sie können das nicht verstehen; euch Männern, die ihr frei seid und wählen könnt, euch ist immer klar, wen ihr liebt. Aber ein Mädchen, das darauf angewiesen ist, zu warten, und von ihrem weiblichen, mädchenhaften Schamgefühl zurückgehalten wird, ein Mädchen, das euch Männer nur so von weitem zu sehen bekommt und alles auf Treu und Glauben hinnimmt, bei einem Mädchen kann manchmal ein Gefühl so unklar sein, daß sie nicht weiß, was sie darüber sagen soll.«
»Ja, wenn das Herz nicht spricht ...«
»Nicht doch, das Herz spricht; aber überlegen Sie nur: ihr Männer, wenn ihr ein Auge auf ein junges Mädchen geworfen habt, dann verkehrt ihr in dem betreffenden Hause, ihr nähert euch ihr, seht sie euch genau an und wartet ab, ob ihr auch an ihr die Eigenschaften findet, die ihr gern mögt, und dann, wenn ihr überzeugt seid, daß ihr das Mädchen wirklich liebt, macht ihr euren Antrag ...«
»Nun, ganz so ist es nicht.«
»Das tut nichts; jedenfalls macht ihr euren Antrag erst dann, wenn eure Liebe völlig zur Reife gelangt ist oder wenn bei euch zwischen zwei zur Wahl Stehenden sich ein Übergewicht nach der einen oder der anderen Seite herausgestellt hat. Aber ein junges Mädchen wird nicht gefragt, welchen Mann sie wohl am liebsten haben möchte. Da verlangt man nun, sie solle sich selbst einen wählen, und sie ist doch gar nicht in der Lage, einen zu wählen, sondern kann nur ja und nein antworten.«
›Ja, die Wahl zwischen mir und Wronski‹, dachte Ljewin, und der in seiner Seele auferstandene Leichnam starb wieder und sank als qualvoll drückende Last auf sein Herz zurück.
[46] »Darja Alexandrowna«, sagte er, »in dieser Weise wählt man ein Kleid oder sonst etwas, was man kaufen will; aber bei der Liebe geht es doch anders zu. Die Wahl ist vollzogen, nun gut ... Eine Wiederholung ist unmöglich.«
»Ach, dieser Stolz, immer dieser Stolz!« erwiderte Darja Alexandrowna, wie wenn sie ihn wegen der Niedrigkeit dieses Gefühls im Vergleich mit jenem anderen Gefühle, das nur den Frauen bekannt sei, verachtete. »Damals, als Sie Kitty einen Antrag machten, da befand sie sich gerade in einer Lage, die ihr die Antwort erschwerte. Es war bei ihr ein Zustand des Hin- und Herschwankens. Sie schwankte: Sie oder Wronski. Ihn sah sie täglich; Sie hatte sie seit längerer Zeit nicht mehr gesehen. Allerdings, wenn sie älter gewesen wäre ... Für mich zum Beispiel wäre an ihrer Stelle ein Schwanken ausgeschlossen gewesen. Er ist mir immer zuwider gewesen, und der Ausgang hat mir recht gegeben.«
Ljewin dachte an Kittys Antwort. Sie hatte gesagt: ›Es kann nicht sein ...‹
»Darja Alexandrowna«, antwortete er trocken, »ich weiß das gute Zutrauen, das Sie zu mir haben, zu schätzen. Aber ich glaube, Sie irren sich. Indessen, ob ich nun recht oder unrecht habe, jedenfalls hat dieser von Ihnen so verachtete Stolz die Wirkung, daß für mich jeder Gedanke an Katerina Alexandrowna ein Ding der Unmöglichkeit ist ... verstehen Sie wohl: geradezu ein Ding der Unmöglichkeit.«
»Ich möchte nur noch eins sagen: bedenken Sie, daß ich von meiner Schwester rede, die ich ebenso liebhabe wie meine eigenen Kinder. Ich sage nicht, daß sie Sie liebt; ich wollte nur sagen, daß ihre abschlägige Antwort in jenem Augenblicke nichts beweist.«
»Das weiß ich denn doch nicht!« rief Ljewin aufspringend. »Wenn Sie wüßten, wie wehe Sie mir tun! Es ist dasselbe, wie wenn Ihnen ein Kind gestorben wäre und jemand zu Ihnen sagte: ›Soundso hätte das Kind sein sollen, dann hätte es können am Leben bleiben, und Sie hätten Ihre Freude an ihm gehabt.‹ Aber es ist doch nun tot, tot, tot ...«
»Wie komisch Sie sind«, sagte Darja Alexandrowna mit trübem Lächeln, da sie Ljewins Erregung sah. »Ja, ja, jetzt wird mir alles immer besser verständlich«, fuhr sie nachdenklich fort. »Sie werden also wohl nicht zu uns kommen, wenn Kitty hier ist?«
»Nein, ich werde nicht kommen. Natürlich werde ich Katerina Alexandrowna nicht ängstlich vermeiden; aber soweit ich kann, werde ich mich bemühen, ihr die Unannehmlichkeit meiner Anwesenheit zu er sparen.«
[47] »Sie sind sehr, sehr komisch«, sagte Darja Alexandrowna noch einmal und blickte ihm dabei voll herzlicher Freundlichkeit ins Gesicht. »Also gut, wir wollen dieses ganze Gespräch als ungeschehen betrachten. Nun, was wünschest du, Tanja?« fragte Darja Alexandrowna auf französisch ihr Töchterchen, das in die Veranda kam.
»Wo ist meine Schaufel, Mama?«
»Ich spreche Französisch, dann mußt du es auch tun.«
Die Kleine wollte ihre Frage auf französisch wiederholen, hatte aber vergessen, wie die Schaufel auf französisch heißt; die Mutter half ihr ein und sagte ihr dann auf französisch, wo sie die Schaufel suchen müsse. Das machte auf Ljewin einen unangenehmen Eindruck.
Jetzt kam ihm an Darja Alexandrownas Haushalt und an ihren Kindern alles gar nicht mehr so hübsch und nett vor wie vorher.
›Und warum spricht sie mit den Kindern Französisch?‹ dachte er. ›Wie unnatürlich das ist! Es liegt eine Art von Unwahrhaftigkeit darin! Und auch die Kinder haben ein Gefühl dafür. Man bringt ihnen das Französische bei und entwöhnt sie dabei von der Aufrichtigkeit‹, dachte er bei sich selbst, ohne zu wissen, daß Darja Alexandrowna all das schon zwanzigmal überlegt und dennoch, ob auch zum Schaden der Aufrichtigkeit, es für notwendig erachtet hatte, ihre Kinder in dieser Weise zu bilden.
»Aber warum wollen Sie denn schon fort? Bleiben Sie doch noch ein Weilchen!«
Ljewin blieb noch zum Tee; aber seine Heiterkeit war verschwunden, und er fühlte sich unbehaglich.
Nach dem Tee ging er ins Vorzimmer, um Befehl zum Anspannen zu geben, und als er zurückkehrte, fand er Darja Alexandrowna in höchster Aufregung, mit verstörtem Gesichte und Tränen in den Augen. Während Ljewin hinausgegangen war, hatte sich ein Ereignis zugetragen, durch das plötzlich ihre ganze heutige Glückseligkeit und ihr Stolz über die Kinder zunichte geworden war: Grigori und Tanja hatten sich wegen eines Balles geprügelt! Darja Alexandrowna hatte gehört, daß in der Kinderstube ein furchtbares Geschrei war; sie war hingelaufen und hatte die beiden Kinder in einem schrecklichen Zustande gefunden: Tanja hielt Grigori an den Haaren gepackt, und er, dessen Gesicht von Wut ganz entstellt war, schlug auf sie mit den Fäusten los, wohin es gerade traf. Darja Alexandrowna hatte bei diesem Anblick eine Empfindung, als ob in ihrem Herzen etwas zerrisse; es war ihr, als senke sich ein tiefes Dunkel auf ihr Leben herab: sie erkannte auf einmal, daß diese ihre Kinder, [48] auf die sie so stolz gewesen war, nicht nur Kinder der allergewöhnlichsten Art, sondern sogar unartige, übel erzogene Kinder mit rohen, gewalttätigen Trieben, mit einem Wort: schlechte Kinder waren.
Sie konnte von nichts anderem sprechen und an nichts anderes denken und mußte ihrem Gaste ihr schweres Leid erzählen.
Ljewin sah, wie unglücklich sie über den Vorfall war, und bemühte sich, sie zu trösten, indem er sagte, das sei noch gar kein Beweis von schlechtem Charakter; prügeln täten sich alle Kinder; aber während er so redete, dachte er doch in seinem Herzen: ›Nein, ich werde nicht Komödie spielen und mit meinen Kindern Französisch sprechen. Aber meine Kinder werden auch von anderer Art sein; man muß seine Kinder nur nicht verderben und verbilden; dann werden es prächtige Kinder sein. Ja, meine Kinder werden von anderer Art sein.‹
Er empfahl sich und fuhr ab, und sie suchte ihn nicht zurückzuhalten.
Mitte Juli stellte sich bei Ljewin der Dorfschulze von dem Dorfe seiner Schwester ein, das ungefähr zwanzig Werst von Pokrowskoje entfernt lag, und brachte einen Rechenschaftsbericht über den Gang der Wirtschaftsangelegenheiten und über die Heuernte. Die Haupteinnahme lieferten bei dem Gute seiner Schwester die Überschwemmungswiesen am Flusse. In früheren Jahren waren diese Wiesen für zwanzig Rubel die Deßjatine an die Bauern auf Teilung verpachtet worden. Als Ljewin die Verwaltung des Gutes übernahm, fand er bei einer Besichtigung der Wiesen, daß sie mehr wert seien, und setzte den Preis für die Deßjatine auf fünfundzwanzig Rubel fest. Auf diesen Preis gingen die Bauern nicht ein und verscheuchten, wie Ljewin argwöhnte, auch andere Pachtlustige. Darauf fuhr Ljewin selbst hin und richtete es so ein, daß die Wiesen teils für Tagelohn, teils für einen Teil des Ertrags gemäht wurden. Die Bauern des Dorfes selbst bereiteten dieser Neuerung Hindernisse, soviel sie nur irgend konnten; aber die Sache gelang trotzdem, und gleich im ersten Jahre wurde aus den Wiesen fast die doppelte Einnahme erzielt. Im dritten Jahre, das heißt im letztvergangenen, hatte dieser Widerstand der Bauern noch fortgedauert, und die Heuernte war in derselben Weise vor sich gegangen. Im laufenden Jahre nun hatten die Bauern das Einernten des Heus auf allen Wiesen für den dritten Teil des Ertrages übernommen, und jetzt kam der Dorfschulze, um zu melden, daß die Heuernte [49] beendet sei und daß er, aus Furcht vor Regen, unter Zuziehung des Gutsschreibers in dessen Gegenwart die Teilung vorgenommen und bereits elf herrschaftliche Schober aufgestellt habe. Aber aus seinen unbestimmten Antworten auf die Frage, wieviel Heu auf der Hauptwiese geerntet sei, aus der Eilfertigkeit des Dorfschulzen, der die Teilung des Heus ohne vorherige Anfrage ausgeführt hatte, und aus dem ganzen Tone des Bauern schloß Ljewin, daß bei dieser Teilung des Heues etwas nicht richtig sei, und er beschloß, selbst hinzureiten und die Sache zu untersuchen.
Er kam gegen Mittag im Dorfe an, stellte sein Pferd in dem Gehöft eines ihm befreundeten alten Bauern unter, des Mannes der Amme seines Bruders, und suchte diesen selbst auf seinem Bienenstande auf, da er von ihm gern Näheres über die Heuernte erfahren hätte. Der gesprächige, stattliche Alte – er hieß Parmenow – begrüßte Ljewin hocherfreut, zeigte ihm seine ganze Wirtschaft und erzählte sehr eingehend von seinen Bienen und von dem Schwärmen in diesem Jahre; aber Ljewins Fragen nach der Heuernte beantwortete er nur unbestimmt und mit sichtlichem Widerstreben. Dadurch fühlte sich Ljewin in seinen Vermutungen nur noch mehr bestärkt. Er ging auf die Wiesen und sah sich die Schober an. Unmöglich konnten diese Schober je fünfzig Fuhren enthalten, und um die Bauern zu überführen, ließ Ljewin sofort einige mit dem Heueinfahren beschäftigte Gespanne heranholen, das Heu eines Schobers aufladen und in die Scheune fahren. Aus dem Schober kamen nur zweiunddreißig Fuhren heraus. Trotz der Beteuerungen des Dorfschulzen, das Heu sei sehr locker gewesen und habe sich dann in den Schobern gesackt, und obwohl er Gott zum Zeugen anrief, daß er mit der größten Gewissenhaftigkeit verfahren sei, ließ sich Ljewin doch nicht von seinem Standpunkte abbringen, das Heu sei ohne seine Anweisung geteilt, und er nehme daher dieses Heu nicht als fünfzig Fuhren für den Schober an. Nach langem Hinundherstreiten wurde die Sache in der Weise entschieden, daß die Bauern diese elf Schober, jeden auf fünfzig Fuhren berechnet, mit auf ihren Anteil nehmen sollten; für den herrschaftlichen Anteil sollte eine neue Zuteilung vorgenommen werden. Die Verhandlungen und das Verteilen der Haufen dauerte bis zur Vesperzeit. Als das letzte Heu verteilt war, beauftragte Ljewin mit der weiteren Beaufsichtigung den Gutsschreiber, setzte sich auf einen durch eine hineingesteckte Weidenrute als herrschaftlich bezeichneten Heuhaufen und betrachtete mit Vergnügen die von geschäftigen Menschen wimmelnde Wiese.
[50] Vor ihm, an der Krümmung des Flusses jenseits eines kleinen Sumpfes, bewegte sich, mit helltönenden Stimmen lustig schnatternd, eine bunte Reihe von Bauersfrauen, und aus dem ausgebreitet daliegenden Heu wurden schnell auf dem graugrünen Untergrunde graue, unregelmäßig gekrümmte Wälle zusammengeharkt. Hinter den Weibern her gingen die Bauern mit Heugabeln, und aus den Wällen entstanden breite, hohe, lockere Haufen. Zur Linken rasselten über die schon abgeerntete Wiese die Wagen dahin, und die Heuhaufen, in riesigen Ballen mit Gabeln auf die Wagen hinaufgereicht, verschwanden einer nach dem andern, und dafür türmten sich auf den Wagen schwere Ladungen duftigen Heues auf, die tief auf die Hinterteile der Pferde niederhingen.
»Ist das ein Wetter zum Heuen! Und ein Heu wird es – wie Tee so zart!« sagte der Alte und ließ sich neben Ljewin nieder. »Gerade wie wenn man den Enten Korn hinschüttet, so räumen sie auf!« fügte er hinzu, auf die Leute deutend, die die Heuhaufen aufluden. »Seit Mittag ist gut die Hälfte eingefahren.«
»Holst wohl die letzte Fuhre, was?« rief er einen jungen Burschen an, der vorn vor dem Wagenkasten stehend und mit den Enden seiner hänfenen Leinen schwenkend vorbeifuhr.
»Jawohl, die letzte, Väterchen!« schrie der Bursche, hielt das Pferd an, blickte sich lächelnd nach einer heiteren, gleichfalls lächelnden, rotbackigen Frau um, die im Wagenkasten saß, und jagte dann weiter.
»Wer ist das? Ein Sohn von dir?« fragte Ljewin.
»Mein Jüngster«, erwiderte der Alte mit freundlichem Lächeln.
»Ein frischer, strammer Bursche!«
»Nun ja, es macht sich.«
»Ist er schon verheiratet?«
»Ja, am Philippstage waren's schon zwei Jahre.«
»Na, und sind Kinder da?«
»Kinder? Gott bewahre! Ein ganzes Jahr lang hat er überhaupt nichts verstanden; eine wahre Schande!« antwortete der Alte. »Aber das ist ein Heu! Der reine Tee!« sagte er noch einmal, um das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu bringen.
Ljewin betrachtete nun aufmerksamer Iwan Parmenow und seine Frau. Sie luden nicht weit von ihm einen Heuhaufen auf. Iwan Parmenow stand auf dem Wagen, nahm die gewaltigen Heuballen, die ihm seine hübsche junge Frau anfangs mit den Armen, dann mit der Gabel geschickt hinreichte, in Empfang, verteilte sie gleichmäßig und trat sie fest. Die junge Frau verrichtete ihre Arbeit leicht, munter und behende. Das Heu, das sich durch das Liegen zu einer festen Masse zusammengepreßt [51] hatte, ließ sich nicht so ohne weiteres auf die Gabel nehmen. Sie lockerte es zuerst, schob die Gabel hinein, legte sich dann mit einer elastischen, schnellen Bewegung und mit dem ganzen Gewichte ihres Körpers auf den Stiel der Gabel, richtete sich sofort, den von einem roten Gürtel umspannten Rücken zurückbiegend, wieder in die Höhe, und indem sie die volle Brust unter dem weißen Latze stark nach vorn drückte, faßte sie mit geschicktem Griffe die Gabel anders und schwang den Heuballen hoch nach der Fuhre hinauf. Eilig, da er sich offenbar bemühte, seinem Weibe jeden Augenblick unnötiger Mühe zu ersparen, ergriff Iwan mit weit ausgebreiteten Armen das ihm hingehaltene Heu und legte es auf der Fuhre zurecht. Nachdem die junge Frau das letzte Heu mit der Harke hinaufgereicht hatte, schüttelte sie den Grus, der ihr in den Nacken gefallen war, ab, rückte das rote Tuch zurecht, das sich über der weißen, von der Sonne nicht verbrannten Stirn verschoben hatte, und kroch unter den Wagen, um die Ladung festzubinden. Iwan gab ihr von oben Anweisung, wie sie den Strick am Langbaum anbinden müsse, und lachte laut über etwas, was sie sagte. In dem Ausdruck der beiden Gesichter war eine kräftige, junge, erst vor kurzem erwachte Liebe deutlich zu erkennen.
Die Ladung war festgeschnürt. Iwan sprang herunter und führte das tüchtige, wohlgenährte Pferd am Zügel. Die junge Frau warf die Harke oben auf die Fuhre hinauf und ging, rüstig ausschreitend und mit den Armen schlenkernd, zu den andern Weibern hin, die sich versammelten, um ihr Reigenlied zu singen. Iwan fuhr von der Wiese auf den Weg und rückte in die Reihe der übrigen Heuwagen ein. Die Weiber, mit den Harken auf der Schulter, in hell leuchtenden, bunten Kleidern, gingen hinter den Wagen her und schwatzten laut und lustig miteinander. Eine derbe, naturwüchsige Weiberstimme stimmte das Lied an und sang eine Strophe vor; dann fielen auf einmal gleichzeitig etwa fünfzig verschiedene, teils derbe, teils feine, gesunde Stimmen ein und sangen dasselbe Lied noch einmal von Anfang.
Die singenden Weiber kamen Ljewin näher, und er hatte eine Empfindung, als ob eine dichte Wolke von laut schallender Fröhlichkeit sich auf ihn zu bewege. Die Wolke erreichte ihn und umfing ihn, und der Heuhaufen, auf dem er lag, und die anderen Heuhaufen und die Fuhren und die ganze Wiese mitsamt den [52] fernen Feldern, alles drehte und wiegte sich im Takte dieses kunstlosen, ausgelassen lustigen Liedes, das von Schreien, Pfeifen und Jauchzen begleitet wurde. In Ljewin regte sich ordentlich der Neid auf diese gesunde Fröhlichkeit, und er hätte sich am liebsten an diesem Ausbruche von Lebenslust mit beteiligt. Aber das ging selbstverständlich nicht, und er mußte da liegenbleiben und sich darauf beschränken, zuzusehen und zuzuhören. Als das singende Völkchen so weit weg war, daß er es nicht mehr sah und nicht mehr hörte, da überkam ihn ein drückendes Gefühl des Grames über sein einsames Dasein, über seine körperliche Untätigkeit und über die feindselige Stellung, die er dieser Welt gegenüber einnahm.
Einige Bauern gerade von denen, die am allerhartnäckigsten mit ihm um das Heu gestritten hatten, also Leute, die nach ihrer Behauptung von ihm benachteiligt worden waren oder vielmehr ihn hatten betrügen wollen – ebendiese Bauern grüßten ihn jetzt ganz vergnügt; sie hegten offenbar keinen Groll gegen ihn (wozu sie ja auch eigentlich keinen Anlaß hatten), verspürten aber augenscheinlich auch keine Reue, ja, sie hatten sichtlich überhaupt keine Erinnerung mehr daran, daß sie ihn hatten betrügen wollen. All das war in dem Meere der frohen, gemeinsamen Arbeit untergegangen. Gott hatte den Tag gegeben, Gott hatte die Kräfte gegeben; und den Tag und die Kräfte hatten sie der Arbeit gewidmet und in der Arbeit selbst ihren Lohn gefunden. Für wen die Arbeit stattfand, welches die Früchte der Arbeit sein würden, das war Nebensache, das war von keiner Bedeutung.
Ljewin hatte oft mit Bewunderung auf dieses Leben hingeblickt und oft ein Gefühl des Neides gegen die Menschen empfunden, die dieses Leben führten; aber heute zum ersten Male, namentlich auch unter dem Eindruck, den Iwan Parmenows hübsches Verhältnis zu seiner Frau auf ihn gemacht hatte, heute zum ersten Male kam ihm klar und deutlich der Gedanke, daß es ja nur von ihm abhänge, jenes drückende, müßige, gekünstelte, selbstsüchtige Leben, das er jetzt führte, aufzugeben und dafür dieses arbeitsame, reine, dem Gemeinwohle dienende, wundervolle Leben einzutauschen.
Der Alte, der mit ihm auf dem Heuhaufen gesessen hatte, war schon längst nach Hause gegangen; das Arbeitervolk hatte sich geteilt. Die Näherwohnenden waren nach Hause gefahren; die Fernerwohnenden trafen auf der Wiese ihre Anstalten zum Abendessen und zum Nachtlager. Ljewin blieb, von ihnen unbemerkt, auf dem Heuhaufen liegen und fuhr fort, nach ihnen hinzuschauen und hinzuhören und seinen Gedanken nachzuhängen. [53] Die Leute, die zum Übernachten auf der Wiese geblieben waren, schliefen während der kurzen Sommernacht fast gar nicht. Zuerst, während des Abendessens, hörte Ljewin ihr allgemeines, lustiges Geplauder und Gelächter; dann folgten wie der Lieder und wieder Lachen.
Der ganze lange Arbeitstag hatte bei ihnen keine andere Wirkung hinterlassen, als daß er sie in die fröhlichste Stimmung versetzt hatte. Erst kurz vor der Morgenröte wurde alles still. Nur das nächtliche Quaken der unermüdlichen Frösche im Sumpfe war zu hören und das Schnauben der Pferde auf der Wiese in dem Nebel, der vor dem Anbruch des Tages aufsteigt. Ljewin ermunterte sich, erhob sich von seinem Heuhaufen, und ein Blick nach den Sternen zeigte ihm, daß die Nacht vergangen war.
›Was werde ich also tun? Und wie werde ich es tun?‹ sagte er zu sich selbst, in dem Bemühen, zu seinem eigenen Nutzen einen klaren Ausdruck für das zu finden, was er in dieser kurzen Nacht gedacht und empfunden hatte. Alle diese Gedanken und Empfindungen verteilten sich auf drei voneinander gesonderte Gedankengänge. Der erste betraf die Abkehr von seinem alten Leben und von seiner Bildung, die niemandem etwas nützte. Diese Abkehr gewährte ihm schon in der Vorstellung einen großen Genuß, und ihre Durchführung erschien ihm leicht und einfach. Die zweite Gruppe von Gedanken und Vorstellungen betraf das Leben, das er von nun an zu führen wünschte. Daß es ein schlichtes, reines, streng rechtliches Leben sein müsse, fühlte er mit vollster Klarheit, und er war überzeugt, daß er in ihm diejenige Befriedigung, Gemütsruhe und selbstbewußte Festigkeit finden werde, deren Mangel er jetzt so schmerzlich empfand. Sein dritter Gedankengang jedoch bezog sich auf die Frage, wie sich dieser Übergang vom alten zum neuen Leben bewerkstelligen lasse. Und hierüber vermochte er schlechterdings nicht zur Klarheit zu kommen. ›Ich muß heiraten. Ich muß eine Arbeit haben und einen äußeren Zwang zur Arbeit. Soll ich Pokrowskoje verlassen? Anderswo Land kaufen? Mich in eine Bauerngemeinde aufnehmen lassen? Ein Bauernmädchen heiraten? Wie soll ich es angreifen?‹ fragte er sich von neuem und fand darauf keine Antwort. ›Übrigens habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen und bin daher jetzt nicht imstande, mir über solche Dinge klare Rechenschaft zu geben‹, sagte er zu sich. ›Darüber werde ich später schon ins klare kommen. Aber eins ist sicher: diese Nacht hat über mein Schicksal entschieden. Alle meine früheren Träumereien von der Gestaltung des Familienlebens sind töricht, sind nicht das Richtige‹, sagte er zu sich. ›Das läßt sich alles weit einfacher und besser ausführen ...‹
[54] ›Wie schön!‹ dachte er, als er auf einmal ein seltsames Gebilde von weißen Lämmerwölkchen erblickte, das, einer Perlmuttermuschel ähnlich, gerade über seinem Kopfe mitten am Himmel stand. ›Wie entzückend alles in dieser wundervollen Nacht ist! Wann hat sich nur diese Muschel gebildet? Ich habe doch noch eben erst zum Himmel hinaufgesehen, und da war an ihm nichts vorhanden als zwei weiße Streifen. Ja, ganz ebenso unvermerkt haben sich auch meine Lebensanschauungen geändert!‹
Er verließ die Wiese und schritt auf dem breiten Landwege dem Dorfe zu. Ein leichter Wind erhob sich, und der Himmel wurde grau und düster. Es kam jetzt die trübe Spanne Zeit, die gewöhnlich der Morgendämmerung und dem vollen Siege des Lichtes über die Finsternis vorangeht.
Vor Kälte sich ein wenig zusammenkrümmend, den Blick auf den Boden geheftet, schritt Ljewin hurtig aus. ›Was ist das? Da kommt jemand gefahren!‹ dachte er, als er Schellengeläute hörte, und hob den Kopf in die Höhe. Etwa noch vierzig Schritte von ihm entfernt kam ihm auf dem breiten, grasigen Fahrwege, auf dem er ging, ein vierspänniger Wagen entgegen, auf dem er mehrere Koffer erblickte. Die Deichselpferde drängten von den Geleisen nach der Deichsel zu; aber der geschickte Kutscher, der seitwärts auf dem Bocke saß, hielt die Deichsel zwischen den Geleisen, so daß die Räder auf den glatten Streifen liefen.
Weiter hatte Ljewin auf nichts geachtet und blickte nun zerstreut in den Wagen hinein, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wer da wohl gefahren kam.
In einer Ecke des Wagens schlief eine alte Dame; am Fenster aber saß ein junges Mädchen, das offenbar eben erst aufgewacht war und mit beiden Händen die Bänder eines weißen Häubchens angefaßt hielt. Hellen, sinnenden Blicks, ganz erfüllt von einer schönen, bunten, inneren Gedankenwelt, die Ljewin fremd war, schaute sie über ihn hinweg in die Morgenröte.
Gerade in dem Augenblicke, da diese Erscheinung bereits verschwand, blickten die treuherzigen Augen des jungen Mädchens ihn an. Sie erkannte ihn, und ein frohes Erstaunen leuchtete auf ihrem Gesichte auf.
Er konnte sich nicht irren. Solche Augen gab es nur einmal auf der Welt. Es gab auf der ganzen Welt nur ein Wesen, das imstande war, für ihn alles Licht und seinen gesamten Lebensinhalt in sich zusammenzudrängen. Das war sie. Das war Kitty. Er sagte sich sofort, daß sie auf der Fahrt von der Eisenbahnstation nach Jerguschowo begriffen sei. Und alles, was ihn in dieser schlaflosen Nacht so erregt hatte, alle die Entschlüsse, die er gefaßt hatte, das alles war in einem Nu verschwunden. Nur [55] mit Widerwillen erinnerte er sich an seinen Gedanken, ein Bauernmädchen zu heiraten. Dort allein, in diesem Wagen, der sich schnell entfernte und eben nach der andern Seite des Weges hinüberfuhr, dort allein war für ihn die Möglichkeit einer Lösung seines Lebensrätsels, das in der letzten Zeit mit so peinvollem Druck auf ihm gelastet hatte.
Sie hatte nicht mehr aus dem Wagen herausgeschaut. Das Geräusch der Federn des Wagens war nicht mehr vernehmbar; kaum konnte Ljewin noch das Schellengeklingel hören. Hundegebell ließ ihn erkennen, daß der Wagen durch das Dorf fuhr – und nun waren wieder rings um ihn nur die menschenleeren Felder, vor ihm das Dorf, und er selbst, ein einsamer Fremdling, wanderte allein auf dem verwahrlosten, breiten Landwege dahin.
Er blickte zum Himmel hinauf, in der Hoffnung, dort noch jene Muschel wiederzufinden, die er mit solcher Freude betrachtet hatte und die ihm eine Art von Sinnbild seines Denkens und Empfindens in dieser Nacht gewesen war. Aber am Himmel war nichts zu sehen, was mit einer Muschel Ähnlichkeit gehabt hätte. Dort in der unerreichbaren Höhe war bereits eine geheimnisvolle Veränderung vorgegangen. Von der Muschel war keine Spur mehr vorhanden, sondern über die ganze eine Hälfte des Himmels breitete sich ein gleichmäßiger Teppich immer kleiner und kleiner werdender Lämmerwölkchen aus. Der Himmel war blau und hell geworden und antwortete auf seinen fragenden Blick ebenso freundlich, aber auch ebenso unnahbar wie vorher.
›Nein‹, sagte er sich, ›mag auch dieses einfache, arbeitsvolle Leben noch so schön sein, ich kann doch zu diesem Gedanken nicht zurückkehren. Sie liebe ich, sie!‹
Niemand außer den Allernächststehenden wußte, daß Alexei Alexandrowitsch, anscheinend ein so kühler Verstandesmensch, eine Schwäche hatte, die mit seinem ganzen sonstigen Wesen im Widerspruch zu stehen schien: er konnte es nicht ruhig mit anhören und mit ansehen, wenn ein Kind oder eine Frau weinte. Der Anblick von Tränen machte ihn verwirrt, und er verlor dann vollständig die Fähigkeit vernunftmäßiger Überlegung. Sein Subdirektor und sein Sekretär wußten das und warnten Bittstellerinnen, sie möchten unter keinen Umständen weinen, wenn sie nicht ihre ganze Sache verderben wollten. ›Er wird dann zornig und hört sie gar nicht weiter an‹, sagten sie zu solchen [56] Damen. Und in der Tat bekundete sich in solchen Fällen die seelische Verstimmung, die bei Alexei Alexandrowitsch durch die Tränen hervorgerufen war, durch einen plötzlichen Zornesausbruch. ›Ich kann dabei nichts tun! Bitte, gehen Sie!‹ rief er in solchen Fällen gewöhnlich.
Als Anna auf der Heimfahrt vom Wettrennen ihm ihre Beziehungen zu Wronski aufgedeckt hatte und unmittelbar darauf das Gesicht in den Händen verbarg und in Tränen ausbrach, da fühlte Alexei Alexandrowitsch trotz des Ingrimms, der in seinem Herzen gegen sie aufwallte, doch gleichzeitig, daß wieder jene seelische Verwirrung über ihn kam, die Tränen stets bei ihm hervorriefen. Da er dies wußte und sich bewußt war, daß er in diesem Augenblicke nicht imstande sei, seine Gefühle in einer der Lage entsprechenden Weise zum Ausdruck zu bringen, so gab er sich Mühe, jede Lebensäußerung zurückzuhalten, und deshalb rührte er sich nicht und sah Anna nicht an. Und daher kam denn auch der sonderbare, leichenhafte Ausdruck seines Gesichtes, der Anna so betroffen machte.
Als sie bei dem Landhause angelangt waren, half er ihr beim Aussteigen aus dem Wagen, zwang sich dazu, mit gewohnter Höflichkeit von ihr Abschied zu nehmen, und sagte ihr einige Worte, durch die er sich in keiner Weise band: er sagte, er werde ihr am folgenden Tage seinen Entschluß mitteilen.
Die Worte seiner Frau, die seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten, hatten Alexei Alexandrowitschs Herz sich in furchtbarem Schmerze zusammenziehen lassen. Diesen Schmerz steigerte noch das durch ihre Tränen bei ihm hervorgerufene sonderbare Gefühl eines physischen Mitleids mit ihr. Aber als Alexei Alexandrowitsch im Wagen allein geblieben war, fühlte er zu seiner Verwunderung und Freude eine vollständige Befreiung sowohl von diesem Mitleid wie auch von den Zweifeln und den Qualen der Eifersucht, die ihn in der letzten Zeit gepeinigt hatten.
Er hatte eine ähnliche Empfindung wie jemand, der sich einen Zahn, der ihn lange geschmerzt hat, endlich hat ausziehen lassen. Nach einem furchtbaren Schmerze und nach einer Empfindung, als werde etwas ungeheuer Großes, größer als der Kopf selbst, aus seiner Kinnlade herausgerissen, fühlt der Patient, der an sein Glück noch gar nicht recht zu glauben wagt, auf einmal, daß das, was ihm so lange das Leben verbitterte und ihn an nichts anderes denken ließ, nicht mehr in seinem Munde vorhanden ist und daß er wieder leben und denken und sich wieder für andere Dinge, als immer nur für seinen Zahn, interessieren kann. Eine derartige Empfindung machte Alexei Alexandrowitsch [57] durch. Der Schmerz war seltsam und furchtbar gewesen; aber jetzt war er vorbei; Alexei Alexandrowitsch fühlte, daß er wieder leben könne, ohne immer nur an seine Frau zu denken.
›Ein verworfenes Weib ohne Gefühl für Ehre und Anstand, ohne Herz, ohne Religion! Das habe ich immer gewußt und immer gesehen, obgleich ich aus Mitleid mit ihr mir Mühe gab, mich selbst zu täuschen‹, sagte er zu sich. Und er hatte wirklich die Vorstellung, daß er das immer gesehen habe; er erinnerte sich an kleine Vorfälle aus den früheren Zeiten der Ehe, die ihm damals nicht als etwas Schlimmes erschienen waren; jetzt aber bewiesen diese Vorfälle deutlich, daß sie von jeher ein grundschlechtes Weib gewesen war. ›Ich bin in einem Irrtum befangen gewesen, als ich mein Leben mit dem ihrigen verknüpfte; aber in meinem Irrtum liegt nichts moralisch Schlechtes, und daher kann ich nicht unglücklich sein. Nicht ich bin schuldig‹, sagte er zu sich, ›sondern sie. Aber ich habe mit ihr nichts mehr zu tun. Sie ist für mich nicht mehr vorhanden.‹
Was nun weiter mit ihr und dem Sohne geschehen werde, gegen den sich seine Gefühle ebenso wie gegen sie verwandelt hatten, das kümmerte ihn nicht mehr. Das einzige, was ihn jetzt beschäftigte, war die Frage, wie er auf die beste, anständigste, für ihn selbst bequemste und daher gerechteste Weise den Schmutz, mit dem sie ihn durch ihren Fall bespritzt habe, von sich abschütteln und dann seinen arbeitsvollen, ehrenhaften, der Menschheit nützlichen Lebensweg fortsetzen könne.
›Ich kann dadurch nicht unglücklich werden, daß ein verachtenswertes Weib ein Verbrechen begangen hat; es kommt nur darauf an, den besten Ausweg aus der schwierigen Lage zu finden, in die sie mich versetzt hat. Und ich werde ihn finden‹, sagte er zu sich, indem er die Stirn immer mehr in Falten zog. ›Ich bin nicht der erste und werde nicht der letzte sein.‹ Und ganz abgesehen von den aus der Weltgeschichte zu entnehmenden Beispielen, von Menelaus an, der durch die Schöne Helena damals allen wieder von neuem ins Gedächtnis zurückgerufen war, vergegenwärtigte Alexei Alexandrowitsch sich eine ganze Reihe von Fällen aus der Gegenwart, in denen Frauen aus den höchsten Gesellschaftskreisen ihren Männern untreu geworden waren. ›Darjalow, Poltawski, Fürst Karibanow, Graf Paskudin, Dram ... Ja, auch Dram, so ein ehrenhafter, tüchtiger Mann ... Semjonow, Tschagin, Sigonin‹, all diese betrogenen Ehemänner stellte Alexei Alexandrowitsch sich im Gedächtnis zusammen. ›Allerdings fällt auf diese Männer ein der gesunden Vernunft widerstreitendes ridicule; aber ich meinerseits habe darin nie etwas anderes als ein ihnen zugestoßenes Unglück gesehen und [58] sie stets wegen eines solchen Unglücks bedauert‹, sagte Alexei Alexandrowitsch zu sich, wiewohl das der Wahrheit nicht entsprach und er Unglückliche dieser Art nie bedauert, sondern nur sich selbst in seiner Selbstachtung immer mehr gehoben gefühlt hatte, je mehr sich die Beispiele von Frauen häuften, die ihren Gatten die Treue brachen. ›Es ist das ein Unglück, das einen jeden treffen kann. Und dieses Unglück hat nun auch mich getroffen. Es handelt sich jetzt nur darum, wie man diese Lage am besten übersteht.‹ Und nun durchdachte er eingehend die verschiedenen Wege des Handelns, die Männer in derselben Lage wie er eingeschlagen hatten.
›Darjalow hat sich duelliert ...‹
Über das Duell Betrachtungen anzustellen, dazu hatte Alexei Alexandrowitsch, als er noch ein junger Mensch war, sich immer ganz besonders hingezogen gefühlt, weil er seinem ganzen Wesen nach ein furchtsamer Mensch war und dies auch recht wohl wußte. Nicht ohne Entsetzen vermochte er an eine auf ihn gerichtete Pistole zu denken und hatte nie in seinem Leben von irgendeiner Waffe Gebrauch gemacht. Diese Ängstlichkeit hatte ihn in seiner Jugend oft veranlaßt, an ein Duell zu denken und sich in eine Lage hineinzuversetzen, wo er gezwungen sein würde, sein Leben einer solchen Gefahr preiszugeben. Als er in seiner Laufbahn Erfolg gehabt und eine feste Stellung im Leben erlangt hatte, war diese Überlegung bei ihm lange Zeit in Vergessenheit geraten; aber doch war sie ihm immer noch so geläufig, daß sie auch jetzt noch ihren Platz behauptete; und die Besorgnis wegen seiner Feigheit erwies sich auch jetzt noch als so stark, daß Alexei Alexandrowitsch die Frage eines Duells lange von allen Seiten erwog und gleichsam liebkosend damit spielte, wiewohl er im voraus wußte, daß er sich in keinem Falle duellieren werde.
›Zweifellos ist bei uns die obere Gesellschaftsschicht noch so wenig zuvilisiert (anders als in England), daß sehr viele (und unter diesen vielen waren auch Männer, auf deren Meinung Alexei Alexandrowitsch besonderen Wert legte) dem Duell eine gute Seite abgewinnen; aber was für ein Erfolg kann durch ein Duell erzielt werden? Nehmen wir an, ich fordere ihn‹, fuhr Alexei Alexandrowitsch in seinen Überlegungen fort; aber als er sich nun lebhaft die Nacht vorstellte, die er nach der Forderung verleben würde, und dann die auf ihn gerichtete Pistole, da zuckte er zusammen und wurde sich klar darüber, daß er das nie tun werde – ›nehmen wir an, ich fordere ihn. Nehmen wir an, man leitet mich an‹, dachte er weiter, ›man stellt mich auf meinen Platz, ich drücke auf den Abzug‹, sagte er bei sich und [59] machte die Augen zu, ›und es stellt sich heraus, daß ich ihn getötet habe‹, sagte Alexei Alexandrowitsch zu sich und schüttelte mit dem Kopfe, um diese törichten Gedanken zu verscheuchen. ›Welchen Sinn hat es, einen Menschen zu töten, um das eigene Verhältnis zu einer verbrecherischen Gattin und einem Sohn zu ordnen? Ich werde mir nachher ganz ebenso darüber schlüssig werden müssen, was ich mit ihr machen soll. Oder, was noch wahrscheinlicher ist, ja zweifellos eintreten wird, ich werde getötet oder verwundet. Ich, ein schuldloser Mensch, ein Opfer fremder Schlechtigkeit, werde getötet oder verwundet. Das ist noch sinnloser. Und damit noch nicht genug: eine Forderung von meiner Seite würde eine unehrenhafte Handlung sein. Als ob ich nicht voraus wüßte, daß meine Freunde es nie zu lassen werden, daß ich mich duelliere, es nie zulassen werden, daß ein Staatsmann, den Rußland braucht, sein Leben einer solchen Gefahr aussetze. Was würde also die Folge sein? Die Folge würde sein, daß es schiene, als hätte ich, vorauswissend, daß es nie zu einer wirklichen Gefahr kommen werde, mich durch diese Forderung nur mit einem falschen Ruhm umgeben wollen. Eine solche Handlungsweise ist nicht ehrenhaft, das ist eine Unwahrhaftigkeit, ein Versuch, andere und sich selbst zu täuschen. Ein Duell ist hier ganz ausgeschlossen, und niemand erwartet ein solches von mir. Meine Aufgabe besteht darin, meinen guten Ruf zu wahren, dessen ich zur ungehinderten Fortsetzung meiner amtlichen Tätigkeit bedarf.‹ Die amtliche Tätigkeit, die schon früher in Alexei Alexandrowitschs Augen eine große Bedeutung gehabt hatte, erschien ihm jetzt ganz besonders wichtig.
Nachdem er ein Duell erwogen und verworfen hatte, machte Alexei Alexandrowitsch nunmehr die Scheidung zum Gegenstande seines Nachdenkens, den zweiten Weg, für den einige jener Männer, deren er sich erinnerte, sich entschieden hatten. Aber indem er in seinem Gedächtnisse alle ihm bekannten Fälle von Ehescheidungen durchmusterte (es waren ihrer gerade in der höchsten, ihm wohlbekannten Gesellschaft recht viele), fand er auch nicht einen einzigen Fall, wo der Zweck bei der Scheidung der gewesen wäre, den er selbst im Auge hatte. In allen diesen Fällen hatte der Ehemann die treulose Gattin abgetreten oder verkauft, und gerade der Teil, der als der schuldige nicht das Recht gehabt hatte, eine neue Ehe einzugehen, hatte von der Scheidung Vorteil gehabt: er war in ein künstlich ausgeklügeltes, quasi gesetzliches Verhältnis zu einem quasi Gatten eingetreten. Und was seinen eigenen Fall anlangte, so sah Alexei Alexandrowitsch ein, daß eine gesetzliche Scheidung, das heißt eine solche, bei der einfach auf Verstoßung der Frau erkannt [60] wurde, unmöglich sei. Er sah ein, daß die verwickelten Lebensbeziehungen, in denen er sich befand, die Anwendung solcher groben Beweismittel, wie sie das Gesetz zum Erweise der Schuld der Frau forderte, ausschlossen; er sah ein, daß die über feineren Ton geltenden Anschauungen die Anwendung dieser Beweismittel, auch wenn sie wirklich vorhanden waren, nicht zuließen und daß durch die Anwendung dieser Beweismittel er selbst in der Meinung der höheren Kreise mehr erniedrigt werden würde als seine Frau.
Der Versuch, eine Scheidung zu erlangen, konnte nur zu einem Skandalprozesse führen, der seinen Feinden eine erwünschte Gelegenheit gewesen wäre, um ihn zu verleumden und von seiner hohen Stellung in der Welt herabzuziehen. Sein Hauptzweck, die Sache mit möglichst geringem Nachteil für sich zu ordnen, wurde auch durch eine Scheidung nicht erreicht. Außerdem war es klar, daß bei einer Scheidung, ja auch schon bei dem Versuche, eine solche herbeizuführen, seine Frau ihre Beziehungen zu ihm abbrechen und sich mit ihrem Liebhaber verbinden würde. In Alexei Alexandrowitschs Seele aber war, trotz seiner, wie es ihm schien, jetzt völligen Verachtung und Gleichgültigkeit gegen seine Frau, dennoch in bezug auf sie ein Gefühl zurückgeblieben: der Wunsch, sie nach Möglichkeit daran zu hindern, daß sie sich mit Wronski verbinde und so von ihrem Verbrechen Vorteil habe. Schon jener Gedanke versetzte Alexei Alexandrowitsch in eine solche Erregung, daß er bei der bloßen Vorstellung davon vor innerem Schmerz aufstöhnte, sich halb erhob und seinen Platz im Wagen wechselte und noch eine Weile nachher, mit finster zusammengezogener Stirn, seine frierenden, knochigen Beine mit dem dicken, weichen Tuch umwickelte.
›Außer einer förmlichen Scheidung könnte ich auch so verfahren wie Karibanow, Paskudin und dieser gute Dram, das heißt mich von meiner Frau trennen‹, fuhr er, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, in seinen Erwägungen fort. Aber er fand, daß auch diese Maßregel mit demselben Übelstande verbunden sei wie eine Scheidung, daß sie nämlich schmähliches Aufsehen errege und, was die Hauptsache war, daß sie, genau wie eine förmliche Scheidung, seine Frau ihrem Liebhaber in die Arme warf. ›Nein, das ist unmöglich, unmöglich!‹ sagte er laut vor sich hin und griff wieder nach seinem Tuch, um es fester umzuwickeln. ›Mich kann die Sache nicht unglücklich machen; aber anderseits sollen er und sie nicht glücklich sein.‹
Das Gefühl der Eifersucht, das ihn während der Zeit der Ungewißheit gepeinigt hatte, war in dem Augenblicke verschwunden, als ihm durch die Worte seiner Frau unter argen [61] Schmerzen sein Zahn herausgerissen war. Aber an die Stelle jenes Gefühles war ein anderes getreten: der Wunsch, daß sie nicht nur nicht siegen, sondern auch den Lohn für ihr Verbrechen erhalten möge. Er wollte sich dieses Gefühl nicht recht eingestehen; aber in der Tiefe seiner Seele wünschte er, sie möchte dafür leiden, daß sie seine Ruhe und seine Ehre beeinträchtigt hatte. Und nachdem Alexei Alexandrowitsch von neuem alles erwogen hatte, was für oder gegen ein Duell, eine Scheidung, eine Trennung in die Waagschale fiel, und von neuem all diese drei Wege verworfen hatte, gelangte er zu der Überzeugung, daß es nur einen Ausweg gebe: sie bei sich zu behalten, das Geschehene vor der Welt zu verbergen und alle in seiner Macht liegenden Maßregeln zur Anwendung zu bringen, um jener Liebschaft ein Ende zu machen und (dies war der Hauptzweck, den er sich aber nicht eingestand) sie zu bestrafen. ›Ich muß ihr als meinen Entschluß eröffnen, daß ich nach Erwägung der schwierigen Lage, in die die Familie durch sie gekommen ist, alle anderen Wege dem Interesse beider Seiten für nachteiliger erachten muß als die Bewahrung des äußeren Status quo, und daß ich mit dessen Bewahrung einverstanden sein will, aber nur unter der strengen Bedingung, daß sie ihrerseits meine Forderung erfüllt, ihr Verhältnis zu ihrem Liebhaber zu lösen.‹ Nachdem Alexei Alexandrowitsch diesen Beschluß bereits endgültig gefaßt hatte, fiel ihm noch ein wichtiger Umstand ein, der ihn noch darin bestärkte. ›Nur bei einem solchen Verfahren‹, sagte er sich, ›werde ich auch in Übereinstimmung mit den Geboten der Religion handeln; nur bei diesem Verfahren stoße ich das verbrecherische Weib nicht von mir, sondern gebe ihr die Möglichkeit, sich zu bessern; ja, ich will sogar, so schwer es mir auch werden mag, einen Teil meiner Kraft ihrer Besserung und Rettung widmen.‹ Obgleich Alexei Alexandrowitsch wußte, daß er keine moralische Einwirkung auf seine Frau auszuüben in der Lage war, und daß dieser ganze Besserungsversuch lediglich auf Unwahrhaftigkeit und Verstellung hinauslaufen werde, und obgleich er in den schweren Augenblicken, die er jetzt durchlebte, auch nicht ein einziges Mal daran gedacht hatte, in der Religion eine Richtschnur zu suchen, so gewährte ihm doch jetzt, wo sein Entschluß nach seiner Ansicht mit den Forderungen der Religion zusammenfiel, diese religiöse Bestätigung seines Entschlusses eine große Befriedigung und beruhigte ihn sogar zum Teil. Es war ihm angenehm zu denken, daß auch bei einer so ernsten Lebensangelegenheit niemand werde sagen können, er habe nicht gemäß den Geboten jener Religion gehandelt, deren Fahne er inmitten der allgemeinen Erkaltung und Gleichgültigkeit [62] stets hochgehalten hatte. Bei weiterer eingehender Überlegung vermochte Alexei Alexandrowitsch nicht einmal abzusehen, warum sein Verhältnis zu seiner Frau nicht beinahe dasselbe bleiben könne wie bisher. Allerdings werde er zweifellos nie imstande sein, ihr seine Achtung wieder zuzuwenden; aber seiner Ansicht nach gab es keinen Grund und konnte auch keinen geben, weshalb er leiden und sich sein Leben zerstören sollte, nur weil sie eine schlechte, treulose Gattin war. ›Ja, es wird die Zeit dahinwandeln, die alles ausgleichende Zeit, und unsere Beziehungen werden wieder die früheren werden‹, sagte sich Alexei Alexandrowitsch, ›wenigstens insoweit, daß ich keine Störung im ruhigen Flusse meines Lebens empfinde. Sie wird notwendigerweise unglücklich sein; aber ich habe keine Schuld, und daher kann ich nicht unglücklich sein.‹
Als Alexei Alexandrowitsch in Petersburg ankam, war er nicht nur in diesem Entschlusse vollkommen fest geworden, sondern er hatte auch bereits in seinem Kopfe den Brief entworfen, den er an seine Frau schreiben wollte. In die Loge des Pförtners tretend, warf er einen Blick auf die eingegangenen Briefe und die aus dem Ministerium geschickten Akten und gab Befehl, alles nach seinem Arbeitszimmer zu bringen.
»Ausspannen und niemand vorlassen!« antwortete er auf die Frage des Pförtners mit einem gewissen Behagen, aus dem man auf seine gute Stimmung schließen konnte; einen besonderen Nachdruck legte er dabei auf die Worte: »Niemand vorlassen!«
In seinem Arbeitszimmer ging Alexei Alexandrowitsch zweimal auf und ab und blieb dann vor seinem gewaltigen Schreibtische stehen, auf dem der Kammerdiener, sobald er ihn hatte vorfahren sehen, bereits sechs Kerzen angezündet hatte, knackte mit den Fingern, setzte sich und legte Papier und Feder zurecht. Die Ellbogen auf den Tisch stützend, neigte er den Kopf zur Seite, dachte etwa eine Minute lang nach und begann dann zu schreiben, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten. Er schrieb, ohne sich einer Anrede an seine Frau zu bedienen, und zwar französisch, wobei er das Fürwort vous verwendete, das nicht so kalt klingt wie das entsprechende russische Fürwort.
»Bei unserer letzten Unterredung sagte ich Ihnen, daß ich die Absicht hätte, Ihnen meinen Entschluß über den Gegenstand unseres Gespräches mitzuteilen. Nachdem ich alles sorgsam durchdacht habe, schreibe ich jetzt, um dieses Versprechen zu [63] erfüllen. Mein Entschluß ist folgender: von welcher Art auch immer Ihr Verhalten gewesen sein mag, so halte ich mich doch nicht für berechtigt, die heiligen Bande zu zerreißen, mit denen eine höhere Macht uns verknüpft hat. Die Zusammengehörigkeit der Familie kann nicht durch eine Laune, durch die Willkür, ja nicht einmal durch ein Verbrechen eines der Gatten zerstört werden, und unser Leben muß auch in Zukunft denselben Gang nehmen, den es bisher genommen hat. Dies ist um meinetwillen, um Ihretwillen und um unseres Sohnes willen notwendig. Ich bin der festen Überzeugung, daß Sie das, was den Anlaß des vorliegenden Briefes bildet, bereut haben und noch bereuen, und daß Sie mir helfen werden, die Ursache unseres Zwistes mit der Wurzel auszureißen und das Vergangene zu vergessen. Andernfalls werden Sie sich selbst sagen können, was Sie und Ihren Sohn erwartet. Ich hoffe, daß ich bei einer persönlichen Zusammenkunft alles dies eingehender mit Ihnen werde besprechen können. Da die Hauptzeit für die Sommerfrische zu Ende geht, so möchte ich Sie bitten, möglichst bald, jedenfalls nicht später als Dienstag, wieder nach Petersburg überzusiedeln. Alle für Ihren Umzug erforderlichen Anordnungen werden getroffen werden. Ich bitte Sie zu beachten, daß ich auf die Erfüllung dieser meiner Bitte besonderen Wert lege.
A. Karenin
PS. Anbei eine Geldsumme, die Sie für Ihre Ausgaben vielleicht benötigen werden.«
Er las den Brief noch einmal durch und war mit ihm zufrieden, namentlich auch damit, daß er daran gedacht hatte, Geld beizufügen; der Brief enthielt kein scharfes Wort und keinen Vorwurf, war aber auch nicht in freundlichem Tone gehalten. Die Hauptsache aber war: er hatte damit seiner Frau eine goldene Brücke zur Rückkehr gebaut. Er faltete den Brief zusammen, strich ihn mit einem großen, kräftigen, elfenbeinernen Papiermesser glatt und steckte ihn mit den Banknoten in einen Umschlag; all das tat er mit jenem Behagen, das die Handhabung seiner vorzüglich beschaffenen Schreibgeräte immer bei ihm hervorrief. Darauf klingelte er.
»Gib das dem Kurier, damit er es morgen zu Anna Arkadjewna nach dem Landhause hinausbringt!« sagte er und erhob sich.
»Zu Befehl, Exzellenz. Befehlen Sie den Tee hier im Arbeitszimmer?«
Alexei Alexandrowitsch befahl, den Tee ins Arbeitszimmer zu bringen, und ging, indem er das kräftige Papiermesser spielend in der Hand bewegte, zu einem Lehnsessel, neben dem auf [64] einem Tische eine Lampe brannte und ein französisches Buch über die Eugubinischen Inschriften lag, dessen Lektüre er begonnen hatte. Über dem Sessel hing in einem ovalen Goldrahmen ein Bild Annas, von einem berühmten Künstler vorzüglich ausgeführt. Alexei Alexandrowitsch betrachtete es. Die rätselhaften Augen blickten ihn spöttisch und keck an, wie an jenem letzten Abend, als er ihr Vorhaltungen gemacht hatte. Unerträglich keck und herausfordernd wirkte auf Alexei Alexandrowitsch der Anblick der von dem Künstler vortrefflich gemalten schwarzen Spitzen auf dem Kopfe sowie der Anblick des schwarzen Haars und der weißen, schönen Hand mit dem von Ringen bedeckten Goldfinger. Nachdem Alexei Alexandrowitsch das Bild etwa eine Minute lang angesehen hatte, schauerte er so zusammen, daß seine Lippen einen Laut des Unwillens hervorbrachten. Er wendete sich ab, setzte sich eilig in den Sessel und öffnete das Buch. Er versuchte zu lesen, vermochte aber nicht das Interesse für die Eugubinischen Inschriften wiederzugewinnen, das vorher bei ihm so lebendig gewesen war. Er blickte in das Buch hinein und dachte an ganz andere Dinge. Er dachte aber nicht an seine Frau, sondern an eine hemmende Schwierigkeit, die vor kurzem in seiner staatsmännischen Tätigkeit eingetreten war und ihn jetzt in höherem Grade als alle seine anderen dienstlichen Angelegenheiten in Anspruch nahm. Er fühlte, daß er jetzt tiefer als je mit seinem Verstande in diesen schwierigen Fall eindrang und daß in seinem Kopfe ein (das konnte er ohne Selbstüberhebung sagen) ausgezeichneter Gedanke in der Bildung begriffen war, der diese ganze Angelegenheit entwirren, ihn in seiner dienstlichen Laufbahn fördern, seine Feinde zu Boden schmettern und somit auch dem Staate den größten Nutzen bringen mußte. Sobald der Diener den Tee aufgetragen und das Zimmer wieder verlassen hatte, stand Alexei Alexandrowitsch auf und trat an seinen Schreibtisch. Nachdem er die Mappe mit den laufenden Angelegenheiten in die Mitte der Platte geschoben hatte, nahm er mit einem ganz leisen, selbstzufriedenen Lächeln einen Bleistift aus dem Ständer und vertiefte sich in die Lektüre eines von ihm eingeforderten umfangreichen und schwierigen Aktenstückes, das sich auf den gegenwärtigen Fall bezog. Der aber war folgender Art: Eine vermeintliche Eigentümlichkeit Alexei Alexandrowitschs in seiner staatsmännischen Tätigkeit, ein nach seiner Überzeugung ihm besonders eigener Charakterzug, den sich aber jeder hervorragende Beamte zuschreibt, ein Charakterzug, der, im Verein mit seinem hartnäckigen Ehrgeiz, seiner klugen Zurückhaltung, seiner Ehrenhaftigkeit und seinem Selbstvertrauen, [65] ihm zu seiner glänzenden Laufbahn verholfen hatte, bestand in der Geringschätzung des amtlichen Aktenwesens, in dem Dringen auf Einschränkung des amtlichen Hin- und Herschreibens zwischen den Behörden, in der Absicht, nach Möglichkeit unmittelbar an den Kern einer jeden Frage heranzutreten, und in seiner Sparsamkeit. Nun hatte sich in der berühmten Kommission vom 2. Juni etwas Eigenartiges zugetragen: die Angelegenheit der Berieselung der Felder im Gouvernement Saraisk, die zum Dienstbereich des Ministeriums gehörte, in dem Alexei Alexandrowitsch arbeitete, und die allerdings ein krasses Beispiel unfruchtbarer Ausgaben und papierner Behandlungsweise bot, diese Angelegenheit war von einem andern Ministerium zur Sprache gebracht worden. Alexei Alexandrowitsch wußte, daß die tadelnde Kritik begründet war. Diese Berieselung der Felder im Gouvernement Saraisk war von dem Vorgänger seines Vorgängers eingerichtet worden. Und in der Tat, eine Menge Geld war für diese Sache bereits aufgewandt worden und wurde noch fortdauernd dafür aufgewandt, und zwar völlig ertraglos; es war klar, daß die ganze Sache zu nichts führen konnte. Alexei Alexandrowitsch hatte, als er in sein jetziges Amt eintrat, dies sofort erkannt und sich vorgenommen, die Sache in Angriff zu nehmen; aber in der ersten Zeit, wo er sich in seiner Stellung noch nicht hinreichend befestigt fühlte, hatte er bedacht, daß ein Eingreifen die Interessen gar zu vieler Leute verletzen würde und daher unklug sei; und später hatte er, stark mit anderen Dingen beschäftigt, diese Sache einfach vergessen. Sie ging wie all solche Sachen nach dem Beharrungsgesetze von selbst in demselben Geleise weiter. (Viele Leute hatten davon ihren Lebensunterhalt, so namentlich auch eine sehr moralische und musikalische Familie, deren sämtliche Töchter Saiteninstrumente spielten. Alexei Alexandrowitsch kannte diese Familie und war Brautvater bei einer der älteren Töchter gewesen.) Daß ein feindliches Ministerium diese Angelegenheit aufrührte, betrachtete Alexei Alexandrowitsch als eine wenig ehrenhafte Handlungsweise, da es in jedem Ministerium noch ganz andere Sachen gebe, an denen dennoch aus einer Art von dienstlichem Anstandsgefühl niemand rühre. Da man ihm aber nun einmal den Fehdehandschuh hingeworfen hatte, so hatte er ihn kühn aufgenommen und die Einsetzung einer besonderen Kommission verlangt zum Zwecke des Studiums und der Revision der Arbeiten der Kommission für Berieselung der Felder im Gouvernement Saraisk; aber zur Vergeltung hatte er nun auch seinerseits diesen Herren nichts durchgehen lassen. Er hatte auch noch die Einsetzung einer besonderen Kommission in Sachen der [66] Verwaltungseinrichtungen bei den kleinen Volksstämmen nichtrussischer Nationalität verlangt. Diese Angelegenheit der Verwaltungseinrichtungen der Fremdvölker war zufällig in der Kommission vom 2. Juni zur Sprache gekommen, und Alexei Alexandrowitsch hatte mit allem Nachdruck betont, daß diese Angelegenheit bei der bedauernswerten Lage der Fremdvölker schlechterdings keinen Aufschub dulde. In der Komiteesitzung hatte diese Angelegenheit die Veranlassung zu einem scharfen Wortwechsel zwischen mehreren Ministerien gegeben. Das gegen Alexei Alexandrowitsch feindlich gesinnte Ministerium hatte darauf den Beweis geführt, daß die Fremdvölker sich in einem geradezu blühenden Zustande befänden und daß die vorgeschlagene Umgestaltung der Verwaltungseinrichtungen diesen blühenden Zustand möglicherweise vernichten könne; wenn aber wirklich etwas nicht in guter Ordnung sei, so komme das lediglich daher, daß Alexei Alexandrowitschs Ministerium die durch das Gesetz vorgeschriebenen Maßregeln nicht zur Anwendung gebracht habe. Jetzt also beabsichtigte Alexei Alexandrowitsch folgendes zu fordern; erstens, es solle eine neue Kommission eingesetzt werden mit dem Auftrage, den Zustand der Fremdvölker an Ort und Stelle zu untersuchen; zweitens, wenn es sich erweise, daß die Lage der Fremdvölker tatsächlich eine solche sei, wie sie nach den in den Händen des Komitees befindlichen amtlichen Unterlagen erscheine, so solle noch eine andere, neue, wissenschaftliche Kommission gebildet werden zur Untersuchung der Ursachen dieses unerfreulichen Zustandes der Fremdvölker, und zwar von folgenden Gesichtspunkten aus: a) vom politischen, b) vom administrativen, c) vom ökonomischen, d) vom ethnographischen, e) vom materiellen und f) vom religiösen; drittens, es solle dem feindlichen Ministerium aufgegeben werden, einen Bericht vorzulegen über die Maßregeln, die dieses Ministerium während der letzten zehn Jahre zur Verhütung der ungünstigen Verhältnisse getroffen habe, in denen sich die Fremdvölker jetzt befänden; und endlich viertens, das Ministerium solle zu einer Erklärung darüber aufgefordert werden, weshalb es, wie sich aus den dem Komitee zugegangenen Berichten unter Nr. 17015 und Nr. 18308 vom 5. Dezember 1863 und vom 7. Juni 1864 ergebe, dem Sinne des organischen Grundgesetzes, Band ... Artikel 18 und Artikel 36 Anmerkung, direkt zuwidergehandelt habe. Die Röte lebhafter Erregung überzog Alexei Alexandrowitschs Gesicht, als er sich schnell eine kurze Übersicht dieser Gedanken niederschrieb. Nachdem er einen Bogen vollgeschrieben hatte, stand er auf und klingelte; dann schrieb er einen Zettel und schickte ihn an den Subdirektor, um sich[67] die Auskünfte zu verschaffen, deren er noch bedurfte. Nun stand er wieder auf, ging im Zimmer auf und ab, blickte nochmals nach dem Bild, zog die Brauen zusammen und lächelte geringschätzig. Darauf las er noch ein Weilchen in dem Buche über die Eugubinischen Inschriften, für die er wieder Interesse gewann. Um elf Uhr ging er schlafen, und als er, im Bett liegend, sich den Vorfall mit seiner Frau ins Gedächtnis zurückrief, da erschien er ihm gar nicht mehr in so trübem Lichte.
Anna hatte zwar hartnäckig und erregt widersprochen, als Wronski ihr gesagt hatte, daß ihre Lage auf die Dauer unmöglich sei; aber in der Tiefe ihrer Seele hatte doch auch sie ihre Lage für unwahrhaft und unehrenhaft gehalten und von ganzem Herzen gewünscht, sie zu ändern. Als sie dann mit ihrem Manne vom Rennen nach Hause fuhr, hatte sie ihm in einem Augenblicke der Aufwallung alles gesagt und war trotz des Schmerzes, den sie dabei empfunden hatte, froh gewesen, es getan zu haben. Nachdem dann ihr Mann sie allein gelassen, hatte sie sich gesagt, sie sei froh, daß jetzt alles ins klare komme und wenigstens die Lüge und Verstellung aufhöre. Es war ihr als zweifellos erschienen, daß jetzt ihre Lage für immer geregelt werden würde. Sie hatte sich gesagt, diese neue Lage könne ja möglicherweise übel sein; aber sie werde doch geregelt sein und frei von Unklarheit und Lüge. Der Schmerz, den sie sich und ihrem Mann dadurch bereitet habe, daß sie so offen gesprochen habe, werde jetzt dadurch wieder ausgeglichen werden, daß nun alles in einen geregelten Zustand komme. An diesem Abend hatte sie dann noch ein Zusammensein mit Wronski gehabt, hatte ihm aber nicht gesagt, was zwischen ihr und ihrem Manne vorgegangen war, obgleich sie zur Klärung und Regelung der Lage es ihm hätte sagen müssen.
Als sie am anderen Morgen aufwachte, waren die Worte, die sie zu ihrem Manne gesprochen hatte, das erste, was ihr in den Sinn kam, und diese Worte erschienen ihr so schrecklich, daß sie jetzt gar nicht begreifen konnte, wie sie es hatte über sich gewinnen können, diese seltsamen, rohen Worte auszusprechen, so schrecklich, daß sie sich nicht vorzustellen vermochte, was nun die Folge sein werde. Aber gesprochen waren die Worte nun einmal, und Alexei Alexandrowitsch war weggefahren, ohne etwas gesagt zu haben. ›Ich habe Wronski gesehen‹, sagte sich Anna, ›und ihm nichts davon gesagt. Noch in dem Augenblicke, [68] als er fortging, wollte ich ihn zurückrufen und es ihm sagen; aber ich gab diese Absicht wieder auf, weil er es doch seltsam gefunden hätte, daß ich es ihm nicht gleich im ersten Augenblick gesagt hatte. Wie kam das nur, daß ich es ihm zwar sagen wollte, es ihm aber doch nicht sagte?‹ Und als Antwort auf diese Frage übergoß glühende Schamröte ihr Gesicht. Sie sah ein, was sie davon zurückgehalten hatte; sie sah ein, daß es die Scham gewesen war. Ihre Lage, die sie am Abende des vorhergehenden Tages für geklärt gehalten hatte, erschien ihr jetzt auf einmal nicht nur als noch ganz ungeklärt, sondern geradezu als verzweifelt. Sie fürchtete die Schande, an die sie früher überhaupt nicht gedacht hatte. Und als sie jetzt überdachte, was ihr Mann wohl tun könne, da kamen ihr die schrecklichsten Vermutungen. Es kam ihr der Gedanke, es werde unverzüglich der Geschäftsführer erscheinen und sie aus dem Hause treiben, und so werde dann ihre Schande der ganzen Welt offenbar werden. Sie fragte sich, wohin sie sich begeben solle, wenn man sie aus dem Hause triebe, und fand auf diese Frage keine Antwort.
Wenn sie an Wronski dachte, so hatte sie jetzt die Vorstellung, er liebe sie nicht mehr, er fange schon an, sie als eine Last zu betrachten, und ihr Stolz raunte ihr zu, sie könne sich ihm doch nicht anbieten; so erwachte in ihr geradezu ein Gefühl der Feindschaft gegen ihn. Es war ihr, als ob sie die Worte, die sie zu ihrem Manne gesagt hatte und die sie sich in Gedanken unaufhörlich wiederholte, zu allen Menschen gesagt hätte, und als ob alle Menschen sie gehört hätten. Sie wagte nicht, den Leuten, die sie um sich hatte, in die Augen zu sehen; sie wagte nicht, ihre Kammerjungfer zu rufen, und noch weniger, hinunterzugehen und ihrem Sohne und seiner Gouvernante gegenüberzutreten.
Die Kammerjungfer, die schon lange an der Tür gehorcht hatte, kam nun von selbst zu ihr ins Zimmer. Anna blickte ihr fragend in die Augen und errötete erschrocken. Die Kammerjungfer bat um Entschuldigung, daß sie hereingekommen sei; sie habe geglaubt, es sei geklingelt worden. Sie brachte ein Kleid und ein Briefchen. Das Briefchen war von Betsy. Betsy erinnerte sie daran, daß an diesem Vormittage Lisa Merkalowa und die Baronin Stoltz mit den beiden Verehrern jener, dem Fürsten Kaluschski und dem alten Stremow, sich zu einer Krocketpartie bei ihr zusammenfinden würden. »Kommen Sie wenigstens zum Zusehen, zum Zwecke des Studiums der Sittenlehre. Ich erwarte Sie«, schloß sie.
Anna las das Briefchen und seufzte schwer.
»Ich brauche weiter nichts«, sagte sie zu Annuschka, die damit beschäftigt war, die Fläschchen und Bürsten auf dem Toilettentische [69] handlich zu ordnen. »Geh nur; ich werde mich gleich anziehen und hinunterkommen. Ich brauche nichts weiter.«
Annuschka ging hinaus; Anna aber kleidete sich nicht an, sondern blieb in derselben Haltung, mit gesenktem Kopfe und schlaff herabhängenden Armen, sitzen; ab und zu zuckte sie mit dem ganzen Körper zusammen, als ob sie eine Handbewegung machen, etwas sagen wollte; aber sofort versank sie auch wieder in denselben Zustand der Starrheit. Sie wiederholte unaufhörlich: ›Mein Gott! Mein Gott!‹ Aber weder das Wort Gott noch das Wort mein hatte für sie irgendwelchen Sinn. Der Gedanke, für ihre Lage Hilfe in der Religion zu suchen, war ihr, obgleich ihr nie Zweifel an der Religion gekommen waren, in der man sie erzogen hatte, doch genau ebenso fremd wie der, bei Alexei Alexandrowitsch selbst Hilfe zu suchen. Sie wußte im voraus, daß Hilfe durch die Religion für sie nur unter der Bedingung möglich sei, daß sie auf das verzichtete, was doch für sie den gesamten Lebensinhalt ausmachte. Es war ihr nicht nur schwer ums Herz, sondern sie begann sich auch vor diesem neuen Seelenzustande, den sie bisher noch nie kennengelernt hatte, zu fürchten. Sie hatte eine Empfindung, als ob sich in ihrer Seele alles verdoppele, so wie sich mitunter vor ermüdeten Augen die Gegenstände verdoppeln. Sie wußte zeitweilig nicht, was sie eigentlich fürchtete und was sie eigentlich wünschte. Ob sie das, was war, oder das, was die Zukunft bringen werde, fürchtete und wünschte und was sie denn nun eigentlich wünschte, das wußte sie nicht.
›Ach, was tue ich da!‹ sagte sie zu sich, als sie auf einmal einen Schmerz an beiden Seiten des Kopfes empfand. Nachdem sie ihre Gedanken gesammelt hatte, merkte sie, daß sie ihre Haare an den Schläfen mit beiden Händen gepackt hielt und zusammenzog. Sie sprang auf und ging im Zimmer hin und her.
»Der Kaffee ist fertig, und Mamsell und Sergei warten«, meldete Annuschka, die zurückkehrte und Anna noch nicht weiter angekleidet fand.
»Sergei? Was macht Sergei?« fragte Anna, auf ein mal lebhafter werdend; zum erstenmal an diesem ganzen Morgen erinnerte sie sich an das Dasein ihres Sohnes.
»Er hat etwas begangen, glaube ich«, antwortete Annuschka lächelnd.
»Was heißt das: ›er hat etwas begangen‹?«
»Im Eckzimmer hatten Sie eine Schale mit Pfirsichen stehen; davon hat er einen heimlich gegessen, glaube ich.«
Durch den Gedanken an ihren Sohn wurde Anna auf einmal aus der Verzweiflung herausgerissen, in der sie sich über ihre [70] Lage befand. Sie gedachte der zum Teil aufrichtigen, wenn auch stark übertriebenen Rolle der nur für ihren Sohn lebenden Mutter, die sie in den letzten Jahren durchgeführt hatte, und wurde sich mit Freude bewußt, daß sie trotz ihrer üblen Lage doch ein Gebiet hatte, das von ihrem Verhältnisse zu ihrem Manne und zu Wronski unabhängig war. Dieses Gebiet war ihr Sohn. Wie sich ihre eigene Lage auch gestalten mochte, ihren Sohn konnte sie nicht verlassen. Mochte ihr Mann sie auch der Schande preisgeben und verstoßen, mochte auch Wronski gegen sie kalt werden und sein unabhängiges Leben fortsetzen (wieder war die Erinnerung an ihn mit Vorwürfen und mit Bitterkeit verbunden), von ihrem Sohne konnte sie sich nicht lossagen. Sie hatte einen Lebenszweck, und sie mußte handeln, handeln, um dieses Verhältnis zu ihrem Sohne zu sichern, damit man ihn ihr nicht nehmen könne. Sie mußte sogar schnell handeln, so schnell wie nur irgend möglich, ehe man ihn ihr noch genommen hatte. Sie mußte ihren Sohn nehmen und mit ihm wegreisen. Das war das einzige, was sie jetzt tun konnte und mußte. Sie mußte zur Ruhe gelangen und aus dieser qualvollen Lage herauskommen. Der Gedanke an ein eigenes Handeln, das ihren Sohn betraf, und an die sofortige Abreise mit ihm nach einem noch unbestimmten Ziele verlieh ihr diese notwendige Ruhe.
Sie kleidete sich schnell an, ging hinunter und trat mit festem Schritt in das Wohnzimmer, wo wie gewöhnlich der Kaffee und Sergei mit seiner Gouvernante auf sie warteten. Sergei, in weißem Anzuge, stand an einem Tische unter dem Spiegel, den Rücken und den Kopf herabbeugend; mit dem Ausdrucke gespannter Aufmerksamkeit, den sie an ihm kannte und der ihn seinem Vater ähnlich machte, nahm er mit den Blumen, die er mitgebracht hatte, irgend etwas vor.
Die Gouvernante machte eine besonders strenge Miene. Sergei rief überlaut, wie er das öfters tat: »Ah, Mama!« und blieb unschlüssig stehen: sollte er die Blumen hinlegen und zu seiner Mutter gehen, um sie zu begrüßen, oder sollte er erst den Kranz fertigmachen und dann mit diesem zu ihr gehen.
Die Gouvernante begann nach der Begrüßung langsam und ausführlich das Vergehen zu berichten, das Sergei begangen hatte; aber Anna hörte ihr nicht zu; sie überlegte unterdessen, ob sie die Gouvernante mitnehmen solle. ›Nein, ich will sie nicht mitnehmen‹, war das Ergebnis ihrer Überlegung. ›Ich will mit meinem Sohn allein reisen.‹
»Ja, das war sehr unartig«, sagte Anna, faßte ihren Sohn an der Schulter, sah ihn nicht mit einem strengen, sondern vielmehr mit einem schüchternen Blicke an, der den Knaben in Verlegenheit [71] setzte und erfreute, und küßte ihn. »Lassen Sie ihn nur bei mir!« sagte sie zu der verwunderten Gouvernante und setzte sich, ohne die Hand ihres Sohnes loszulassen, an den Kaffeetisch, auf dem alles bereit war.
»Mama, ich ... ich wollte nicht ...«, sagte er und versuchte aus ihrem Gesichtsausdruck zu erraten, was seiner für den Pfirsich warte.
»Sergei«, sagte sie, sobald die Gouvernante das Zimmer verlassen hatte, »das war unartig; aber du wirst es nicht wieder tun, nicht wahr? ... Du hast mich doch lieb?«
Sie fühlte, daß ihr die Tränen in die Augen traten. ›Ist es denn denkbar, daß ich ihn jemals nicht mehr lieben sollte?‹ sagte sie zu sich selbst, während sie in seine erschrockenen und zugleich freudig aufleuchtenden Augen tief hineinschaute. ›Sollte er wirklich je mit seinem Vater eines Sinnes darin werden, über mich den Stab zu brechen? Wird er wirklich mit mir kein Mitleid haben?‹ Die Tränen liefen ihr schon über das Gesicht, und um sie zu verbergen, stand sie plötzlich auf und eilte, fast laufend, auf die Terrasse hinaus.
Nach dem Gewitterregen der letzten Tage war kühles, klares Wetter eingetreten. Trotz des hellen Sonnenscheins, der durch das vom Regen blank gewaschene Laubwerk der Bäume drang, war es in der Luft kalt.
Sie schauderte zusammen, sowohl vor Kälte wie auch infolge der inneren Angst, die sie in der reinen Luft mit neuer Kraft überfiel.
»Geh zu Mariette, geh!« sagte sie zu Sergei, der hinter ihr her herausgekommen war, und begann auf der Strohmatte, die auf der Terrasse lag, auf und ab zu gehen. ›Werden die Menschen mir denn wirklich nicht verzeihen und nicht verstehen, daß das alles so kommen mußte, mußte?‹ fragte sie sich selbst.
Sie blieb stehen und blickte nach den im Winde schwankenden Wipfeln der Eichen mit den reingewaschenen, im kalten Sonnenschein glänzenden Blättern, und sie war überzeugt, daß die Menschen ihr nicht verzeihen würden, daß alles und alle jetzt gegen sie ebenso erbarmungslos sein würden wie dieser Himmel und wie dieses Grün. Und wieder hatte sie die Empfindung, daß sich in ihrer Seele etwas zu verdoppeln anfange. ›Nur nicht denken, nur nicht denken!‹ sagte sie bei sich. ›Ich muß mich zur Reise fertigmachen. Wohin soll ich reisen? Wann? Wen soll ich mitnehmen? Ja, ich will nach Moskau fahren, mit dem Abendzug. Annuschka und Sergei will ich mitnehmen, und nur die notwendigsten Sachen. Aber vorher muß ich an beide schreiben.‹ Schnell ging sie ins Haus, in ihr Zimmer, setzte sich an den Tisch und schrieb an ihren Mann:
[72] »Nach dem, was vorgefallen ist, kann ich nicht länger in Ihrem Hause bleiben. Ich reise ab und nehme meinen Sohn mit. Ich kenne die gesetzlichen Bestimmungen nicht und weiß daher nicht, bei wem von den Eltern der Sohn bleiben muß; aber ich nehme ihn mit, weil ich ohne ihn nicht leben kann. Seien Sie großmütig und lassen Sie ihn mir!«
Bis dahin hatte sie schnell, und wie es ihr in die Feder kam, geschrieben; aber der Appell an seine Großmut, die sie bei ihm gar nicht für ein mögliches Gefühl hielt, und anderseits die Notwendigkeit, dem Briefe irgendeinen rührenden Schluß zu geben, brachten sie zum Stocken.
»Von meiner Schuld und meiner Reue kann ich nicht reden, weil ...«
Wieder hielt sie inne, da sie in ihren Gedanken keinen logischen Zusammenhang fand. ›Nein‹, sagte sie bei sich, ›so etwas darf ich nicht schreiben.‹ Sie zerriß den Brief, schrieb ihn noch einmal mit Weglassung der Stelle von der Großmut und siegelte ihn zu.
Einen zweiten Brief mußte sie an Wronski schreiben. »Ich habe meinem Manne mitgeteilt«, schrieb sie und saß dann lange da, ohne daß sie in sich die Kraft zum Weiterschreiben gefunden hätte. Das war so roh, so unweiblich. ›Und dann, was kann ich ihm denn eigentlich schreiben?‹ dachte sie. Wieder überzog Schamröte ihr Gesicht; sie mußte an sein ruhiges Wesen denken, und ein Gefühl des Ärgers über ihn veranlaßte sie, den Briefbogen mit dem angefangenen Satze in kleine Stücke zu zerreißen. ›Ich brauche ihm gar nichts zu schreiben‹, sagte sie sich; sie legte die Briefmappe zusammen, ging hinauf, teilte der Gouvernante und der Dienerschaft mit, daß sie heute nach Moskau fahren werde, und machte sich sofort daran, die Sachen zu packen.
In allen Zimmern des Landhauses gingen Hausknechte, Gärtner und Diener umher und trugen Sachen hinaus. Die Schränke und die Kommoden waren geöffnet; zweimal war zum Kaufmann geschickt worden, um Stricke zum Packen zu holen; der Fußboden lag voll Zeitungspapier. Zwei Koffer, mehrere Säcke und zusammengebundene Reisedecken waren schon ins Vorzimmer getragen. Eine Kutsche und zwei Droschken hielten vor der Haustür. Anna, die über der Arbeit des Packens ihre innere Unruhe vergessen hatte, stand in ihrem Zimmer am Tische und packte ihre Reisetasche, als Annuschka sie auf das Geräusch eines herankommenden Wagens aufmerksam machte. Anna warf[73] einen Blick aus dem Fenster und sah an der Haustür Alexei Alexandrowitschs Kurier, der dort die Klingel zog.
»Geh und sieh zu, was es gibt«, sagte sie; mit ruhiger Ergebung in alles, was da kommen konnte, setzte sie sich auf einen Sessel und legte die Hände über den Knien zusammen. Ein Diener brachte einen dicken Brief, dessen Anschrift Alexei Alexandrowitschs Handschrift aufwies.
»Der Kurier soll auf Antwort warten«, sagte er.
»Gut«, erwiderte sie und riß, sobald er hinausgegangen war, den Brief mit zitternden Fingern auf. Ein Päckchen Banknoten, die, ohne zusammengefaltet zu sein, mit einem Papierstreifen umklebt waren, fiel aus ihm heraus. Sie entfaltete den Brief und begann, vom Ende anfangend, ihn zu lesen. »Alle für Ihren Umzug erforderlichen Anordnungen werden getroffen werden«, las sie. »Ich bitte Sie, zu beachten, daß ich auf die Erfüllung dieser meiner Bitte besonderen Wert lege.« Sie überflog mit den Augen den vorhergehenden Abschnitt, las alles und las dann den ganzen Brief noch einmal von vorn. Als sie an das Ende gelangt war, fühlte sie, daß sie fror und daß ein so furchtbares Unglück über sie hereingebrochen war, wie sie es nicht erwartet hatte.
Sie hatte am Morgen bereut, es ihrem Manne gesagt zu haben, und nur den einen Wunsch gehabt, diese Worte möchten für so gut wie ungesagt angesehen werden. Und nun betrachtete dieser Brief die Worte als ungesagt und gewährte ihr das, was sie gewünscht hatte. Aber jetzt erschien ihr dieser Brief furchtbarer als alles, was sie sich nur hatte vorstellen können.
›Er hat recht, er hat recht!‹ sagte sie. ›Selbstverständlich, er hat immer recht, er ist ein Christ, er ist großmütig! Ja, ein niedrig denkender, garstiger Mensch ist er! Und das durchschaut niemand außer mir, und niemand außer mir wird es je durchschauen, und ich kann es niemandem klarmachen. Alle sagen sie: »So ein religiöser, moralischer, ehrenhafter, kluger Mann!« aber sie sehen nicht, was ich gesehen habe. Sie wissen nicht, daß er acht Jahre lang mein Leben erstickt hat, alles erstickt hat, was in meinem Innern lebendig war, daß ihm kein einziges Mal auch nur der Gedanke gekommen ist, daß ich eine lebendige Frau bin, die der Liebe bedarf. Sie wissen nicht, wie er mich auf Schritt und Tritt gekränkt hat und dabei doch der selbstzufriedene Mann geblieben ist, der er war. Habe ich mich nicht bemüht, mit aller Kraft bemüht, meinem Leben einen würdigen Inhalt zu geben? Habe ich nicht versucht, ihn zu lieben und, als ich meinen Mann nicht mehr lieben konnte, meinen Sohn zu lieben? Aber dann kam schließlich der Zeitpunkt, wo ich einsah, daß ich mich nicht mehr selbst betrügen konnte und daß ich ein lebendes[74] Wesen bin und nichts dafür kann, wenn Gott mich so geschaffen hat, daß es mir ein Bedürfnis ist zu lieben und zu leben. Und was tut dieser Mensch jetzt? Wenn er mich tötete, wenn er ihn tötete – ich würde alles ertragen, alles verzeihen; aber nein, er ...
Wie ist es nur möglich, daß ich nicht gleich erraten habe, was er tun werde? Er tut eben das, was seinem niedrigen Charakter gemäß ist. Er bleibt der recht Handelnde; aber mich, die ich ins Elend geraten bin, stößt er noch schlimmer, noch tiefer ins Verderben hinein ...‹ »Sie werden sich selbst sagen können, was Sie und Ihren Sohn erwartet«, an diese Worte seines Briefes mußte sie denken. ›Das ist eine Drohung, mir den Sohn wegzunehmen, und wahrscheinlich ist das nach ihrem törichten Gesetze möglich. Aber weiß ich denn etwa nicht, warum er das sagt? Er glaubt zwar nicht an meine Liebe zu meinem Sohne, oder er verachtet dieses mein Gefühl, wie er ja auch immer darüber gespottet hat; aber er weiß, daß ich auf meinen Sohn nicht verzichten werde, nicht auf ihn verzichten kann, daß es ohne meinen Sohn für mich kein Leben gibt, selbst nicht mit dem Manne, den ich liebe, daß, wenn ich auf meinen Sohn verzichtete und von ihm selbst wegliefe, ich wie das schändlichste, abscheulichste Weib handeln würde; das weiß er, und er weiß, daß ich nicht imstande bin, das zu tun‹.
Es fiel ihr ein anderer Satz aus dem Briefe ein: »Unser Leben muß auch in Zukunft denselben Gang nehmen, den es bisher genommen hat.« ›Ja‹, sagte sie sich, ›dieses Leben war schon früher eine Qual und war in der letzten Zeit geradezu furchtbar geworden. Wie wird es nun jetzt erst sein? Und er weiß das alles; er weiß, daß ich lieben muß, so wie ich atmen muß, und daß ich das eine sowenig wie das andere bereuen kann; er weiß, daß weiter nichts dabei herauskommt als Lüge und Täuschung; aber er möchte mich immer weiter quälen. Ich kenne ihn; ich weiß, daß, wie für den Fisch das Wasser, so für ihn die Lüge das Element ist, in dem er schwimmt und sich wohlfühlt. Aber nein, ich werde ihm diesen Genuß nicht ermöglichen; ich werde dieses Lügennetz zerreißen, in das er mich verstricken möchte; mag daraus kommen, was da will! Alles ist besser als dieses stete Lügen und Betrügen.
Aber wie kann ich das machen? Mein Gott, mein Gott! Ist jemals eine Frau so unglücklich gewesen wie ich? ...‹
»Nein, ich zerreiße dieses Lügennetz, ich zerreiße es!« rief sie und sprang auf. Ihre Tränen zurückdrängend, ging sie zum Schreibtisch, um einen anderen Brief an ihn zu schreiben. Aber im tiefsten Grunde ihrer Seele fühlte sie schon, daß sie nicht die [75] Kraft haben werde, etwas zu zerreißen, nicht die Kraft haben werde, aus der bisherigen Lage herauszukommen, wie lügnerisch und ehrlos diese auch sein mochte.
Sie setzte sich an den Schreibtisch; aber statt zu schreiben, verschränkte sie die Arme auf dem Tische, legte den Kopf darauf und weinte; sie weinte mit starkem Schluchzen und mit heftigen Bewegungen der ganzen Brust, so wie Kinder weinen. Sie weinte darüber, daß ihre Hoffnung auf eine Klärung und Neuordnung ihrer Lage für alle Zeit zerstört war. Sie wußte im voraus, daß nun alles beim alten bleiben, ja noch weit schlimmer sein werde als bisher. Sie fühlte, daß die Stellung, die sie in der Welt einnahm und die ihr noch an diesem Morgen so nichtig und wertlos erschienen war, doch für sie von Wert war und daß sie es nicht über sich gewinnen werde, sie mit der schmählichen Stellung einer Frau zu vertauschen, die ihren Mann und ihren Sohn verlassen und sich mit ihrem Liebhaber vereinigt hat, und daß sie, mochte sie sich auch noch so sehr anstrengen, doch niemals stärker sein werde, als sie nun eben von Natur war. Niemals würde sie in die Lage kommen, frei und offen lieben zu können; sie würde immer die verbrecherische Gattin bleiben, die, jeden Augenblick in Gefahr, entlarvt zu werden, ihren Mann betrog, um in einer schmählichen Beziehung mit einem fremden, durch nichts gebundenen Mann zu stehen, mit dem sie niemals ein gemeinsames Leben führen konnte. Sie wußte, daß es so kommen werde, und zugleich war es ihr so entsetzlich, daß sie sich gar keine Vorstellung davon zu machen vermochte, wie das Ende sein werde. Und sie weinte, ohne einen Versuch, sich zu beherrschen, so wie bestrafte Kinder weinen.
Sie vernahm die Schritte des herbeikommenden Dieners und zwang sich zu ruhigerer Haltung. Indem sie ihm ihr Gesicht verbarg, stellte sie sich, als ob sie schriebe.
»Der Kurier bittet um Antwort«, meldete der Diener.
»Antwort? Jawohl«, antwortete Anna. »Er soll noch warten. Ich werde klingeln.«
›Was kann ich schreiben?‹ dachte sie. ›Welchen Entschluß kann ich so allein fassen? Was weiß ich? Was will ich? Was möchte ich?‹ Und wieder hatte sie die Empfindung, als ob sich in ihrer Seele etwas verdoppele. Sie erschrak wieder vor diesem Gefühle und griff begierig nach dem ersten sich darbietenden Anlasse, etwas zu tun, in der Absicht, sich von den Gedanken über sich und ihr Schicksal abzulenken. ›Ich muß Alexei sehen (so nannte sie in Gedanken Wronski); er allein kann mir sagen, was ich tun soll. Ich will zu Betsy fahren; vielleicht treffe ich ihn dort‹, sagte sie zu sich, vergaß aber dabei vollständig, daß sie ihm noch [76] tags zuvor gesagt hatte, sie werde nicht zur Fürstin Twerskaja fahren, und er darauf erwidert hatte, daß er dann auch nicht hinkommen werde. Sie trat an den Tisch und schrieb ihrem Manne: »Ich habe Ihren Brief erhalten. A.« Darauf klingelte sie und übergab das Schreiben dem Diener.
»Wir reisen nicht«, sagte sie zu der eintretenden Annuschka.
»Überhaupt nicht?«
»Das kann ich noch nicht bestimmen; vor morgen soll noch nicht wieder ausgepackt werden. Der Wagen soll noch dableiben; ich will zur Fürstin fahren.«
»Welches Kleid soll ich bringen?«
Die Spielgesellschaft bei der Krocketpartie, zu der die Fürstin Twerskaja Anna eingeladen hatte, sollte aus zwei Damen und den Verehrern der einen bestehen. Diese beiden Damen waren die wichtigsten Mitglieder eines neuen, adelsstolzen Petersburger Kreises, der in Nachahmung einer Nachahmung les sept merveilles du monde 1 genannt wurde. Der Kreis, dem diese Damen angehörten, war allerdings sehr hoch, stand aber dem, wo Anna zu verkehren pflegte, durchaus feindlich gegenüber. Außerdem war der alte Stremow, der Verehrer von Lisa Merkalowa und einer der einflußreichsten Männer in Petersburg, auf dem Gebiete der amtlichen Tätigkeit ein Gegner Alexei Alexandrowitschs. Aus allen diesen Gründen hatte Anna ursprünglich nicht hinkommen wollen, und auf diese ihre ablehnende Antwort bezogen sich die Andeutungen in dem Schreiben der Fürstin Twerskaja. Jetzt aber beabsichtigte Anna, in der Hoffnung, Wronski dort zu treffen, doch hinzufahren.
Anna kam bei der Fürstin Twerskaja früher an als die anderen Gäste.
In dem Augenblicke, als sie ins Haus trat, wollte gerade auch Wronskis Diener hineingehen, der mit seinem nach beiden Seiten auseinandergekämmten Backenbarte wie ein Kammerjunker aussah. Er blieb an der Tür stehen, nahm die Mütze ab und ließ sie vorangehen. Anna erkannte ihn, und erst jetzt fiel ihr ein, daß ja Wronski am vorhergehenden Tage gesagt hatte, er werde nicht hinkommen. Wahrscheinlich enthielt das Schreiben, das er durch den Diener schickte, seine Absage.
Während sie im Vorzimmer ablegte, hörte sie, wie der Diener, der sogar das R wie ein Kammerjunker aussprach, sagte: »Vom Grafen für die Fürstin«, und das Schreiben übergab.
[77] Sie hätte ihn gern gefragt, wo sein Herr sei. Sie wäre gern wieder umgekehrt und hätte ihm einen Brief geschrieben, daß er zu ihr kommen möchte, oder wäre auch selbst zu ihm gefahren. Aber weder das eine noch das andere noch das dritte ließ sich ausführen: denn schon erscholl vorn das Glockenzeichen, das ihre Ankunft ankündigte, und ein Diener der Fürstin Twerskaja stand schon halb zugewandt an der geöffneten Tür und wartete darauf, daß sie in die inneren Gemächer einträte.
»Die Frau Fürstin befindet sich im Garten; es wird bereits gemeldet. Ist es vielleicht gefällig, sich in den Garten zu begeben?« meldete ein zweiter Diener im zweiten Zimmer.
Sie fühlte sich hier ganz ebenso unentschlossen und unklar wie zu Hause; ja dieser Zustand war hier sogar insofern noch schlimmer, als sie nichts unternehmen, nicht mit Wronski zusammenkommen konnte, sondern sich hier in einer fremden, zu ihrer Gemütsverfassung so wenig stimmenden Gesellschaft bewegen mußte; aber sie war in einem Kleide, das, wie sie wußte, ihr gut stand; sie war nicht allein, sondern fand sich mitten in diesem gewohnten prunkenden Getriebe des Müßigganges: und deshalb war ihr leichter zumute als zu Hause. Sie brauchte hier nicht darüber nachzudenken, was sie tun müsse. Alles machte sich ganz von selbst. Als Betsy ihr in einem weißen Kleide entgegenkam, von dessen vornehmem Geschmack sie überrascht war, lächelte ihr Anna zu wie immer. Begleitet wurde die Fürstin Twerskaja von Tuschkewitsch und einer mit ihr verwandten jungen Dame, die zur höchsten Glückseligkeit ihrer in der Provinz lebenden Eltern den Sommer bei der berühmten Fürstin verleben durfte.
Anna mußte wohl irgend etwas Besonderes in ihrem Wesen haben, da Betsy es sogleich bemerkte.
»Ich habe schlecht geschlafen«, antwortete Anna auf Betsys Frage und blickte nach dem Diener, der auf die Herrschaften zukam und, wie sie vermutete, Wronskis Brief brachte.
»Wie freue ich mich, daß Sie gekommen sind«, sagte Betsy. »Ich fühle mich so müde und wollte eben eine Tasse Tee trinken, bevor meine Gäste kommen. Sie könnten ja«, wandte sie sich zu Tuschkewitsch, »inzwischen mit Mascha hingehen und den croquetground 2 probieren, da, wo der Rasen geschoren ist. Und wir beide haben noch Zeit, nach Herzenslust ein bißchen beim Tee zu plaudern, we'll have a cosy chat, 3 nicht wahr?« wandte sie sich lächelnd zu Anna und drückte ihr die Hand, in der diese den Sonnenschirm hielt.
»Um so mehr, da ich nicht lange bei Ihnen bleiben kann; ich muß unbedingt noch zu der alten Wrede; ich habe es ihr schon [78] seit hundert Jahren versprochen«, erwiderte Anna, der das Lügen, wiewohl ihrem eigentlichen Wesen fremd, im gesellschaftlichen Verkehr nicht nur geläufig und natürlich geworden war, sondern sogar einen gewissen Genuß bereitete. Warum sie das sagte, woran sie doch eine Sekunde vorher noch nicht gedacht gehabt hatte, das hätte sie nicht erklären können. Sie hatte dabei nur den Gedanken gehabt: da Wronski nicht hierherkommen werde, so müsse sie sich Freiheit bewahren und den Versuch machen, ihn sonst irgendwie zu treffen. Aber warum sie gerade das alte Hoffräulein Wrede genannt hatte, bei der ein Besuch gleich dringlich oder gleich wenig dringlich war wie bei vielen anderen, dafür hätte sie keine Erklärung zu geben gewußt. Und doch hätte sie, wie sich später herausstellte, und wenn sie auch nach den schlausten Mitteln zu einer Zusammenkunft mit Wronski gesucht hätte, kein besseres ersinnen können.
»Nein, unter keinen Umständen lasse ich Sie fort«, antwortete Betsy und blickte ihr dabei forschend ins Gesicht. »Wirklich, wenn ich Sie nicht so lieb hätte, würde ich es Ihnen übelnehmen, daß Sie fort wollen. Das sieht ja gerade aus, als ob Sie fürchteten, durch die Gesellschaft, die Sie bei mir finden, bloßgestellt zu werden. Bitte, den Tee für uns in den kleinen Salon!« sagte sie zu dem Diener und kniff dabei die Augen zusammen, wie sie das im Verkehr mit der Dienerschaft stets tat.
Sie nahm ihm den Brief ab und las ihn durch.
»Da spielt uns Alexei einen Streich«, sagte sie auf französisch. »Er schreibt, er könne nicht kommen«, fügte sie in so natürlichem, harmlosem Tone hinzu, als könnte es ihr überhaupt nie in den Sinn kommen zu glauben, daß Anna, abgesehen vom Krocketspiel, an Wronski irgendwelches Interesse nähme. Anna wußte, daß Betsy vollständig unterrichtet war; aber wenn sie hörte, in welcher Weise Betsy in ihrer Gegenwart über Wronski sprach, so bildete sie sich immer einen Augenblick ein, daß jene nichts wisse.
»Ah!« machte Anna gleichgültig, als ob sie das wenig interessiere, und fuhr dann lächelnd fort: »Wie kann die Gesellschaft, die man bei Ihnen findet, jemanden bloßstellen!«
Dieses Spiel mit Worten, dieses Verbergen eines Geheimnisses hatte, wie für alle Frauen, so auch für Anna einen großen Reiz. Und das Reizvolle lag dabei nicht in irgendwelcher Notwendigkeit, etwas zu verstecken, auch nicht in irgendwelchem Zwecke, der mit dem Verstecken verfolgt worden wäre, sondern in der Handlung des Versteckens selbst.
»Wozu sollte ich katholischer sein als der Papst?« antwortete Betsy. »Stremow und Lisa Merkalowa, die sind ja die crème de [79] la crème in der guten Gesellschaft. Und dann verkehren sie doch auch überall, und ich (sie legte auf dieses ›ich‹ einen besonderen Nachdruck), ich bin niemals streng und unduldsam gewesen. Dazu habe ich einfach keine Zeit. Aber Sie mögen vielleicht nicht gerne mit Stremow zusammentreffen? Lassen wir doch ruhig ihn und Alexei Alexandrowitsch in den Komiteesitzungen ihre Fehde auskämpfen; uns geht das ja nichts an. Aber in Gesellschaft ist er der liebenswürdigste Mensch, den ich überhaupt kenne, und ein leidenschaftlicher Krocketspieler. Sie werden es ja selbst sehen. Und trotz seiner komischen Stellung als bejahrter Anbeter Lisas ist es sehenswert, wie er sich aus dieser komischen Lage herauswickelt! Er ist ein sehr netter Mensch. Sappho Stoltz kennen Sie nicht? Das ist ein neuer, ganz neuer Typ.«
Während Betsy all dies herredete, merkte Anna an ihrem lustigen, klugen Blicke, daß sie ihre Gemütsverfassung zum Teil verstand und irgend etwas im Schilde führte. Sie befanden sich augenblicklich in Betsys kleinem Arbeitszimmer.
»Ich muß aber doch noch an Alexei schreiben«, sagte Betsy, setzte sich an den Tisch, schrieb ein paar Zeilen und steckte das Blatt in einen Umschlag. »Ich habe ihm geschrieben, er möchte zum Mittagessen kommen; es fehle mir heute mittag für eine Dame ein Tischherr. Wollen Sie einmal zusehen, ob ich wohl dringlich genug geschrieben habe, um ihn zu überreden? Verzeihen Sie, daß ich Sie für einen Augenblick verlasse. Bitte, kleben Sie dann den Brief zu und schicken Sie ihn ab«, sagte sie noch von der Tür aus; »ich muß noch einiges anordnen.«
Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, setzte sich Anna mit Betsys Briefe an den Tisch und schrieb, ohne ihn zu lesen, darunter: »Ich muß Sie notwendig sprechen. Kommen Sie in den Wredeschen Park. Ich werde um sechs Uhr da sein.« Sie klebte den Brief zu, und Betsy, die gerade zurückkam, gab ihn in ihrer Gegenwart einem Diener zur Beförderung.
Beim Tee, der ihnen auf einem Tischchen in den kühlen kleinen Salon gebracht wurde, entspann sich wirklich zwischen den beiden Damen a cosy chat, wie es die Fürstin Twerskaja für die Zeit bis zur Ankunft der Gäste versprochen hatte. Sie hechelten die Personen, die erwartet wurden, durch, und das Gespräch drehte sich besonders lange um Lisa Merkalowa.
»Sie ist sehr liebenswürdig und ist mir immer sympathisch gewesen«, bemerkte Anna.
»Sie verdient auch Ihre Zuneigung. Sie ist von Ihnen geradezu entzückt. Gestern kam sie nach dem Rennen zu mir und war in Verzweiflung, Sie nicht mehr anzutreffen. Sie sagte, Sie seien [80] eine richtige Romanheldin, und wenn sie ein Mann wäre, so würde sie um Ihretwillen tausend Torheiten begehen, Stremow erwiderte ihr, die begehe sie auch so schon.«
»Aber sagen Sie mir nur, bitte, ich habe das nie verstehen können«, hob Anna nach einer kleinen Pause an, und zwar in einem Tone, der deutlich erkennen ließ, daß sie nicht eine müßige Frage tat, sondern daß das, wonach sie fragte, ihr wichtiger war, als es hätte sein sollen, »sagen Sie mir, bitte, von welcher Art ist eigentlich ihr Verhältnis zu dem Fürsten Kaluschski oder Mischka, wie er genannt wird? Ich bin beiden in der Gesellschaft nur wenig begegnet. Wie steht es damit?«
Betsy lächelte mit den Augen und blickte Anna scharf an.
»Das ist so eine neue Mode«, antwortete sie. »Alle unsere Damen haben sich für diese Mode entschieden. Sie lassen sich nicht mehr durch engherzige Rücksichten einschränken. Aber dabei kann man freilich sehr verschieden verfahren.«
»Gewiß. Aber von welcher Art sind denn ihre Beziehungen zu Kaluschski?«
Betsy konnte sich nicht halten und brach plötzlich in ein lustiges Gelächter aus, was bei ihr nur selten vorkam.
»Da pfuschen Sie aber der Fürstin Mjachkaja ins Handwerk. Das ist eine furchtbar kindliche Frage.« Betsy gab sich offenbar Mühe, sich zu beherrschen, vermochte es aber nicht und geriet in ein solches unhemmbares Lachen hinein, wie es gerade Menschen, die nur selten lachen, eigen ist. »Sie müssen einmal die beiden selbst fragen«, sagte sie und lachte dabei so, daß ihr die Tränen kamen.
»Ja, Sie lachen«, sagte Anna, bei der das Lachen unwillkürlich ansteckend wirkte. »Aber ich habe nie daraus klug werden können. Ich verstehe nicht, welche Rolle der Gatte dabei spielt.«
»Der Gatte? Lisa Merkalowas Gatte trägt ihr den Schal und das Tuch nach und ist immer liebenswürdig und dienstfertig gegen sie. Aber was da noch weiter im tieferen Grunde liegt, das begehrt niemand zu wissen. Sie wissen, von manchen Einzelheiten der Kleidung spricht man in guter Gesellschaft nicht, ja, man denkt an dergleichen nicht einmal. So ist es auch mit solchen Beziehungen.«
»Werden Sie auf dem Feste bei Rolandakis sein?« fragte Anna, um das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu bringen.
»Ich glaube nicht«, antwortete Betsy und begann, ohne ihre Freundin anzublicken, vorsichtig den duftenden Tee in die kleinen, durchschimmernden Tassen zu gießen. Nachdem sie Anna eine Tasse hingeschoben hatte, holte sie eine Pajilla hervor, steckte sie in ein silbernes Mundstück und rauchte.
[81] »Ja, sehen Sie wohl, ich befinde mich in einer glücklichen Lage«, begann sie, indem sie die Tasse in die Hand nahm; sie lachte jetzt nicht mehr. »Ich verstehe Sie, und ich verstehe Lisa. Lisa, das ist eine von jenen naiven Naturen, die wie die Kinder nicht wissen, was gut und was böse ist. Wenigstens hat sie es nicht gewußt, als sie noch sehr jung war. Und jetzt weiß sie, daß dieses Nichtwissen ihr gut steht. Jetzt ist sie vielleicht absichtlich unwissend«, sagte Betsy mit feinem Lächeln. »Aber trotzdem steht es ihr gut. Sehen Sie, man kann dieselbe Sache herzzerreißend anschauen und sich aus ihr eine Marter machen, und man kann sie auch ganz einfach und sogar von der heiteren Seite ansehen. Vielleicht neigen Sie dazu, die Dinge allzu erschütternd aufzufassen.«
»Wie sehr würde ich wünschen, andere Menschen so genau zu kennen, wie ich mich selbst kenne«, sagte Anna ernst und nachdenklich. »Bin ich schlechter als andere oder besser? Ich glaube, schlechter.«
»Das richtige Kind! Das richtige Kind!« rief Betsy aus. – »Aber da sind sie ja.«
Es wurden Schritte und eine Männerstimme hörbar, darauf eine Frauenstimme und Lachen, und gleich darauf traten die erwarteten Gäste ein: Sappho Stoltz und ein von Gesundheit strotzender junger Mann, den man Waska zu nennen pflegte. Man sah, daß ihm die Ernährung mit halbblutigen Beefsteaks, Trüffeln und Burgunder gut bekam. Waska verbeugte sich vor den Damen und blickte sie an, aber nur eine Sekunde. Er war hinter Sappho in den Salon eingetreten und ging nun im Salon hinter ihr her, als ob er an sie angebunden wäre, und wandte seine glänzenden Augen auch nicht einen Augenblick von ihr ab, wie wenn er sie damit verzehren wollte. Sappho Stoltz war eine Blondine mit schwarzen Augen. Sie war mit kleinen, festen Schritten auf den hohen Absätzen ihrer Stiefelchen hereingekommen und drückte nun den Damen kräftig, nach Männerart, die Hand.
Anna war mit dieser neuen Berühmtheit noch nie zusammengetroffen und war nun überrascht sowohl durch ihre Schönheit wie auch durch das Auffällige ihrer Kleidung und die Keckheit ihres Benehmens. Auf ihrem Kopfe war aus eigenem und fremdem Haar von zartgoldiger Farbe eine Frisur von so gewaltiger Höhe aufgebaut, daß ihr Kopf ebenso groß war wie die schön gewölbte, vorn sehr offene Büste. Vorn lag das Kleid so eng an, [82] daß sich bei jeder Bewegung die Formen der Knie und Oberschenkel unter dem Kleide abzeichneten; und was die Rückseite anlangte, fragte man sich unwillkürlich, wo denn dort in diesem kunstvoll aufgebauten, hin und her schaukelnden Berge ihr wirklicher, kleiner, anmutiger Körper endigen mochte, der oben so weit entblößt und am untern Teile der Rückseite so sorgsam versteckt war.
Betsy beeilte sich, Sappho und Anna einander vorzustellen.
»Können Sie sich das vorstellen, wir hätten beinahe zwei Soldaten überfahren!« begann Sappho sogleich lächelnd und mit vergnügtem Augenzwinkern zu erzählen; dabei zog sie auch ihre Schleppe nach hinten zurecht, die sie zuerst zu sehr nach einer Seite geworfen hatte. »Ich fuhr mit Waska ... Ach so, Sie sind nicht miteinander bekannt.« Sie stellte den jungen Mann mit seinem Familiennamen vor und lachte errötend laut über ihren Verstoß, daß sie ihn einer Unbekannten gegenüber Waska genannt hatte. Waska verbeugte sich noch einmal vor Anna, ohne jedoch etwas zu ihr zu sagen. Er wandte sich an Sappho: »Sie haben die Wette verloren. Wir sind früher angekommen. Also bezahlen Sie nur!« sprach er lächelnd.
Sappho lachte noch lustiger.
»Aber doch nicht jetzt«, erwiderte sie.
»Nun, dann bekomme ich meinen Gewinn später.«
»Schön, schön! Ach ja!« wandte sie sich plötzlich an die Wirtin. »Ich bin gut! ... Das hatte ich ja ganz vergessen ... Ich habe Ihnen einen Gast mitgebracht. Da ist er ja auch!«
Der unerwartete jugendliche Gast, den Sappho mitgebracht und vergessen hatte, war jedoch ein so hoher Gast, daß trotz seines jugendlichen Alters sich die beiden Damen zu seiner Begrüßung von ihren Plätzen erhoben.
Dies war ein neuer Verehrer Sapphos. Ebenso wie Waska, folgte er ihr jetzt auf Schritt und Tritt nach.
Bald kamen auch Fürst Kaluschski und Lisa Merkalowa mit Stremow. Lisa Merkalowa war eine hagere Brünette mit trägem, orientalischem Gesichtsausdruck und reizenden Augen, unergründlichen Augen, wie man allgemein sagte. Der Charakter ihrer dunklen Kleidung (Anna bemerkte dies sofort und wußte es zu würdigen) stimmte in denkbar vollkommenster Weise zu der Eigenart ihrer Schönheit. Wie bei Sappho alles fest und straff war, so bei Lisa weich und lose.
Aber nach Annas Geschmack war Lisa weit anziehender. Betsy hatte zu Anna von ihr gesagt, sie habe den Ton eines naiven Kindes angenommen; aber als Anna sie jetzt kennenlernte, fühlte sie, daß das nicht richtig war. Sie war in Wirklichkeit [83] ein naives Wesen, verderbt, aber liebenswürdig, so daß man ihr nicht zürnen konnte. Allerdings, ihr Ton war derselbe wie der Ton Sapphos, und ebenso wie dieser folgten ihr wie angeseilt zwei Anbeter und verschlangen sie mit den Augen (bei ihr war der eine jung, der andere alt); aber in ihr lag etwas, was sie über ihre Umgebung hinaushob: das war der Glanz des echten Diamanten unter Nachbildungen von Glas. Dieser Glanz leuchtete aus ihren reizenden, in der Tat unergründlichen Augen hervor. Der müde und zugleich leidenschaftliche Blick dieser von dunklen Ringen umgebenen Augen überraschte durch seine vollkommene Aufrichtigkeit. Jeder, der in diese Augen hineinblickte, war überzeugt, daß er diese Frau vollständig kennengelernt habe, und mußte sie dann notwendig liebgewinnen. Bei Annas Anblick leuchtete ihr ganzes Gesicht auf einmal von einem freudigen Lächeln auf.
»Ach, wie freue ich mich, Sie zu sehen!« sagte sie und trat auf sie zu. »Ich wollte gestern beim Rennen gerade zu Ihnen kommen, da waren Sie weggefahren. Gerade gestern hatte ich den lebhaften Wunsch, mit Ihnen zu sprechen. Nicht wahr, es war entsetzlich?« sagte sie, und in dem Blicke, mit dem sie sie ansah, schien ihre ganze Seele offen dazuliegen.
»Ja, ich hätte nie geglaubt, daß das so aufregend ist«, erwiderte Anna errötend.
Unterdessen hatte sich die Gesellschaft erhoben, um in den Garten zu gehen.
»Ich gehe nicht mit«, sagte Lisa lächelnd und setzte sich neben Anna. »Sie wollen auch nicht hingehen? Wie kann einem das Krocketspielen nur Vergnügen machen!«
»Oh, ich spiele ganz gern«, erwiderte Anna.
»Wissen Sie, wie fangen Sie es nur an, daß Sie sich nicht langweilen? Man braucht Sie nur anzusehen, dann wird man fröhlich. So wie Sie leben, das ist das wahre Leben; ich aber langweile mich.«
»Wie meinen Sie denn das? Sie sind ja doch eins der vergnügtesten Mitglieder der Petersburger Gesellschaft«, versetzte Anna.
»Mag sein, daß die, die nicht zu unserer Gesellschaft gehören, sich noch mehr langweilen; aber bei uns, jedenfalls bei mir, ist von Vergnügtsein nicht die Rede, nur von furchtbarer, ganz furchtbarer Langeweile.«
Sappho hatte sich eine Zigarette angezündet und ging nun mit den beiden jungen Männern in den Garten. Betsy und Stremow blieben am Teetisch sitzen.
»Aber wie können Sie so etwas behaupten!« sagte Betsy zu [84] Lisa. »Sappho sagt, daß sie sich gestern bei Ihnen vorzüglich unterhalten haben.«
»Ach, es war so furchtbar öde!« versetzte Lisa Merkalowa. »Wir fuhren nach dem Rennen alle zu mir nach Hause. Und immer dieselben Menschen, immer dieselben Menschen! Und immer ein und das selbe! Den ganzen Abend über haben wir uns auf den Sofas herumgerekelt. Was ist denn daran Vergnügliches? Nein, wie fangen Sie es nur an, daß Sie sich nicht langweilen?« wandte sie sich wieder zu Anna. »Man braucht Sie nur anzublicken, so sieht man: das ist eine Frau, die glücklich oder auch unglücklich sein kann, aber sich nie langweilt. Lehren Sie mich, wie Sie das zustande bringen!«
»Ich tue gar nichts dazu«, antwortete Anna, die bei diesen zudringlichen Fragen errötete.
»Gerade das ist das beste Verfahren«, mischte sich hier Stremow in das Gespräch.
Stremow war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, schon halb ergraut, aber noch frisch, sehr unschön, aber mit einem Gesichte, das auf einen festen Charakter und Klugheit schließen ließ. Lisa Merkalowa war eine Nichte seiner Frau, und er verbrachte alle seine freien Stunden in ihrer Gesellschaft. Da er jetzt mit Anna Karenina zusammengetroffen war, so war er, obgleich in der amtlichen Tätigkeit ein Gegner Alexei Alexandrowitschs, als kluger Weltmann bemüht, gegen sie, die Gattin seines Gegners, besonders liebenswürdig zu sein.
»Gar nichts dazu tun«, bemerkte er, Annas Worte aufnehmend, mit feinem Lächeln, »das ist das beste Mittel. Ich habe Ihnen schon früher wiederholt gesagt«, wandte er sich an Lisa Merkalowa, »um sich nicht zu langweilen, muß man nicht daran denken, daß man sich langweilen könnte. Ganz ebenso, wie man, wenn Besorgnis wegen Schlaflosigkeit besteht, sich nicht davor fürchten darf, daß man vielleicht nicht einschlafen werde. Ganz dasselbe hat Ihnen auch Anna Arkadjewna gesagt.«
»Ich würde sehr froh sein, wenn ich es gesagt hätte; denn es ist nicht nur klug gesagt, sondern auch wahr«, erwiderte Anna lächelnd.
»Aber sagen Sie mir doch, woher kommt es, daß man nicht einschlafen kann und daß man sich vor der Langenweile nicht retten kann?«
»Um einzuschlafen, muß man vorher arbeiten, und um vergnügt zu sein, muß man gleichfalls vorher arbeiten.«
»Wozu soll ich denn arbeiten, wenn meine Arbeit niemandem nötig oder nützlich ist? Und mich absichtlich nur so zu stellen, das verstehe ich nicht, und das will ich auch nicht.«
[85] »Sie sind unverbesserlich«, versetzte Stremow, ohne sie anzusehen, und wandte sich wieder zu Anna.
Da er nur selten mit Anna zusammentraf, so konnte er zu ihr nur Oberflächliches reden; aber diese Oberflächlichkeiten, zum Beispiel wann sie wieder nach Petersburg übersiedeln werde, wie sehr die Gräfin Lydia Iwanowna sie in ihr Herz geschlossen habe, brachte er mit einem Ausdruck vor, der deutlich er kennen ließ, daß er von ganzem Herzen wünschte, ihr angenehm zu sein und ihr seine Achtung und sogar noch mehr zu bezeigen.
Tuschkewitsch kam herein und meldete, die ganze Gesellschaft warte auf die Krocketspieler.
»Nein, bitte, brechen Sie nicht auf!« bat Lisa Merkalowa, als sie hörte, daß Anna wegfahren wollte. Stremow vereinigte seine Bitten mit den ihrigen.
»Es würde ein gar zu starker Gegensatz sein«, bemerkte er, »wenn Sie nach dieser Gesellschaft das alte Fräulein Wrede besuchen wollten. Und dann: die alte Dame würde sich über Ihren Besuch nur deshalb freuen, weil sie an Ihnen eine erwünschte Zuhörerin haben würde, um ihrer Lästersucht freien Lauf zu lassen; hier aber erwecken Sie ganz andere Empfindungen, die allerbesten Empfindungen, das gerade Gegenteil von Lästersucht«, sagte er zu ihr.
Anna war einen Augenblick unschlüssig und überlegte. Die schmeichelhaften Reden dieses klugen Mannes, die kindliche Zuneigung, die Lisa Merkalowa ihr entgegenbrachte, und dieses ganze ihr so vertraute vornehme Getriebe, alles dies war eine Luft, in der sich leicht atmen ließ; dort aber stand ihr so Schweres bevor, daß sie einen Augenblick unschlüssig war, ob sie nicht bleiben und den schrecklichen Augenblick der Aussprache noch verschieben sollte. Aber als sie daran dachte, was ihrer zu Hause wartete, wenn sie, ohne einen Entschluß gefaßt zu haben, dort wieder allein wäre, als sie an die ihr noch in der Erinnerung furchtbare Gebärde dachte, wie sie sich mit beiden Händen in die Haare gefaßt hatte, da verabschiedete sie sich und fuhr weg.
Obgleich Wronski dem Anschein nach das leichtsinnige Dasein eines Lebemannes führte, war er doch ein entschiedener Feind der Unordnung. Als er noch ganz jung, noch im Pagenkorps war, hatte er das peinliche Erlebnis gehabt, daß er in Geldklemme geriet, borgen wollte und eine abschlägige Antwort erhielt, und seit jener Zeit hatte er sich sorgsam davor gehütet, wieder in [86] eine ähnliche Lage zu kommen. Um seine Angelegenheiten immer in Ordnung zu halten, setzte er sich etwa fünfmal im Jahre, je nach den Umständen häufiger oder seltener, ganz allein hin und brachte alle seine Angelegenheiten ins klare. Er nannte das »große Wäsche veranstalten« oder faire la lessive.
Am Tage nach dem Rennen wachte Wronski erst spät auf; ohne sich rasiert und ein Bad genommen zu haben, zog er seine Litewka an, ordnete auf dem Tische seinen Barbestand, die Rechnungen und allerlei Briefe und machte sich an die Arbeit. Petrizki wußte, daß er bei dieser Beschäftigung gewöhnlich sehr reizbar war; als er daher beim Aufwachen den Kameraden am Schreibtisch erblickte, kleidete er sich still an und ging, ohne ihn zu stören, hinaus.
Jeder, der die ganze Schwierigkeit der ihn umgebenden Verhältnisse bis in die kleinsten Einzelheiten kennt, ist unwillkürlich der Ansicht, daß die Schwierigkeit dieser Verhältnisse und die Möglichkeit ihrer Entwirrung eine zufälligerweise nur ihn persönlich betreffende Besonderheit sei, und kann sich gar nicht denken, daß andere Leute in ebenso verwickelten persönlichen Verhältnissen stecken wie er selbst. Diese Anschauung hatte auch Wronski. Und nicht ohne geheimen Stolz und nicht ohne Grund sagte er sich, daß jeder andere wohl schon längst in Verwirrung geraten wäre und sich zu irgendwelchem unschönen Verfahren genötigt gesehen hätte, wenn er sich in so schwierigen Verhältnissen befunden hätte. Aber Wronski fühlte, daß es gerade jetzt für ihn ein Ding der Notwendigkeit sei, eine Abrechnung vorzunehmen und seine Lage klarzustellen, um nicht in Verlegenheit zu geraten.
Zuerst nahm Wronski die Geldangelegenheiten als das Leichteste vor. Auf einem Bogen Briefpapier verzeichnete er mit seiner kleinen Schrift alles, was er schuldig war, zählte es zusammen und fand, daß er siebzehntausend und einige hundert Rubel schuldete; die Hunderte strich er weg, um klarere Rechnung zu haben. Nachdem er sein Bargeld und sein Guthaben in seinem Bankbuche zusammengerechnet hatte, erhielt er das Ergebnis, daß er noch eintausendachthundert Rubel besaß; eine Einnahme stand vor Neujahr nicht in Aussicht. Noch einmal zählte er das Verzeichnis seiner Schulden durch und schrieb es dann ab, indem er es in drei Abteilungen zerlegte. In die erste Abteilung kamen die Schulden, die sofort bezahlt werden mußten oder zu deren Bezahlung er in jedem Falle Geld ohne weiteres zur Hand haben mußte, damit im Falle einer Zahlungsforderung keine auch nur einen Augenblick dauernde Verzögerung einträte. Die Schulden dieser Art beliefen sich ungefähr [87] auf viertausend Rubel: tausendfünfhundert Rubel für das Pferd und zweitausendfünfhundert Rubel Bürgschaft für den jungen Kameraden Wenewski, der in Wronskis Gegenwart dieses Geld an einen Falschspieler verloren hatte. Wronski hatte damals diese Summe sofort bezahlen wollen, da er sie gerade bei sich hatte; aber Wenewski und Jaschwin hatten darauf bestanden, sie wollten es baldigst selbst bezahlen, und Wronski, der gar nicht am Spiele teilgenommen hatte, solle das nicht tun. Das war ja sehr schön und edel; aber Wronski wußte, daß er in dieser schmutzigen Sache, obgleich er an ihr nur insofern beteiligt war, als er sich mündlich für Wenewski verbürgt hatte, unbedingt diese zweitausendfünfhundert Rubel haben mußte, um sie dem Gauner hinzuwerfen und weiterer Auseinandersetzungen mit ihm überhoben zu sein. Somit mußte er für diese erste, wichtigste Abteilung viertausend Rubel haben. Die zweite Abteilung, im Betrage von achttausend Rubeln, umfaßte Schul den, die minder wichtig erschienen. Das waren hauptsächlich Schulden an den Rennstall, an den Lieferanten von Hafer und Heu, an den Engländer, an den Sattler und so weiter. Für diese Schulden mußte er gleichfalls ungefähr zweitausend Rubel zur Verfügung haben, um ganz ruhig sein zu können. Die letzte Abteilung, Schulden bei Kaufleuten, in Gaststätten und beim Schneider, verdiente nicht, daß er sich um sie Gedanken machte. Somit brauchte er mindestens sechstausend Rubel für die laufenden Ausgaben; aber er hatte nur eintausendachthundert. Einem Manne mit hunderttausend Rubeln jährlich (denn so hoch wurde Wronskis Einkommen allgemein geschätzt) konnten solche Schulden anscheinend keine Schwierigkeiten bereiten; aber die Sache war die, daß er diese hunderttausend Rubel jährlich bei weitem nicht hatte. Das gewaltige väterliche Vermögen, das allein gegen zweihunderttausend Rubel Jahreseinnahme brachte, war zwischen den beiden Brüdern nicht geteilt worden. Als nun der ältere Bruder, der eine tüchtige Menge Schulden hatte, die Prinzessin Warja Tschirkowa, die ganz vermögenslose Tochter eines Dekabristen, geheiratet hatte, da hatte Alexei ihm die gesamte Einnahme von dem väterlichen Gute überlassen und sich nur fünfundzwanzigtausend Rubel jährlich ausbedungen. Alexei hatte damals zu seinem Bruder gesagt, diese Summe würde für ihn ausreichend sein, solange er sich nicht verheiratete, was aller Wahrscheinlichkeit nach nie geschehen werde. Und sein Bruder, der eines der teuersten Regimenter befehligte und sich soeben verheiratet hatte, war gezwungen gewesen, dieses Geschenk anzunehmen. Die Mutter, die eigenes Vermögen besaß, gab ihrem jüngeren Sohne zu den ausbedungenen fünfundzwanzigtausend [88] Rubeln noch zwanzigtausend jährlich dazu, und Alexei hatte bisher das alles verbraucht. In der letzten Zeit aber hatte seine Mutter, die ihm wegen seiner Beziehungen zu Frau Karenina und wegen seiner Abreise aus Moskau grollte, ihm kein Geld mehr geschickt. Da sich Wronski bereits an eine Lebenshaltung gewöhnt gehabt hatte, bei der er fünfundvierzigtausend Rubel jährlich ausgab, und in diesem Jahre nur fünfundzwanzigtausend Rubel erhielt, so befand er sich jetzt infolgedessen in einer schwierigen Lage. Seine Mutter um Geld zu bitten, um aus dieser Lage herauszukommen, war unmöglich. Ihr letzter Brief, der ihm tags zuvor zugegangen war, hatte ihn gerade dadurch gereizt, daß die Mutter darin andeutete, sie sei gern bereit, ihn durch eine Beihilfe auf dem Wege zu Erfolgen in der Gesellschaft und im Dienste zu fördern, aber nicht, ihm dadurch ein Leben zu ermöglichen, über das die ganze gute Gesellschaft entrüstet sei. Dieser Versuch, ihn zu erkaufen, beleidigte ihn in tiefster Seele und erkältete sein Empfinden gegen die Mutter noch mehr. Das großmütige Zugeständnis aber, das er seinem Bruder gemacht hatte, konnte er nicht gut wieder rückgängig machen, obgleich er jetzt mancherlei Zwischenfälle, die sein Verhältnis zu Frau Karenina zur Folge haben konnte, dunkel vorausahnte und sich sagte, daß jenes großmütige Zugeständnis eine Handlung des Leichtsinns gewesen sei und daß er auch als Unverheirateter sämtliche hunderttausend Rubel Jahreseinnahme möglicherweise nötig haben werde. Aber das Getane wieder rückgängig zu machen, war unmöglich. Er brauchte nur an die Frau seines Bruders zu denken, brauchte nur daran zu denken, wie diese liebe, prächtige Warja bei jeder geeigneten Gelegenheit ihm gegenüber hervorhob, daß sie seiner großmütigen Handlungsweise eingedenk sei und sie zu schätzen wisse, um sich über die Unmöglichkeit klarzuwerden, das einmal Hingegebene wieder zurückzufordern. Das war ebenso unmöglich, wie eine Frau zu schlagen oder zu stehlen oder zu lügen. Es gab nur ein mögliches und darum auch notwendiges Mittel, zu dem sich Wronski denn auch, ohne einen Augenblick zu schwanken, entschloß: von einem Geldverleiher Geld, zehntausend Rubel, zu borgen, was keine Schwierigkeiten haben konnte, seine Ausgaben in jeder Hinsicht einzuschränken und seine Rennpferde zu verkaufen. Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, schrieb er sofort ein paar Zeilen an Rolandaki, der sich schon mehrmals an ihn mit dem Vorschlage gewendet hatte, er wolle ihm seine Pferde abkaufen. Darauf ließ er den Engländer und einen Geldverleiher zu sich bestellen und teilte das Geld, das er besaß, nach Maßgabe einiger Rechnungen in einzelne [89] Summen. Nachdem er das erledigt hatte, schrieb er seiner Mutter einen kalten, scharfen Antwortbrief. Darauf holte er aus seiner Brieftasche drei Briefe heraus, die ihm Anna geschrieben hatte, las sie noch einmal durch, verbrannte sie und versank bei der Erinnerung an sein gestriges Gespräch mit ihr in ernstes Nachdenken.
Wronski fühlte sich in seinem Leben besonders infolge davon glücklich, daß er eine Art Kodex von Grundsätzen besaß, durch den in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise bestimmt wurde, was er tun und nicht tun mußte. Der Kodex dieser Grundsätze umfaßte nur einen sehr kleinen Kreis von Lebensbeziehungen; aber dafür waren auch diese Grundsätze keinem Zweifel unterworfen, und Wronski, der nie aus diesem Kreise hinauskam, hatte bei der Ausführung dessen, was ihm zu tun oblag, nie auch nur einen Augenblick geschwankt. Diese Grundsätze bestimmten gebieterisch: daß man seine Schuld an einen Falschspieler bezahlen müsse, es aber bei einem Schneider nicht zu tun brauche; daß man Männer nicht belügen dürfe, wohl aber Frauen; daß es unzulässig sei, jemanden zu betrügen, zulässig sei der Betrug aber einem Ehemanne gegenüber; daß man Beleidigungen nicht verzeihen dürfe, aber das Recht habe, andere Leute zu beleidigen, und so weiter. Alle diese Grundsätze waren vielleicht unvernünftig und unmoralisch; aber sie standen über allem Zweifel, und bei ihrer Befolgung fühlte Wronski, daß sein Gewissen ruhig war und er mit aufgerichtetem Kopfe einhergehen konnte. Nur in der allerletzten Zeit war in Wronski über seine Beziehungen zu Anna eine Ahnung davon erwacht, daß sein Kodex von Grundsätzen vielleicht nicht alle Lebensbeziehungen vollständig regele, und die Zukunft ließ ihn in der Ferne Schwierigkeiten und Zweifel sehen, für die er in seinem Kodex keine Richtschnur des Handelns fand.
Sein jetziges Verhältnis zu Anna und zu ihrem Manne erschien ihm einfach und klar. Dieses Verhältnis war deutlich und genau in dem Kodex von Grundsätzen geregelt, von dem er sich leiten ließ.
Sie war eine anständige Frau, die ihm ihre Liebe geschenkt hatte, und er liebte sie, und daher war sie für ihn ein Weib, das gleicher oder sogar noch höherer Achtung würdig war als eine rechtmäßige Ehefrau. Er hätte sich eher die Hand abhauen lassen, als daß er sich erlaubt hätte, sie durch ein Wort, durch eine Anspielung zu verletzen oder ihr auch nur das geringste von [90] der Achtung vorzuenthalten, die eine Frau überhaupt nur beanspruchen kann.
Seine Beziehungen zur Gesellschaft waren gleichfalls klar. Alle mochten sein Verhältnis zu Anna kennen oder vermuten, aber niemand durfte wagen, davon zu sprechen. Andernfalls war er bereit, den Betreffenden zum Schweigen zu bringen und die nicht bestehende Ehre der Frau, die er liebte, zu verteidigen.
Am allerklarsten war sein Verhältnis zu dem Gatten. Von dem Augenblick an, da Anna Wronski lieb gewonnen hatte, war er der Überzeugung gewesen, daß er, und nur er, ein unantastbares Recht auf sie besitze. Der Gatte war nur eine überflüssige und störende Persönlichkeit. Zweifellos befand sich dieser in einer kläglichen Lage; aber da war weiter nichts zu machen. Das einzige, wozu dieser Gatte ein Recht hatte, war, mit der Waffe in der Hand Genugtuung zu fordern, und diese zu geben, dazu war Wronski vom ersten Augenblicke an bereit gewesen.
Aber in der letzten Zeit waren neue, innerliche Beziehungen zwischen ihm und ihr zutage getreten, die ihn durch ihre Unklarheit erschreckten. Gestern erst hatte sie ihm mitgeteilt, daß sie schwanger sei. Und er hatte gefühlt, daß diese Nachricht und das, was Anna von ihm erwartete, eine Handlungsweise verlangten, die nicht vollständig in jenem Kodex von Grundsätzen vorgeschrieben war, von dem er sich im Leben leiten ließ. In der Tat, er war ganz fassungslos gewesen, und im ersten Augenblicke, nachdem sie ihm von ihrem Zustand Mitteilung gemacht, hatte ihm sein Herz eingegeben, von ihr zu verlangen, daß sie ihren Mann verlassen solle. Das hatte er denn auch zu ihr gesagt; aber jetzt, da er darüber nachdachte, erkannte er klar, daß es zweckmäßiger sei, eine solche Trennung von dem Gatten zu vermeiden; aber während er sich dies sagte, fürchtete er zugleich, daß das eine unmoralische Handlung sei.
›Wenn ich gesagt habe, sie solle ihren Mann verlassen, so bedeutet das, daß sie mit mir leben soll. Bin ich dazu imstande und bereit? Wie soll ich sie jetzt von hier wegführen, da ich kein Geld habe? Allerdings, das würde ich ja einrichten können ... Aber wie kann ich sie von hier wegführen, da ich im Dienst bin? Indes, da ich es gesagt habe, so muß ich auch bereit sein, es zu tun, das heißt, ich muß Geld beschaffen und den Abschied nehmen‹.
Und er versank in Nachdenken. Die Frage, ob er den Abschied nehmen solle oder nicht, führte ihn auf eine andere, geheime, ihm allein bekannte Aufgabe seines ganzen Lebens, die aber, wiewohl er es vor anderen verbarg, ihm doch fast das Wichtigste von allem war.
[91] Der Ehrgeiz war eine alte Zukunftsphantasie seiner Kindheit und seines Jünglingsalters gewesen, eine Zukunftsphantasie, die er nicht einmal sich selbst eingestand, die aber so stark war, daß sogar jetzt diese Leidenschaft mit seiner Liebe rang. Seine ersten Schritte im gesellschaftlichen Leben und im Dienste waren erfolgreich gewesen; aber vor zwei Jahren hatte er einen groben Fehler begangen: in dem Wunsche, seine Unabhängigkeit zu zeigen und infolgedessen mit besonderer Schnelligkeit vorwärts zu rücken, hatte er eine ihm angebotene Stellung abgelehnt, da er gehofft hatte, diese Ablehnung werde seinen Wert noch größer erscheinen lassen; indessen hatte sich herausgestellt, daß er da denn doch zu kühn gewesen war; man hatte ihn nun da gelassen, wo er war. Und da er nun einmal halb mit Willen, halb wider Willen die Rolle des unabhängigen Mannes für sich geschaffen hatte, so führte er sie auch weiter durch, indem er sich in sehr feiner, kluger Weise so benahm, als ob er auf niemand böse sei, sich von niemand für beleidigt halte und weiter nichts wünsche, als in Ruhe gelassen zu werden, da er sich ganz behaglich fühle. In Wirklichkeit aber hatte er schon im vorigen Jahre, als er nach Moskau reiste, aufgehört, sich behaglich zu fühlen. Er fühlte, daß man diese unabhängige Stellung eines Mannes, der sich benehme, als könne er alles vollbringen und erreichen und wolle es nur nicht, schon mit eigentümlichen Blicken zu betrachten anfing, daß viele zu denken begannen, sein Können reiche wohl nicht weiter als dazu, ein ehrlicher, braver Kerl zu sein. Sein Verhältnis zu Frau Karenina, das so viel Lärm machte und die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, hatte durch den neuen Glanz, den es ihm verlieh, den an ihm nagenden Wurm des Ehrgeizes für einige Zeit beruhigt; aber vor einer Woche war dieser Wurm mit neuer Kraft erwacht. Sein Spielkamerad aus der Kinderzeit, Serpuchowskoi, der demselben Gesellschaftskreise angehörte wie er, sein Mitschüler im Pagenkorps gewesen war, mit ihm zu gleicher Zeit abgegangen war und mit dem er in der Klasse und im Turnen und bei mutwilligen Streichen und in ehrgeizigen Träumereien gewetteifert hatte, der war dieser Tage aus Mittelasien zurückgekehrt, nachdem er dort um zwei Stellen aufgerückt war und eine Ordensauszeichnung erhalten hatte, wie sie so jungen Generalen selten verliehen wird.
Sobald er nach Petersburg gekommen war, begann man von ihm wie von einem neu aufsteigenden Sterne erster Größe zu sprechen. Ein Altersgenosse und Schulkamerad Wronskis, war er doch schon General und sah der Ernennung auf einen Posten entgegen, wo er Einfluß auf den Gang der Staatsangelegenheiten haben konnte; Wronski dagegen war zwar ein unabhängiger, [92] vielbewunderter, von einem reizenden Weibe geliebter Mann, aber doch immer nur ein Rittmeister, dem man es überließ, unabhängig zu sein, soviel ihm nur irgend beliebte. ›Selbstverständlich beneide ich Serpuchowskoi nicht und habe keinen Anlaß, ihn zu beneiden; aber seine Beförderung ist mir ein Beweis, daß man nur den richtigen Zeitpunkt abzuwarten braucht, dann kann ein Mann wie ich schnell vorwärtskommen. Vor drei Jahren war er noch in derselben Stellung wie ich. Nehme ich den Abschied, so verbrenne ich meine Schiffe hinter mir. Bleibe ich im Dienst, so verliere ich nichts. Sie hat selbst gesagt, daß sie ihre Lage nicht zu verändern wünscht. Und im Besitze ihrer Liebe kann ich. Serpuchowskoi nicht beneiden.‹ Und mit langsamen Bewegungen seinen Schnurrbart drehend, stand er vom Tische auf und ging im Zimmer auf und ab. Seine Augen glänzten besonders hell, und er fühlte sich in jener festen, ruhigen, frohen Gemütsstimmung, die sich bei ihm immer einstellte, wenn er über seine Lage zur Klarheit gelangt war. Alles war, ganz wie bei früheren Rechnungsabschlüssen, reinlich und klar. Er rasierte sich, nahm ein kaltes Wannenbad, zog sich an und verließ das Haus.
»Ich wollte dich eben holen. Deine große Wäsche hat ja heute lange gedauert«, sagte Petrizki. »Na, alles erledigt?«
»Jawohl«, erwiderte Wronski; er lächelte nur mit den Augen und drehte die Enden seines Schnurrbartes mit solcher Vorsicht, als ob die schöne Ordnung, die er in seinen Angelegenheiten hergestellt habe, durch jede allzu heftige, schnelle Bewegung wieder zerstört werden könne.
»Nach dieser Arbeit bist du immer in einer Verfassung, wie wenn du aus dem Dampfbade kämest«, sagte Petrizki. »Ich komme von Grizka (dies war der Spitzname des Regimentskommandeurs); du wirst da erwartet.«
Wronski sah seinen Kameraden an, ohne zu antworten; er hatte ganz andere Gedanken.
»Ist denn da Musik bei ihm?« fragte er, indem er nach den wohlbekannten Tönen der Baßtrompeten horchte, die zu ihnen herüberklangen; es wurde gerade ein Walzer gespielt. »Was ist da für ein Fest?«
»Serpuchowskoi ist hergekommen.«
»Ah!« machte Wronski. »Das hatte ich ja gar nicht gewußt.«
Seine lächelnden Augen leuchteten noch heller auf.
Nachdem er einmal innerlich als Tatsache festgestellt hatte, [93] daß seine Liebe ihn vollständig glücklich mache und er ihr seinen Ehrgeiz zum Opfer gebracht habe (wenigstens hatte er diese Rolle für sich geschaffen), so konnte er keinen Neid gegen Serpuchowskoi empfinden und sich auch nicht darüber ärgern, daß dieser bei dem Besuche, den er dem Regimente machte, nicht zuallererst zu ihm gekommen war. Serpuchowskoi war sein guter Freund, und er freute sich aufrichtig darauf, ihn wiederzusehen.
»Oh, das freut mich aber wirklich.«
Der Regimentskommandeur Demin bewohnte ein großes, herrschaftliches Haus. Die ganze Gesellschaft befand sich auf der geräumigen Terrasse. Auf dem Hofe waren das erste, was Wronski auffiel, die Regimentssänger, die in Kitteln bei einem Schnapsfäßchen standen, und die gesunde, fröhliche Gestalt des Regimentskommandeurs, der von Offizieren umgeben war. Er war gerade auf die erste Stufe der Terrasse vorgetreten, gab mit einer so lauten Stimme, daß er die von der Musik gespielte Offenbachsche Quadrille übertönte, einen Befehl und winkte einigen etwas zur Seite stehenden Soldaten mit der Hand. Dieser kleine Trupp Soldaten, darunter ein Wachtmeister und einige Unteroffiziere, ging zusammen mit Wronski zu der Terrasse hin. Der Regimentskommandeur ging zum Tische zurück, trat dann mit einem Sektglase in der Hand wieder an die Freitreppe hinaus und brachte einen Trinkspruch aus: »Auf die Gesundheit unseres früheren Kameraden, des tapferen Generals Fürsten Serpuchowskoi! Hurra!«
Nach dem Regimentskommandeur trat mit dem Glase in der Hand auch Serpuchowskoi lächelnd vor.
»Du wirst ja immer jünger, Bondarenko«, wendete er sich an den gerade vor ihm stehenden strammen, rotbackigen Wachtmeister, der über seine Zeit hinaus beim Regimente weiterdiente.
Wronski hatte seinen Freund drei Jahre lang nicht gesehen. Dieser war in seiner äußeren Erscheinung männlicher geworden, schon durch den Backenbart, den er sich hatte stehenlassen; aber er war noch ebenso schlank und überraschte noch ganz wie früher nicht sowohl durch Schönheit wie durch die Zartheit und Vornehmheit seiner Gesichtszüge und seines Körperbaues. Die einzige Veränderung, die Wronski an ihm bemerkte, war jenes stille, beständige Leuchten, das auf den Gesichtern solcher Leute heimisch zu sein pflegt, die im Leben Erfolg haben und überzeugt sind, daß alle diesen Erfolg als wohlverdient anerkennen. Wronski kannte dieses Leuchten, und es fiel ihm sofort bei Serpuchowskoi auf.
Als Serpuchowskoi die Treppe herunterstieg, erblickte er Wronski, und ein frohes Lächeln erhellte sein Gesicht. Er nickte [94] ihm durch eine Bewegung des Kopfes nach oben zu und erhob das Glas, indem er Wronski begrüßte und zugleich durch diese Geste andeutete, daß er unbedingt zuerst zu dem Wachtmeister hingehen müsse, der in strammer dienstlicher Haltung dastand und schon seine Lippen für den erwarteten Kuß in Bereitschaft setzte.
»Na, da ist er ja!« rief der Regimentskommandeur. »Und Jaschwin hatte mir schon gesagt, du wärst wieder mal in deiner finsteren Stimmung!«
Serpuchowskoi küßte den forschen Wachtmeister auf die feuchten, frischen Lippen, wischte sich den Mund mit dem Taschentuche ab und trat zu Wronski.
»Na, das ist mir mal eine Freude!« sagte er, drückte ihm die Hand und führte ihn ein wenig zur Seite.
»Sorgt für sein leibliches Wohl!« rief der Regimentskommandeur dem Rittmeister Jaschwin zu, indem er auf Wronski deutete, und ging zu den Soldaten hinunter.
»Warum warst du gestern nicht beim Rennen?« fragte Wronski, während er Serpuchowskoi mit lebhaftem Interesse betrachtete. »Ich hatte gehofft, dich da zu sehen.«
»Ich bin dagewesen, kam aber erst ziemlich spät. Entschuldige«, fügte er hinzu und wandte sich zu seinem Adjutanten: »Bitte, lassen Sie dies in meinem Namen unter die Leute verteilen, soviel wie auf den Mann kommt.«
Er holte eilig aus seiner Brieftasche drei Hundertrubelscheine heraus und wurde ganz rot dabei.
»Wronski! Möchtest du etwas essen oder trinken?« fragte Jaschwin. »Heda! Bring mal für den Grafen etwas zu essen her! Und hier, nimm, trink!«
Das Trinkgelage bei dem Regimentskommandeur zog sich recht lange hin.
Es wurde sehr viel getrunken. Die Offiziere schaukelten, als besondere Ehrenbezeigung, Serpuchowskoi auf den Armen, warfen ihn in die Höhe und fingen ihn wieder auf. Dann wurde dem Regimentskommandeur dieselbe Ehre erwiesen. Dann tanzte der Regimentskommandeur selbst mit Petrizki nach einer von den dabeistehenden Regimentssängern gesungenen Weise. Dann setzte sich der Regimentskommandeur, der schon etwas matt geworden war, auf dem Hofe auf eine Bank und begann dem Rittmeister Jaschwin Rußlands Überlegenheit über Preußen, namentlich in der Kavallerieattacke, auseinanderzusetzen, und die Trinker verhielten sich eine kurze Zeit ruhig. Serpuchowskoi ging ins Haus, ins Ankleidezimmer, um sich die Hände zu waschen, und fand dort Wronski, der sich mit Wasser bespülte. [95] Er hatte die Litewka ausgezogen, hielt seinen haarigen, roten Hals unter den Wasserstrahl der Wascheinrichtung und rieb Hals und Kopf kräftig mit den Händen. Als er mit dieser Waschung fertig war, setzte er sich zu Serpuchowskoi gleich dort im Ankleidezimmer auf ein kleines Sofa, und es entspann sich nun zwischen ihnen ein Gespräch, das sie beide sehr interessierte.
»Ich habe stets genaue Nachrichten über dich durch meine Frau erhalten«, sagte Serpuchowskoi. »Ich freue mich sehr, daß du sie öfters besucht hast.«
»Sie ist mit Warja befreundet, und das sind die beiden einzigen Damen in Petersburg, mit denen es mir Vergnügen macht zu verkehren«, antwortete Wronski lächelnd. Er lächelte, weil er vorausgesehen hatte, welchem Thema sich das Gespräch zuwenden würde, und freute sich, dies richtig beurteilt zu haben.
»Die einzigen?« fragte Serpuchowskoi lächelnd.
»Auch ich habe viel von dir gehört, aber nicht durch deine Frau«, versetzte Wronski und wies durch die ernste Miene, die er auf einmal machte, diese Anspielung zurück. »Ich habe mich sehr über deinen Erfolg gefreut; aber ich habe mich darüber in keiner Weise gewundert; ich hatte sogar noch mehr erwartet.«
Serpuchowskoi lächelte. Es machte ihm offenbar Vergnügen, ein solches Urteil über sich zu hören, und er hielt nicht für nötig, das zu verbergen.
»Ich habe, im Gegenteil, offen gestanden, weniger erwartet. Aber ich freue mich, sehr freue ich mich. Ich bin ehrgeizig; das ist eine Schwäche von mir, deren ich mich schuldig bekenne.«
»Vielleicht würdest du sie nicht bekennen, wenn du keinen Erfolg gehabt hättest«, erwiderte Wronski.
»Das mag wohl sein«, antwortete Serpuchowskoi wieder lächelnd. »Ich will nicht sagen, daß es sich ohne Ehrgeiz überhaupt nicht verlohnte zu leben; aber es wäre dann doch eine langweilige Sache. Natürlich kann ich mich darin vielleicht irren, aber ich möchte doch meinen, daß ich eine gewisse Befähigung für den Wirkungskreis besitze, den ich mir ausgewählt habe, und daß die Macht zu wirken – wieviel auch immer mir davon zufallen mag, wenn mir überhaupt etwas davon zufällt – besser in meinen Händen ruhen wird als in den Händen vieler anderer Leute, die ich kenne«, sagte Serpuchowskoi, strahlend im Bewußtsein seines Erfolges. »Und darum bin ich um so zufriedener, je näher ich einem Platze komme, der mir eine größere Wirksamkeit gestattet.«
»Das ist vielleicht für dich zutreffend, aber nicht für alle. Ich habe früher ebenso gedacht; aber nun lebe ich so ganz einfach [96] dahin und finde, daß es nicht lohnt, lediglich für den Ehrgeiz zu leben«, entgegnete Wronski.
»Du haben wir's, da haben wir's!« antwortete Serpuchowskoi lachend. »Ich habe bereits gehört, was du getan hast, daß du eine Stelle abgelehnt hast ... Selbstverständlich hattest du dabei meinen Beifall. Aber es hat doch alles so seine besondere Art, in der es getan sein will. Und da glaube ich, daß der Schritt, den du getan hast, an sich gut war, daß du ihn aber nicht in zweckmäßiger Weise getan hast.«
»Was getan ist, ist getan, und du weißt, ich verleugne nie etwas, was ich einmal getan habe. Und dann befinde ich mich ja auch durchaus wohl dabei.«
»Durchaus wohl – eine Zeitlang. Aber lebenslänglich wird dir das keine Befriedigung gewähren. Deinem Bruder würde ich das nicht sagen. Der ist ein artiges Kind, so wie unser Wirt hier. Da muß er sein!« fügte er hinzu, auf das Hurrarufen horchend. »Er fühlt sich dabei wohl; aber dich kann das nicht befriedigen.«
»Das sage ich ja auch nicht, daß mich das befriedigt.«
»Ja, und das ist noch nicht alles. Solche Leute wie dich haben wir nötig.«
»Wer hat sie nötig?«
»Wer sie nötig hat? Der Staat, Rußland. Rußland hat solche Leute nötig, eine Partei von solchen Leuten; sonst geht bei uns alles in die Brüche.«
»Was meinst du damit? Die Bertenewsche Partei zur Bekämpfung der russischen Kommunisten?«
»Nein«, antwortete Serpuchowskoi und runzelte die Stirn vor Ärger darüber, daß ihm jemand eine solche Dummheit zutraute. »Tout ça est une blague. 1 Das war immer so und wird immer so bleiben. Kommunisten gibt es gar nicht. Aber ränkesüchtige Leute müssen sich immer eine schädliche, gefährliche Partei erfinden, um sie zu bekämpfen. Das ist ein alter Kunstgriff. Nein, wir brauchen eine obrigkeitliche Partei von unabhängigen Männern wie dich und mich.«
»Aber warum sind denn ...«, hier nannte Wronski einige Männer in hohen obrigkeitlichen Stellungen, »warum sind die denn keine unabhängigen Leute?«
»Nur deswegen, weil sie die Unabhängigkeit, die man eigenem Vermögen verdankt, entweder nicht besitzen oder wenigstens nicht von ihrer Geburt an besessen haben, namentlich nicht besessen haben, nicht wie wir in der Nähe der Sonne geboren sind. Sie lassen sich entweder durch Geld oder durch Schmeichelei erkaufen. Und um sich behaupten zu können, müssen sie sich [97] irgendeine Tendenz ersinnen. Und so suchen sie denn irgendeine Ansicht, eine Tendenz durchzuführen, an deren Richtigkeit sie selbst nicht glauben und die nur Unheil stiftet. Und diese ganze Tendenz ist ihnen nur ein Mittel dazu, eine Dienstwohnung und soundso viel Gehalt zu bekommen. Cela n'est pas plus fin que ça, 2 wenn man ihnen in die Karten blickt. Vielleicht bin ich minderwertiger, dümmer als sie, wiewohl ich eigentlich nicht absehen kann, warum ich minderwertiger als sie sein sollte. Aber ich und du, wir haben jedenfalls von vornherein einen wesentlichen Vorzug vor ihnen: daß wir schwerer zu kaufen sind. Und solche Männer sind heutzutage mehr als sonst in Rußland nötig.«
Wronski hörte aufmerksam zu; aber was ihn interessierte, war nicht sowohl der Inhalt dieser Worte als vielmehr die Stellung, die Serpuchowskoi den bestehenden Zuständen gegenüber einnahm: daß er bereits an einen Kampf mit den Inhabern der Regierungsgewalt dachte und auf diesem hochwichtigen Gebiete schon seine Sympathien und Antipathien hatte, während für ihn selbst in seiner dienstlichen Tätigkeit nur die Interessen seiner Schwadron vorhanden waren. Wronski war sich auch darüber klar, welche persönliche Macht Serpuchowskoi besaß durch seine zweifellose Befähigung, die Sachen zu durchdenken und zu erfassen, durch seinen Verstand und durch eine rednerische Begabung, wie sie in dem Kreise, in dem er lebte, nur selten vorkommt. Und wie sehr Wronski sich auch dieses Gefühles schämte, er beneidete ihn.
»Es fehlt mir aber doch dazu ein Haupterfordernis«, antwortete er. »Es fehlt mir das Streben nach Macht. Dieses Streben habe ich früher einmal gehabt; aber es ist vergangen.«
»Verzeih, aber das ist nicht wahr«, erwiderte Serpuchowskoi lächelnd.
»Doch, es ist wahr, es ist wahr! Um aufrichtig zu sein, will ich hinzusetzen: jetzt«, fügte Wronski hinzu.
»Ja, jetzt ist es wahr; das ist eine andere Sache; aber dieses Jetzt wird bei dir nicht lebenslänglich dauern.«
»Kann sein«, antwortete Wronski.
»Du sagst ›kann sein‹«, fuhr Serpuchowskoi fort, als wenn er Wronskis Gedanken erraten hätte, »ich aber sage dir: bestimmt. Und ebendeswegen hatte ich gern mit dir sprechen wollen. Du hast so gehandelt, wie du handeln mußtest. Dafür habe ich durchaus Verständnis; aber du darfst nicht eigensinnig sein. Ich bitte dich nur um carte blanche 3. Ich werde dich nicht begünstigen ... Wiewohl – warum sollte ich dich eigentlich nicht auch begünstigen? Wie oft hast du mich begünstigt! Ich hoffe, unsere [98] Freundschaft ist über solche Bedenklichkeiten erhaben. Ja«, sagte er und lächelte ihm ordentlich zärtlich, wie eine Frau, zu. »Gib mir carte blanche und tritt aus dem Regimente aus; dann werde ich dich schon unvermerkt in das richtige Geleise bringen.«
»Aber so begreife doch nur, daß ich gar kein Verlangen danach habe«, antwortete Wronski. »Mein einziger Wunsch ist, daß alles bleiben möge, wie es bisher gewesen ist.«
Serpuchowskoi stand auf und stellte sich gerade vor ihn hin.
»Du sagst, alles möge bleiben wie bisher. Ich verstehe, was für ein Sinn dahinter steckt. Aber höre: wir sind gleichaltrig; vielleicht hast du der Zahl nach mehr Frauen kennengelernt als ich.« Durch sein Lächeln und seine Handbewegungen gab Serpuchowskoi zu verstehen, Wronski habe nichts zu befürchten; er werde den wunden Punkt nur ganz zart und vorsichtig berühren. »Aber ich bin verheiratet, und glaube mir (ich habe das auch irgendwo gedruckt gelesen), wenn man nur seine eigene Frau, die man liebt, kennengelernt hat, so kennt man dadurch die Frauen in ihrer Gesamtheit besser, als wenn man ihrer Tausende kennengelernt hätte.«
»Wir kommen sofort!« rief Wronski einem Offizier zu, der in das Zimmer hineinblickte und sie zum Regimentskommandeur rief.
Wronski wollte jetzt gern zu Ende hören, um zu erfahren, was Serpuchowskoi ihm eigentlich zu sagen beabsichtige.
»Und siehst du, meine Ansicht ist die. Die Frauen sind der hauptsächlichste Stein des Anstoßes für das Wirken des Mannes. Es ist schwer, ein Weib zu lieben und sich dabei irgendwelcher ernsten Tätigkeit zu widmen. Um wirken und dabei zugleich behaglich und ungestört lieben zu können, dazu gibt es nur ein Mittel: die Ehe. Wenn ich dir nur deutlich ausdrücken könnte, was ich meine«, sagte Serpuchowskoi, der gern Bilder und Vergleiche anwendete, »warte mal, warte mal! Wie man ein fardeau 4 zu tragen und dabei doch etwas mit den Händen zu tun nur dann imstande ist, wenn das fardeau auf dem Rücken festgebunden ist, so ist das auch mit der Ehe. Und das habe ich an mir selbst empfunden, als ich mich verheiratet hatte. Auf einmal waren mir die Hände frei geworden. Aber wenn man ohne Ehe dieses fardeau mit sich umherschleppt, dann hat man beide Hände so voll, daß man nichts anderes tun kann. Sieh nur Masankow und Krupow an. Sie haben sich um der Weiber willen ihre ganze Laufbahn verdorben.«
»Aber was waren das auch für Weiber!« rief Wronski, da er an die Französin und an die Schauspielerin dachte, mit denen die beiden genannten Männer Verhältnisse hatten.
[99] »Die Sache ist um so schlimmer, je fester die Stellung einer Frau in der Gesellschaft ist; um so schlimmer. Das ist dann so, wie wenn man das fardeau nicht einfach mit den Händen zu tragen hat, sondern es einem andern wegreißen muß.«
»Du hast nie geliebt«, sagte Wronski leise. Er blickte gerade vor sich hin und dachte an Anna.
»Kann sein. Aber denke an das, was ich dir gesagt habe. Und noch eins: die Frauen haben sämtlich eine materiellere Anschauungsweise als die Männer. Wir machen uns aus der Liebe ein gewaltiges Ideal; aber sie sind immer terre à terre 5.«
»Gleich, gleich!« rief er einem eintretenden Diener zu. Aber der Diener war nicht gekommen, um sie nochmals zu rufen, wie Serpuchowskoi gedacht hatte. Er brachte einen Brief für Wronski.
»Ein Diener der Fürstin Twerskaja hat dies für Sie gebracht.« Wronski öffnete den Brief und wurde dunkelrot.
»Ich habe Kopfschmerzen bekommen und möchte nach Hause gehen«, sagte er zu Serpuchowskoi.
»Na, also dann auf Wiedersehn! Gibst du mir carte blanche?«
»Wir können später noch darüber reden; ich besuche dich in Petersburg.«
Es war schon zwischen fünf und sechs Uhr; um daher rechtzeitig hinzukommen und dabei doch nicht mit seinen eigenen Pferden zu fahren, die allen Leuten bekannt waren, setzte sich Wronski in Jaschwins Mietskutsche und befahl dem Kutscher, so schnell wie irgend möglich zu fahren. Die alte viersitzige Mietskutsche war sehr geräumig; er setzte sich in eine Ecke, legte die Beine auf den Vordersitz und überließ sich seinen Gedanken.
Ein dunkles Bewußtsein, daß er seine Geldangelegenheit ins klare gebracht hatte, eine dunkle Erinnerung an das freundschaftliche Benehmen und die schmeichelhaften Äußerungen Serpuchowskois, der ihn als einen Mann betrachtete, den der Staat notwendig brauche, und vor allem die Spannung auf das bevorstehende Stelldichein: alles floß bei ihm zu dem allgemeinen Gefühle der Lebensfreude zusammen. Dieses Gefühl war so stark, daß er unwillkürlich lächelte. Er nahm die Beine von dem Sitze herunter, legte das eine auf das Knie des andern, befühlte die straffe Wade des Beines, das er sich gestern bei dem Sturze verletzt hatte, lehnte sich dann zurück und seufzte mehrmals mit ganzer Brust.
[100] ›Gut, sehr gut!‹ sagte er zu sich selbst. Auch früher war er sich oft der Gesundheit und Kraft seines Körpers mit lebhafter Freude bewußt gewesen; aber noch niemals hatte er sich selbst, seinen Körper, so geliebt wie gerade jetzt. Es machte ihm Vergnügen, diesen leichten Schmerz in dem kräftigen Beine zu empfinden; es machte ihm Vergnügen, die Bewegungen seiner Brustmuskeln beim Atmen zu fühlen. Derselbe klare, kalte Augusttag, der dazu beitrug, Anna in eine hoffnungslose Stimmung zu versetzen, wirkte auf ihn ermunternd und belebend und erfrischte ihm Gesicht und Hals, die ihm von dem Übergießen mit Wasser brannten. Der Geruch der Brillantine in seinem Schnurrbart war ihm in dieser frischen Luft besonders angenehm. Alles, was er durch das Wagenfenster sah, alles erschien ihm in dieser kalten, reinen Luft, in dieser blassen Abendbeleuchtung ebenso frisch, heiter und kräftig, wie er selbst es war: die Hausdächer, die in den Strahlen der sinkenden Sonne glänzten, und die scharfen Umrisse der Zäune und Gebäude und die Gestalten der ihm ab und zu begegnenden Fußgänger und Geschirre und das von keinem Lufthauche bewegte grüne Laub der Bäume und Gras der Wiesen und die Kartoffelfelder mit den regelmäßig gezogenen Furchen und die schrägen Schatten, welche die Häuser und die Bäume und die Sträucher und sogar die erhöhten Streifen zwischen den Furchen der Kartoffelfelder warfen, alles war so hübsch wie ein nettes Landschaftsgemälde, das soeben fertiggestellt und lackiert ist.
»Fahr tüchtig zu!« rief er, sich aus dem Fenster beugend, dem Kutscher zu und reichte ihm, als er sich umwandte, einen Dreirubelschein, den er schon vorher aus der Tasche geholt hatte. Die Hand des Kutschers tastete nach der bei der Wagenlaterne steckenden Peitsche; ein energischer Hieb klatschte, und der Wagen rollte schnell auf der ebenen Chaussee dahin.
›Nichts brauche ich weiter als dieses Glück, nichts weiter‹, dachte er. Er blickte dabei nach dem knöchernen Klingelgriff in dem Zwischenraum zwischen den beiden Vorderfenstern und vergegenwärtigte sich Anna in der Gestalt, wie er sie das letztemal gesehen hatte. ›Und ich liebe sie je länger, je mehr. Da ist ja auch der Park, wo die Hofdame ihre Dienstwohnung hat. Wo ist denn Anna? Wo denn? Und warum hat sie die Zusammenkunft hier anberaumt, und warum schreibt sie in einem Briefe Betsys?‹ Erst jetzt fiel ihm dies ein; aber er hatte keine Zeit mehr zum Nachdenken. Er hieß den Kutscher halten, noch ehe sie die Allee erreicht hatten, öffnete den Schlag, sprang noch im Fahren aus dem Wagen und ging in die Allee, die nach dem Hause führte. In der Allee war niemand; aber als er nach rechts [101] schaute, erblickte er Anna. Ihr Gesicht war mit einem Schleier bedeckt; aber mit freudigem Blicke umfaßte er die besondere, ihr allein eigene Bewegung beim Gehen, die Neigung der Schultern und die Haltung des Kopfes und hatte in demselben Augenblicke die Empfindung, als ob ihm ein elektrischer Schlag durch den Körper ginge. Von neuem wurde er sich seiner eigenen Kraft und Gesundheit bewußt, von den federnden Bewegungen der Beine bis zu den Bewegungen der Lunge beim Atmen und er hatte ein Gefühl, wie wenn ihm etwas die Lippen kitzelte.
Als sie beieinander waren, drückte sie ihm kräftig die Hand.
»Du bist doch nicht böse, daß ich dich hergebeten habe? Ich mußte dich unbedingt sehen«, sagte sie, und der ernste Zug um ihre Lippen, den er durch den Schleier hindurch sah, veränderte mit einem Schlage seine Seelenstimmung.
»Wie könnte ich böse sein! Aber wie bist du gerade hierher gekommen?«
»Das ist ja unerheblich«, antwortete sie und legte ihre Hand in seinen Arm. »Laß uns gehen; ich muß mit dir sprechen.«
Er merkte, daß etwas vorgefallen sein mußte und daß dieses Zusammensein kein freudiges sein werde. Sobald er bei ihr war, hatte er keinen eigenen Willen; ohne den Grund ihrer Aufregung zu kennen, fühlte er bereits, daß sich dieselbe Aufregung unwillkürlich auch ihm mitteilte.
»Was gibt es denn? So sprich doch!« bat er; er drückte mit dem Ellbogen ihren Arm und versuchte, ihr die Gedanken vom Gesichte abzulesen.
Schweigend ging sie noch einige Schritte, um Mut zu sammeln; dann blieb sie plötzlich stehen.
»Ich habe dir gestern nicht gesagt«, begann sie, schnell und mühsam atmend, »daß ich, als ich mit Alexei Alexandrowitsch nach Hause zurückfuhr, ihm alles mitgeteilt habe; ... ich habe ihm gesagt, daß ich nicht länger seine Gattin sein kann und daß ... Ich habe ihm alles gesagt.«
Er hörte ihr zu und neigte sich dabei unwillkürlich mit dem ganzen Oberkörper zu ihr herunter, als wollte er ihr dadurch das Drückende ihrer Lage erleichtern. Aber sobald sie das gesagt hatte, richtete er sich plötzlich auf, und sein Gesicht nahm einen stolzen, festen Ausdruck an.
»Ja, ja, das ist das beste, bei weitem das beste!« rief er. »Ich verstehe, wie schwer dir das werden mußte.« Aber sie hörte nicht auf seine Worte, sie suchte seine Gedanken an dem Ausdruck seines Gesichtes zu erkennen. Sie konnte nicht wissen, daß dieser Ausdruck seines Gesichtes mit dem ersten Gedanken zusammenhing, der ihm bei ihrer Mitteilung gekommen war, mit [102] dem Gedanken, daß jetzt ein Duell unausbleiblich sei. Ihr selbst war der Gedanke an ein Duell überhaupt nie in den Sinn gekommen, und daher faßte sie diesen augenblicklichen Ausdruck strengen Ernstes ganz anders auf.
Schon nachdem sie den Brief ihres Mannes erhalten hatte, war sie im tiefsten Grunde der Seele überzeugt gewesen, daß alles beim alten bleiben werde, daß sie nicht die Kraft haben werde, ihre gesellschaftliche Stellung einfach aufzugeben, auf ihren Sohn zu verzichten und mit ihrem Liebhaber zusammen zu leben. Bei dem Besuche, den sie am Vormittag der Fürstin Twerskaja gemacht hatte, war diese innere Überzeugung bei ihr noch fester geworden. Aber eine Zusammenkunft mit Wronski war ihr trotzdem außerordentlich wichtig erschienen. Sie hatte gehofft, diese Zusammenkunft würde in seiner und ihrer Lage eine Änderung herbeiführen und ihr Rettung bringen. Wenn er bei dieser Mitteilung entschlossen, leidenschaftlich und, ohne einen Augenblick zu schwanken, zu ihr sagte: »Laß alles im Stich und geh mit mir davon!« dann war sie willens, ihren Sohn zu verlassen und ihm zu folgen. Aber nun hatte diese Mitteilung nicht so gewirkt, wie sie es erwartet hatte; vielmehr hatte Anna nur den Eindruck, daß er sich durch irgend etwas verletzt fühle.
»Schwer ist es mir keineswegs geworden. Es machte sich ganz von selbst«, sagte sie in gereiztem Tone, »und hier ...« Sie holte den Brief ihres Mannes aus dem Handschuh hervor.
»Ich verstehe, ich verstehe«, unterbrach er sie und nahm den Brief hin; aber er las ihn nicht, da er vor allem sie zu beruhigen wünschte. »Das war das einzige, das ich wünschte, um das ich dich bat, daß du diese Fesseln zerreißen möchtest, damit ich mein Leben ganz deinem Glücke weihen kann.«
»Warum sagst du mir das?« erwiderte sie. »Kann ich denn daran zweifeln? Wenn ich daran zweifelte ...«
»Wer kommt da?« sagte Wronski plötzlich und wies auf zwei Damen, die ihnen entgegenkamen. »Vielleicht kennen sie uns!« Er bog schnell, sie mit sich ziehend, in einen Seitenweg ein.
»Ach, mir ist alles gleich!« versetzte sie. Ihre Lippen zitterten, und es kam ihm vor, als ob ihn ihre Augen durch den Schleier mit seltsamem Ingrimm anblickten. »Also ich wollte sagen: darum handelt es sich nicht; daran kann ich ja nicht zweifeln. Aber sieh nur, was er mir schreibt. Lies doch!« Sie blieb wieder stehen.
Wieder, ganz wie im ersten Augenblicke bei der Nachricht, daß sie mit ihrem Manne gebrochen habe, gab sich Wronski beim Lesen des Briefes unwillkürlich jener natürlichen Vorstellung hin, die sein Verhältnis zu dem beleidigten Gatten bei ihm erweckte.[103] Während er jetzt seinen Brief in der Hand hielt, sagte er sich, daß er wahrscheinlich heute oder morgen in seiner Wohnung die Forderung vorfinden werde, und stellte sich das Duell vor, bei dem er mit derselben kalten, stolzen Miene, die sein Gesicht jetzt zeigte, in die Luft schießen und sich dann dem Schusse des beleidigten Gatten darbieten werde. Und gleichzeitig blitzte in seinem Kopfe die Erinnerung an das auf, was Serpuchowskoi ihm soeben gesagt und er selbst am Morgen gedacht hatte: daß es besser sei, sich nicht zu binden; und er war sich bewußt, daß er diesen Gedanken ihr gegenüber nicht aussprechen durfte.
Nachdem er den Brief durchgelesen hatte, hob er die Augen zu ihr in die Höhe; es lag keine Festigkeit in seinem Blicke. Sie merkte sofort, daß er bereits selbst im stillen über diesen Gegenstand früher nachgedacht hatte. Sie wußte, daß, was auch immer er ihr sagen würde, dies nicht alles sein werde, was er dachte. Und sie sah klar, daß sie sich in ihrer letzten Hoffnung getäuscht hatte. Das war nicht das Verhalten, das sie von Wronski erwartet hatte.
»Du siehst, was das für ein Mensch ist«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Er ...«
»Verzeih mir, aber ich freue mich darüber«, unterbrach Wronski sie. »Bitte, bitte, laß mich ausreden!« fügte er hinzu, und sein flehender Blick bat sie, ihm zur Verdeutlichung seiner Worte Zeit zu lassen. »Ich freue mich deshalb, weil dieser Zustand nicht fortdauern kann, unter keinen Umständen fortdauern kann, wie er das annimmt.«
»Warum sollte das unmöglich sein?« erwiderte Anna, ihre Tränen zurückdrängend; sie betrachtete offenbar alles, was er noch weiter sagen werde, für bedeutungslos. Sie fühlte, daß ihr Schicksal entschieden war.
Wronski wollte eigentlich antworten, daß nach dem seines Erachtens unausbleiblichen Duelle dieser Zustand nicht fortdauern könne; aber er sagte etwas anderes.
»Es kann nicht so bleiben. Ich hoffe, du wirst ihn jetzt verlassen. Ich hoffe«, hier wurde er verlegen und errötete, »du wirst mir erlauben, unser weiteres Leben zu erwägen und einzurichten. Morgen ...« begann er. Aber sie ließ ihn nicht ausreden.
»Und mein Sohn?« rief sie. »Du siehst doch, was er schreibt. Ich müßte meinen Sohn verlassen, und das kann und will ich nicht.«
»Aber ich bitte dich um Gottes willen: was ist denn besser, daß du deinen Sohn verläßt oder daß du diesen demütigenden Zustand verlängerst?«
[104] »Demütigend für wen?«
»Für alle und am meisten für dich.«
»Du sagst: demütigend; sage das nicht. Dieses Wort hat für mich keinen Sinn«, sagte sie mit zitternder Stimme. Sie wollte nicht, daß er jetzt eine Unwahrheit sagte. Seine Liebe war das einzige, was ihr jetzt noch blieb, und sie wollte ihn weiterlieben. »Du sollst wissen, daß seit dem Tage, da ich dich liebgewonnen habe, alle Dinge sich für mich in ihrem Werte verändert haben. Mein ein und alles ist deine Liebe. Wenn diese mir gehört, dann fühle ich mich so hoch und fest, daß nichts für mich demütigend sein kann. Ich bin stolz auf meine Lage, weil ... Ich bin stolz darauf, daß ...« Sie sprach es nicht zu Ende aus, worauf sie stolz war. Tränen der Scham und Verzweiflung erstickten ihre Stimme. Sie blieb stehen und brach in Schluchzen aus.
Auch er merkte, daß ihm etwas zur Kehle hinaufstieg, daß ihm etwas in der Nase juckte, und fühlte zum erstenmal in seinem Leben, daß er nahe daran war loszuweinen. Er hätte nicht sagen können, was ihn eigentlich so rührte; sie dauerte ihn, und er sagte sich, daß er ihr nicht helfen könne, und war sich zugleich bewußt, daß er an ihrem Unglück schuld war, daß er etwas Schlechtes getan hatte.
»Ist denn nicht eine Scheidung möglich?« fragte er leise. Sie schüttelte, ohne zu antworten, den Kopf. »Kannst du denn nicht deinen Sohn mit dir nehmen und ihn trotzdem verlassen?«
»Ja; aber das hängt alles von ihm ab. Jetzt muß ich zu ihm hinfahren«, sagte sie trocken. Ihre Ahnung, daß alles beim alten bleiben werde, hatte sie nicht getäuscht.
»Dienstag werde ich in Petersburg sein«, sagte Wronski. »Da wird alles zur Entscheidung kommen.«
»Ja«, erwiderte sie. »Aber wir wollen nicht mehr darüber sprechen.«
Annas Wagen, den sie weggeschickt hatte mit der Weisung, sich nach einiger Zeit am Gittertor des Wredeschen Parks wieder einzufinden, näherte sich. Anna nahm Abschied von Wronski und fuhr nach Hause.
Am Montag fand eine ordentliche Sitzung der Kommission vom 2. Juni statt. Alexei Alexandrowitsch trat in den Sitzungssaal, begrüßte die Mitglieder und den Vorsitzenden wie gewöhnlich, setzte sich auf seinen Platz und legte die Hand auf die vor ihm bereitliegenden Papiere. Unter diesen Papieren befanden sich auch die erforderlichen Unterlagen und eine skizzenartige [105] Gliederung der Rede, die er zu halten gedachte. Übrigens hatte er diese Unterlagen eigentlich gar nicht nötig. Er hatte alles im Kopfe und hielt es nicht für notwendig, sich das, was er sagen wollte, vorher noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Er wußte, daß, wenn der Augenblick da sein und er das Gesicht seines Gegners vor sich sehen werde, der vergeblich bemüht sein werde, eine gleichmütige Miene zu machen, daß dann seine Rede ganz von selbst besser dahinströmen werde, als wenn er sich jetzt noch so sehr vorbereitete. Er war sich bewußt, daß der Inhalt seiner Rede so gewaltig und wuchtig war, daß jedes Wort ein Keulenschlag sein werde. Indessen machte er, während er den üblichen Bericht mit anhörte, die allerunschuldigste, harmloseste Miene. Seine weißen, von hervortretenden Adern überzogenen Hände tasteten mit den langen Fingern sanft an den beiden Rändern des vor ihm liegenden weißen Papierbogens umher; den Kopf hielt er mit einem Ausdruck von Müdigkeit zur Seite geneigt; niemand, der ihn so sah, hätte gedacht, daß seinem Munde im nächsten Augenblick Worte entströmen würden, die einen furchtbaren Sturm hervorrufen, die Mitglieder zu laut herausgeschrienen, einander unterbrechenden Erwiderungen veranlassen und den Vorsitzenden zwingen würden, zur Beobachtung der ordnungsmäßigen Formen zu mahnen. Als der Bericht beendet war, erklärte Alexei Alexandrowitsch mit seiner leisen, hohen Stimme, er habe einige Erwägungen in Sachen der Verwaltungseinrichtungen der Fremdvölker vorzutragen. Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden wandte sich ihm zu. Alexei Alexandrowitsch räusperte sich und begann seine Gedanken darzulegen; dabei blickte er nicht seinen Gegner an, sondern wählte sich dazu, wie er es immer beim Vortrage seiner Reden tat, die erste vor ihm sitzende Person aus, einen kleinen, friedlichen alten Mann, der niemals in der Kommission eine eigene Meinung hatte. Als er das organische Grundgesetz erwähnte, sprang sein Gegner in die Höhe und begann zu widersprechen. Stremow, der gleichfalls Mitglied der Kommission war und sich gleichfalls empfindlich gekränkt fühlte, suchte sich zu rechtfertigen, und die Sitzung nahm überhaupt einen sehr stürmischen Charakter an; aber Alexei Alexandrowitsch triumphierte als Sieger, sein Vorschlag wurde angenommen, es wurden drei neue Kommissionen ernannt, und am andern Tage war in gewissen Petersburger Kreisen von nichts anderem als von dieser Sitzung die Rede. Alexei Alexandrowitschs Erfolg war sogar größer, als er es selbst erwartet hatte.
Am andern Morgen, am Dienstag, erinnerte sich Alexei Alexandrowitsch, sowie er aufgewacht war, mit Vergnügen an seinen [106] gestrigen Sieg, und obgleich er sich Mühe gab, gleichmütig zu erscheinen, konnte er doch ein Lächeln nicht unterdrücken, als der Subdirektor in dem Wunsche, ihm etwas Schmeichelhaftes zu sagen, ihm von den Gerüchten Mitteilung machte, die ihm über die Vorgänge in der Kommission zu Ohren gekommen seien.
Über den Besprechungen mit dem Subdirektor hatte Alexei Alexandrowitsch vollständig vergessen, daß heute Dienstag war, der Tag, den er für Anna Arkadjewnas Übersiedlung angesetzt hatte, und er war erstaunt und unangenehm überrascht, als der Diener kam und ihm ihre Ankunft meldete.
Anna war früh am Vormittag in Petersburg angekommen; auf ein Telegramm von ihr war der Wagen hinausgeschickt worden, um sie zu holen, und sie hatte daher angenommen, daß Alexei Alexandrowitsch ihre Ankunft erwarte. Aber als sie ankam, empfing er sie nicht. Es wurde ihr gesagt, er sei noch nicht aus seinem Zimmer herausgekommen und arbeite mit dem Subdirektor. Sie befahl, ihrem Manne zu melden, daß sie angekommen sei, ging in ihr Zimmer und beschäftigte sich mit dem Einräumen ihrer Sachen, in der Erwartung, daß er zu ihr kommen werde. Aber es verging eine Stunde, und er war noch nicht zu ihr gekommen. Sie ging in das Eßzimmer, unter dem Vorwande, dort etwas anordnen zu müssen, und sprach absichtlich laut, in der Erwartung, er werde dorthin kommen. Aber er kam nicht, obwohl sie hörte, daß er bis zur Tür seines Arbeitszimmers dem Subdirektor das Geleit gab. Sie wußte, daß er seiner Gewohnheit gemäß nun bald zum Dienste wegfahren werde, und hätte gern noch vorher mit ihm gesprochen, um ihre künftigen Beziehungen zu regeln.
Sie ging ein paarmal im Salon auf und ab und begab sich dann entschlossen zu ihm. Als sie in sein Arbeitszimmer trat, saß er in seiner Dienstuniform, augenscheinlich zur Abfahrt bereit, an einem kleinen Tische, auf den er die Ellbogen stützte, und blickte trübe vor sich hin. Sie sah ihn früher als er sie, und sie sagte sich, daß er an sie dachte.
Als er sie erblickte, wollte er zunächst aufstehen, besann sich aber dann eines anderen. Hierauf wurde er dunkelrot, was Anna früher nie an ihm gesehen hatte, stand nun schnell auf und ging ihr entgegen, wobei er ihr nicht in die Augen blickte, sondern höher hinauf, auf die Stirn und das Haar. Er trat zu ihr, ergriff ihre Hand und bat sie, sich zu setzen.
»Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind«, sagte er, indem er neben ihr Platz nahm; er wollte offenbar noch weiden, aber er stockte. Mehrmals wollte er zu sprechen anfangen, hielt aber immer wieder inne. Sie hatte zwar, als sie sich auf diese [107] Zusammenkunft vorbereitete, sich absichtlich in der Anschauung befestigt, daß er ein verächtlicher Mensch sei und allein die Schuld trage; aber jetzt wußte sie doch nicht, was sie zu ihm sagen sollte, und er tat ihr leid. So dauerte das Schweigen ziemlich lange. »Ist Sergei gesund?« fragte er und fügte, ohne die Antwort abzuwarten, hinzu: »Ich werde heute nicht zum Mittagessen hier sein und muß gleich wegfahren.«
»Ich wollte nach Moskau fahren«, bemerkte sie.
»Nein, Sie haben sehr, sehr gut daran getan, daß Sie hierhergekommen sind«, sagte er und verstummte wieder.
Da sie sah, daß er nicht imstande war, die Auseinandersetzung zu beginnen, so fing sie selbst an.
»Alexei Alexandrowitsch«, sagte sie, indem sie ihn anblickte und die Augen nicht vor seinem auf ihre Frisur gerichteten Blicke niederschlug, »ich habe mich vergangen, ich bin ein schlechtes Weib; aber ich bin noch dieselbe, die ich war, dieselbe, als die ich mich damals Ihnen zu erkennen gegeben habe, und ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich daran nichts ändern kann.«
»Ich habe Sie nicht danach gefragt«, versetzte er und schaute ihr plötzlich mit festem, haßerfülltem Blicke gerade in die Augen. »Ich habe das auch vorausgesetzt.« Der Zorn verhalf ihm offenbar wieder zum Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten. »Aber was ich Ihnen damals gesagt und nachher geschrieben habe«, fuhr er mit seiner scharfen, hohen Stimme fort, »das wiederhole ich Ihnen jetzt: ich bin nicht verpflichtet, dies zu wissen. Ich ignoriere es. Nicht alle Gattinnen haben wie Sie die Güte, so eilig ihren Ehemännern eine so angenehme Mitteilung zu machen.« Er legte einen besonderen Nachdruck auf das Wort angenehm. »Ich werde es so lange ignorieren, wie die Welt nichts davon weiß, so lange, wie mein Name nicht befleckt ist. Und darum beschränke ich mich darauf, Ihnen mitzuteilen, daß unsere Beziehungen dieselben bleiben müssen, die sie immer gewesen sind, und daß ich nur in dem Falle, wenn Sie sichbloßstellen sollten, genötigt sein werde, die erforderlichen Maßregeln zu ergreifen, um meine Ehre zu schützen.«
»Aber unsere Beziehungen können nicht von derselben Art sein wie bisher«, begann Anna zaghaft und blickte ihn erschrocken an.
Als sie wieder diese ruhigen Handbewegungen sah und diese durchdringende, kindlich hohe, spöttische Stimme hörte, da verschwand ihr früheres Mitleid vor dem Widerwillen gegen ihn; jetzt fürchtete sie sich nur vor ihm; aber sie wollte um jeden Preis eine Klärung ihrer Lage herbeiführen.
[108] »Ich kann nicht Ihre Gattin sein, wenn ich ...«, begann sie. Er brach in ein grimmiges, kaltes Lachen aus.
»Die Lebensweise, die Sie sich erwählt haben, muß wohl auf Ihr ganzes Denken zurückgewirkt haben. Ich achte so sehr das, was Sie früher waren, und ich verachte so sehr das, was Sie jetzt sind, daß mir die Deutung, die Sie meinen Worten beilegen, ganz fern lag.«
Anna seufzte und ließ den Kopf sinken.
»Übrigens«, fuhr er, hitziger werdend, fort, »das ist mir nicht verständlich: wenn Sie einen so großen Unabhängigkeitssinn besitzen und Ihrem Gatten geradezu von Ihrer Untreue Mitteilung machen und in Ihrem Verhalten anscheinend gar nichts Unpassendes finden, wie können Sie dann die Erfüllung der Pflichten, die die Gattin dem Manne gegenüber hat, für unpassend halten?«
»Alexei Alexandrowitsch, was verlangen Sie von mir?«
»Ich verlange, daß dieser Mensch sich hier nicht blicken läßt; ich verlange, daß Sie sich so benehmen, daß weder die Welt noch die Dienerschaft Ihnen Übles nachsagen kann; ich verlange, daß Sie ihn nicht wiedersehen. Ich möchte meinen, das ist nicht zuviel verlangt. Und dafür werden Sie die Rechte einer ehrbaren Frau genießen, ohne ihre Pflichten zu erfüllen. Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Jetzt muß ich wegfahren. Ich bin zum Mittagessen nicht hier.« Er stand auf und ging zur Tür hin.
Anna erhob sich ebenfalls. Mit einer schweigenden Verbeugung ließ er sie an sich vorbei.
Die Nacht, die Ljewin auf dem Heuhaufen zugebracht hatte, war für ihn nicht ohne wichtige Nachwirkungen geblieben: seine bisherige Art der Wirtschaftsführung war ihm zuwider geworden und hatte für ihn alles Interesse verloren. Trotz der vorzüglichen Ernte waren noch nie so viele Mißerfolge und so viele Mißhelligkeiten zwischen ihm und den Bauern vorgekommen wie in diesem Jahre, oder wenigstens schien es ihm so; und die Ursache dieser Mißerfolge und dieser Mißhelligkeiten war ihm jetzt völlig verständlich. Das Vergnügen, das er an der persönlichen Arbeit gefunden hatte; die daraus hervorgehende Annäherung an die Bauern; der Neid, den sie und ihre ganze Lebensweise ihm einflößten; der Wunsch, zu dieser Lebensweise überzugehen, ein Wunsch, der in jener Nacht für ihn nicht mehr [109] eine bloße Phantasterei gewesen war, sondern die Form eines bestimmten Planes angenommen hatte, dessen Ausführung er schon im einzelnen überdachte: alles dies hatte seine Ansichten über den Wert des bei ihm eingeführten Wirtschaftsbetriebes derart geändert, daß er jetzt an dieser Art des Betriebes schlechterdings nicht mehr das frühere Interesse nehmen und für sein unerfreuliches Verhältnis zu den Arbeitern, das der Grund zu alle dem war, nicht blind sein konnte. Verbesserte Kuhherden von der Art wie Pawa; ein in seiner ganzen Ausdehnung verbessertes, mit modernen Pflügen bearbeitetes Ackerland; neun gleiche, mit Weidengebüsch eingefaßte Felder; neunzig Deßjatinen mit tief untergepflügtem Dünger; Reihensämaschinen und so weiter: alles das wäre wunderschön gewesen, wenn er es hätte entweder allein ausführen können oder in Kameradschaft mit gleichgesinnten Männern. Aber er sah jetzt klar (und seine Arbeit an dem Buche über die Landwirtschaft, in dem er als die wichtigste Grundlage der Landwirtschaft den Arbeiter ansehen wollte, hatte ihm wesentlich mit zu dieser Einsicht verholfen), er sah jetzt klar, daß sein jetziger Wirtschaftsbetrieb weiter nichts als ein grimmiger, hartnäckiger Kampf zwischen ihm und den Arbeitern war, bei dem auf der einen Seite, das heißt auf seiner Seite, das stete, angestrengte Streben stand, alles nach dem für das Beste erkannten Muster umzugestalten, und auf der anderen Seite die natürliche Ordnung der Dinge. Und er sah, daß bei diesem Kampfe, bei dem er seinerseits alle seine Kräfte auf das äußerste anspannte und auf der anderen Seite gar keine Anstrengung stattfand, ja überhaupt keine Absicht vorhanden war, er sah, daß bei diesem Kampfe das Ergebnis lediglich war, daß die Wirtschaft nichts abwarf und die prächtigen landwirtschaftlichen Geräte, das prächtige Vieh und Land völlig ohne Nutzen verdorben wurden. Und was die Hauptsache war: es ging nicht nur die von ihm auf dieses Werk verwandte Tatkraft ganz nutzlos verloren, sondern er konnte sich jetzt, wo er über seine Wirtschaft zu einem richtigen Urteile gelangt war, auch nicht der Einsicht verschließen, daß das Ziel seiner Tatkraft ganz unwürdig war. Denn in der Tat, worum drehte sich der Kampf? Er kämpfte um jeden Groschen, der ihm gehörte oder zukam (und das mußte er; denn hätte er in seiner Tatkraft nachgelassen, so hätte es ihm sofort an Geld gemangelt, um den Arbeitern den Lohn zu zahlen); die Arbeiter aber hatten bei diesem Kampfe nur das Ziel, ruhig und angenehm arbeiten zu dürfen, das heißt so, wie sie es gewohnt waren. In seinem Interesse lag es, daß jeder Arbeiter soviel wie möglich arbeitete, ferner, [110] daß er es dabei nicht an Achtsamkeit fehlen ließ, daß er sich bemühte, die Worfelmaschine, den Pferderechen, die Dreschmaschine nicht zu zerbrechen, daß er seine Arbeit mit Überlegung verrichtete; der Arbeiter aber wollte gern möglichst angenehm arbeiten, mit Ruhepausen, und vor allen Dingen sorglos, achtlos, gedankenlos. Das hatte Ljewin in diesem Sommer auf Schritt und Tritt beobachten können. Er hatte Leute hingeschickt, um Klee zu mähen, der zu Heu gemacht werden sollte, und hatte dazu einige schlechte Deßjatinen ausgesucht, die mit Gras und Wermut durchwachsen und zu Saatklee nicht zu gebrauchen waren – und sie mähten ihm der Reihe nach die besten Deßjatinen mit Saatklee ab, rechtfertigten sich damit, der Verwalter habe es so befohlen, und sagten, um ihn zu trösten, dieses Kleeheu würde aber auch ganz vorzüglich werden; aber er wußte, daß sie es nur getan hatten, weil diese Deßjatinen sich leichter mähen ließen. Er schickte eine Heuwendemaschine auf die Wiese, um das Heu umzuschütteln; sie zerbrachen sie ihm gleich bei den ersten Schwaden, weil es dem Bauer unbehaglich war, auf dem Bock zu sitzen, wenn sich die Flügel über ihm herumschwenkten. Ihm aber sagten sie: »Seien Sie nur ganz ohne Sorge; die Weiber werden das Heu schon flink umschütteln.« Die modernen Pflüge erwiesen sich als unbenutzbar, weil es dem Arbeiter nicht einfiel, das in die Höhe gehobene Pflugmesser wieder herunterzulassen, und er durch gewaltsames Umwenden des Bodens die Pferde quälte und den Acker verdarb. Und wieder bat man Ljewin, ganz unbesorgt zu sein. Sie ließen die Pferde in die Weizenfelder gehen, weil kein Arbeiter die ganze Nachtwache übernehmen wollte und sie sich trotz des Verbotes, dies zu tun, in die Nachtwache teilten; da war nun Iwan, der den ganzen Tag über gearbeitet hatte, eingeschlafen und gestand seine Sünde, indem er hinzufügte: »Ganz wie Sie befehlen.« Die drei besten Kälber wurden von den Leuten durch falsche Fütterung zugrunde gerichtet, indem sie sie, ohne sie zu tränken, in das Kleegrummet hineinließen, und sie wollten ganz und gar nicht glauben, daß das der Klee war, der die Tiere so auf trieb, sondern erzählten ihm zum Troste, beim Nachbar seien in drei Tagen hundertzwölf Stück Vieh gefallen. All das geschah nicht etwa, weil jemand Ljewin oder seiner Wirtschaft Böses gewünscht hätte; im Gegenteil, er wußte, daß ihn die Leute gern hatten und ihn für einen einfachen Herrn hielten (was das höchste Lob ist); sondern es geschah nur deshalb, weil sie vergnügt und sorglos arbeiten wollten und seine Interessen ihnen nicht nur fremd und unverständlich waren, sondern auch zu ihren wohlberechtigten Interessen in einem verhängnisvollen [111] Gegensatze standen. Schon seit längerer Zeit hatte sich Ljewin von seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit nicht recht befriedigt gefühlt. Er hatte gemerkt, daß sein Kahn leck war; aber er hatte das Leck nicht gefunden, auch vielleicht in absichtlicher Selbsttäuschung gar nicht danach gesucht (es wäre ihm gar nichts mehr an Lebensfreude übriggeblieben, wenn er nun auch mit seiner Wirtschaft eine Täuschung erlebt hätte). Aber jetzt konnte er sich nicht länger täuschen. Seine jetzige Art des Wirtschaftsbetriebes war ihm nicht nur uninteressant, sondern geradezu widerwärtig geworden, und er konnte es nicht über sich gewinnen, sich noch länger damit zu beschäftigen.
Dazu kam noch der Umstand, daß Kitty Schtscherbazkaja, die er so gern gesehen hätte und doch, nach seiner Empfindung, nicht sehen durfte, sich nur dreißig Werst von ihm entfernt befand. Darja Alexandrowna Oblonskaja hatte ihn, als er bei ihr war, eingeladen wiederzukommen: wiederzukommen, um ihrer Schwester noch einmal einen Antrag zu machen, den diese, wie Darja merken ließ, jetzt annehmen werde; und Ljewin selbst hatte, als er Kitty Schtscherbazkaja erblickte, gefühlt, daß er sie noch immer liebte. Aber er konnte nicht zu Oblonskis hinfahren, nun er wußte, daß sie da war. Er hatte ihr einen Antrag gemacht und sie hatte ihn abgelehnt; dadurch war zwischen ihm und ihr eine unübersteigliche Mauer errichtet. ›Ich kann sie nicht bitten, mein Weib lediglich deshalb zu werden, weil sie nicht hat das Weib dessen werden können, den sie haben wollte‹, sagte er zu sich selbst. Der Gedanke daran versetzte ihn in eine kalte, feindselige Stimmung gegen sie. ›Ich werde nicht imstande sein, mit ihr zu reden, ohne ihr im stillen einen Vorwurf zu machen, werde sie nicht ansehen können, ohne ihr zu grollen, und sie wird mich nur um so mehr hassen, wie das ja auch ganz natürlich ist. Und ferner, wie kann ich jetzt, nach dem, was mir Darja Alexandrowna gesagt hat, zu ihnen hinfahren? Kann ich denn tun, als wüßte ich das, was sie mir gesagt hat, gar nicht? Und ich soll zu einem Großmutsakte hinkommen – um ihr zu verzeihen, sie zu Gnaden anzunehmen. Ich soll vor sie hintreten in der Rolle des Verzeihenden, der sie seiner Liebe würdigt! Warum hat Darja Alexandrowna das überhaupt zu mir gesagt? Ich hätte sie ja zufällig sehen können, und dann hätte sich alles von selbst gemacht; aber jetzt ist es unmöglich, ganz unmöglich!‹
Darja Alexandrowna schickte ihm ein paar Zeilen, in denen sie ihn um einen Damensattel für Kitty bat. »Es ist mir gesagt worden, Sie hätten einen solchen Sattel«, schrieb sie ihm. »Ich hoffe, Sie werden ihn persönlich herbringen.«
[112] Das war ihm zuviel, das konnte er nicht mehr ertragen! Wie konnte nur eine kluge, zartfühlende Frau ihre Schwester in solcher Weise erniedrigen! Er schrieb zehn Antworten, zerriß sie sämtlich und schickte ihr den Sattel ohne jedes Begleitschreiben hin. Zu schreiben, er werde hinkommen, das ging nicht, weil er ja doch nicht hinkommen konnte; und zu schreiben, er könne nicht kommen, da er irgendwelche Behinderung habe oder verreise, das war noch schlimmer. So übersandte er denn den Sattel ohne Zuschrift, und in dem Bewußtsein, etwas getan zu haben, dessen er sich schämen müsse, übergab er gleich am nächsten Tage die ganze ihm so widerwärtig gewordene Wirtschaft dem Verwalter und fuhr nach einem ziemlich weit entfernten Kreise zu seinem Freunde Swijaschski, bei dessen Wohnorte es prächtige, an Schnepfen reiche Sümpfe gab und der ihn erst kürzlich in einem Briefe gebeten hatte, ein schon längst gegebenes Versprechen auszuführen und ihn zu besuchen. Diese Schnepfensümpfe im Kreise Surow hatten für Ljewin schon lange etwas Verführerisches gehabt; aber wegen seiner Wirtschaftsangelegenheiten hatte er diese Fahrt immer aufgeschoben. Jetzt war er froh, auf diese Art aus Kittys Nähe und besonders von seiner Wirtschaft wegzukommen, namentlich auch, da es zur Jagd ging, die ihm in allen Kümmernissen von jeher der beste Trost gewesen war.
Nach dem Kreise Surow gab es weder eine Eisenbahn noch eine Poststraße, und Ljewin fuhr daher in seinem Reisewagen mit eigenen Pferden.
Auf halbem Wege machte er bei einem reichen Bauern halt, um die Pferde zu füttern. Der kahlköpfige, frische Alte, mit breitem, rötlichem, an den Backen ergrauendem Barte, öffnete das Tor und drückte sich an den Pfosten, um das Dreigespann hereinzulassen. Er wies auf dem großen, neu angelegten, sauberen und sorgfältig aufgeräumten Hofe, auf dem eine Anzahl angekohlter Hakenpflüge standen, dem Kutscher einen Platz unter einem Schutzdache an und lud dann Ljewin ein, in die gute Stube zu kommen. Eine reinlich gekleidete junge Frau mit Gummischuhen an den bloßen Füßen scheuerte gebückt den Fußboden in dem neuen Hausflur. Sie bekam einen Schreck über den Hund, der hinter Ljewin hereingelaufen kam, und schrie auf, lachte aber sofort über ihren Schreck, da sie sah, daß der Hund sie nicht anrührte. Sie zeigte dem Gaste mit dem ausgestreckten Arme, an dem der Ärmel aufgestreift war, die Tür [113] zur guten Stube; dann bückte sie sich wieder, so daß ihr hübsches Gesicht nicht mehr zu sehen war, und scheuerte weiter.
»Befehlen Sie den Samowar?« fragte sie.
»Ja, bitte.«
Die gute Stube war geräumig; darin befand sich ein holländischer Ofen und eine Scheidewand. Unter den Heiligenbildern standen ein mit einem bunten Muster bemalter Tisch, eine Bank und zwei Stühle, neben der Eingangstür ein Schränkchen mit Geschirr. Die Fensterläden waren geschlossen; Fliegen gab es in der Stube nur wenige, und alles war so sauber, daß Ljewin darauf bedacht war, daß seine Laska, die unterwegs gelaufen war und sich in den Pfützen gebadet hatte, nicht den Fußboden beschmutzte, und ihr einen Platz in der Ecke an der Tür anwies. Nachdem Ljewin die Stube besehen hatte, ging er hinaus auf den hinteren Hof. Die hübsche junge Frau mit den Gummischuhen hatte jetzt an einer Trage zwei hin und her schaukelnde leere Eimer hängen und lief vor ihm her nach dem Brunnen, um Wasser zu holen.
»Immer flink!« rief ihr der Alte lustig zu und trat zu Ljewin. »Also zu Nikolai Iwanowitsch Swijaschski fahren Sie, gnädiger Herr? Auch Herr Swijaschski kehrt manchmal bei uns ein«, begann er redselig; er stützte sich mit dem Ellbogen auf das Treppengeländer vor der Hoftür. Mitten in der Erzählung des Alten von seiner Bekanntschaft mit Swijaschski kreischte wieder das Tor, und die Arbeiter kamen vom Felde mit Pflügen und Eggen auf den Hof gefahren. Die vor die Pflüge und Eggen gespannten Pferde sahen wohlgenährt und kräftig aus. Von den Arbeitern gehörten zwei offenbar zur Familie; sie waren noch jung und trugen baumwollene Hemden und Schirmmützen. Die beiden andern waren für Lohn angenommen, der eine ein älterer Mann, der andere ein junger Bursche; sie hatten Hemden von Hanfleinwand an.
Der alte Bauer ging von der Freitreppe weg, trat zu den Pferden und machte sich daran, sie auszuspannen.
»Was habt ihr denn gepflügt?« fragte Ljewin.
»Die Kartoffeln haben wir gehäufelt. Wir haben auch so ein bißchen Land. Du, Fjodor, den Wallach nimm nicht wieder mit, sondern stelle ihn an die Stehkrippe; wir wollen ein anderes Pferd anspannen.«
»Du, Vater, ich habe gesagt, sie sollen sich Pflugeisen borgen; hat er welche gebracht?« fragte ein hochgewachsener, gesunder Bursche, offenbar ein Sohn des Alten.
»Da ... im Schlitten sind sie«, antwortete der Alte, wickelte [114] die abgenommenen Zügel zusammen und warf sie auf die Erde. »Bring sie während des Mittagessens in Ordnung!«
Die hübsche junge Frau ging mit den gefüllten Eimern, die ihr die Schultern hinunterzogen, in den Hausflur. Von allen Seiten erschienen noch mehr Frauen, hübsche junge und solche von mittlerem Alter, und alte häßliche, manche mit Kindern, andere ohne Kinder.
Der Samowar begann zu summen. Die Arbeitsleute und die Familienmitglieder gingen, nachdem sie mit den Pferden fertig geworden waren, ins Haus zum Mittagessen. Ljewin holte seinen Mundvorrat aus dem Wagen und lud den Alten ein, mit ihm zusammen Tee zu trinken.
»Aber wir haben ja heute schon Tee getrunken«, versetzte der Alte, nahm jedoch die Einladung offenbar mit Vergnügen an. »Nun, so zur Gesellschaft!«
Während des Teetrinkens erfuhr Ljewin die ganze bisherige Geschichte der Wirtschaft des Alten. Dieser hatte vor zehn Jahren von der Gutsbesitzerin hundertzwanzig Deßjatinen gepachtet; im vorigen Jahre hatte er sie käuflich erworben und von einem benachbarten Gutsbesitzer noch dreihundert Deßjatinen dazugepachtet. Einen kleinen Teil des Landes, den schlechtesten, hatte er in einzelnen Parzellen weiterverpachtet, und vierzig Deßjatinen bestellte er selbst mit seiner Familie und zwei Arbeitsleuten als Ackerland. Der Alte klagte, die Wirtschaft ginge nur schlecht. Aber Ljewin sah klar, daß er nur so um des Anstands willen klagte und seine Wirtschaft in Wirklichkeit sehr gut im Gange war. Wäre sie schlecht gegangen, so wäre er nicht imstande gewesen, Land zu hundertfünf Rubeln die Deßjatine zu kaufen und drei Söhne und einen Neffen zu verheiraten und zweimal nach Bränden wieder neu zu bauen und jedesmal besser, als es vorher gewesen war. Trotz der Klagen des Alten war es deutlich, daß er mit gutem Grunde stolz war auf seinen Wohlstand, stolz auf seine Söhne, seinen Neffen, seine Schwiegertöchter, seine Pferde und Kühe und ganz besonders darauf, daß seine ganze Wirtschaft so wohl und sicher begründet war. Aus dem Gespräch mit dem Alten konnte Ljewin entnehmen, daß dieser kein Feind von Neuerungen war. Er baute viel Kartoffeln, und seine Kartoffeln blühten, wie Ljewin auf der Fahrt gesehen hatte, schon ab und setzten an, während Ljewins eigene erst im Aufblühen waren. Er häufelte seine Kartoffeln mit Pflugeisen, die er sich vom Gutsbesitzer lieh. Er säte Weizen. Eine geringfügige Einzelheit machte auf Ljewin besonderen Eindruck: daß der Alte, wenn er den Roggen ausjäten ließ, mit dem ausgejäteten Roggen die Pferde fütterte. Wie oft [115] schon hatte Ljewin, wenn er sah, wie dieses schöne Futter nutzlos umkam, es einsammeln lassen wollen; aber es war immer ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Bei diesem Bauern aber ließ sich das durchführen, und er konnte dieses Futter gar nicht genug rühmen.
»Was haben denn die Weiber sonst zu tun? Sie tragen die Häufchen an den Weg, und der Wagen sammelt sie ein und bringt sie nach Hause.«
»Ja, aber siehst du, wir Gutsbesitzer haben mit den Arbeitsleuten immer unsere liebe Not«, sagte Ljewin und reichte ihm ein Glas Tee hin.
»Danke sehr«, sagte der Alte und nahm das Glas; aber den angebotenen Zucker lehnte er ab, indem er auf den noch übrigen Rest des Stückes hinwies, von dem er bis jetzt abgebissen hatte. »Wie kann man überhaupt mit Arbeitsleuten wirtschaften?« sagte er. »Dabei geht man zugrunde. Sehen Sie zum Beispiel Swijaschski an! Wir wissen, welch vorzügliches Land er hat, die reine Pracht; aber seine Ernte lobt er trotzdem nicht sonderlich. Die Aufsicht bleibt doch immer mangelhaft.«
»Aber du wirtschaftest doch auch selbst mit Arbeitsleuten?«
»Wir sind gewohnt, Bauernarbeit zu verrichten, und sind überall selbst mit dabei. Ist ein Arbeiter schlecht, dann muß er weg; nötigenfalls schaffe ich es auch mit den Leuten aus meiner Familie.«
»Vater, Finogen möchte Teer haben«, berichtete, ins Zimmer tretend, die Frau mit den Gummischuhen.
»Ja, so ist das, gnädiger Herr!« sagte der Alte, stand auf, bekreuzte sich umständlich, bedankte sich bei Ljewin und ging hinaus.
Als Ljewin in die gewöhnliche Wohnstube trat, um seinen Kutscher herauszurufen, erblickte er die sämtlichen männlichen Mitglieder der Familie am Tische. Die Frauen standen und warteten ihnen auf. Der eine junge, kerngesunde Haussohn erzählte gerade, den Mund voll Grütze, etwas Komisches, und alle lachten, besonders lustig die Frau mit den Gummischuhen, die Kohlsuppe in einen Napf goß.
Sehr möglich, daß das hübsche Gesicht dieser jungen Frau mit den Gummischuhen viel zu dem Eindruck guter Ordnung beitrug, den dieses Bauernhaus auf Ljewin machte; jedenfalls war dieser Eindruck so stark, daß er sich bei Ljewin niemals wieder verlor. Und während der ganzen Fahrt von dem Alten zu Swijaschski mußte er immer wieder an diese Wirtschaft denken, als ob etwas daran seiner ganz besonderen Beachtung würdig sei.
Swijaschski war Adelsmarschall in seinem Kreise. Er war fünf Jahre älter als Ljewin und schon lange verheiratet. Bei ihm im Hause wohnte auch seine junge unverheiratete Schwägerin, die Ljewin sehr sympathisch war. Und er wußte, daß Swijaschski und seine Frau den lebhaften Wunsch hegten, aus ihm und diesem jungen Mädchen ein Paar zu machen. Er wußte das unzweifelhaft, wie das junge Männer, sogenannte Heiratskandidaten, immer wissen, wiewohl er nie mit jemandem darüber hätte sprechen mögen; aber er wußte auch, daß, obwohl er gern heiraten wollte, und obwohl, nach allen Anhaltspunkten zu urteilen, dieses anziehende junge Mädchen eine vortreffliche Gattin zu werden versprach, er ebensowenig sie heiraten konnte wie in den Himmel fliegen, selbst wenn er nicht in Kitty Schtscherbazkaja verliebt gewesen wäre. Und dieses Bewußtsein war eine unangenehme Beigabe zu dem Vergnügen, das er sich von der Fahrt zu Swijaschski erhoffte.
Als Ljewin Swijaschskis Brief mit der Einladung zur Jagd erhalten hatte, war ihm dies alles sofort in den Sinn gekommen; aber er hatte sich trotzdem gesagt, eigentlich sei es doch nur eine ganz grundlose Annahme von ihm, wenn er bei Swijaschski solche Absichten auf seine Person voraussetze; er könne also ruhig hinfahren. Außerdem stak bei ihm noch in einem verborgenen Winkel seiner Seele der Wunsch, mit sich selbst noch einmal eine Probe vorzunehmen, sich und dieses junge Mädchen noch einmal vergleichend miteinander zusammenzuhalten. Das häusliche Leben bei Swijaschski war höchst angenehm, und Swijaschski selbst war als der beste Typus eines eifrigen Mitgliedes der ländlichen Selbstverwaltung, den Ljewin je gekannt hatte, für ihn immer eine außerordentlich interessante Persönlichkeit gewesen.
Swijaschski gehörte zu einer Menschenklasse, über die sich Ljewin immer sehr wunderte, nämlich zu den Menschen, bei denen das sehr logische, wiewohl niemals selbständige Denken seinen Gang für sich hat und das recht bestimmte, in seiner Richtung feste Handeln auch seinen Gang für sich hat, und zwar ganz unabhängig vom Denken und fast immer im Widerspruche mit ihm. Swijaschski war in seinen Ansichten außerordentlich fortschrittlich. Er verachtete den Adel und war überzeugt, daß die meisten Adligen geheime Anhänger der Leibeigenschaft seien und nur aus Zaghaftigkeit es nicht eingestehen wollten. Er hielt Rußland für ein dem Untergange verfallenes Land, ähnlich wie die Türkei, und die Regierung Rußlands für so [117] schlecht, daß er sich niemals darauf einließ, ihre Handlungen überhaupt auch nur ernsthaft zu kritisieren. Aber zugleich versah er ein Amt und war ein musterhafter Adelsmarschall und trug auf Reisen immer die Dienstmütze mit der Kokarde und dem roten Randstreifen. Er war der Meinung, ein menschenwürdiges Leben sei nur im Auslande möglich, wohin er denn auch, sooft es ihm nur möglich war, zu längerem Aufenthalte reiste; aber dabei leitete er in Rußland einen sehr verwickelten, vervollkommneten landwirtschaftlichen Betrieb, verfolgte alles mit außerordentlichem Interesse und wußte alles, was in Rußland geschah. Er hielt den russischen Bauer für eine Art Übergangsstufe zwischen Affen und Menschen; aber dabei drückte er bei den landschaftlichen Wahlversammlungen mit besonderer Vorliebe gerade den Bauern die Hand und ließ sich von ihnen ihre Meinungen vortragen. Er glaubte nicht an Himmel und Hölle; aber er interessierte sich sehr für die Aufbesserung der äußeren Lage der Geistlichkeit und für eine Verkleinerung der Zahl der Kirchspiele, wobei ihm besonders am Herzen lag, daß nur auch ja die Kirche in seinem Dorfe verbliebe.
In der Frauenfrage war er auf seiten der extremsten Verfechter der vollen Freiheit der Frauen und namentlich ihres Rechtes auf Arbeit; aber mit seiner Frau lebte er so, daß jedermann an ihrem einträchtigen, kinderlosen Familienleben seine Freude hatte, und er hatte das Leben seiner Frau so eingerichtet, daß sie nichts zu tun brauchte und auch nichts weiter tun konnte, als daß sie mit ihrem Manne gemeinsam überlegte, wie sie die Zeit am besten und vergnügtesten verbringen könnten.
Hätte Ljewin nicht die Eigenheit an sich gehabt, die Charaktere der Menschen in möglichst günstiger Weise zu beurteilen, so würde ihm Swijaschskis Charakter keinerlei Schwierigkeit bereitet und keinerlei Zweifel erregt haben; er hätte sich gesagt: ›Er ist ein Dummkopf oder ein Lump‹, und alles wäre klar gewesen. Aber einen Dummkopf konnte er ihn nicht nennen; denn Swijaschski war zweifellos nicht nur ein sehr kluger, sondern auch ein sehr gebildeter Mann, der mit seiner Bildung in keiner Weise prahlte. Es gab kein Gebiet, auf dem er nicht Bescheid gewußt hätte; aber er zeigte sein Wissen nur, wenn er sich dazu genötigt sah. Und noch weniger konnte Ljewin sagen, daß er ein Lump sei; denn Swijaschski war zweifellos ein ehrenhafter, guter, braver Mensch, der heiter, frisch und unermüdlich eine von seiner gesamten Umgebung hoch bewertete Tätigkeit entfaltete und gewiß nie mit Bewußtsein etwas Schlechtes getan hatte und dessen auch nicht fähig war.
Ljewin versuchte, sich über den Charakter seines Bekannten [118] klarzuwerden, gelangte aber damit nicht zum Ziele und betrachtete ihn und sein Leben immer wie ein lebendiges Rätsel.
Sie waren miteinander gut befreundet, und daher erlaubte sich Ljewin oft, ihm mit Fragen zuzusetzen, in dem Wunsche, bis zum tiefsten Grunde seiner Lebensanschauung durchzudringen; aber dies war ihm nie gelungen. Jedesmal, wenn Ljewin versucht hatte, in Swijaschskis Geist weiter als bis in die einem jeden geöffneten Empfangszimmer einzudringen, hatte er bemerkt, daß Swijaschski eine leise Verlegenheit zeigte; eine ganz schwache Andeutung von Angst prägte sich in seinem Blicke aus, als ob er fürchtete, von Ljewin durchschaut zu werden; er wehrte sich gegen solche Versuche dann in gutmütiger, humoristischer Weise.
Jetzt nach der Enttäuschung, die ihm seine wirtschaftliche Tätigkeit gebracht hatte, freute sich Ljewin auf ein Zusammensein mit Swijaschski ganz besonders. Ganz abgesehen davon, daß der Anblick dieser glücklichen, mit sich und aller Welt zufriedenen Täubchen und ihres wohleingerichteten Nestes ihn immer in vergnügte Stimmung versetzte, verlangte es ihn jetzt, wo er sich mit seinem eigenen Leben so unzufrieden fühlte, in Swijaschskis Seele jene geheimnisvolle Eigenschaft zu ergründen, die diesem im Leben eine solche Klarheit, Bestimmtheit und Heiterkeit verlieh. Außerdem wußte Ljewin, daß er bei Swijaschskis einige Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft treffen werde, und es war ihm jetzt höchst interessant, jene wirtschaftlichen Gespräche über die Ernte, über das Mieten von Arbeitern und so weiter zu führen und mit anzuhören, die, wie Ljewin wußte, nach dem herkömmlichen Urteile als etwas sehr Niedriges galten, die ihm aber jetzt als etwas sehr Wichtiges erschienen. ›Mag sein, daß das zur Zeit der Leibeigenschaft nicht wichtig war oder in England heutzutage nicht wichtig ist. In beiden Fällen jedoch handelt es sich um feststehende Verhältnisse; aber bei uns jetzt, wo das alles eine Umwälzung durchgemacht hat und eben erst in der Neugestaltung begriffen ist, bei uns jetzt ist die Frage, wie sich die Verhältnisse gestalten werden, die einzig wichtige Frage in Rußland‹, dachte Ljewin.
Es stellte sich heraus, daß die Jagd schlechter war, als Ljewin erwartet hatte. Der Sumpf war ausgetrocknet, und Schnepfen gab es so gut wie gar keine. Er streifte den ganzen Tag umher und brachte nur drei Stück nach Hause; dafür aber brachte er, wie immer von der Jagd, einen ausgezeichneten Appetit mit sowie eine vortreffliche Stimmung und jenen angeregten Geisteszustand, der sich bei ihm stets als Folge starker körperlicher Bewegung einstellte. Auch auf der Jagd, in Augenblicken, da [119] er anscheinend an gar nichts dachte, war ihm immer wieder jener alte Bauer mit seiner Familie eingefallen, und dieses ihm vorschwebende Bild hatte nicht nur seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, sondern ihm auch gewissermaßen die Lösung einer damit im Zusammenhang stehenden Frage nahegelegt.
Am Abend waren beim Teetrinken noch zwei andere Gutsbesitzer zugegen, die zur Besprechung irgendwelcher Vormundschaftssachen gekommen waren, und es kam nun eben jenes interessante Gespräch in Gang, das Ljewin erwartet hatte.
Ljewin saß am Teetisch neben der Hausfrau und mußte sich mit ihr und mit der Schwägerin, die ihm gegenübersaß, unterhalten. Die Hausfrau war von kleiner Statur, blond, mit einem runden Gesichte, das fortwährend von einem lustigen Lächeln über und über aufstrahlte und seine hübschen Grübchen zeigte. Ljewin gab sich Mühe, durch sie zur Lösung des ihn so sehr interessierenden Rätsels zu gelangen, das ihr Mann für ihn bildete; aber er hatte nicht die volle Freiheit des Denkens, weil er eine peinliche Verlegenheit empfand. Diese rührte daher, daß die ihm gegenübersitzende Schwägerin ein eigenartiges Kleid trug, das sie, wie es ihm schien, besonders für ihn angezogen hatte, mit einem eigenartigen trapezförmigen Ausschnitt auf der weißen Brust; obgleich diese Brust sehr weiß war oder gerade weil sie sehr weiß war, sah sich Ljewin durch diesen viereckigen Ausschnitt der Freiheit des Denkens beraubt. Er hatte die wahrscheinlich irrtümliche Vorstellung, daß dieser Ausschnitt mit Rücksicht auf ihn gemacht sei, und hielt sich nicht für berechtigt, danach hinzusehen, und bemühte sich, es zu vermeiden; aber er hatte die Empfindung, als treffe ihn schon deswegen eine Schuld, weil der Ausschnitt überhaupt gemacht war. Es kam ihm vor, als betrüge er jemanden, als müsse er etwas zu seiner Rechtfertigung sagen, aber als sei dies doch schlechterdings nicht tunlich; und deswegen errötete er fortwährend und war unruhig und verlegen. Seine Verlegenheit teilte sich auch der hübschen Schwägerin mit. Aber die Hausfrau schien dies nicht zu bemerken und zog diese geflissentlich ins Gespräch.
»Sie sagen«, fuhr die Hausfrau in dem begonnenen Gespräche fort, »daß meinen Mann nichts Russisches interessiere. Aber das Gegenteil ist richtig; er ist ja im Auslande meist sehr vergnügt, aber doch nie so wie hier. Hier fühlt er sich in seinem Fahrwasser. Er hat soviel zu tun, und er besitzt die Gabe, sich für alles zu interessieren. In unserer Schule sind Sie wohl noch nicht gewesen?«
[120] »Ich habe sie von außen gesehen ... Nicht wahr, das mit Efeu bewachsene Häuschen?«
»Ja, die Schule ist Nastjas Domäne«, sagte sie, auf ihre Schwester weisend.
»Unterrichten Sie selbst?« fragte Ljewin und gab sich dabei Mühe, an dem Ausschnitt vorbeizusehen; aber er merkte, daß, er mochte in jener Richtung blicken, wohin er wollte, er immer den Ausschnitt sehen werde.
»Ja, ich habe selbst unterrichtet und unterrichte auch jetzt noch; aber wir haben auch eine ausgezeichnete Lehrerin. Auch Turnunterricht haben wir eingeführt.«
»Nein, danke schön, ich möchte keinen Tee mehr«, sagte Ljewin und stand errötend auf; er fühlte zwar, daß er damit eine Unhöflichkeit beging, war aber nicht imstande, dieses Gespräch weiter fortzusetzen. »Ich höre da ein sehr interessantes Gespräch«, fügte er hinzu und ging nach dem andern Ende des Tisches hin, wo der Hausherr mit den beiden Gutsbesitzern saß. Swijaschski wandte dem Tische die eine Seite seines Körpers zu; den einen Ellbogen hatte er auf den Tisch gelegt und drehte mit der Hand dieses Armes seine Tasse immer herum; mit der andern Hand faßte er seinen Bart zusammen, hob ihn zur Nase in die Höhe und ließ ihn wieder los, gerade wie wenn er daran röche. Mit seinen blitzenden, schwarzen Augen sah er dem sprechenden und sich dabei ereifernden Gutsbesitzer, einem Manne mit grauem Schnurrbarte, gerade ins Gesicht und ergötzte sich augenscheinlich an dessen Reden. Der Gutsbesitzer schalt über das Landvolk. Ljewin sah deutlich, daß Swijaschski auf die Klagen des Gutsbesitzers eine Antwort bereit hatte, die dessen Darlegungen mit einem Schlage zunichte gemacht hätte, daß er aber mit Rücksicht auf seine Stellung als Wirt und Adelsmarschall diese Antwort unterdrückte und mit innerer Heiterkeit die komischen Auslassungen des Gutsbesitzers mit anhörte.
Der Gutsbesitzer mit dem grauen Schnurrbart war offenbar ein hartnäckiger Verteidiger der Leibeigenschaft, ein eingefleischter Landbewohner und leidenschaftlicher Landwirt. Kennzeichen dafür erblickte Ljewin sowohl in seiner Kleidung, einem altmodischen, abgescheuerten Oberrock, der seinem Träger sichtlich etwas Ungewohntes war, wie auch in seinen klugen, streng blickenden Augen und in seiner bündigen, rein russischen Ausdrucksweise und in dem befehlenden Tone, den er offenbar durch lange Gewohnheit angenommen hatte, und an den entschiedenen Bewegungen der großen, schönen, von der Sonne verbrannten Hände mit einem alten Trauringe am Goldfinger.
»Wenn es mir nur nicht leid täte, alles, was ich mir eingerichtet habe, aufzugeben – es steckt eine gehörige Menge Arbeit darin –, so würde ich die ganze Geschichte hinwerfen, alles verkaufen und ins Ausland reisen, wie unser Nikolai Iwanowitsch hier ... um ›Die schöne Helena‹ zu hören«, sagte der Gutsbesitzer mit einem angenehmen Lächeln, das seinem klugen, alten Gesichte einen hellen Schein verlieh.
»Aber Sie geben es doch nicht auf«, erwiderte Nikolai Iwanowitsch Swijaschski, »folglich muß doch ein Vorteil dabei sein.«
»Der einzige Vorteil besteht darin, daß ich in einem altererbten Hause wohne, das ich mir weder gekauft noch gemietet habe. Und dann hofft man doch immer noch, daß das Volk endlich einmal zur Vernunft kommt. Aber so, wie es jetzt ist – es ist kaum zu glauben, diese Trunksucht, diese Liederlichkeit! ... Alle sind sie infolge der Wirtschaftsteilungen auf den Hund gekommen; da ist kein Pferd, keine Kuh zu finden. So ein Bauer krepiert beinah vor Hunger; aber nun nehmen Sie den Menschen einmal als Arbeiter an: zuerst verdirbt er Ihnen alles mögliche, und dann verklagt er Sie noch beim Friedensrichter.«
»Sie können ihn ja Ihrerseits auch beim Friedensrichter verklagen«, bemerkte Swijaschski.
»Ich soll ihn verklagen? Um keinen Preis! Das gibt ein Gerede, so daß man von der Klage keine Freude hat! Sehen Sie nur den Fall neulich in der Fabrik: die Leute haben das Handgeld genommen und sind einfach davongegangen. Und was hat der Friedensrichter getan? Freigesprochen hat er sie. Alles wird nur noch durch das Gemeindegericht und den Dorfschulzen in Ordnung gehalten. Der läßt so einen Kerl einfach nach altem Brauch durchpeitschen. Wenn das nicht noch wäre, dann könnte man nur gleich einpacken und sich davonmachen!«
Es war offenbar, daß der Gutsbesitzer Swijaschski reizen wollte; aber dieser ärgerte sich nicht, sondern belustigte sich vielmehr nur über diese Reden.
»Na, aber wir führen doch unsere Wirtschaft ohne derartige Maßregeln«, versetzte er lächelnd. »Ich meine mich und Ljewin und unsern Nachbar hier.«
Er wies auf den andern Gutsbesitzer.
»Ja, bei Michail Petrowitsch geht es ja noch so einigermaßen; aber fragen Sie ihn nur, wie. Ist das etwa eine rationelle Wirtschaft?« sagte der Gutsbesitzer; er prunkte augenscheinlich mit dem Worte »rationell«.
[122] »Meine Wirtschaft ist sehr einfach«, versetzte Michail Petrowitsch. »Dafür danke ich meinem Gotte. Meine Wirtschaft zielt nur darauf hin, daß das Geld für die Steuern im Herbst bereit daliegt. Aber die Bauern, die kein Geld für die Steuern haben, kommen dann und bitten: ›Väterchen, liebes Väterchen, hilf uns aus der Not!‹ Na, die Leute sind ja sämtlich meine Nachbarn; da tun sie einem denn leid, und da gibt man ihnen das Geld für das erste Jahresdrittel, sagt ihnen aber dabei: ›Vergeßt nicht, Kinder, daß ich euch geholfen habe; nun müßt ihr mir aber auch helfen, wenn's nötig ist, beim Hafersäen oder beim Heuen oder bei der Getreideernte.‹ Na, und da setzt man gleich fest, wieviel Mann aus jeder Familie zur Arbeit kommen sollen. Gewissenlose Menschen gibt es dann allerdings auch unter diesen, das ist richtig.«
Ljewin, dem diese patriarchalischen Gebräuche längst bekannt waren, wechselte einen Blick mit Swijaschski und unterbrach Michail Petrowitsch, indem er sich wieder an den Gutsbesitzer mit dem grauen Schnurrbart wandte.
»Also wie denken Sie nun darüber?« fragte er. »Wie muß man jetzt seine Wirtschaft führen?«
»So wie Michail Petrowitsch! Man kann ja auch die Bauern die Arbeit für die Hälfte des Ertrages verrichten lassen oder auch ihnen das Land in Pacht geben; gewiß, das geht auch; nur wird gerade dadurch der allgemeine Wohlstand des Staates vernichtet. Während mein Land früher bei Bearbeitung durch Leibeigene und bei guter Bewirtschaftung das Neunfache brachte, bringt es jetzt bei Bearbeitung auf Halbpart nur das Dreifache. Die Gleichberechtigung der Bauern hat Rußland zugrunde gerichtet!«
Swijaschski blickte Ljewin mit lächelnden Augen an und machte ihm sogar ein ganz leises, spöttisches Zeichen; aber Ljewin fand die Worte des Gutsbesitzers gar nicht lächerlich; er hatte für sie ein besseres Verständnis als für Swijaschskis Standpunkt. Vieles von dem, was der Gutsbesitzer noch weiter sagte, um zu beweisen, daß die Gleichberechtigung der Bauern Rußlands Verderb sei, war ihm neu und erschien ihm durchaus richtig und unwiderlegbar. Der Gutsbesitzer sprach offenbar, was so selten vorkommt, Gedanken aus, die in seinem eigenen Kopfe entstanden waren, und zu diesen Gedanken war er nicht etwa durch den Wunsch geleitet worden, den müßigen Geist mit irgend etwas zu beschäftigen, sondern sie waren aus den Erfahrungen des Lebens erwachsen, das er in seiner ländlichen Einsamkeit verbracht und nach allen Richtungen durchdacht hatte.
[123] »Sehen Sie«, sagte er, sichtlich bestrebt, zu zeigen, daß er eine gute Bildung besitze, »die Sache ist die, daß jeder Fortschritt nur von der autoritativen Macht bewerkstelligt wird. Nehmen Sie die Reformen Peters, Katharinas, Alexanders! Nehmen Sie die Geschichte Europas! Und ganz besonders gilt das für die Fortschritte auf dem Gebiete der Landwirtschaft. Zum Beispiel die Kartoffeln – auch die sind bei uns nur mit Gewalt eingeführt worden. Auch mit dem Hakenpflug hat man ja nicht immer gepflügt; auch der ist erst eingeführt worden, vielleicht zur Zeit der Teilfürsten, aber sicherlich nur mit Gewalt. Jetzt zu unserer Zeit haben wir Gutsbesitzer, als noch die Leibeigenschaft bestand, unsere Wirtschaft mit den modernen Vervollkommnungen geführt; die Trockenböden und die Worfelmaschinen und das Düngerfahren und alle landwirtschaftlichen Geräte, alles haben wir kraft unserer höheren Stellung eingeführt, und die Bauern haben sich anfangs widersetzt, nachher aber es uns nachgemacht. Jetzt nun ist uns bei der Aufhebung der Leibeigenschaft diese Macht genommen worden, und so muß nun auch unser Wirtschaftsbetrieb überall, wo er eine hohe Stufe erreicht hatte, wieder zu dem ursprünglichen Zustande schlimmster Unkultur hinabsinken. So fasse ich das auf.«
»Aber weshalb denn nur?« entgegnete Swijaschski. »Wenn Ihr Wirtschaftsbetrieb rationell ist, so können Sie ihn auch unter Anwendung des Mietsystems durchführen.«
»Dazu fehlt mir die Macht. Gestatten Sie die Frage: Mit was für Leuten soll ich meine Wirtschaft führen?«
›Da haben wir's!‹ dachte Ljewin. ›Die Arbeitskraft, das ist der Angelpunkt der Landwirtschaft‹.
»Mit Arbeitern.«
»Die Arbeiter wollen nicht gut arbeiten und nicht mit guten Geräten. Unsere Arbeiter verstehen nur eins: sich viehisch zu betrinken und alles, was man ihnen in die Hände gibt, zugrunde zu richten. Die Pferde richten sie zugrunde, indem sie sie in erhitztem Zustande tränken; das gute Pferdegeschirr zerreißen sie; die frisch beschienten Räder vertauschen sie gegen andere und vertrinken den Ertrag; in die Dreschmaschine lassen sie einen Deichselnagel hineinfallen, um sie entzweizumachen. Alles, was nicht nach ihrem Geschmacke ist, ist ihnen ein Greuel. Infolgedessen ist die ganze Landwirtschaft gesunken. Weite Felder liegen unbebaut und überziehen sich mit Wermut; oder sie sind an die Bauern verpachtet, und wo früher eine Million Tschetwert erzeugt wurde, erzeugen diese jetzt nur einige Hunderttausend. Der allgemeine Wohlstand ist gesunken. Ja, wenn man dasselbe getan hätte, aber mit mehr Überlegung ...«
[124] Und er begann seinen eigenen Plan einer Bauernbefreiung zu entwickeln, bei dessen Befolgung nach seiner Ansicht diese Übelstände vermieden worden wären.
Das interessierte Ljewin nicht; aber als der Redende mit seinen Auseinandersetzungen fertig war, kehrte Ljewin zu der ersten Behauptung zurück, die jener aufgestellt hatte. Um Swijaschski dazu zu veranlassen, seine wirkliche Meinung auszusprechen, wandte sich Ljewin an diesen und sagte:
»Daß die Bedeutung der Landwirtschaft sinkt und daß es bei unserem Verhältnisse zu den Arbeitern unmöglich ist, mit Vorteil eine rationelle Wirtschaft zu führen, das ist vollkommen richtig.«
»Das kann ich nicht finden«, versetzte Swijaschski, und zwar jetzt ganz ernsthaft. »Ich sehe nur, daß wir nicht verstehen, Landwirtschaft zu treiben, und bin im Gegensatze zu dem, was vorhin behauptet wurde, der Ansicht, daß der Wirtschaftsbetrieb, wie er zur Zeit der Leibeigenschaft üblich war, nicht etwa auf einer sehr hohen, sondern auf einer sehr niedrigen Stufe stand. Wir haben keine Maschinen und keine ordentlichen Arbeitstiere und keine richtige Verwaltung, und wir verstehen auch nicht zu rechnen. Wenn sie einen Landwirt fragen, so weiß er nicht, was für ihn vorteilhaft und was unvorteilhaft ist.«
»Wir könnten ja die italienische Buchführung lernen«, sagte der Gutsbesitzer ironisch. »Aber man mag da rechnen, soviel man will, wenn die Leute einem alles verderben, kommt doch kein Gewinn heraus.«
»Warum sollten sie denn alles verderben? Ein elendes Ding von Dreschmaschine oder eine russische Stampfe, die machen sie entzwei; aber meine Dampfdreschmaschine, die werden sie nicht entzweimachen. So eine jämmerliche Mähre – wie pflegen sich doch die Leute auszudrücken? Echt Knutehner Schlag, weil sie ohne einen Schlag mit der Knute sich nicht rührt – die werden sie Ihnen verderben. Aber wenn Sie Percherons einführen oder sonst eine kräftige Sorte von Arbeitspferden, die werden sie Ihnen nicht verderben. Und so steht es mit allem. Wir müssen die Landwirtschaft heben.«
»Wenn man nur wüßte, wo man das Geld dazu hernehmen soll, Nikolai Iwanowitsch! Sie sind gut dran; aber ich habe einen Sohn auf der Universität zu unterhalten und die kleineren Knaben auf dem Gymnasium; da kann ich mir keine Percherons kaufen.«
»Dafür sind die Banken da.«
»Damit das letzte, was man hat, unter den Hammer kommt? Nein, dafür danke ich.«
[125] »Ich bin nicht Ihrer Ansicht, daß es nötig und möglich wäre, die Landwirtschaft noch mehr zu heben«, sagte Ljewin. »Ich habe das mit Eifer betrieben und besitze auch die nötigen Geldmittel; aber trotzdem habe ich nichts ausrichten können. Die Banken – ja, ich weiß nicht, wem die von Nutzen sind. Ich für meine Person habe, sooft ich für irgendeinen Zweck in der Wirtschaft Geld aufwendete, immer nur Schaden gehabt: beim Vieh Schaden, bei den Maschinen Schaden.«
»Ja, ja, das ist richtig!« bekräftigte der Gutsbesitzer mit dem grauen Schnurrbart und lachte dabei ordentlich vor Vergnügen.
»Und ich bin nicht der einzige, der diese Erfahrung macht«, fuhr Ljewin fort. »Ich berufe mich auf alle Landwirte, die eine rationelle Wirtschaft führen; alle, mit seltenen Ausnahmen, wirtschaften sie mit Schaden. Nun, sagen Sie selbst, ist denn Ihre Wirtschaft gewinnbringend?« fragte Ljewin und bemerkte sofort in Swijaschskis Blick jenen plötzlichen Ausdruck von Angst, den er immer wahrnahm, wenn er in Swijaschskis Geist weiter als bis in die Empfangszimmer eindringen wollte.
Übrigens war diese Frage Ljewins nicht ganz frei von Hinterlist. Die Hausfrau hatte ihm soeben erst beim Tee erzählt, sie hätten sich in diesem Sommer aus Moskau einen der Buchführung kundigen Deutschen kommen lassen, der ihnen gegen eine Gebühr von fünfhundert Rubeln ihre ganze Wirtschaft berechnet und gefunden habe, daß sie einen Verlust von etwas über dreitausend Rubeln bringe. Ganz genau hatte sie diese Zahl nicht im Kopfe; aber der Deutsche hatte es, wie sie sagte, bis auf eine Viertelkopeke ausgerechnet.
Der Gutsbesitzer lächelte, als Ljewin sich nach dem Ertrag von Swijaschskis Wirtschaft erkundigte; er mochte wohl wissen, wie es mit dem erzielten Gewinn bei seinem Nachbar, dem Adelsmarschall, stand.
»Es mag sein, daß sie nicht gewinnbringend ist«, antwortete Swijaschski. »Aber das beweist nur, daß ich entweder ein schlechter Landwirt bin, oder daß ich Kapital aufwende, um die Rente zu erhöhen.«
»Ach, die Rente!« rief Ljewin ganz entsetzt. »Vielleicht gibt es in Europa eine Rente, wo der Boden durch die hineingesteckte Arbeit besser geworden ist; aber bei uns wird der ganze Boden durch die hineingesteckte Arbeit nur schlechter, das heißt man mergelt ihn aus; also ist von Rente nicht die Rede.«
»Wie sollte es denn keine Rente geben? Das ist ein unumstößliches Gesetz.«
»Dann stehen wir eben außerhalb dieses Gesetzes. Durch den [126] Hinweis auf die Rente kann bei uns nichts erklärt werden; das verwirrt im Gegenteil die Sache nur noch mehr. Nein, sagen Sie selbst, wie kann die Lehre von der Rente ...«
»Möchten Sie nicht etwas saure Milch? Mascha, laß uns doch saure Milch bringen oder auch Himbeeren«, wandte er sich an seine Frau. »Die Himbeeren halten sich in diesem Jahre merkwürdig lange.«
Damit stand Swijaschski in der vergnügtesten Stimmung auf und trat von Ljewin weg; er war offenbar der Meinung, daß das Gespräch an diesem Punkte beendet sei, während es nach Ljewins Ansicht gerade hier erst anfing.
Da ihn sein bisheriger Gesprächsgenosse verlassen hatte, so setzte Ljewin die Unterhaltung mit dem Gutsbesitzer fort und bemühte sich, ihm zu beweisen, daß die ganze Schwierigkeit daher komme, daß wir vor den Eigenheiten und Gewohnheiten des Arbeiters unsere Augen verschließen. Aber der Gutsbesitzer war wie alle selbständigen, einsamen Denker schwerfällig im Auffassen fremder Gedanken und zu sehr in seine eigenen verliebt. Er blieb eigensinnig dabei, der russische Bauer sei ein Vieh und habe diesen viehischen Zustand gerne, und um ihn aus diesem viehischen Zustande herauszubringen, seien Machtmittel erforderlich; aber die seien nicht vorhanden. Was nötig sei, sei der Stock; aber wir seien so liberal geworden, daß wir statt der seit tausend Jahren bestehenden Prügelstrafe auf einmal Anwälte und Gefängnishaft eingeführt hätten, wobei man die nichtsnutzigen, stinkenden Bauern mit guter Suppe füttere und ausrechne, wieviel Kubikfuß Luft sie brauchten.
»Warum meinen Sie«, sagte Ljewin in dem Bestreben, auf das Thema zurückzukommen, »daß es unmöglich ist, ein solches Verhältnis zu den Arbeitskräften ausfindig zu machen, daß dabei die Arbeit nutzbringend wird?«
»Das wird sich mit dem russischen Landvolke nie erreichen lassen. Wir haben keine Machtmittel«, antwortete der Gutsbesitzer.
»Wie könnten wir denn überhaupt noch neue Verhältnisse ausfindig machen?« fragte Swijaschski, der einen Teller saure Milch gegessen, sich eine Zigarette angezündet hatte und nun wieder zu den Disputierenden trat. »Alle nur denkbaren Verhältnisse zu den Arbeitskräften sind wissenschaftlich bestimmt und studiert worden«, sagte er. »Jenes Überbleibsel der Barbarei, die urzeitliche Gemeinde mit gegenseitiger Bürgschaft, zerfällt von selbst; die Leibeigenschaft ist aufgehoben; so bleibt nur die freie Arbeit übrig, und deren Formen sind genau festgelegt und fix und fertig, und die müssen wir annehmen. Knecht, [127] Tagelöhner, Pächter – über diese Möglichkeiten werden Sie nicht hinauskommen.«
»Aber Europa ist mit diesen Formen unzufrieden.«
»Das ist richtig, und man sucht dort nach neuen. Und man wird auch wahrscheinlich welche finden.«
»Davon rede ich ja auch nur!« versetzte Ljewin. »Warum sollen wir nicht auch unsrerseits danach suchen?«
»Weil das ganz dasselbe wäre, wie wenn wir Systeme für den Eisenbahnbau neu erfinden wollten. Die sind schon erfunden und fix und fertig.«
»Aber wenn sie nun für uns nicht passen, wenn sie töricht sind?« wandte Ljewin ein.
Und wieder bemerkte er in Swijaschskis Augen jenen Ausdruck von Angst.
»Ja, ja, so ist das: wir werden den Vogel abschießen; wir werden das herausbekommen, wonach Europa noch sucht! Ich kenne das alles; aber entschuldigen Sie, kennen Sie wohl Ihrerseits alles, was in Europa in der Frage der Arbeiterorganisation geschehen ist?«
»Nein, nur mangelhaft.«
»Die Frage beschäftigt jetzt die besten Köpfe in ganz Europa. Zum Beispiel die Schulze-Delitzsch-Richtung ... Und dann diese gewaltige Literatur über die Arbeiterfrage von der allerfortschrittlichsten Lassalleschen Richtung ... Die Mülhäuser Organisation ist ja schon zur wirklichen Tatsache geworden; Sie wissen gewiß davon.«
»Ich habe eine Vorstellung davon, indes nur eine sehr unklare.«
»Ach, das sagen Sie nur so; Sie wissen sicherlich mit allen diesen Dingen nicht weniger Bescheid als ich. Ich bin ja natürlich kein Professor der Sozialwissenschaften; aber die ganze Sache hat mich sehr interessiert, und wirklich, wenn Sie sich dafür interessieren, so werden Sie guttun, sich genauer damit zu beschäftigen.«
»Aber zu welchem Ergebnis ist man denn gelangt?«
»Verzeihung ...«
Die Gutsbesitzer waren aufgestanden, und Swijaschski begleitete seine Gäste hinaus; so hatte er Ljewin wieder nicht zum Ziele kommen lassen, als dieser nach seiner häßlichen Gewohnheit versucht hatte, einen Blick in die Teile seines Geistes zu werfen, die hinter den Empfangszimmern lagen.
Ljewin empfand an diesem Abend in der Gesellschaft der Damen eine unerträgliche Langeweile. Es regte ihn wie noch nie zuvor der Gedanke auf, daß der jetzige ihn so wenig befriedigende Zustand seiner Wirtschaft nicht etwas nur ihm persönlich Eigenes, sondern ein Teil des allgemeinen Zustandes sei, in dem sich die Sache in ganz Rußland befinde, und daß die Schaffung eines Verhältnisses zu den Arbeitern, bei dem diese so arbeiteten wie bei jenem Bauern auf der Hälfte des Weges, nicht ein Hirngespinst, sondern eine Aufgabe sei, die unbedingt gelöst werden müsse. Und es schien ihm, daß die Lösung dieser Aufgabe möglich und es seine Pflicht sei, einen Versuch dazu zu machen.
Nachdem Ljewin den Damen gute Nacht gesagt und versprochen hatte, noch den ganzen folgenden Tag dazubleiben, um mit ihnen zusammen auszureiten und in dem staatlichen Walde einen interessanten Erdsturz zu besichtigen, begab er sich vor dem Schlafengehen noch in das Arbeitszimmer des Hausherrn, um sich die Bücher über die Arbeiterfrage, die ihm Swijaschski angeboten hatte, zu holen. Swijaschskis Arbeitszimmer war von gewaltiger Ausdehnung und mit mehreren Bücherschränken sowie mit zwei Tischen ausgestattet, einem massiven Schreibtisch, der mitten im Zimmer stand, und einem runden Tische, auf dem sternförmig um die Lampe herum die neuesten Nummern von allerlei Zeitungen und Zeitschriften in verschiedenen Sprachen ausgebreitet lagen. Neben dem Schreibtische stand ein Ständer mit Schubkasten, an denen goldene Aufschriften den sehr verschiedenartigen Inhalt angaben.
Swijaschski holte die Bücher hervor und setzte sich dann in einen Schaukelstuhl.
»Was sehen Sie sich denn da an?« fragte er Ljewin, der bei dem runden Tische stehengeblieben war und in den Zeitschriften blätterte. »Ach ja, da ist ein sehr interessanter Artikel drin«, sagte er mit Bezug auf die Zeitschrift, die Ljewin gerade in der Hand hatte. »Es stellt sich heraus«, fügte er lebhaft und munter hinzu, »daß der Hauptschuldige bei der Teilung Polens gar nicht Friedrich war. Es stellt sich heraus ...«
Und mit der ihm eigenen Klarheit berichtete er in Kürze über diese neuen, sehr wichtigen und interessanten Enthüllungen. Wiewohl Ljewin jetzt stark mit seinen Gedanken an die Landwirtschaft beschäftigt war, stellte er doch, während er dem Hausherrn zuhörte, die Überlegung an: ›Was hat er eigentlich damit vor? Warum in aller Welt interessiert ihn die Teilung Polens?‹ Als Swijaschski mit seiner Auseinandersetzung zu Ende war, [129] fragte Ljewin unwillkürlich: »Und was soll nun geschehen?« Aber es sollte gar nichts weiter geschehen. Interessant war eben nur, daß sich das »herausgestellt« hatte. Aber warum ihn das interessierte, erklärte Swijaschski nicht und hielt er nicht für nötig zu erklären.
»Ja, aber mich hat dieser verbitterte Gutsbesitzer sehr interessiert«, sagte Ljewin mit einem Seufzer. »Er ist ein kluger Mann, und was er sagte, war zum großen Teil richtig.«
»Ach, gehen Sie doch! Er ist ein eingefleischter, heimlicher Anhänger der Leibeigenschaft, wie sie es alle sind!« erwiderte Swijaschski.
»Und Sie als Adelsmarschall sind ihr Leiter ...«
»Ja, nur daß ich sie als solcher nach der anderen Seite hin zu leiten suche«, versetzte Swijaschski lachend.
»Da ist ein Punkt, der mich sehr beschäftigt«, sagte Ljewin. »Er hat recht: unsere Tätigkeit, das heißt eine rationelle Landwirtschaft, hat keinen Erfolg; es gedeiht nur eine Wucherwirtschaft wie bei jenem stillen, ruhigen Herrn, oder eine vom allereinfachsten Zuschnitt ... Wer ist daran schuld?«
»Natürlich wir selbst. Aber es ist auch nicht richtig, daß eine rationelle Wirtschaft nicht vorwärtskäme. Bei Wasiltschikow geht es ganz gut.«
»Der hat auch eine Fabrik ...«
»Aber ich weiß überhaupt nicht, worüber Sie sich eigentlich wundern. Unser Landvolk steht in materieller und geistiger Hinsicht auf einer so niedrigen Entwicklungsstufe, daß es naturgemäß allem widerstreben muß, was ihm fremd ist. In Europa geht ein rationeller Wirtschaftsbetrieb gut vonstatten, weil das Volk gebildet ist; folglich müssen auch wir unserem Volke Bildung geben; das ist die ganze Sache.«
»Aber wie sollen wir das anfangen?«
»Um dem Volke Bildung zu geben, dazu sind drei Dinge erforderlich: Schulen, Schulen und nochmals Schulen.«
»Aber Sie haben doch selbst gesagt, daß das Volk in materieller Hinsicht auf einer niedrigen Entwicklungsstufe steht; inwiefern können da die Schulen helfen?«
»Wissen Sie, Sie erinnern mich an die Anekdote von den Ratschlägen, die man einem Kranken gab: ›Sie sollten es mit einem Abführmittel versuchen.‹ – ›Ich habe eins genommen; aber es ist davon nur noch schlimmer geworden.‹ – ›Versuchen Sie es doch einmal mit Blutegeln.‹ – ›Das habe ich versucht; es ist noch schlimmer geworden.‹ – ›Nun, dann sollten Sie einfach den lieben Gott bitten, Ihnen zu helfen.‹ – ›Das habe ich auch getan; aber es ist nur noch schlimmer geworden.‹ So machen auch wir [130] beide es jetzt. Ich rede von Nationalökonomie; Sie sagen: ›Es wird nur schlimmer.‹ Ich rede von Sozialismus; Sie sagen: ›Es wird nur schlimmer.‹ Ich rede von Bildung; wieder: ›Es wird nur schlimmer.‹«
»Ja, inwiefern können denn da die Schulen helfen?«
»Sie erwecken bei dem Volke andere Bedürfnisse.«
»Da haben wir's. Gerade das ist es, was ich nie habe begreifen können!« erwiderte Ljewin hitzig. »Auf welche Weise können die Schulen dem Volke zur Verbesserung seiner materiellen Lage behilflich sein? Sie sagen: die Schulen und die Bildung erwecken beim Volke neue Bedürfnisse. Um so schlimmer; denn das Volk wird nicht imstande sein, diese neuen Bedürfnisse zu befriedigen. Und auf welche Weise die Kenntnis des Addierens und Subtrahierens und des Katechismus dem Volke zur Verbesserung seiner materiellen Lage behilflich sein soll, das habe ich nie begreifen können. Vorgestern abend traf ich eine Bauersfrau mit einem Säugling und fragte sie, wohin sie ginge. Sie antwortete: ›Ich bin bei der Hebamme gewesen; das Jungchen hatte den Schreikrampf bekommen; da habe ich es hingetragen, damit sie es heilen sollte.‹ Ich fragte: ›Wie heilt denn die Hebamme den Schreikrampf?‹ ›Sie setzt das Kindchen zu den Hühnern auf die Sitzstange und sagt etwas dazu.‹«
»Na, sehen Sie wohl, da sagen Sie es ja selbst! Damit so eine Frau nicht ihr Kind hinträgt, um es auf der Hühnerstange vom Schreikrampfe heilen zu lassen, dazu sind die Schulen nötig ...« sagte Swijaschski mit vergnügtem Lächeln.
»Aber nein doch!« erwiderte Ljewin ärgerlich. »Diese Heilmethode benutzte ich ja nur zum Vergleiche mit der Heilung des Volkes durch Schulen. Das Volk ist arm und ungebildet; das sehen wir ebenso deutlich, wie die Bauersfrau den Schreikrampf daran erkennt, daß das Kind so schreit. Aber auf welche Weise gegen diesen schlimmen Zustand, die Armut und den Mangel an Bildung, dem Volke die Schulen helfen sollen, das ist ebenso unbegreiflich, wie es unbegreiflich ist, auf welche Weise die Hühner auf der Sitzstange gegen den Schreikrampf helfen sollen. Die Hilfe muß sich gegen die Ursache der Armut des Volkes richten.«
»Na, wenigstens in diesem Punkte stimmen Sie mit Spencer überein, den Sie ja so wenig leiden können; der sagt auch, die Bildung könne eine Folge größeren Wohlstandes und Wohlbehagens – wie er sich ausdrückt: häufigen Waschens – sein, nicht aber eine Folge der Kenntnis des Lesens und Schreibens.«
»Nun, sehen Sie, da bin ich ja sehr froh oder vielmehr sehr mißvergnügt, daß ich mit Spencer übereinstimme; aber zu dieser [131] Erkenntnis bin ich schon längst gekommen. Schulen helfen da nicht; helfen kann da nur eine wirtschaftliche Einrichtung, bei der das Volk reicher wird und mehr freie Zeit bekommt – dann werden die Schulen ganz von selbst entstehen.«
»Und doch ist jetzt in ganz Europa der Schulbesuch Pflicht.«
»Aber wie können denn Sie selbst in diesem Punkt mit Spencer einer Meinung sein?« fragte Ljewin.
Aber in Swijaschskis Augen wurde wieder für einen Augenblick jener Ausdruck von Angst sichtbar, und er antwortete lächelnd:
»Nein, diese Geschichte von dem Schreikrampf ist ausgezeichnet! Und das haben Sie wirklich selbst gehört?«
Ljewin sah, daß es ihm auf diese Weise nicht gelingen werde, den inneren Zusammenhang zwischen dem praktischen Leben dieses Mannes und seiner Gedankenwelt zu finden. Es war diesem offenbar ganz gleichgültig, zu welchen Ergebnissen ihn seine Denktätigkeit führte; woran ihm lag, das war eben nur die Tätigkeit des Denkens selbst. Unangenehm war es ihm allerdings, wenn diese Denktätigkeit ihn in eine Sackgasse führte. Nur das mochte er nicht leiden und suchte sich dann dadurch zu helfen, daß er die Rede auf irgend etwas Angenehmes und Vergnügliches brachte.
Alle Erlebnisse dieses Tages hatten auf Ljewin stark gewirkt, darunter als erstes der Eindruck, den ihm der Bauer auf der Mitte seiner Fahrt gemacht hatte, ein Eindruck, der gleichsam die Basis für alle weiteren Eindrücke des Tages abgab. Dieser liebenswürdige Swijaschski, der sich eine bestimmte Gattung von Gedanken nur so für die Bedürfnisse des gesellschaftlichen Verkehrs hielt und offenbar noch andere, vor Ljewins Spürsinn verborgene Grundanschauungen für sein Handeln besaß und zugleich, wie viele andere Leute, deren Name Legion ist, auf die Anschauungen seiner Mitmenschen durch Gedanken, die ihm selbst fremd waren, leitend einwirkte; dann dieser verbitterte Gutsbesitzer, der durchaus recht hatte in den Schlußfolgerungen, die ihm das Leben aufgezwungen hatte, aber unrecht in seiner Verbitterung gegen eine ganze Volksklasse, und zwar gegen die beste in Rußland; endlich seine eigene Unzufriedenheit mit seiner Tätigkeit und die unklare Hoffnung, daß sich ein Mittel werde finden lassen, um dies alles zu bessern: alles das floß bei ihm zusammen zu einem Gefühle innerer Unruhe und gespannten Wartens auf eine nahe Klärung.
Als Ljewin in dem ihm angewiesenen Zimmer allein geblieben war und auf der Sprungfedermatratze lag, die bei jeder Bewegung seine Arme und Beine unerwartet in die Höhe schnellen [132] ließ, da konnte er lange nicht einschlafen. Nichts von dem, was er in den Gesprächen mit Swijaschski zu hören bekommen hatte, interessierte ihn, obgleich gar manche seiner Äußerungen klug und verständig gewesen war; dagegen fühlte er sich durch die Ausführungen des Gutsbesitzers zum Nachdenken aufgefordert. Unwillkürlich rief er sich alle Worte dieses Mannes ins Gedächtnis zurück und verbesserte in Gedanken das, was er ihm darauf geantwortet hatte.
›Ja, ich hätte ihm sagen sollen: »Sie behaupten, Ihre Wirtschaft gehe deswegen nicht nach Wunsch, weil der Bauer alle Vervollkommnungen hasse und diese von Staats wegen eingeführt werden müßten. Freilich, wenn eine Wirtschaft ohne diese Vervollkommnungen überhaupt nicht gedeihen könnte, dann würden Sie recht haben; nun geht aber die Wirtschaft nur da ordentlich, wo der Arbeiter in einer seinen Gewohnheiten entsprechenden Weise beschäftigt wird, wie bei dem alten Bauern auf der Hälfte des Weges hierher. Aus Ihrer und unserer allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Gange der Wirtschaft muß gefolgert werden, daß wir selbst die Schuld daran tragen, und nicht die Arbeiter. Wir versteifen uns schon lange auf unseren, das heißt den europäischen Standpunkt, ohne nach den Eigenheiten der arbeitenden Klasse zu fragen. Versuchen wir es doch einmal, in dem Arbeiter nicht lediglich eine beziehungslose arbeitende Kraft zu sehen, sondern den russischen Bauer mit allen seinen Eigenheiten, und richten wir danach unsere Wirtschaft ein. Stellen Sie sich vor«, hätte ich zu ihm sagen sollen, »daß die Wirtschaft bei Ihnen so geführt wird wie bei jenem alten Bauern, daß Sie ein Mittel gefunden haben, die Arbeiter an dem Erfolge der Arbeit zu interessieren, und daß Sie in den Vervollkommnungen das Mittelmaß gefunden haben, das den Arbeitern nicht widersteht: dann werden Sie, ohne den Boden zu erschöpfen, gegen früher den doppelten und dreifachen Ertrag erzielen. Teilen Sie diesen Ertrag in zwei gleiche Teile und geben Sie die eine Hälfte an die Arbeiter; dann wird der Ihnen verbleibende Teil immer noch größer sein als bisher, und auch die Arbeiter werden mehr erhalten. Um das also zu erreichen, muß man den Stand der Landwirtschaft etwas herabsetzen und die Arbeiter an dem Erfolge der Wirtschaft beteiligen. Wie das zu machen ist, das muß noch im einzelnen überlegt und geprüft werden; aber daß es möglich ist, daran kann kein Zweifel sein.«‹
Dieser Gedanke brachte Ljewin in starke Erregung. Er schlief die halbe Nacht nicht und durchdachte alle zur Ausführung dieser Idee erforderlichen Einzelheiten. Er hatte eigentlich nicht [133] vorgehabt, schon am folgenden Tage wieder abzureisen, faßte aber jetzt den Entschluß, gleich am frühen Morgen wieder nach Hause zu fahren. Zudem erweckte diese Schwägerin mit dem Ausschnitt im Kleide bei ihm eine Empfindung, die mit der Scham und Reue über eine begangene schlechte Tat große Ähnlichkeit hatte. Der Hauptgrund aber, der seine unverzügliche Abreise nötig machte, war: er mußte den Bauern den neuen Plan vorlegen, ehe noch die Winterbestellung begann, damit diese schon auf Grund der neuen Abmachungen stattfinden könne. Er hatte den Entschluß gefaßt, seinen ganzen bisherigen Wirtschaftsbetrieb umzugestalten.
Die Ausführung dieses Planes machte viele Schwierigkeiten; aber Ljewin setzte all seine Kraft daran und erreichte, wenn auch nicht alles, was er wünschte, so doch so viel, daß er ohne Selbstbetrug glauben konnte, die Sache sei die darauf verwandte Mühe wert. Eine der Hauptschwierigkeiten lag darin, daß die Wirtschaft bereits im Gange war und es unmöglich war, alles zum Stillstand zu bringen und von neuem anzufangen, sondern gleichsam die Maschine, während sie ging, umgeändert werden mußte.
Als er gleich noch an demselben Abend, an dem er nach Hause zurückgekehrt war, dem Verwalter seine Pläne mitteilte, da stimmte dieser sichtlich mit Vergnügen dem Teile der Auseinandersetzung zu, in dem Ljewin nachwies, daß alles bisher Unternommene Unsinn und unvorteilhaft sei. Der Verwalter bemerkte dazu, das habe er schon längst gesagt; man habe nur nicht auf ihn hören wollen. Was aber den von Ljewin vorgetragenen Plan anlangte, sich als Genossenschafter mit den Arbeitern zusammen an dem ganzen landwirtschaftlichen Unternehmen zu beteiligen, so setzte der Verwalter demgegenüber nur eine sehr trübselige Miene auf, sprach gar keine bestimmte Meinung aus und begann sogleich von der Notwendigkeit zu reden, am nächsten Tage die noch übrigen Roggenhaufen einzufahren und das Land umackern zu lassen, so daß Ljewin merkte, der Verwalter halte den jetzigen Zeitpunkt nicht für geeignet zu solchen Neuerungen.
Als er dann über denselben Gegenstand mit den Bauern sprach und ihnen den Vorschlag machte, ihnen unter neuen Bedingungen Land zu überlassen, da stieß er wieder auf dieselbe Hauptschwierigkeit, daß sie nämlich von der laufenden Tagesarbeit [134] zu sehr in Anspruch genommen waren, als daß sie Zeit gehabt hätten, die Vorteile und Nachteile des Unternehmens ordentlich zu überlegen.
Ein treuherziger Bauer, der Viehwärter Iwan, schien Ljewins Vorschlag, an dem Ertrage des Viehhofes mit seiner Familie Anteil zu erhalten, vollständig zu begreifen und das Unternehmen durchaus zu billigen. Aber sooft Ljewin ihm die künftigen Vorteile klarzumachen versuchte, prägte sich auf Iwans Gesichte eine gewisse Unruhe und ein Bedauern darüber aus, daß er die Auseinandersetzung nicht bis zu Ende anhören könne, und er fand schleunig irgendeine Arbeit für sich, die angeblich keinen Aufschub duldete: entweder griff er nach der Heugabel, um Heu aus dem Schuppen herauszuwerfen, oder er machte sich daran, Wasser einzugießen oder den Dünger auszuräumen.
Eine zweite Schwierigkeit bestand in dem unbesiegbaren Mißtrauen der Bauern, die schlechterdings nicht glauben wollten, daß der Gutsbesitzer ein anderes Ziel im Auge haben könne, als sie soviel wie möglich auszubeuten. Sie waren fest davon überzeugt, daß (er möge zu ihnen sagen, was er wolle) seine wirkliche Absicht immer in dem stecken werde, was er zu ihnen nicht sage. Und wenn sie selbst über den Plan sich äußerten, so sprachen sie zwar sehr viel, verrieten aber niemals ihre wahre Absicht. Außerdem (und hier merkte Ljewin, daß der gallige Gutsbesitzer recht hatte) war die erste und unumstößliche Bedingung, die die Bauern für irgendwelche Zustimmung ihrerseits aufstellten, die, daß sie zu keinerlei neuem Verfahren bei der Landwirtschaft und zu keiner Benutzung neumodischer Geräte gezwungen werden dürften. Sie gaben zu, daß der moderne Pflug besser pflüge, daß der Saatdecker erfolgreicher arbeite; aber sie brachten tausend Gründe vor, weswegen sie weder den einen noch den andern benutzen könnten; und obgleich Ljewin der Überzeugung war, daß er den Stand seines Wirtschaftsbetriebes etwas herabsetzen müsse, so tat es ihm doch leid, auf Vervollkommnungen verzichten zu müssen, deren Vorteile augenfällig waren. Aber trotz aller dieser Schwierigkeiten beharrte er auf seinem Sinne, und zum Herbst kam die Sache in Gang, oder wenigstens schien es ihm so.
Anfangs hatte Ljewin vorgehabt, die ganze Wirtschaft, so wie sie war, den Bauern, den Arbeitern und dem Verwalter unter den neuen genossenschaftlichen Abmachungen zu überlassen; aber sehr bald hatte er sich überzeugt, daß das unmöglich sei, und war zu dem Entschlusse gekommen, die Wirtschaft zu teilen. Der Viehhof, der Obstgarten, der Gemüsegarten, die[135] Wiesen und Felder wurden in verschiedene Abteilungen zerlegt und sollten getrennte Betriebsgebiete bilden. Der treuherzige Viehwärter Iwan, der nach Ljewins Ansicht die Sache von allen am besten begriffen hatte, wählte sich noch einige Genossen dazu, vorzugsweise aus seiner eigenen Familie, und wurde Genossenschafter beim Viehhofe. Ein weit entferntes Feld, das acht Jahre lang brachgelegen hatte, wurde mit Hilfe des klugen Zimmermannes Fjodor Rjesunow von sechs Bauernfamilien auf Grund der neuen genossenschaftlichen Abmachungen übernommen, und der Bauer Schurajew übernahm auf derselben Grundlage die sämtlichen Gemüsegärten. Alles übrige blieb vorläufig noch beim alten; aber diese drei Abteilungen bildeten den Anfang der neuen Wirtschaftsordnung und beschäftigten Ljewin vollauf.
Allerdings ging die Sache auf dem Viehhofe einstweilen nicht besser als vorher, und Iwan widersetzte sich energisch der Unterbringung der Kühe in warmen Ställen und der Bereitung der Butter aus süßer Sahne, indem er behauptete, die Kuh brauche im Kalten weniger Futter, und das Buttern aus saurer Sahne sei ergiebiger. Auch forderte er seinen Lohn wie bei der alten Einrichtung, und es war ihm ganz gleichgültig, daß das Geld, das er erhielt, nicht Lohn, sondern ein Vorschuß auf seinen Anteil am Gewinn war.
Allerdings unterließ es Fjodor Rjesunows Genossenschaft, das Land vor der Aussaat nochmals mit modernen Pflügen umzuackern, wie doch verabredet war, und entschuldigte sich damit, die Zeit sei zu kurz gewesen. Allerdings bezeichneten die Bauern dieser Genossenschaft, obgleich sie mit Ljewin übereingekommen waren, die Bewirtschaftung auf der neuen Grundlage durchzuführen, dieses Land dennoch nicht als gemeinschaftliches, sondern als auf Halbpart gepachtetes, und mehr als einmal hatten sowohl die Bauern dieser Genossenschaft wie auch Rjesunow selbst zu Ljewin gesagt: »Sie hätten eine bestimmte Geldsumme für das Land nehmen sollen; dann hätten Sie mehr Ruhe, und wir hätten mehr freie Hand.« Außerdem schoben diese Bauern immer unter verschiedenen Vorwänden die mit ihnen vereinbarte Erbauung eines Viehhofes und einer Getreidedarre auf diesem Lande auf und zogen die Sache bis zum Winter hin.
Allerdings hatte Schurajew die größte Lust, die von ihm übernommenen Gemüsegärten in kleinen Losen an einzelne Bauern zu verpachten. Er hatte offenbar die Bedingungen, unter denen ihm das Land übergeben war, völlig mißverstanden, und zwar, wie es schien, absichtlich mißverstanden.
[136] Allerdings hatte Ljewin oft, wenn er mit den Bauern sprach und ihnen alle Vorteile des Unternehmens darlegte, die Empfindung, als ob die Bauern dabei nur auf den Tonfall seiner Stimme hörten und sich fest vornähmen, er möge sagen, was er wolle, sich nicht von ihm hinters Licht führen zu lassen. Ganz besonders hatte er dieses Gefühl, wenn er mit dem Klügsten unter den Bauern, mit Rjesunow, sprach und in dessen Augen ein heimliches Aufleuchten bemerkte, in dem sowohl der Spott über ihn, Ljewin, wie auch die bestimmte Überzeugung deutlich zum Ausdruck kam, daß, wenn jemand bei der Sache geprellt werden sollte, dies jedenfalls nicht er, Rjesunow, sein werde.
Aber trotz alledem meinte Ljewin doch, daß die Sache nun in Gang gekommen sei und daß, wenn er nur streng Rechnung führe und bei seinem Vorsatze beharre, er in Zukunft die Bauern von den Vorteilen einer solchen Einrichtung schon noch werde überzeugen können und daß dann die Sache ganz von selbst gehen werde.
Durch diese Geschäfte und dazu noch durch den übrigen Wirtschaftsbetrieb, der in seinen Händen geblieben war, sowie auch durch die schriftstellerische Tätigkeit an seinem Buche, durch all dies war Ljewin den ganzen Sommer über so stark in Anspruch genommen, daß er fast gar nicht auf die Jagd fuhr. Ende August erfuhr er von dem Oblonskischen Diener, der ihm den Sattel zurückbrachte, daß die Familie wieder nach Moskau gereist sei. Er sagte sich, daß er durch die Unhöflichkeit, mit der er den Brief Darja Alexandrownas unbeantwortet gelassen hatte – ein Benehmen, an das er nicht ohne Schamröte zurückdenken konnte –, seine Schiffe hinter sich verbrannt habe und sich bei dieser Familie nie mehr blicken lassen könne. Ebenso unartig hatte er sich auch gegen Swijaschski benommen, indem er, ohne Lebewohl zu sagen, abgefahren war. Er nahm sich vor, auch zu diesem nie wieder hinzufahren. Aber jetzt war ihm das gleichgültig. Die Angelegenheit mit der Umgestaltung seiner Wirtschaft beschäftigte und interessierte ihn so wie bisher noch nie etwas in seinem Leben. Er las die Bücher durch, die ihm Swijaschski gegeben hatte, ließ sich andere, die dieser nicht besaß, von einer Buchhandlung schicken, und las auf diese Art eine Menge nationalökonomische und sozialistische Schriften über diesen Gegenstand, fand aber, wie er das auch erwartet hatte, nichts darin, was auf sein eigenes Unternehmen besonderen Bezug gehabt hätte. In den nationalökonomischen Büchern, zum Beispiel bei Mill, den er zuerst und mit großem Eifer durchstudierte, in der Hoffnung, jeden Augenblick bei ihm die Lösung der ihn beschäftigenden Fragen zu finden, fand er Gesetze, die [137] aus der Lage der europäischen Landwirtschaft abgeleitet waren; aber er konnte nicht einsehen, mit welchem Rechte diese auf Rußland nicht anwendbaren Gesetze als allgemeingültig bezeichnet wurden. Dieselbe Beobachtung machte er bei den sozialistischen Büchern: entweder waren es schöne, aber nicht zu verwirklichende Phantasien, ähnlich denen, für die er sich ehemals in seiner Studentenzeit begeistert hatte, oder Verbesserungen desjenigen Zustandes der Dinge, der in Europa vorhanden war, mit dem aber der Betrieb der Landwirtschaft in Rußland nichts gemein hatte. Die Nationalökonomie behauptete, die Gesetze, nach denen sich der Wohlstand Europas entwickelt habe und noch jetzt entwickle, seien allgemeingültig und zweifellos richtig. Die sozialistische Lehre behauptete, eine Weiterentwicklung nach diesen Gesetzen werde zum Untergange führen. Aber weder bei den Nationalökonomen noch bei den Sozialisten war eine Antwort oder auch nur ein Schatten von Antwort auf die Frage zu finden, was er, Ljewin, und alle russischen Bauern und Landbesitzer mit ihren Millionen von Händen und Deßjatinen anfangen müßten, damit diese dem allgemeinen Wohlstande die größtmögliche Förderung brächten.
Da er diese Sache nun einmal in Angriff genommen hatte, so las er gewissenhaft alles durch, was sich auf diesen Gegenstand bezog, und faßte den Plan, im Herbste ins Ausland zu reisen, um diese Frage auch noch an Ort und Stelle zu studieren, damit es ihm auf diesem Gebiete nicht mehr so gehen könne, wie es ihm schon so oft auf verschiedenen anderen Gebieten ergangen war. Denn kaum hatte er manchmal im Gespräche die Ansicht dessen, mit dem er sich unterhielt, erfaßt und seine eigene Ansicht darzulegen begonnen, so wurde ihm sofort vorgehalten: »Aber Kaufmann und Jones und Dubois und Miceli? Die haben Sie offenbar nicht gelesen. Lesen Sie die; die haben diese Frage gründlich behandelt.«
Er sah jetzt klar, daß bei Kaufmann und Miceli nichts zu finden war, was er gebrauchen konnte. Er wußte, was er wollte. Er sah, daß Rußland gutes Land und gute Arbeiter besaß und daß in manchen Fällen, wie bei dem alten Bauern auf der Hälfte des Weges, die Arbeiter und das Land etwas Tüchtiges hervorbrachten, in den meisten Fällen aber, wo in europäischer Art Kapital angelegt war, nur wenig erzeugt wurde und daß dies lediglich daher kam, daß die Arbeiter nur auf ihre eigene Art arbeiten wollten und auch nur dann gut arbeiteten, und daß dieses Widerstreben nicht nur gelegentlich, sondern dauernd war und seine Grundlagen im Volksgeiste hatte. Er glaubte, daß das russische Volk, das den Beruf habe, ungeheure noch leerstehende [138] Landstrecken zu besiedeln und zu bebauen, so lange, bis alles Land in Benutzung genommen sei, an der dafür notwendigen Art der Bewirtschaftung mit bewußter Absicht festhalten werde und daß diese Art der Bewirtschaftung ganz und gar nicht so schlecht sei, wie man gewöhnlich annehme. Das beabsichtigte er zu beweisen, theoretisch in seinem Buche und praktisch in seiner Wirtschaft.
Ende September war das Holz für den Bau des Viehhofes auf dem der Arbeitsgenossenschaft überlassenen Stück Land angefahren; die Butter war verkauft und der Gewinn verteilt. In der Wirtschaft, in der Praxis, ging die Sache ausgezeichnet, oder wenigstens schien es Ljewin so. Um aber die ganze Sache theoretisch klarlegen und seine Abhandlung abschließen zu können, die, Ljewins kühnen Hoffnungen zufolge, bestimmt war, nicht nur einen Umschwung in der Nationalökonomie herbeizuführen, sondern diese Wissenschaft vollständig zu beseitigen und den Grund zu einer neuen Wissenschaft zu legen, über das Verhältnis des Volkes zum Erdboden: dazu brauchte er nur ins Ausland zu reisen und an Ort und Stelle alles, was dort nach dieser Richtung hin geschehen war, zu studieren und den zwingenden Beweis zu führen, daß alles, was dort geschehen war, nicht das Richtige und Nötige sei. Ljewin wartete nur, bis er den Weizen werde abgeliefert und das Geld dafür empfangen haben, um ins Ausland zu reisen. Aber es trat andauernder Regen ein, der es nicht nur unmöglich machte, die Kartoffeln, und was noch von Korn auf dem Felde stand, einzubringen, sondern überhaupt alle landwirtschaftlichen Arbeiten hemmte, ja selbst die Ablieferung des Weizens. Auf den Wegen war ein unergründlicher Schmutz; zwei Mühlen wurden durch plötzlich eintretendes Hochwasser weggerissen, und das Wetter wurde noch von Tag zu Tag schlechter.
Am 30. September ließ sich frühmorgens die Sonne wieder ein klein wenig blicken, und in der Hoffnung auf gutes Wetter traf nun Ljewin die endgültigen Vorbereitungen zur Abreise. Er ließ den Weizen aufschütten, schickte den Verwalter zum Händler, um das Geld in Empfang zu nehmen, und ritt selbst auf seinem ganzen Gebiete umher, um vor seiner Abreise die letzten Anordnungen zu treffen.
Nachdem Ljewin alle Geschäfte erledigt hatte, ritt er, ganz durchnäßt von den Regenbächlein, die ihm trotz seines Lederrockes [139] teils in den Hals, teils in die Stiefelschäfte gelaufen waren, aber in der muntersten und angeregtesten Gemütsstimmung am Abend nach Hause zurück. Das Unwetter tobte gegen Abend noch schlimmer. Der Graupelschnee peitschte das Pferd, das am ganzen Leibe naß war und fortwährend Kopf und Ohren schüttelte, so schmerzhaft, daß es in schräger Haltung vorwärts schritt. Ljewin aber fühlte sich unter seiner Regenkappe ganz wohl und blickte fröhlich um sich, bald nach den trüben Bächlein, die in den Wagengeleisen dahinliefen, bald nach den Tropfen, die an jedem kahlen Zweige hingen, bald nach dem weißen Fleck noch nicht geschmolzenen Graupelschnees auf den Brückenbohlen, bald nach dem saftigen, noch fleischigen Laube einer Ulme, das in dicker Schicht um den entblätterten Baum herumlag. Trotz des düsteren Aussehens der ihn umgebenden Natur fühlte er sich in besonders gehobener Stimmung. Die Gespräche mit den Bauern auf dem weit entlegenen Felde hatten ihm gezeigt, daß sie anfingen, sich an ihre neuen Verhältnisse zu gewöhnen. Der alte Herbergswirt, bei dem er für ein Weilchen eingekehrt war, um sich zu trocknen, hatte sich über Ljewins Plan sehr beifällig geäußert und sich aus freien Stücken erboten, in die Genossenschaft als Vieheinkäufer einzutreten.
›Man muß nur beharrlich sein Ziel verfolgen‹, dachte Ljewin. ›Auf die Art werde auch ich das meinige schon erreichen. Und die Sache ist die darauf verwandte Mühe und Arbeit wert. Es ist das nicht etwa nur meine persönliche Angelegenheit, sondern hier handelt es sich um das Wohl der Gesamtheit. Die ganze Landwirtschaft, der wichtigste Teil des Volkslebens, muß vollständig umgestaltet werden. Statt der Armut allgemeiner Wohlstand und Zufriedenheit, statt der Feindschaft Eintracht und Interessengemeinschaft. Mit einem Worte: eine unblutige Umwälzung, aber eine ganz gewaltige Umwälzung, zuerst in dem kleinen Raume unseres Kreises, dann im Gouvernement, in Rußland, in der ganzen Welt. Denn eine wahre, gerechte Idee kann nicht ohne Frucht bleiben. Ja, das ist ein Ziel, für das zu arbeiten es sich verlohnt. Und daß gerade ich auf diese Idee gekommen bin, Konstantin Ljewin, derselbe Mensch, der einmal in schwarzer Krawatte zum Ball gefahren ist und dem Kitty Schtscherbazkaja einen Korb gegeben hat und der sich selbst so kläglich und unbedeutend vorkommt – das beweist gar nichts dagegen. Ich bin überzeugt, daß Franklin sich für ebenso unbedeutend hielt und ebensowenig Selbstvertrauen besaß, wenn er über seine gesamte Persönlichkeit nachdachte. Das will gar nichts besagen. Auch der hat gewiß seine Agafja Michailowna gehabt, der er seine Geheimnisse anvertraute.‹
[140] Unter solchen Gedanken langte Ljewin (es war schon ganz dunkel geworden) wieder zu Hause an.
Der Verwalter war von seiner Fahrt zu dem Händler zurückgekommen und hatte einen Teil des Geldes für den Weizen mitgebracht. Der Vertrag mit dem Herbergswirte wurde aufgesetzt. Unterwegs hatte der Verwalter bemerkt, daß das Getreide noch überall auf dem Felde stand, so daß, wie er hervorhob, seine noch nicht eingebrachten hundertsechzig Haufen nichts waren im Vergleich mit dem, was noch bei andern draußen war.
Nach dem Mittagessen setzte sich Ljewin wie gewöhnlich mit einem Buche in den Lehnstuhl und fuhr während des Lesens fort, zwischendurch an seine bevorstehende Reise und in Verbindung damit an seine Abhandlung zu denken. Heute trat ihm die ganze Bedeutsamkeit dieser seiner Arbeit besonders klar vor Augen, und ganz von selbst bildeten sich in seinem Kopfe vollständige Satzgefüge, die den Kern seiner Ideen ausdrückten. ›Das muß ich mir aufzeichnen‹, dachte er. ›Das soll eine kurze Einleitung bilden, die ich früher für unnötig gehalten habe.‹ Er erhob sich, um an den Schreibtisch zu gehen, und Laska, die zu seinen Füßen lag, stand, sich reckend, gleichfalls auf und sah ihn an, wie wenn sie fragte, wohin es gehen solle. Aber er fand keine Zeit, sich seine Aufzeichnungen zu machen, denn die Vorarbeiter waren gekommen, um sich Anleitungen zu holen, und Ljewin ging zu ihnen hinaus in die Vorhalle.
Nachdem er ihnen die erforderlichen Anleitungen erteilt, das heißt Anordnungen für die Arbeiten des nächsten Tages getroffen und auch alle Bauern empfangen hatte, die ihn sprechen wollten, kehrte Ljewin wieder in sein Zimmer zurück und setzte sich an die Arbeit. Laska legte sich unter den Tisch; Agafja Michailowna setzte sich mit ihrem Strickstrumpf auf ihren gewohnten Platz.
Nachdem Ljewin eine Zeitlang geschrieben hatte, erinnerte er sich auf einmal in ungewöhnlich lebendiger Weise an Kitty, an ihre ablehnende Antwort und an die letzte Begegnung mit ihr. Er stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Sie brauchten sich ja hier nicht mehr zu langweilen«, sagte Agafja Michailowna zu ihm. »Wozu sitzen Sie denn immer noch zu Hause? Sie sollten nach einem Badeorte mit warmen Quellen fahren; mit Ihren Vorbereitungen sind Sie ja glücklicherweise fertig.«
»Ich will ja auch übermorgen abreisen, Agafja Michailowna. Ich muß nur erst mein Unternehmen zum Abschluß bringen.«
»Na, Ihr Unternehmen, das ist schon so das Richtige! Sie haben so schon den Bauern mehr als genug in den Rachen geworfen. [141] Sie sagen ohnehin schon: ›Euer Herr wird vom Zaren dafür eine Gnade erhalten.‹ Ich muß mich immer wundern: warum machen Sie sich so viel Sorge um die Bauern?«
»Ich mache mir nicht um die Bauern Sorge; ich tue das um meinetwillen.«
Agafja Michailowna wußte mit Ljewins wirtschaftlichen Plänen ganz genau Bescheid; Ljewin hatte ihr seine Absichten oft mit allen Einzelheiten auseinandergesetzt und nicht selten mit ihr gestritten und sich ihren Anschauungen nicht anschließen können. Aber jetzt hatte sie das, was er sagte, völlig mißverstanden.
»Ja, das ist gewiß, an sein Seelenheil muß man vor allen Dingen denken«, sagte sie mit einem Seufzer. »Da ist zum Beispiel Parfen Denisütsch; wenn er auch nicht lesen und schreiben konnte, aber er ist doch so gestorben, daß man nur Gott bitten möchte, jedem einen solchen Tod zu geben«, sagte sie; es war dies ein unlängst verstorbener Hofknecht. »Er hatte das Abendmahl genommen und die Letzte Ölung erhalten.«
»Davon rede ich nicht«, antwortete er. »Ich wollte sagen, daß ich um meines eigenen Vorteils willen so handle. Es ist für mich vorteilhafter, wenn die Bauern besser arbeiten.«
»Da können Sie tun, was Sie wollen: wenn so ein Bauer ein Faulpelz ist, dann wird er sich doch immer ungeschickt anstellen. Wenn einer ein Gewissen hat, wird er arbeiten; und wenn er keins hat, ist nichts dagegen anzufangen.«
»Aber Ihr habt doch selbst gesagt, daß Iwan jetzt besser für das Vieh sorgt?«
»Ich sage nur eins«, erwiderte Agafja Michailowna, und zwar offenbar nicht infolge eines plötzlichen Einfalls, sondern als Ergebnis eines streng logischen Gedankenganges: »Sie müssen heiraten, das ist die ganze Sache!«
Daß Agafja Michailowna ganz denselben Punkt erwähnte, an den er soeben gedacht hatte, ärgerte und verdroß ihn. Er runzelte die Stirn und setzte sich, ohne ihr zu antworten, wieder an seine Arbeit; er wiederholte sich noch einmal im Kopfe alles, was er sich vorhin über die hohe Bedeutsamkeit dieser Arbeit gesagt hatte. Nur zuweilen horchte er in der tiefen Stille auf das Klappern von Agafja Michailownas Stricknadeln, und wenn ihm dann das einfiel, woran er nicht denken wollte, so zog er wieder die Stirn in Falten.
Um neun Uhr wurde Schellengeläut hörbar und das dumpfe Geräusch eines Wagens, der in dem tiefen Schmutze hin und her schwankte.
»Nun, sehen Sie, da bekommen Sie Besuch; nun werden Sie [142] sich nicht mehr langweilen«, sagte Agafja Michailowna, stand auf und ging nach der Tür hin. Aber Ljewin überholte sie. Seine Arbeit wollte ihm jetzt nicht recht von der Hand gehen, und er freute sich über jeden Gast, mochte kommen, wer da wollte.
Als Ljewin die Treppe zur Hälfte hinuntergelaufen war, hörte er in der Vorhalle ein ihm wohlbekanntes Husten; aber er hörte es wegen des Geräusches seiner eigenen Schritte nur undeutlich und hoffte, sich geirrt zu haben; dann erblickte er die ganze lange, knochige, ihm so wohlbekannte Gestalt des Ankömmlings, und nun schien die Annahme, daß er sich doch vielleicht täusche, eigentlich nicht mehr möglich; aber immer noch hoffte er, daß er sich irre und daß dieser lange Mann, der da seinen Pelz auszog und so heftig hustete, nicht sein Bruder Nikolai sei.
Konstantin Ljewin liebte seinen Bruder; aber mit ihm zusammen zu sein, war ihm immer eine Qual gewesen. Und nun gar jetzt, wo Konstantin infolge jenes Gedankens, der zuerst ihm selbst in den Sinn gekommen und dann von Agafja Michailowna ausgesprochen war, sich in einem unklaren, verwirrten Seelenzustande befand, gerade jetzt erschien ihm das bevorstehende Wiedersehen mit seinem Bruder besonders peinlich. Statt mit einem lustigen, gesunden, fremden Gaste, der ihm, wie er gehofft hatte, bei seiner seelischen Benommenheit einige Zerstreuung gebracht hätte, mußte er nun mit seinem Bruder zusammen sein, der ihn durch und durch kannte, die geheimsten Gedanken aus ihm herauslocken und ihn zwingen würde, sich vollständig auszusprechen. Und das mochte Konstantin Ljewin nicht.
Aber sofort schalt er auch sich selbst wegen dieser häßlichen Empfindung aus und lief in die Vorhalle hinunter. Und sobald er seinen Bruder aus der Nähe gesehen hatte, war auch dieses Gefühl persönlicher Enttäuschung sofort verschwunden und ein tiefes Mitleid an seine Stelle getreten. Wie schrecklich Nikolai auch schon früher infolge seiner Abmagerung und Krankheit ausgesehen hatte, jetzt war er noch magerer und kraftloser geworden. Er war nur noch ein mit Haut überzogenes Gerippe.
Er stand in der Vorhalle, riß sich unter heftigen, zuckenden Bewegungen des langen, hageren Halses einen Schal ab und lächelte in einer seltsam kläglichen Art. Als Konstantin dieses [143] stille, ergebungsvolle Lächeln sah, da fühlte er, daß ihm ein Krampf die Kehle zusammenpreßte.
»Siehst du wohl, da bin ich zu dir gekommen«, sagte Nikolai mit hohler Stimme, ohne die Augen auch nur eine Sekunde von dem Gesicht seines Bruders wegzuwenden. »Ich hatte es schon längst tun wollen, war aber immer kränklich. Aber jetzt habe ich mich recht erholt«, sagte er und wischte sich mit den großen, mageren Händen die Nässe aus dem Barte.
»Ja, ja!« antwortete Konstantin, und sein Entsetzen steigerte sich noch, als er seinen Bruder küßte und dabei mit den Lippen die Trockenheit seines Körpers fühlte und diese großen, seltsam glänzenden Augen ganz nahe vor sich sah.
Einige Wochen vorher hatte Konstantin Ljewin seinem Bruder geschrieben, daß jener kleine Teil des ererbten Landes, den die Brüder bisher noch ungeteilt zusammen besessen hatten, nunmehr verkauft sei und daß der Bruder jetzt als seinen Anteil gegen zweitausend Rubel zu erhalten habe.
Nikolai sagte, er sei jetzt gekommen, um dieses Geld in Empfang zu nehmen, hauptsächlich aber in der Absicht, einmal eine Zeitlang auf dem Familiensitze zu wohnen und den heimischen Erdboden zu berühren, um daraus wie jene Riesen Kraft für die ihm bevorstehende Tätigkeit zu gewinnen. Trotz seiner gekrümmten Haltung, mit der es noch schlimmer geworden war, trotz der bei seinem hohen Wuchse besonders auffälligen Hagerkeit waren seine Bewegungen, wie auch schon früher, schnell und hastig. Konstantin führte ihn in sein Arbeitszimmer.
Der Bruder kleidete sich mit besonderer Sorgfalt um, was früher nicht seine Art gewesen war, kämmte sein dünnes, schlichtes Haar und ging dann lächelnd hinauf.
Er befand sich in der freundlichsten, heitersten Stimmung, wie Konstantin ihn in ihrer Kinderzeit oft gesehen zu haben sich erinnerte. Selbst von Sergei Iwanowitsch sprach er ohne Bitterkeit. Als er Agafja Michailowna sah, scherzte er mit ihr und erkundigte sich nach den alten Dienern. Die Nachricht von Parfen Denisütschs Tode erweckte bei ihm eine unangenehme Empfindung; eine Art von Schrecken malte sich auf seinem Gesichte; aber er nahm sich sofort wieder zusammen.
»Er war ja auch schon alt«, sagte er und begann dann von etwas anderem zu sprechen. »Ja, ich möchte also etwa zwei Monate bei dir bleiben und dann nach Moskau fahren. Weißt du, Mjachkow hat mir eine Stelle versprochen; ich will in den Staatsdienst treten. Jetzt werde ich mir mein Leben ganz anders einrichten«, fuhr er fort. »Weißt du, diesem Frauenzimmer habe ich den Laufpaß gegeben.«
[144] »Wem? Marja Nikolajewna? Wie ist das zugegangen? Warum denn?«
»Ach, sie war ein gräßliches Frauenzimmer! Sie hat mir eine Menge Unannehmlichkeiten gemacht.« Aber er erzählte nicht, von welcher Art diese Unannehmlichkeiten gewesen seien. Er konnte doch auch nicht sagen, daß er Marja Nikolajewna deshalb weggejagt hatte, weil sie ihm den Tee nicht so stark gekocht hatte, wie er ihn hatte haben wollen, und hauptsächlich deshalb, weil sie ihn wie einen Kranken gepflegt hatte. »Und dann will ich jetzt überhaupt mein Leben vollständig umgestalten. Ich habe ja natürlich Dummheiten gemacht, wie alle Menschen; aber mein Vermögen, das ist das letzte, worum es mir leid tut. Die Hauptsache ist doch immer, daß man gesund ist; nun, und meine Gesundheit hat sich, Gott sei Dank, gebessert.«
Konstantin Ljewin hörte zu und überlegte, was er nun seinerseits sagen könnte, vermochte aber keine passende Erwiderung zu finden. Wahrscheinlich fühlte Nikolai ihm das nach; er begann den Bruder nach dem Gange seiner Wirtschaftsangelegenheiten zu fragen, und Konstantin freute sich, von sich selbst sprechen zu können, weil er da reden konnte, ohne sich zu verstellen. Er erzählte dem Bruder von seinen Plänen und Unternehmungen.
Der Bruder hörte zu, interessierte sich aber augenscheinlich nicht dafür.
Diese beiden Menschen waren miteinander so eng verwandt und standen sich so nahe, daß die geringste Bewegung, der bloße Ton der Stimme für sie mehr besagte als alles, was man mit Worten sagen kann. Jetzt hatten sie beide nur einen Gedanken, der alles übrige erstickte: den an Nikolais Krankheit und nahen Tod. Aber weder der eine noch der andere wagte davon zu sprechen, und daher trug alles, was sie nur reden konnten, den Charakter der Unwahrhaftigkeit an sich, weil es nicht das zum Ausdruck brachte, was sie ausschließlich beschäftigte. Noch nie hatte sich Konstantin so sehr darüber gefreut, daß der Abend vorbei war und man schlafen gehen mußte, wie heute. Noch nie, keinem Fremden gegenüber und bei keinem bloßen Höflichkeitsbesuche, war er so verstellt und unaufrichtig gewesen, wie an diesem Tage. Und von dem Bewußtsein dieser Verstellung und dem Schamgefühl darüber wurde sein Benehmen noch unnatürlicher. Er hätte weinen mögen über seinen geliebten Bruder, der dem Tode entgegenging, und er mußte ihm zuhören, wie dieser seine künftige Lebensweise auseinandersetzte, und selbst darüber mitreden.
[145] Da es im Hause feucht und nur ein Zimmer geheizt war, so ließ Konstantin für seinen Bruder in seinem eigenen Schlafzimmer ein Bett hinter einem Wandschirm zurechtmachen.
Nikolai legte sich hin; ob er nun schlief oder nicht, jedenfalls wälzte er sich wie ein Kranker umher; er hustete viel, und wenn er beim Husten die Kehle nicht ordentlich frei bekam, so brummte er etwas vor sich hin. Manchmal, wenn ihm das Atmen schwer wurde, sagte er: »Ach, mein Gott!« Manchmal, wenn ihn der Schleim zu ersticken drohte, fluchte er ärgerlich: »Zum Teufel nochmal!« Konstantin konnte lange nicht einschlafen, weil er ihn immer hörte. Seine Gedanken waren von sehr verschiedener Art, hatten aber alle ein und denselben Endpunkt: den Tod.
Der Tod, das unvermeidliche Ende von allem, trat ihm zum erstenmal mit unwiderstehlicher Gewalt vor Augen. Dieser Tod hauste bereits dort, in dem geliebten Bruder, der im Halbschlaf stöhnte und nach seiner Gewohnheit unterschiedslos bald Gott, bald den Teufel anrief, und war auch ihm, Konstantin, gar nicht so fern, wie es ihm früher geschienen hatte. Der Tod steckte auch schon in ihm selbst; das fühlte er. Wenn nicht heute, dann morgen; wenn nicht morgen, dann nach dreißig Jahren: kam das nicht auf dasselbe hinaus? Aber was dieser unvermeidliche Tod eigentlich war, das wußte er nicht, und er hatte auch niemals darüber nachgedacht, ja, er hatte auch gar nicht verstanden, darüber nachzudenken, und es nicht gewagt.
›Ich arbeite, ich will etwas schaffen, und ich habe vergessen, daß alles ein Ende nimmt, daß es einen Tod gibt.‹
Er setzte sich im Dunkeln auf dem Bette aufrecht, beugte sich vor, umfaßte seine Knie und dachte in dieser Haltung so angestrengt nach, daß er dabei den Atem anhielt. Aber je mehr er seine Denkkraft anstrengte, um so deutlicher wurde es ihm, daß es sich unzweifelhaft so verhielt: er hatte tatsächlich im Leben einen kleinen Umstand vergessen und übersehen, den Umstand, daß der Tod komme und alles ein Ende nehme, daß es nicht der Mühe lohne, etwas zu beginnen, und daß es dagegen schlechterdings keine Hilfe gebe. ›Ja, das ist furchtbar; aber es ist so.
Aber noch lebe ich ja. Was muß ich also jetzt tun? Ja, was?‹ fragte er sich verzweifelt. Er zündete ein Licht an, stand leise auf, ging zum Spiegel und betrachtete sein Gesicht und seine Haare. Ja, an den Schläfen waren schon graue Haare zu sehen. Er machte den Mund auf. Die Backzähne begannen bereits schlecht zu werden. Er entblößte seine muskulösen Arme. Ja, Kraft besaß er, viel Kraft. Aber auch Nikolai, der dort mit den kläglichen Resten seiner Lunge atmete, hatte ehemals einen [146] gesunden Körper gehabt. Und auf einmal fiel ihm ein, wie sie als Kinder zusammen schlafen gegangen waren und oft nur darauf gewartet hatten, daß Fjodor Bogdanütsch aus der Tür ging, um sich wechselseitig mit den Kissen zu werfen und zu lachen, unbändig zu lachen, so daß selbst die Furcht vor Fjodor Bogdanütsch diese überströmende, überschäumende Lebensfreude nicht hatte hemmen können. ›Und jetzt diese verkrümmte, hohle Brust ... und ich, der ich nicht weiß, wozu ich da bin, und was aus mir werden wird ...‹
»Kcha! Kcha! Zum Teufel, was treibst du denn da? Warum schläfst du nicht?« rief ihm sein Bruder zu.
»Ich habe weiter nichts Besonderes; ich weiß nicht, ich kann nicht schlafen.«
»Aber ich habe gut geschlafen; ich schwitze jetzt gar nicht mehr. Überzeuge dich selbst; fühle nur mal mein Hemd! Nicht wahr, es ist gar nicht feucht?«
Konstantin befühlte das Hemd, ging dann wieder hinter den Wandschirm zurück und löschte das Licht aus; aber er konnte lange nicht einschlafen. Nun war er erst vor kurzem mit sich einigermaßen über die Frage ins klare gekommen, wie er leben müsse, und schon trat ihm eine neue, unlösbare Frage entgegen: der Tod.
›Er ist schon im Dahinsterben; im Frühjahr wird es mit ihm zu Ende sein; wie soll ich ihm helfen? Was kann ich zu ihm sagen? Was weiß ich über den Tod? Ich hatte ja sogar vergessen, daß es einen Tod gibt.‹
Konstantin Ljewin hatte schon längst die Beobachtung gemacht, daß, wenn Leute einem den Verkehr mit ihnen durch übermäßige Nachgiebigkeit und Unterwürfigkeit unbehaglich gestalten, sie ihn einem sehr bald unerträglich machen durch übermäßige Ansprüche und Händelsucht. Er ahnte, daß es auch mit seinem Bruder so kommen werde. Und in der Tat dauerte die Sanftmut seines Bruders Nikolai nicht lange. Gleich am nächsten Morgen zeigte er sich reizbar und suchte geflissentlich Streit mit Konstantin, indem er dessen wundeste Punkte berührte.
Konstantin fühlte sich schuldig, ohne doch an der Sache etwas bessern zu können. Er wußte: wenn sie sich beide nicht verstellen, sondern ihre wahre Herzensempfindung aussprechen wollten, das heißt nur das, was sie wirklich dachten und fühlten, dann würden sie nur einer dem andern in die Augen sehen, [147] und er, Konstantin, würde nur sagen: ›Du wirst sterben, du wirst sterben!‹ und Nikolai würde nur antworten: ›Ich weiß, daß ich sterben werde; aber ich fürchte mich davor, ich fürchte mich, ich fürchte mich.‹ Und weiter würden sie nichts sagen, wenn sie eben nur ihre Herzensempfindung aussprechen wollten. Aber in dieser Weise konnten sie natürlich nicht nebeneinander leben, und daher versuchte Konstantin zu tun, was er sein ganzes Leben lang zu tun versucht und nicht fertiggebracht hatte, was aber nach seiner Beobachtung viele Leute so ausgezeichnet verstanden und was im Leben geradezu eine Notwendigkeit ist: er gab sich Mühe, etwas anderes zu sagen, als was er dachte, und hatte dabei fortwährend die Empfindung, daß er den Eindruck der Unaufrichtigkeit mache, daß sein Bruder ihn durchschaue und darüber in gereizte Stimmung komme.
Am dritten Tage forderte Nikolai seinen Bruder auf, ihm nochmals seinen Plan vorzutragen, und verurteilte diesen Plan nicht nur als ganz verfehlt, sondern warf ihn auch absichtlich in einen Topf mit dem Kommunismus.
»Du hast lediglich einen fremden Gedanken aufgegriffen; aber du hast ihn verhunzt und willst ihn auf einem Gebiete anwenden, wo er gar nicht hinpaßt.«
»Aber ich sage dir ja, daß mein Unternehmen mit dem Sozialismus nichts gemein hat. Die Sozialisten leugnen die Berechtigung des Eigentums, des Kapitals, der Erbfolge; ich aber verwerfe diesen wichtigsten Ansporn menschlicher Tätigkeit nicht (es war ihm selbst widerwärtig, daß er solche Ausdrücke gebrauchte; aber seit er sich so eifrig der Arbeit an seiner Abhandlung widmete, hatte er unwillkürlich angefangen, immer häufiger nichtrussische Worte zu verwenden), ich will nur die Arbeit regeln.«
»Das ist es eben; du hast einen fremden Gedanken aufgegriffen, ihm alles das genommen, was seine eigentliche Kraft ausmacht, und möchtest einem nun einreden, das sei etwas Neues«, versetzte Nikolai und zerrte ärgerlich an seiner Krawatte.
»Aber mein Gedanke hat ja gar nichts gemein ...«
»Beim Kommunismus«, fuhr Nikolai mit ironischem Lächeln fort, und seine Augen blitzten dabei recht boshaft, »beim Kommunismus kann man wenigstens an dem Reize der Klarheit und Zweifellosigkeit seine Freude haben, ich möchte sagen, so ähnlich wie bei der Mathematik. Mag sein, daß das Ganze ein Hirngespinst ist. Aber nehmen wir einmal an, es wäre möglich, mit der ganzen Vergangenheit reinen Tisch zu machen, das Eigentum, die Familie aufzuheben: dann würde sich auch die Arbeit regeln lassen. Aber bei dir ist ja gar nichts ...«
[148] »Warum rührst du meinen Gedanken mit dem Kommunismus zusammen? Ich bin nie Kommunist gewesen.«
»Aber ich bin einer gewesen und finde, daß der Kommunismus zwar verfrüht, aber doch etwas Verständiges ist und eine Zukunft hat; er befindet sich in derselben Lage wie das Christentum in den ersten Jahrhunderten.«
»Ich meine ja auch nur, man muß die Arbeitskraft vom naturwissenschaftlichen Gesichtspunkte aus betrachten, das heißt sie studieren, ihre Eigenschaften bestimmen und ...«
»Ach was, das ist ganz zwecklos. Diese Kraft findet ganz von selbst, nach dem Maße ihrer Entwickelung, eine bestimmte Form, in der sie sich betätigt. Überall hat es Sklaven gegeben, dann später métayers 1; auch bei uns gibt es die Halbpartarbeit, es gibt die Pacht, es gibt die Tagelöhnerarbeit; wonach suchst du eigentlich noch weiter?«
Bei diesen Worten seines Bruders geriet Konstantin plötzlich in Hitze, weil er in tiefster Seele fürchtete, daß jener recht habe und daß er, Konstantin, wirklich nur so eine Art Mittelding zwischen Kommunismus und festbestimmten Formen schaffen wolle – und daß das kaum möglich sei.
»Ich suche nach Mitteln, die Arbeit sowohl für mich als auch für den Arbeiter gewinnbringend zu machen. Es liegt mir daran, eine Organisation zu schaffen ...«, antwortete er in starker Erregung.
»Es liegt dir gar nicht daran, eine Organisation zu schaffen. Du willst einfach, wie du das dein ganzes Leben lang getan hast, dich als Original hinstellen und zeigen, daß du die Bauern nicht in kunstloser Weise, sondern nach einem bestimmten Systeme ausbeuten kannst.«
»Nun, wenn du das glaubst, dann gib dich nicht weiter mit mir ab!« antwortete Konstantin; er fühlte, wie sein linker Backenmuskel unhemmbar zuckte.
»Du hast nie Überzeugungen gehabt und hast auch jetzt keine; du willst nur deiner Eitelkeit frönen.«
»Ausgezeichnet! Dann gib dich nicht weiter mit mir ab!«
»Ich will mich auch nicht weiter mit dir abgeben! Dumm von mir, daß ich es so lange getan habe! Hol dich der Teufel! Es tut mir nur leid, daß ich überhaupt hergekommen bin!«
Konstantin gab sich nachher die größte Mühe, seinen Bruder wieder zu beruhigen; aber Nikolai wollte nichts hören; er sagte, es wäre schon das beste, wenn er wieder wegführe, und Konstantin sah, daß seinem Bruder das Leben schon geradezu eine unerträgliche Pein war.
Nikolai hatte bereits alles zur Abreise zurechtgemacht, als [149] Konstantin noch einmal zu ihm trat und ihn in gezwungen klingendem Ton um Verzeihung bat, wenn er ihn irgendwie gekränkt habe.
»Sieh mal, wie großmütig.« erwiderte Nikolai lächelnd. »Wenn du gern recht haben möchtest, so kann ich dir ja dieses Vergnügen machen. Also du hast recht; aber abreisen tue ich trotzdem!«
Erst unmittelbar vor der Abreise küßte Nikolai seinen Bruder, sah ihn auf einmal mit seltsam ernstem Blicke an und sagte: »Trotz alledem, Konstantin, gedenke meiner nicht im bösen!« Seine Stimme zitterte.
Das waren die einzigen Worte, die er in wirklich herzlichem Tone gesprochen hatte. Konstantin fühlte, daß er sich bei diesen Worten hinzudenken sollte: ›Du siehst und weißt, daß es mit mir schlecht steht; wir sehen uns vielleicht nicht wieder.‹ Konstantin verstand dies, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen. Er küßte seinen Bruder noch einmal; aber er konnte nicht reden und wußte auch nicht, was er ihm hätte sagen sollen.
Drei Tage nach der Abreise seines Bruders fuhr auch Konstantin Ljewin weg, ins Ausland. Auf der Eisenbahn traf er mit Kittys Vetter Schtscherbazki zusammen, und dieser war über Ljewins düsteres Wesen sehr erstaunt.
»Was hast du denn?« fragte ihn Schtscherbazki.
»Nichts; nichts Besonderes. Es gibt so wenig Vergnügliches auf der Welt.«
»Aber wieso? Komm doch mit mir nach Paris, statt nach deinem Mülhausen zu fahren. Du sollst mal sehen, wie vergnüglich es da ist.«
»Nein, damit habe ich schon abgeschlossen. Für mich ist es Zeit zu sterben.«
»Na, so ein toller Gedanke!« rief Schtscherbazki lachend. »Ich will gerade erst anfangen, so recht zu leben.«
»Ja, so habe ich vor kurzem auch noch gedacht; aber jetzt weiß ich, daß ich bald sterben werde.«
Was Ljewin da sagte, war in der letzten Zeit seine aufrichtige Überzeugung geworden. Er sah in allem nur den Tod oder das Herannahen des Todes. Aber das Unternehmen, das er in die Wege geleitet hatte, interessierte und beschäftigte ihn nur um so mehr. Er mußte doch das Leben ausnutzen, ehe der Tod kam. Dunkelheit verhüllte ihm die ganze Zukunft; aber gerade infolge dieser Dunkelheit hatte er die Vorstellung, daß der einzige leitende Faden in dieser Dunkelheit sein Unternehmen sei, und mit letzter Kraft griff er nach diesem Faden und hielt ihn fest.
1 (frz.) Halbpächter.
Karenins, Mann und Frau, fuhren fort, unter demselben Dache zu leben und trafen täglich miteinander zusammen; aber sie waren sich vollständig fremd geworden. Alexei Alexandrowitsch hatte es sich zur Regel gemacht, seine Frau täglich zu sehen, damit die Dienerschaft keinen Anlaß habe, sich irgendwelche Gedanken zu machen; aber er vermied es, das Mittagessen zu Hause einzunehmen. Wronski zeigte sich niemals in Alexei Alexandrowitschs Hause; aber Anna traf mit ihm außerhalb des Hauses zusammen, und ihr Mann wußte das.
Diese Lage war für alle drei qualvoll, und keiner von ihnen wäre imstande gewesen, auch nur einen Tag lang in ihr auszuhalten, wenn nicht ein jeder darauf gerechnet hätte, daß diese Lage sich ändern werde, und sich gesagt hätte, daß es nur eine zeitweilige, leidvolle Prüfung sei, die vorübergehen werde. Alexei Alexandrowitsch wartete darauf, daß diese Leidenschaft vergehen werde, wie ja alles in der Welt vergehe, und daß dann bei allen Leuten diese Geschichte in Vergessenheit kommen und sein Name unbefleckt bleiben werde. Anna, durch die diese Lage herbeigeführt war und für die sie noch qualvoller war als für die beiden andern, ertrug sie, weil sie nicht nur hoffte, sondern fest davon überzeugt war, daß sich alles bald entwirren und klären werde. Sie wußte zwar ganz und gar nicht, wodurch diese Entwirrung und Klärung herbeigeführt werden sollte; aber sie war fest überzeugt, daß irgendein derartiges Ereignis in allernächster Zeit eintreten werde. Wronski, der sich ihren Anschauungen unwillkürlich anschloß, wartete gleichfalls auf irgendein von seinen eigenen Entschließungen unabhängiges Geschehnis, durch das alle Schwierigkeiten behoben werden sollten.
Um die Mitte des Winters verlebte Wronski eine Woche in recht langweiliger Weise. Er war zu einem ausländischen Prinzen kommandiert worden, der sich besuchsweise in Petersburg aufhielt, und mußte diesem die Sehenswürdigkeiten der Residenz zeigen. Wronski war in seiner äußeren Erscheinung zu würdevollem Auftreten sehr geeignet; außerdem verstand er die [151] Kunst, sich in würdiger Weise achtungsvoll zu benehmen, und war am den Verkehr mit solchen hohen Herren gewöhnt; daher eben hatte man ihn dem Prinzen beigegeben. Aber er empfand diese Obliegenheit als eine sehr unbequeme Last. Der Prinz wollte nichts weglassen, wonach man ihn zu Hause fragen könnte, ob er es auch in Rußland gesehen habe; und zweitens hegte er auch persönlich den Wunsch, die russischen Vergnügungen nach Möglichkeit durchzukosten. Wronskis Aufgabe war es, ihm in der einen wie in der andern Hinsicht als Führer zu dienen. Vormittags fuhren sie umher, um die Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen; abends beteiligten sie sich an den echt russischen Vergnügungen. Der Prinz erfreute sich einer sehr guten Gesundheit, wie sie sogar bei Prinzen selten ist; durch Turnen und gute Körperpflege hatte er sich derart gekräftigt, daß er trotz des Übermaßes, mit dem er sich den Vergnügungen hingab, so frisch war wie eine große, grüne, glänzende holländische Gurke. Der Prinz war schon viel gereist und fand, daß einer der wichtigsten Gewinne aus der jetzigen Vervollkommnung der Verkehrsmittel darin bestehe, daß einem die Vergnügungen der verschiedenen Völker zugänglich geworden seien. Er war in Spanien gewesen, hatte dort Serenaden gebracht und war mit einer Spanierin, die Mandoline spielte, in nähere Beziehungen getreten. In der Schweiz hatte er eine Gemse geschossen. In England hatte er im roten Frack sein Pferd über Zäune setzen lassen und aus Anlaß einer Wette zweihundert Fasanen geschossen. In der Türkei war er in einem Harem gewesen, in Indien auf einem Elefanten geritten, und jetzt in Rußland wollte er alle echt russischen Vergnügungen genießen.
Wronski, der bei ihm gewissermaßen das Amt eines Oberzeremonienmeisters versah, hatte die größte Mühe, all die russischen Vergnügungen, die dem Prinzen von verschiedenen Personen empfohlen waren, auf dem Programm unterzubringen. Da waren Spazierfahrten mit Trabern und russische Pfannkuchen und Bärenjagden und Fahrten mit dem Dreigespann und Zigeunerkonzerte und Trinkgelage, bei denen nach russischem Brauche die Gläser zerschlagen wurden. Und der Prinz machte sich mit bewundernswerter Leichtigkeit das russische Wesen zu eigen, zerschlug ganze Präsentierbretter voll Gläser, nahm eine Zigeunerin auf den Schoß und machte immer ein Gesicht, als ob er fragen wollte: ›Was nun noch weiter? Oder ist das alles, worin das russische Wesen besteht?‹
In Wahrheit gefielen von allen russischen Vergnügungen dem Prinzen am meisten die französischen Schauspielerinnen, eine [152] Ballettänzerin und der weißgesiegelte Champagner. Wronski war gewohnt, mit Prinzen zu verkehren; aber (ob nun daher, daß er selbst sich in letzter Zeit verändert hatte, oder weil er mit diesem Prinzen in allzu nahe Berührung kam) diese Woche wurde ihm furchtbar schwer. Er hatte diese ganze Woche über ununterbrochen ein ähnliches Gefühl, wie wenn jemand einem gefährlichen Irrsinnigen beigesellt ist, den Irrsinnigen fürchtet und zugleich wegen des steten Verkehrs mit ihm um seinen eigenen Verstand besorgt ist. Wronski war sich beständig der Notwendigkeit bewußt, den Ton streng offizieller Ehrerbietigkeit auch nicht für eine Sekunde sinken zu lassen, um nicht selbst beleidigt zu werden. Denn mit einer Art von Verachtung behandelte der Prinz gerade diejenigen Personen, die zu Wronskis Verwunderung sich gar nicht genug darin tun konnten, ihm den Genuß russischer Vergnügungen zu verschaffen. Des Prinzen Urteil über die russischen Frauen, die er zu studieren wünschte, trieb seinem Begleiter Wronski mehrmals die Röte der Entrüstung ins Gesicht. Aber der Hauptgrund, weshalb ihn der Verkehr mit dem Prinzen so verdroß, war der, daß er unwillkürlich in dem Prinzen sein eigenes Ebenbild sah. Und was er in diesem Spiegel erblickte, das war für sein Selbstgefühl nicht besonders schmeichelhaft. Der Prinz war ein sehr törichter, sehr selbstbewußter, sehr gesunder und sehr reinlicher Mensch und weiter nichts. Er war ein Gentleman, das war richtig, und Wronski konnte es nicht leugnen. Er benahm sich gemessen und ohne Kriecherei gegen Höhergestellte, unbefangen und natürlich im Verkehr mit seinen Standesgenossen und behandelte Leute, die unter ihm standen, mit geringschätzigem Wohlwollen. Wronski selbst war von derselben Art und hielt das für eine sehr wertvolle Eigenschaft; aber im Verkehr mit dem Prinzen war er der Tieferstehende, und dieses halb geringschätzige, halb wohlwollende Benehmen ihm gegenüber versetzte ihn in Empörung.
›Ein dummes Stück Vieh! Bin ich wirklich auch so ein Kerl?‹ dachte er.
Wie dem auch sein mochte, als sich Wronski am siebenten Tage, vor der Abreise des Prinzen nach Moskau, von ihm verabschiedet und eine Dankesbezeigung empfangen hatte, war er glücklich, aus dieser unbehaglichen Lage und von diesem unerfreulichen Spiegel freizukommen. Der Abschied fand morgens auf dem Bahnhofe statt, wohin sie soeben von einer Bärenjagd zurückgekehrt waren, bei der man ihnen die ganze Nacht hindurch eine Vorstellung auf dem Gebiete der russischen Unerschrockenheit gegeben hatte.
Nach Hause zurückgekehrt, fand Wronski ein paar Zeilen von Anna vor. Sie schrieb: »Ich bin krank und unglücklich. Ich kann nicht ausfahren; aber ich kann es nicht länger ertragen, Sie nicht zu sehen. Kommen Sie heute abend! Um sieben Uhr fährt Alexei Alexandrowitsch in die Sitzung und bleibt dort bis zehn.« Er überlegte einen Augenblick, wie seltsam es doch sei, daß sie ihn so ohne weiteres zu sich rufe, trotz der von ihrem Manne gestellten Forderung, ihn nicht zu empfangen; aber dann entschied er sich dafür, hinzufahren.
Wronski war in diesem Winter zum Obersten befördert worden, war damit aus dem Regiment ausgeschieden und wohnte nun allein für sich. Nachdem er gefrühstückt hatte, legte er sich sofort auf das Sofa, und nach fünf Minuten erfüllten sein Gehirn in wirrem Durcheinander Erinnerungen an die widerwärtigen Szenen, die er in den letzten Tagen mit angesehen hatte; dabei verknüpfte sich der Gedanke an Anna wunderlich mit dem an einen Bauer, der bei der Bärenjagd als Aufstörer des Tieres aus seinem Winterlager eine wichtige Rolle gespielt hatte; darüber schlief Wronski ein. Er erwachte erst am Abend im Dunkeln, vor Furcht zitternd, und zündete hastig eine Kerze an. ›Was ist los? Was war das? Was habe ich nur Furchtbares geträumt? Ja, ja, das war's: der Bauer, der das Tier aufstörte, ich glaube, so ein kleiner, schmutziger Kerl mit zerzaustem Barte, tat in gebückter Haltung irgend etwas und fing auf einmal an, französisch zu sprechen, so ganz sonderbare Worte. Ja, weiter habe ich nichts geträumt‹, sagte er zu sich. ›Aber was war nur daran so Entsetzliches?‹ Er erinnerte sich noch einmal mit voller Deutlichkeit an den Bauer und jene unverständlichen französischen Worte, die der Bauer gesprochen hatte, und ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken.
›Was für ein Unsinn!‹ dachte Wronski und blickte auf die Uhr.
Es war schon halb neun. Er klingelte dem Diener, kleidete sich eilig an und trat vor die Haustür; den Traum hatte er bereits vollständig vergessen; es quälte ihn nur der Gedanke, daß er sich verspätet hatte. Als er bei Karenins vorfuhr, blickte er nach der Uhr und sah, daß es zehn Minuten vor neun war. Eine hohe, schmale Kutsche, mit zwei Grauschimmeln bespannt, stand in der Nähe der Haustür. Er erkannte den Wagen, in dem Anna zu fahren pflegte. ›Sie will zu mir fahren‹, dachte er, ›und das wäre auch das beste. Es ist mir unangenehm, dieses Haus zu betreten. Aber einerlei; verstecken kann ich mich jetzt nicht‹, sagte er zu sich, und in der schon von kleinauf ihm geläufigen [154] Haltung eines Mannes, der keinen Anlaß hat, sich zu schämen, stieg er aus dem Schlitten und ging zur Haustür. In diesem Augenblicke öffnete sich die Haustür, und der Pförtner, der ein Tuch auf dem Arme hielt, rief den Wagen heran. Obgleich es nicht in Wronskis Art lag, nebensächliche Einzelheiten zu beachten, fiel ihm doch die erstaunte Miene auf, mit der der Pförtner ihn ansah. Gerade in der Tür prallte Wronski beinahe mit Alexei Alexandrowitsch zusammen. Die Gasflamme beleuchtete aus nächster Nähe das blutleere, abgemagerte Gesicht unter dem schwarzen Hute und die weiße Krawatte, die aus dem Biberkragen des Überziehers hervorschimmerte. Karenins starre, trübe Augen hefteten sich auf Wronskis Gesicht. Dieser verbeugte sich; Alexei Alexandrowitsch hob, unter leeren Kaubewegungen des Mundes, die Hand zum Hute und ging vorüber. Wronski sah, wie er, ohne sich umzuschauen, sich in den Wagen setzte, Tuch und Opernglas durch das Fenster in Empfang nahm und davonfuhr. Wronski ging in das Vorzimmer hinein. Seine Brauen waren finster zusammengezogen, und seine Augen funkelten in ingrimmigem, stolzem Glanze.
›Eine heillose Lage!‹ dachte er. ›Wenn er kämpfen, seine Ehre verteidigen wollte, dann könnte ich handeln und meinen Gefühlen freien Lauf lassen; aber diese Schwächlichkeit oder Gemeinheit ... Er drängt mich in die Lage eines Betrügers, was ich doch nie habe sein wollen und nicht sein will.‹
Seit seiner Unterredung mit Anna im Wredeschen Parke hatten sich Wronskis Anschauungen geändert. Unwillkürlich sich der Schwäche Annas anbequemend, die sich ihm ganz hingab, nur von ihm eine Entscheidung ihres Schicksals erwartete und sich im voraus in alles fügte, hatte er längst aufgehört zu denken, daß dieses Verhältnis jemals in der Weise ein Ende nehmen könne, wie er es damals gedacht hatte. Seine ehrgeizigen Pläne waren wieder in den Hintergrund getreten, und da er sich sagte, daß er nun doch einmal jenen Kreis der Tätigkeit verlassen hatte, in dem alles in bestimmter Form geregelt war, so überließ er sich ganz seinem Gefühle, und dieses Gefühl fesselte ihn immer fester und fester an Anna.
Als er noch im Vorzimmer war, hörte er ihre sich entfernenden Schritte. Er schloß daraus, daß sie auf ihn gewartet, nach jedem Geräusche auf der Straße hingehorcht hatte und nun in den Salon zurückging.
»Nein«, rief sie, als sie ihn erblickte, und beim ersten Worte, das sie sprach, traten ihr die Tränen in die Augen, »nein, wenn das so weitergeht, so geschieht es noch viel, viel früher!«
»Was hast du, liebe Anna?«
[155] »Was ich habe? Ich warte, ich martere mich schon eine Stunde lang, zwei Stunden lang ... Nein, ich will dir keinen Vorwurf machen! Ich kann dir keinen Vorwurf machen. Es ist dir gewiß nicht früher möglich gewesen. Nein, ich will dir keinen Vorwurf machen!«
Sie legte ihre beiden Hände auf seine Schultern und sah ihn lange mit einem tiefen, entzückten und zugleich forschenden Blicke an. Sie betrachtete jeden Zug seines Gesichts, um sich für die lange Zeit, da sie ihn nicht gesehen hatte, schadlos zu halten. Wie bei jedem Wiedersehen verglich sie das Bild, das sie sich in Gedanken von ihm gemacht hatte (ein unvergleichlich schöneres, in der Wirklichkeit unmögliches Bild), mit ihm, wie er tatsächlich war.
»Bist du ihm begegnet?« fragte sie ihn, als sie am Tische bei der Lampe saßen. »Siehst du, das ist deine Strafe dafür, daß du zu spät gekommen bist.«
»Ja, aber wie ist das nur zugegangen? Er sollte ja doch in der Sitzung sein?«
»Er ist auch dagewesen, kam aber früher zurück und fuhr dann wieder fort, ich weiß nicht wohin. Aber über diese Begegnung wollen wir uns weiter nicht aufregen; sprich nicht mehr davon! Wo bist du inzwischen gewesen? Immer mit dem Prinzen zusammen?«
Sie kannte alle Einzelheiten seines Lebens. Er wollte ihr schon sagen, daß er die ganze Nacht nicht geschlafen habe und dann vom Schlafe übermannt worden sei; aber als er in ihr erregtes, glückliches Gesicht blickte, schämte er sich zu sagen, daß er die Zeit verschlafen habe. Er sagte lieber, er habe ausfahren müssen, um von der Abreise des Prinzen Meldung abzustatten.
»Aber jetzt ist das zu Ende? Er ist abgereist?«
»Ja, Gott sei Dank, es ist zu Ende. Du glaubst gar nicht, wie widerwärtig mir die Sache gewesen ist.«
»Aber warum denn? Das ist doch das Leben, das ihr jungen Männer immer führt«, erwiderte sie, griff, die Brauen zusammenziehend, nach einer Häkelarbeit, die auf dem Tische lag, und schickte sich an, ohne Wronski anzusehen, den Häkelhaken aus ihr herauszuziehen.
»Ich habe dieses Leben schon längst aufgegeben«, versetzte er, erstaunt über die Veränderung ihres Gesichtsausdrucks und bemüht, die Bedeutung dieser Veränderung zu erkennen. »Und ich muß bekennen«, fuhr er fort und lächelte dabei, so daß [156] seine lückenlosen, weißen Zähne sichtbar wurden, »ich habe diese Woche über, während ich dieses Leben mit ansah, mich wie in einem Spiegel betrachtet, und es war mir recht unerfreulich.«
Sie hielt die Häkelarbeit in den Händen, häkelte aber nicht daran, sondern sah ihn mit einem sonderbaren, funkelnden, unfreundlichen Blicke an.
»Heute morgen hat mich Lisa besucht – die Damen scheuen sich noch nicht, mit mir zu verkehren, trotz der Gräfin Lydia Iwanowna«, schaltete sie ein – »und mir von eurer athenischen Soiree erzählt. Wie ekelhaft!«
»Ich wollte nur sagen, daß ...«
Sie unterbrach ihn.
»War das jene Französin Therese, mit der du früher bekannt warst?«
»Ich wollte sagen ...«
»Wie abscheulich seid ihr Männer doch! Könnt ihr denn nicht begreifen, daß eine Frau so etwas nicht vergessen kann?« sagte sie; sie wurde dabei immer heftiger und verriet ihm dadurch die Ursache ihrer Gereiztheit. »Besonders eine Frau, die nicht wissen kann, wie du fern von ihr lebst. Was weiß ich denn von deinem Leben? Was habe ich denn davon gewußt? Nur was du mir sagst. Und woher soll ich wissen, ob du mir die Wahrheit sagst?«
»Anna, du kränkst mich. Glaubst du mir denn nicht? Habe ich dir nicht gesagt, daß in meinem Kopfe kein Gedanke ist, den ich dir nicht mitteilen würde?«
»Ja, ja«, antwortete sie, sichtlich bemüht, ihre eifersüchtigen Regungen niederzukämpfen. »Aber wenn du wüßtest, wie schwer mir ums Herz ist! ... Ich glaube dir ja, ich glaube dir ... Also was wolltest du sagen?«
Aber er konnte sich nicht sogleich erinnern, was er hatte sagen wollen. Diese Anfälle von Eifersucht, die sich in der letzten Zeit immer häufiger bei ihr wiederholten, erschreckten ihn und machten, wie sehr er dies auch zu verbergen suchte, sein Gefühl ihr gegenüber kälter, obschon er wußte, daß die Ursache dieser Eifersucht lediglich ihre Liebe zu ihm war. Wie oft sagte er sich, daß sein Glück darin bestehe, von ihr geliebt zu werden; und nun liebte sie ihn mit aller Kraft, mit der ein Weib nur lieben konnte, dem die Liebe höher stand als alle Güter des Lebens – und doch war er jetzt viel weiter davon entfernt, sich glücklich zu fühlen, als damals, wo er ihr aus Moskau nachgereist war. Damals hatte er sich für unglücklich gehalten und sein Glück von der Zukunft erwartet; aber jetzt fühlte er, daß [157] das schönste Glück bereits hinter ihm lag. Sie war ganz und gar nicht mehr so, wie er sie in der ersten Zeit gesehen hatte. Seelisch und körperlich hatte sie sich zu ihrem Nachteil verändert. Ihre ganze Figur hatte sich verbreitert, und auf ihrem Gesichte lag, als sie von der Schauspielerin sprach, ein böser Ausdruck, der es unangenehm entstellte. Er betrachtete sie, wie jemand eine Blume betrachtet, die er gepflückt hat, und die nun verwelkt, so daß er nur mit Mühe an ihr die Schönheit wiedererkennt, um derentwillen er sie gepflückt und zugrunde gerichtet hat. Und trotzdem fühlte er, daß er damals, als seine Liebe stärker war, imstande gewesen wäre, wenn er es ernstlich gewollt hätte, diese Liebe aus seinem Herzen herauszureißen; aber jetzt, wo er, wie in diesem Augenblicke, keine Liebe zu ihr zu empfinden meinte, war er sich bewußt, daß das Band, das ihn an sie knüpfte, nie zerreißen konnte.
»Nun also, was wolltest du mir von dem Prinzen erzählen? Ich habe den Teufel ausgetrieben, gewiß, ich habe ihn ausgetrieben«, fügte sie hinzu. »Teufel« war im Verkehr zwischen ihnen die Bezeichnung der Eifersucht. »Ja, also was fingst du an, von dem Prinzen zu erzählen? Warum ist dir denn die Sache so widerwärtig gewesen?«
»Ach, es war geradezu unerträglich!« antwortete er und bemühte sich, den verlorenen Gedankenfaden wiederzufinden. »Er gewinnt nicht bei näherer Bekanntschaft. Wenn ich dir einen Begriff von ihm geben soll: er ist ein vortrefflich gefüttertes Stück Vieh, wie sie auf den Ausstellungen die ersten Preise bekommen, weiter nichts«, sagte er in einem ärgerlichen Tone, durch den ihre Aufmerksamkeit erregt wurde.
»Aber wie kann das nur sein?« erwiderte sie. »Er hat doch vieles gesehen und ist ein gebildeter Mensch?«
»Das ist eine ganz andere Art von Bildung, die Bildung solcher Leute. Auch was er von Bildung besitzt, hat er sich offenbar nur deshalb angeeignet, um ein Recht zu haben, die Bildung gering zu schätzen, wie denn diese Leute alles gering schätzen, mit Ausnahme der sinnlichen Vergnügungen.«
»Aber ihr alle liebt ja diese sinnlichen Vergnügungen«, sagte sie, und wieder bemerkte er ihren finsteren Blick, der es vermied, sich auf ihn zu richten.
»Warum verteidigst du ihn denn so?« fragte er lächelnd.
»Ich verteidige ihn nicht; er ist mir vollständig gleichgültig. Aber ich meine, wenn du nicht selbst diese Vergnügungen liebtest, so hättest du ja den Auftrag ablehnen können. Aber es macht dir Vergnügen, diese Therese im Evagewande zu sehen ...«
[158] »Da ist der Teufel doch wieder«, sagte Wronski, ergriff ihre auf dem Tische liegende Hand und küßte sie.
»Ja, aber ich kann mich nicht zwingen! Du weißt nicht, welche Pein ich ausgestanden habe, während ich auf dich wartete! Ich meine, daß ich nicht eifersüchtig bin. Ich bin nicht eifersüchtig; ich vertraue dir, wenn du hier bist, bei mir bist; aber wenn du irgendwo anders allein dein mir unverständliches Leben führst ...«
Sie bog sich von ihm weg, machte endlich den Häkelhaken aus der Arbeit los, und schnell bildete sich nun mit Hilfe des Zeigefingers Masche auf Masche aus der weißen, im Lampenlichte schimmernden Wolle, und schnell und nervös drehte sich das feine Handgelenk in der gestickten Manschette hin und her.
»Nun, und wie war es denn damit? Wo bist du mit Alexei Alexandrowitsch zusammengestoßen?« fragte sie auf einmal mit unnatürlich klingender Stimme.
»Wir trafen in der Tür aufeinander.«
»Und er hat dich so gegrüßt?«
Sie zog das Gesicht in die Länge, änderte, indem sie die Augen halb zudrückte, schnell ihre ganze Miene, legte die Hände zusammen, und Wronski er blickte auf ihrem schönen Antlitz plötzlich genau denselben Ausdruck, mit dem Alexei Alexandrowitsch ihn gegrüßt hatte. Er lächelte, und sie lachte fröhlich auf mit jenem hübschen, aus voller Brust kommenden Lachen, das einen ihrer Hauptreize bildete.
»Ich habe für sein Verhalten schlechterdings kein Verständnis«, sagte Wronski. »Wenn er nach dem, was du ihm im Landhause mitgeteilt hast, mit dir gebrochen hätte, wenn er mich zum Duell gefordert hätte ... Aber das begreife ich nicht: wie kann er eine solche Lage ertragen? Daß er darunter leidet, ist ja deutlich.«
»Der?« erwiderte sie höhnisch. »Der ist vollständig zufrieden.«
»Weshalb müssen wir alle eine solche Pein ausstehen, während doch alles so gut sein könnte?«
»Er ist der einzige von uns, der nicht leidet. Ich kenne ihn ja, ich kenne die Unwahrhaftigkeit, mit der sein ganzes Wesen durchtränkt ist. Ist es denn möglich, daß jemand, der auch nur eine Spur von Gefühl besitzt, so lebt, wie er mit mir lebt? Er begreift nichts, er fühlt nichts. Ist es denn möglich, daß ein Mensch, wenn er nicht aller Empfindung bar ist, mit seinem verbrecherischen Weibe unter einem Dache lebt, mit ihr spricht, du zu ihr sagt?«
Und wieder kam sie unwillkürlich darauf, ihm nachzumachen: »Du, ma chère, du, Anna!«
[159] »Das ist kein Mann, kein Mensch, das ist eine Puppe. Das weiß sonst niemand; aber ich weiß es. Oh, wenn ich an seiner Stelle wäre, ich hätte längst so eine Frau, wie ich eine bin, getötet, in Stücke zerrissen und würde nicht zu ihr sagen: ›Du, ma chère, Anna!‹ Das ist kein Mensch, das ist eine dem Ministerium gehörige Maschine. Er begreift nicht, daß ich dein Weib bin, daß er ein Fremder, eine überflüssige Person ist ... Wir wollen nicht mehr von ihm sprechen, nein, nein!«
»Du bist ungerecht, sehr ungerecht, Liebste!« erwiderte Wronski, bemüht, sie zu beruhigen. »Aber ganz gleich, wir wollen nicht weiter von ihm reden. Erzähle mir lieber, was du inzwischen getan hast. Wie geht es dir? Was ist das für eine Krankheit, von der du mir schriebst, und was hat der Arzt gesagt?«
Sie sah ihn mit spöttischer Freude an. Offenbar waren ihr noch andere komische und häßliche Züge ihres Mannes eingefallen, und sie wartete auf einen geeigneten Zeitpunkt, um sie vorzubringen.
Aber er fuhr fort:
»Ich denke mir, daß du keine eigentliche Krankheit, sondern deinen Zustand gemeint hast. Wann wird es denn soweit sein?«
Der spöttische Glanz erlosch in ihren Augen; aber ein anderes Lächeln, ein stilles, trauriges Lächeln, wie wenn sie etwas wüßte, wovon er nichts ahnte, trat an die Stelle jenes früheren Ausdrucks.
»Bald, sehr bald. Du sagst, daß unsere Lage qualvoll sei und ihr ein Ende gemacht werden müsse. Wenn du wüßtest, wie drückend sie für mich ist! Alles würde ich dafür hingeben, wenn ich dich frei und, ohne die Augen niederzuschlagen, lieben dürfte. Ich würde mich und dich nicht mit meiner Eifersucht quälen ... Und das wird bald eintreten, aber nicht so, wie wir es uns denken.«
Bei dem Gedanken daran, wie das alles kommen werde, erschien sie sich selbst so bemitleidenswert, daß ihr die Tränen in die Augen traten und sie nicht weiterzureden vermochte. Sie legte ihre Hand, an der im Lampenlichte die weiße Haut schimmerte und die Ringe blitzten, auf seinen Arm.
»Es wird nicht so werden, wie wir es uns denken. Ich hatte es dir nicht sagen wollen; aber du zwingst mich dazu. Bald, sehr bald wird das alles ein Ende finden, und wir alle, alle werden zur Ruhe kommen und uns nicht länger quälen.«
»Ich verstehe dich nicht«, antwortete er, obgleich er sie verstand.
[160] »Du fragtest, wann? Bald. Ich werde es nicht überleben. Unterbrich mich nicht!« Sie fing an, hastig zu sprechen. »Ich weiß das, und ich weiß es bestimmt. Ich werde sterben, und ich bin sehr froh darüber, daß ich sterben und mich und euch erlösen werde.«
Die Tränen strömten ihr aus den Augen; er beugte sich über ihre Hand, bedeckte sie mit Küssen und versuchte, seine Aufregung zu verbergen, die, wie er wußte, keinen tatsächlichen Grund hatte, deren er aber doch nicht Herr werden konnte.
»So wird es kommen, so ist es das beste«, sagte sie und drückte ihm kräftig die Hand. »Das ist das einzige, das einzige, was uns noch übriggeblieben ist.«
Er hatte sich wieder gefaßt und hob den Kopf in die Höhe.
»Was ist das für Torheit! Was für sinnlose Torheit redest du da!«
»Nein, das ist die Wahrheit.«
»Was soll die Wahrheit sein, was denn?«
»Daß ich sterben werde. Ich habe es geträumt.«
»Geträumt?« wiederholte Wronski und mußte im gleichen Augenblick an den Bauer denken, von dem er selbst geträumt hatte.
»Ja, geträumt«, sagte sie. »Diesen Traum habe ich schon vor längerer Zeit gehabt. Mir träumte, ich lief in mein Schlafzimmer; ich mußte da etwas holen oder nachsehen: du weißt, das kommt im Traum so oft vor«, bemerkte sie und öffnete vor Grausen weit die Augen, »und da stand im Schlafzimmer etwas in der Ecke ...«
»Ach, was für Unsinn! Wie kann man nur an so etwas glauben ...«
Aber sie ließ sich nicht unterbrechen. Das, was sie da erzählte, war ihr zu wichtig.
»Und dieses Ding drehte sich um, und ich sah, daß es ein kleiner, furchtbar aussehender Bauer mit zerzaustem Barte war. Ich wollte weglaufen; aber er bückte sich über einen Sack und wühlte mit den Händen darin herum ...«
Sie machte nach, wie er mit den Händen darin herumgewühlt hatte. Entsetzen malte sich auf ihrem Gesichte, und Wronski, der sich seines eigenen Traumes erinnerte, fühlte, wie das gleiche Entsetzen seine Seele erfüllte.
»Er wühlte darin herum und sagte dabei etwas auf französisch, ganz schnell, ganz schnell, und, weißt du, er schnarrte dabei das R: ›Il faut le battre le fer, le broyer, le pétrir ...‹ 1 Vor Angst wünschte ich aufzuwachen, und ich wachte auch auf ... aber es träumte mir nur, daß ich aufwachte. Und nun fragte ich mich, immer noch im Traume, was das zu bedeuten habe. Und [161] der Kammerdiener Kornei sagte mir: ›Im Wochenbette werden Sie sterben, Mütterchen, im Wochenbette, jawohl, im Wochenbette werden Sie sterben.‹ ... Und da erwachte ich.«
»Was für Unsinn! Was für Unsinn!« rief Wronski; aber er fühlte selbst, daß seiner Stimme der Ton eigener Überzeugung mangelte.
»Aber wir wollen nicht mehr davon reden. Klingle; ich möchte Tee bringen lassen. Ja, warte nur, jetzt dauert es nicht mehr lange; ich ...«
Aber plötzlich hielt sie inne. Der Ausdruck ihres Gesichtes änderte sich in einem Augenblicke. An die Stelle der Aufregung und des Entsetzens trat auf einmal der Ausdruck eines stillen, ernsten, beglückten Aufmerkens. Wronski konnte die Bedeutung dieser Verwandlung nicht verstehen. Anna hatte in sich die Regung eines neuen Lebens gespürt.
1 (frz.) Man muß das Eisen schmieden, muß es schlagen, muß es formen.
Nachdem Alexei Alexandrowitsch in seiner Haustür mit Wronski zusammengetroffen war, fuhr er, wie es auch seine Absicht gewesen war, in die Italienische Oper. Er saß dort zwei Akte ab und begrüßte alle die, die zu begrüßen ihm wichtig war. Nach Hause zurückgekehrt, musterte er aufmerksam den Kleiderständer, und als er festgestellt hatte, daß sich daran kein Militärmantel befand, begab er sich wie gewöhnlich in sein Zimmer. Aber gegen seine Gewohnheit legte er sich nicht schlafen, sondern wanderte bis drei Uhr morgens in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Der Zorn ließ ihm keine Ruhe, der Zorn gegen seine Frau, die die Gebote des Anstandes nicht beobachten und die einzige von ihm gestellte Bedingung, ihren Liebhaber nicht in diesem Hause zu empfangen, nicht erfüllen wollte. Sie hatte seine Forderung nicht erfüllt, und er mußte sie daher jetzt bestrafen und seine Drohung zur Ausführung bringen, das heißt, er mußte die Scheidung verlangen und ihr den Sohn wegnehmen. Er kannte alle Schwierigkeiten, mit denen dieses Verfahren verknüpft war; aber er hatte gesagt, daß er es tun werde, und mußte jetzt seine Drohung ausführen. Die Gräfin Lydia Iwanowna hatte ihm eine leise Andeutung gemacht, daß dies der beste Ausweg aus seiner Lage sein werde, und in letzter Zeit hatten die Rechtsanwälte ihre Methode in Ehescheidungsprozessen derart vervollkommnet, daß Alexei Alexandrowitsch es für möglich erachtete, die förmlichen Schwierigkeiten zu überwinden. Außerdem hatte er, wie denn ein Unglück selten allein kommt, [162] von der Angelegenheit der Verwaltungseinrichtungen der Fremdvölker und von der Angelegenheit der Berieselung der Felder im Gouvernement Saraisk solche Unannehmlichkeiten in dienstlicher Hinsicht gehabt, daß er sich während der ganzen letzten Zeit in äußerst gereizter Stimmung befunden hatte.
Er schlief die ganze Nacht nicht, und sein Zorn, der in gewaltiger Steigerung wuchs, hatte am Morgen die denkbar größte Höhe erreicht. Er kleidete sich eilig an und ging zu seiner Frau, sobald er erfahren hatte, daß sie aufgestanden sei. Er trug ihr gleichsam die volle Schale seines Zornes hin, besorgt, etwas davon zu verschütten und mit dem Zorne zugleich Einbuße an der Energie zu erleiden, deren er bei der Auseinandersetzung mit seiner Frau bedurfte.
Obgleich Anna ihren Mann so genau zu kennen glaubte, war sie doch, als er in ihr Zimmer trat, von seinem Aussehen überrascht. Seine Stirn war gerunzelt; die Augen blickten finster vor sich hin und wichen ihrem Blicke aus; der Mund war fest und verächtlich zusammengepreßt. In seinem Gange, in sei nen Bewegungen und im Ton seiner Stimme lag eine Entschlossenheit und Festigkeit, wie Anna sie noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Er trat ins Zimmer, ging, ohne sie zu begrüßen, gerade auf ihren Schreibtisch zu, ergriff die Schlüssel und öffnete eine Schublade.
»Was suchen Sie da?« rief sie.
»Die Briefe Ihres Liebhabers«, antwortete er.
»Die sind nicht hier«, sagte sie und schob die Schublade wieder zu; aber an dieser Bewegung bemerkte er, daß seine Vermutung richtig gewesen war. Heftig stieß er Ihre Hand zur Seite und ergriff schnell eine Mappe, in der sie, wie er wußte, ihre wichtigsten Papiere aufbewahrte. Sie wollte ihm die Mappe entreißen; aber er stieß sie zurück.
»Setzen Sie sich! Ich habe mit Ihnen zu reden!« sagte er. Die Mappe hatte er unter den Arm genommen und preßte sie mit dem Ellbogen so stark an sich, daß sich seine Schulter in die Höhe hob.
Erstaunt und ängstlich blickte sie ihn an und schwieg.
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Ihnen nicht gestatte, Ihren Liebhaber in diesem Hause zu empfangen.«
»Ich muß ihn sehen, um ...«
Sie hielt inne, da sie keine Ausrede fand.
»Es liegt mir nicht daran, die näheren Gründe zu hören, weswegen eine Frau ihren Liebhaber sehen muß.«
»Ich wollte ... ich wollte nur ...«, begann sie; sie war dunkelrot geworden. Sein grobes Benehmen empörte sie und machte [163] sie mutig. »Haben Sie denn gar kein Gefühl dafür, eine wie leichte Sache es für Sie ist, mich zu beleidigen?« fragte sie.
»Beleidigen kann man einen ehrlichen Mann und eine ehrliche Frau; aber wenn man zu einem Diebe sagt, daß er ein Dieb ist, so ist das lediglich la constatation d'un fait 1.«
»Diesen neuen Zug von Grausamkeit habe ich an Ihnen noch nicht gekannt.«
»Das nennen Sie Grausamkeit, wenn ein Mann seiner Frau alle Freiheit läßt, sie mit dem Ehrenschilde seines Namens deckt und nur die einzige Bedingung stellt, daß der Anstand gewahrt werde. Ist das Grausamkeit?«
»Das ist schlimmer als Grausamkeit; es ist Gemeinheit, wenn Sie es denn wissen wollen!« rief Anna in einem heftigen Wutausbruche. Sie stand auf und wollte hinausgehen.
»Nein!« schrie er mit seiner kreischenden Stimme, die sich jetzt noch um einen Ton höher gehoben hatte als gewöhnlich. Mit seinen großen Fingern packte er sie so heftig am Handgelenk, daß an diesem rote Spuren von dem Armband, das er dagegengepreßt hatte, zurückblieben; so zwang er sie gewaltsam, sich wie der auf ihren Platz zu setzen. »Gemeinheit? Wenn Sie sich dieses Wortes bedienen wollen, so ist das eine Gemeinheit: den Gatten und den Sohn um des Liebhabers willen aufzugeben und doch das Brot des Gatten weiter zu essen!«
Sie ließ den Kopf sinken. Was sie gestern zu ihrem Geliebten gesagt hatte, daß er ihr wahrer Gatte sei und ihr bisheriger Gatte eine überflüssige Person, das sprach sie heute nicht aus, ja, sie dachte es nicht einmal. Sie fühlte die ganze Berechtigung dessen, was Alexei Alexandrowitsch gesagt hatte, und erwiderte nur leise:
»Sie können meine Lage nicht schlimmer darstellen, als ich sie selbst auffasse; aber warum sagen Sie das alles?«
»Warum ich das sage? Warum?« fuhr er ebenso zornig fort. »Damit Sie wissen, daß ich, da Sie meinen Willen wegen der Wahrung des Anstandes nicht erfüllt haben, nunmehr Maßregeln ergreifen werde, um dieser Lage ein Ende zu machen.«
»Sie wird schon sowieso bald ein Ende nehmen, sehr bald«, versetzte sie, und wieder traten ihr bei dem Gedanken an den nahen, jetzt ersehnten Tod die Tränen in die Augen.
»Sie wird schneller ein Ende nehmen, als Sie sich das mit Ihrem Liebhaber zurechtgelegt haben! Was Sie wünschen, ist Befriedigung der sinnlichen Leidenschaft ...«
»Alexei Alexandrowitsch! Einen am Boden Liegenden zu schlagen, zeugt nicht nur von Mangel an Großmut, sondern auch von Mangel an Anstandsgefühl.«
[164] »Ja, Sie denken nur an sich selbst! Aber die Leiden des Mannes, der Ihr Gatte war, die sind Ihnen gleichgültig. Das kümmert Sie nicht, daß sein ganzes Leben zerstört ist und daß er so viel Leid dulch ... dulch ... dulchgemacht hat.«
Alexei Alexandrowitsch sprach so schnell, daß er ins Stottern geriet und dieses Wort gar nicht aussprechen konnte. Endlich kam »dulchgemacht« heraus. Das erschien ihr lächerlich; aber sofort schämte sie sich darüber, daß ihr in einem solchen Augenblicke etwas hatte lächerlich erscheinen können. Und zum ersten Male wurde in ihrem Herzen einen Augenblick lang ein milderes Gefühl für ihn rege, sie versetzte sich in seine Lage und bemitleidete ihn. Aber was hätte sie sagen oder tun können? Sie ließ den Kopf sinken und schwieg. Auch er schwieg einige Zeit und hob dann mit minder kreischender Stimme und in nicht ganz so kaltem Tone von neuem an, wobei er willkürlich herausgegriffene Worte betonte, die gar keine besondere Wichtigkeit hatten.
»Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen ...«, fing er an.
Sie blickte ihn an.
›Nein, das ist mir doch nur so vorgekommen‹, dachte sie mit Bezug auf den Ausdruck, den sie auf seinem Gesichte wahrzunehmen geglaubt hatte, als er bei dem Worte »dulchgemacht« ins Stottern geriet. ›Nein, kann denn ein Mensch mit diesen trüben Augen und mit dieser selbstzufriedenen Ruhe überhaupt irgend etwas empfinden?‹
»Ich kann nichts daran ändern«, flüsterte sie.
»Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich morgen nach Moskau reise und nicht wieder in dieses Haus zurückkehren werde und daß Sie von meinem Entschlusse durch den Rechtsanwalt Nachricht erhalten werden, den ich mit der Einreichung der Klage auf Scheidung beauftragen werde. Mein Sohn aber wird zu meiner Schwester übersiedeln«, erklärte Alexei Alexandrowitsch; er erinnerte sich nur mit Anstrengung an das, was er über seinen Sohn hatte sagen wollen.
»Sie wollen Sergei nur haben, um mir wehe zu tun«, antwortete sie und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Sie lieben ihn nicht ... Lassen Sie mir Sergei!«
»Ja, sogar die Liebe zu meinem Sohne ist mir abhanden gekommen, weil sein Anblick mich immer an meinen Abscheu gegen Sie erinnert. Aber ich nehme ihn doch für mich. Leben Sie wohl!«
Er wollte hinausgehen; aber jetzt hielt sie ihn zurück.
»Alexei Alexandrowitsch, lassen Sie mir Sergei!« flüsterte sie noch einmal. »Weiter kann ich nichts sagen. Lassen Sie mir [165] Sergei bis zu meiner ... Ich werde bald einem Kinde das Leben geben. Lassen Sie ihn mir!«
Alexei Alexandrowitschs Gesicht bedeckte sich mit dunkler Glut; er entriß ihr seine Hand und verließ schweigend das Zimmer.
1 (frz.) die Feststellung einer Tatsache.
Das Wartezimmer des berühmten Petersburger Rechtsanwaltes war gefüllt, als Alexei Alexandrowitsch es betrat. Drei Klientinnen, eine alte Dame, eine junge Dame und eine Kaufmannsfrau mittleren Alters sowie drei Klienten, ein deutscher Bankier mit einem Siegelring am Finger, ein bärtiger Kaufmann und ein Beamter mit grimmiger Miene, in Uniform, mit einem Orden am Halse, warteten offenbar schon lange. Zwei Schreiber des Rechtsanwaltes saßen, mit Schreiben beschäftigt, an Tischen; man hörte das Geräusch ihrer Federn auf dem Papier. Die Schreibgeräte waren außerordentlich schön; Alexei Alexandrowitsch, dessen besondere Liebhaberei dies war, konnte nicht umhin, es zu bemerken. Einer der Schreiber wandte sich, ohne aufzustehen, mit zusammengekniffenen Augen ärgerlich zu Alexei Alexandrowitsch.
»Was ist Ihnen gefällig?«
»Ich habe geschäftlich mit dem Herrn Rechtsanwalt zu sprechen.«
»Der Herr Rechtsanwalt ist sehr in Anspruch genommen«, antwortete der Schreiber in strengem Tone, indem er mit der Feder auf die Wartenden wies, und schrieb dann weiter.
»Hat er nicht vielleicht dazwischen einen Augen blick für mich Zeit?« fragte Alexei Alexandrowitsch.
»Er hat keinen freien Augenblick; er ist immer beschäftigt. Bitte zu warten!«
»Möchten Sie dann nicht so freundlich sein, ihm meine Karte zu überreichen«, sagte Alexei Alexandrowitsch, da er die Notwendigkeit einsah, sein Inkognito aufzugeben.
Der Schreiber nahm die Karte hin, machte ein Gesicht, als ob ihn deren Inhalt sehr wenig befriedigte, und ging zu dem Rechtsanwalt hinein.
Alexei Alexandrowitsch billigte grundsätzlich das öffentliche Gerichtsverfahren; nur gewisse Einzelheiten in seiner praktischen Anwendung bei uns in Rußland hatten, mit Rücksicht auf höhere, ihm wohlbekannte dienstliche Verhältnisse, nicht seinen vollen Beifall, und er mißbilligte diese Einzelheiten, soweit er imstande war, etwas, was die allerhöchste Bestätigung [166] gefunden hatte, zu mißbilligen. Sein ganzes Leben lang war er auf dem Verwaltungsgebiete tätig gewesen; so oft es daher vorkam, daß er etwas mißbilligte, wurde sein Mißvergnügen gemildert durch die Erwägung, daß Fehler bei allen Dingen unvermeidlich seien, immer aber die Möglichkeit einer Verbesserung vorliege. An der neuen Gerichtsordnung mißbilligte er die Stellung, die dem Anwaltsstande zugewiesen war. Aber bisher hatte er mit Rechtsanwälten noch nichts zu schaffen gehabt, und daher war seine Mißbilligung nur theoretisch gewesen; jetzt jedoch wurde diese Mißbilligung noch verstärkt durch den unangenehmen Eindruck, den er in dem Wartezimmer des Rechtsanwaltes empfangen hatte.
»Der Herr Rechtsanwalt wird sogleich herauskommen«, meldete der Schreiber, und wirklich erschien nach zwei Minuten in der Tür die lange Gestalt eines bejahrten juristischen Kollegen, der mit dem Rechtsanwalt verhandelt hatte, und die Gestalt des Rechtsanwaltes selbst.
Der Rechtsanwalt war ein kleiner, stämmiger, kahlköpfiger Mann mit dunklem, rötlich schimmerndem Barte, hellen, langhaarigen Brauen und vorstehender Stirn. Geputzt war er, wie wenn er auf die Freite ging, von der Krawatte und der doppelten Uhrkette bis zu den Lackstiefeln. Sein Gesicht trug einen Ausdruck von Klugheit und plebejischer Verschmitztheit; aber der Anzug war geckenhaft und zeugte von schlechtem Geschmack.
»Bitte, näher zu treten«, sagte der Rechtsanwalt, zu Alexei Alexandrowitsch gewendet. Mit finsterer Miene ließ er ihn an sich vorbeigehen und machte dann die Tür zu. »Wenn es gefällig ist?« Er wies auf einen Lehnsessel neben dem mit Papieren bedeckten Schreibtische, nahm selbst auf einer Art von Präsidentensitz Platz, rieb sich die kleinen Hände, deren kurze Finger mit weißen Haaren bewachsen waren, und neigte den Kopf auf die Seite. Aber kaum war er in dieser Haltung zur Ruhe gekommen, als über dem Tische eine Motte vorbeiflog. Mit einer Geschwindigkeit, die man gar nicht von ihm hätte erwarten können, machte der Rechtsanwalt die Arme auseinander, fing die Motte und nahm wieder seine frühere Haltung ein.
»Bevor ich anfange, meine Angelegenheit darzulegen«, begann Alexei Alexandrowitsch, der erstaunt die Bewegungen des Rechtsanwaltes mit den Augen verfolgt hatte, »muß ich bemerken, daß die Angelegenheit, über die ich mit Ihnen sprechen möchte, Geheimnis bleiben muß.«
Ein kaum merkbares Lächeln ließ den rötlichen, herabhängenden Schnurrbart des Rechtsanwaltes ein wenig auseinandergehen.
[167] »Ich wäre kein Rechtsanwalt, wenn ich nicht imstande wäre, die mir anvertrauten Geheimnisse zu bewahren. Aber wenn Sie die ausdrückliche Versicherung wünschen ...«
Alexei Alexandrowitsch blickte ihm ins Gesicht und sah, daß die klugen grauen Augen lachten; sie machten den Eindruck, als hätten sie schon alles durchschaut.
»Sie kennen meinen Namen?« fuhr Alexei Alexandrowitsch fort.
»Ich kenne Sie und Ihre verdienstvolle (wieder fing er eine Motte) Tätigkeit wie jeder Russe«, versetzte der Rechtsanwalt mit einer Verbeugung.
Aufseufzend nahm Alexei Alexandrowitsch seinen Mut zusammen. Aber da er sich nun einmal dazu entschlossen hatte, fuhr er mit seiner dünnen, schrillen Stimme fort, ohne Verlegenheit, ohne zu stocken, mit besonderer Betonung einzelner Worte.
»Ich habe das Unglück«, begann er, »ein betrogener Ehemann zu sein, und wünsche die Beziehungen zu meiner Frau in gesetzlicher Form zu lösen, das heißt, mich von ihr scheiden zu lassen, aber so, daß der Sohn nicht der Mutter verbleibt.«
Die grauen Augen des Rechtsanwaltes bemühten sich, nicht zu lachen; aber sie hüpften förmlich in unhemmbarer Freude, und Alexei Alexandrowitsch sah, daß dies nicht etwa nur die Freude darüber war, einen gewinnbringenden Auftrag zu erhalten; nein, das war ein Triumphieren, ein Frohlocken, ein Aufleuchten, ähnlich jenem häßlichen Aufleuchten, das er manchmal in den Augen seiner Frau gesehen hatte.
»Sie wünschen meine Mitwirkung zur Durchführung der Ehescheidung?«
»Ja, ganz richtig; nur muß ich vorher bemerken, daß ich Ihre Aufmerksamkeit vielleicht unnötigerweise in Anspruch nehme. Ich bin heute nur gekommen, um mir vorläufig Ihren Rat zu erbitten. Ich wünsche die Scheidung; aber für mich sind die Formen von Wichtigkeit, unter denen die Scheidung sich bewerkstelligen läßt. Es ist sehr wohl möglich, daß, wenn diese Formen meinen Wünschen nicht entsprechen sollten, ich von dem Rechtswege Abstand nehme.«
»Oh, das ist immer so«, erwiderte der Rechtsanwalt. »Das steht dann ganz in Ihrem Belieben.«
Der Rechtsanwalt richtete seine Blicke nach unten, auf Alexei Alexandrowitschs Füße, da er wohl die Empfindung hatte, daß der Anblick seiner unbezwingbaren Freude seinen Klienten verletzen könne. Er bemerkte eine Motte, die vor seiner Nase vorbeiflog, und zuckte schon mit der Hand; aber aus achtungsvoller Rücksicht auf Alexei Alexandrowitschs Lage fing er sie nicht.
[168] »Obgleich mir unsere gesetzlichen Bestimmungen über diesen Gegenstand in den Hauptzügen bekannt sind«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort, »so würde ich doch wünschen, die Formen genauer kennenzulernen, in denen derartige Angelegenheiten in der Praxis erledigt werden.«
»Sie wünschen also«, antwortete, ohne die Augen zu erheben, der Rechtsanwalt, dem es Vergnügen machte, auf den Ton seines Klienten einzugehen, »daß ich Ihnen die Wege darlege, auf denen die Erfüllung Ihres Wunsches möglich ist?«
Und auf Alexei Alexandrowitschs bejahendes Kopfnicken fuhr er fort, indem er nur ab und zu einen flüchtigen Blick auf dessen Gesicht richtete, das sich mit roten Flecken bedeckt hatte.
»Nach unseren Gesetzen«, begann er, und in seinem Tone lag eine leise Andeutung, daß er diese unsere Gesetze nicht billige, »ist eine Ehescheidung, wie Ihnen bekannt sein wird, in folgenden Fällen möglich ... Warten!« rief er dem Schreiber zu, der den Kopf durch die Tür hereinsteckte, stand aber trotzdem auf, sagte ein paar Worte zu ihm und setzte sich dann wieder hin. »In folgenden Fällen: körperliche Mängel der Ehegatten, ferner fünfjährige Abwesenheit ohne Benachrichtigung«, sagte er und bog einen seiner kurzen, mit Haaren bewachsenen Finger ein, »ferner Ehebruch« (dieses Wort sprach er mit sichtlichem Vergnügen aus). »Die Unterabteilungen sind folgende (er fuhr fort, seine dicken Finger einzubiegen, obgleich die Fälle offenbar nicht mit ihren Unterabteilungen wie Bestandteile derselben Klasse zusammengezählt werden konnten): körperliche Mängel des Mannes oder körperliche Mängel der Frau, ferner Ehebruch des Mannes oder Ehebruch der Frau.« Da er nun alle Finger verbraucht hatte, so bog er sie alle wieder gerade und fuhr fort: »Das ist die theoretische Anschauung; aber ich nehme an, daß Sie mir die Ehre, sich an mich zu wenden, deswegen erwiesen haben, um die praktische Anwendung kennenzulernen. Und daher muß ich Ihnen auf Grund meiner Kenntnis früherer Prozesse mitteilen, daß alle Fälle von Ehescheidungen auf folgende Vorbedingungen zurückzuführen sind: – körperliche Mängel kommen ja doch, soweit ich verstanden habe, nicht in Frage? Und ebensowenig Abwesenheit ohne Benachrichtigung?«
Alexei Alexandrowitsch neigte bestätigend den Kopf.
»... auf folgende Vorbedingungen zurückzuführen sind: Ehebruch eines der Gatten und Überführung des schuldigen Teiles auf Grund beiderseitiger Übereinkunft und zweitens in Ermangelung einer solchen Übereinkunft die zwangsweise Überführung. Ich muß dazu bemerken, daß dieser Fall in der Praxis nur selten vorkommt«, sagte der Rechtsanwalt, warf einen flüchtigen [169] Blick auf Alexei Alexandrowitsch und schwieg dann, wie ein Pistolenhändler, der die Vorzüge der einen und der anderen Waffe auseinandergesetzt hat und nun abwartet, welche der Käufer wählen wird. Aber Alexei Alexandrowitsch schwieg, und daher fuhr der Rechtsanwalt fort: »Das Gewöhnlichste, Einfachste und Vernünftigste ist nach meinem Urteile Ehebruch auf Grund beiderseitiger Übereinkunft. Ich würde mir nicht erlauben, mich in dieser Weise auszudrücken, wenn ich mit einem Mann von geringer geistiger Entwickelung spräche; aber ich nehme an, daß Ihnen das Gesagte verständlich ist.«
Alexei Alexandrowitsch war jedoch derart verstört, daß er die Vernünftigkeit des Ehebruchs auf Grund beiderseitiger Übereinkunft nicht sogleich zu verstehen vermochte, und diese Verständnislosigkeit gab sich in seinem Blicke zu erkennen; aber der Rechtsanwalt kam ihm sofort zu Hilfe:
»Die betreffenden Ehegatten können nicht mehr miteinander leben; das ist die zugrunde liegende Tatsache. Und wenn über diese Tatsache beide einverstanden sind, werden die Einzelheiten und Formfragen gleichgültig. Zugleich ist dies das einfachste und zuverlässigste Mittel.«
Alexei Alexandrowitsch hatte die Sache jetzt völlig verstanden. Aber er hatte gewisse religiöse Bedenken, die ihm die Anwendung dieses Mittels unmöglich machten.
»Das kommt im vorliegenden Falle nicht in Frage«, erwiderte er. »Hier ist nur eine Möglichkeit: die zwangsweise Überführung mit Hilfe der in meinen Händen befindlichen Briefe.«
Bei der Erwähnung der Briefe preßte der Rechtsanwalt die Lippen zusammen und ließ einen dünnen, hohen Ton vernehmen, der Mitleid und Geringschätzung ausdrückte.
»Ziehen Sie, bitte, folgendes in Erwägung«, begann er. »Derartige Prozesse werden, wie Ihnen bekannt sein wird, von der geistlichen Behörde entschieden; die verehrlichen Protopopen legen aber in solchen Dingen mit einer besonderen Liebhaberei Wert auf die kleinlichsten Einzelheiten.« Er sagte das mit einem Lächeln, das zeigte, daß er diesen Geschmack der Protopopen teilte. »Briefe können ja ohne Zweifel bis zu einem gewissen Grade als Bestätigung dienen; aber die Beweise müssen auf geradem Wege erbracht werden, das heißt durch Zeugen. Überhaupt aber, wenn Sie mir die Ehre erweisen, mich Ihres Vertrauens zu würdigen, so überlassen Sie, bitte, es mir, die anzuwendenden Mittel auszuwählen. Wer den Erfolg will, muß sich auch die Mittel gefallen lassen.«
»Wenn es so ist ...«, begann Alexei Alexandrowitsch, der plötzlich ganz blaß geworden war; aber in diesem Augenblicke [170] stand der Rechtsanwalt auf und ging wieder nach der Tür zu dem Schreiber hin, der von neuem das Gespräch unterbrochen hatte.
»Sagen Sie ihr, daß wir hier keine billige Schundware führen!« sagte er und kehrte wieder zu Alexei Alexandrowitsch zurück.
Während er sich wieder auf seinen Platz begab, fing er unvermerkt noch eine Motte. ›Mein Rips wird im Sommer gut aussehen!‹ dachte er stirnrunzelnd.
»Also Sie beliebten zu sagen ...«, wandte er sich fragend an seinen Klienten.
»Ich werde Ihnen meinen Entschluß brieflich mitteilen«, antwortete Alexei Alexandrowitsch, stand auf und faßte nach dem Tische. Nachdem er eine kleine Weile schweigend dagestanden hatte, sagte er: »Aus Ihren Worten kann ich somit schließen, daß es möglich ist, die Scheidung durchzusetzen. Ich möchte Sie bitten, mir auch noch mitzuteilen, welches Ihre Bedingungen sind.«
»Es ist durchaus möglich, wenn Sie mir volle Handlungsfreiheit lassen«, erwiderte der Rechtsanwalt, ohne auf die Frage zu antworten. »Wann kann ich darauf rechnen, von Ihnen Nachricht zu erhalten?« fragte er, indem er mit zur Tür kam; seine Augen glänzten nicht minder als seine Lackstiefel.
»In einer Woche. Und Sie werden dann die Güte haben, mir Ihre Antwort zukommen zu lassen, ob Sie meine Vertretung in dieser Angelegenheit übernehmen wollen und unter welchen Bedingungen.«
»Sehr wohl.«
Der Rechtsanwalt verbeugte sich achtungsvoll, ließ seinen Klienten aus der Tür und überließ sich dann, als er allein geblieben war, seiner freudigen Stimmung. Er war so vergnügt, daß er ganz gegen seine sonstigen Grundsätze der Dame, die von der Gebühr etwas abhandeln wollte, wirklich etwas abließ und keine Motten mehr fing, da er fest beschloß, im nächsten Winter seine Möbel mit Samt beziehen zu lassen, so wie es bei seinem Kollegen Sigonin war.
Alexei Alexandrowitsch hatte am 17. August in der Kommissionssitzung einen glänzenden Sieg davongetragen; aber die Folgen dieses Sieges wurden ihm sehr nachteilig. Die neue Kommission zur allseitigen Untersuchung des Zustandes der Fremdvölker war auf Alexei Alexandrowitschs Betreiben mit außerordentlicher [171] Schnelligkeit und Energie gebildet und an Ort und Stelle abgeschickt worden. Nach drei Monaten ging der Bericht ein. Der Zustand der Fremdvölker war in politischer, administrativer, ökonomischer, ethnographischer, materieller und religiöser Hinsicht untersucht worden. Für alle Fragen lagen Antworten in vortrefflicher Ausarbeitung vor, und zwar Antworten, die keinem Zweifel unterlagen, weil sie eben nicht ein Ergebnis des stets dem Irrtum ausgesetzten menschlichen Denkens, sondern sämtlich ein Ergebnis dienstlicher Tätigkeit waren. Alle diese Antworten waren die Ergebnisse amtlicher Feststellungen, der Berichte der Gouverneure und Bischöfe, die auf den Berichten der Kreisbehörden und Pröpste beruhten, die ihrerseits sich wieder auf die Berichte der Gemeindevorsteher und Pfarrgeistlichen stützten, und daher konnte sich an all diese Antworten kein Zweifel heranwagen. Alle jene Fragen, zum Beispiel, weshalb mitunter Mißernten vorkommen, warum die Einwohner an ihren religiösen Überzeugungen festhalten, Fragen, die ohne die angenehme Beihilfe der amtlichen Maschine jahrhundertelang ungelöst geblieben waren und ohne diese Beihilfe überhaupt nicht gelöst werden konnten, diese Fragen erhielten hier eine klare, über jeden Zweifel erhabene Lösung. Und diese Lösung war zugunsten von Alexei Alexandrowitschs Ansicht ausgefallen. Aber Stremow, der sich in der letzten Sitzung an einem wunden Punkte berührt gefühlt hatte, wandte beim Eintreffen der Kommissionsberichte eine Taktik an, auf die Alexei Alexandrowitsch nicht gefaßt gewesen war. Nachdem er sich nämlich für seinen Plan des Beistandes einiger anderer Mitglieder versichert hatte, ging er plötzlich auf Alexei Alexandrowitschs Seite über und befürwortete nicht nur mit großer Wärme die Einführung der von diesem vorgeschlagenen Maßregeln, sondern schlug auch noch in demselben Geiste weitere, über das Ziel hinausschießende Maßregeln vor. Diese Maßregeln, eine Übertreibung des Grundgedankens Alexei Alexandrowitschs, wurden angenommen, und nun wurde der Zweck, den Stremow mit seiner Taktik verfolgt hatte, verständlich. Diese auf die Spitze getriebenen Maßnahmen erwiesen sich sehr schnell als so töricht, daß gleichzeitig hohe Staatsmänner und die öffentliche Meinung und kluge Damen und die Zeitungen alle zusammen über diese Maßregeln herfielen und ihrer Entrüstung sowohl über diese Maßregeln selbst wie auch über Alexei Alexandrowitsch, der als deren Vater galt, lebhaften Ausdruck gaben. Stremow trat nun sachte zur Seite und stellte sich, als habe er sich nur blindlings Karenins Plänen angeschlossen und sei nun selbst erstaunt und bestürzt über das, was dabei herausgekommen sei. Dadurch wurde Alexei [172] Alexandrowitsch sehr in Nachteil gebracht. Aber trotz seiner angegriffenen Gesundheit, trotz seiner häuslichen Kümmernisse ergab er sich nicht. Innerhalb der Kommission trat eine Spaltung ein. Manche Mitglieder, mit Stremow an der Spitze, entschuldigten ihren Irrtum damit, daß sie sagten, sie hätten der von Alexei Alexandrowitsch ins Leben gerufenen Revisionskommission, die den Bericht erstattet habe, Glauben geschenkt; aber der Bericht dieser Kommission sei lauter dummes Zeug und nur unnütz vollgeschriebenes Papier. Alexei Alexandrowitsch und mit ihm die Partei derer, die das Gefährliche eines derartigen umstürzlerischen Verhaltens amtlichen Schriftstücken gegenüber erkannten, verharrten in ihrer Stellung als Verteidiger der von der Revisionskommission beschafften Unterlagen. Infolgedessen gerieten in den höheren und selbst in den besseren gesellschaftlichen Kreisen die Ansichten vollständig in Verwirrung, und obwohl alle sich auf das lebhafteste dafür interessierten, so konnte doch niemand zu einer klaren Anschauung gelangen, ob nun die Fremdvölker wirklich in Not und Elend versunken seien und dem Untergange entgegengingen oder sich im blühendsten Zustande befänden. Alexei Alexandrowitschs Stellung wurde hierdurch und zum Teil auch durch die Mißachtung, welche die Untreue seiner Frau über ihn gebracht hatte, stark erschüttert. In dieser Lage faßte Alexei Alexandrowitsch einen hochbedeutsamen Entschluß. Zum größten Erstaunen der Kommission erklärte er, er werde um die Genehmigung einkommen, sich zur Untersuchung der Sache selbst an Ort und Stelle begeben zu dürfen. Und nachdem Alexei Alexandrowitsch diese Genehmigung erhalten hatte, machte er sich auf die Reise nach den fernen Gouvernements.
Seine Abreise erregte viel Aufsehen, um so mehr, da er im Augenblicke der Abfahrt in amtlicher Form mit einem Begleitschreiben die Reisegelder zurückgereicht hatte, die ihm für zwölf Pferde zur Fahrt bis nach dem Bestimmungsorte ausgezahlt worden waren.
»Ich finde, das ist sehr vornehm von ihm gedacht«, sagte mit Bezug darauf Betsy zur Fürstin Mjachkaja. »Wozu werden denn Gelder für Postpferde gezahlt, während doch jeder Mensch weiß, daß es jetzt überall Eisenbahnen gibt?«
Aber die Fürstin Mjachkaja war anderer Ansicht und geriet über die Meinung der Fürstin Twerskaja sogar in Entrüstung.
»Sie haben gut reden«, eiferte sie, »wo Sie, ich weiß nicht wie viele, Millionen besitzen. Aber ich für meine Person habe es sehr gern, wenn mein Mann im Sommer auf Revisionsreisen fährt. So ein bißchen umherzufahren ist ihm gesund und macht ihm [173] Vergnügen; und es ist bei uns schon so herkömmlich, daß ich mir für das Geld, das er dabei spart, einen Wagen und einen Kutscher halte.«
Auf seiner Reise nach den fernen Gouvernements nahm Alexei Alexandrowitsch in Moskau drei Tage Aufenthalt.
Am Tage nach seiner Ankunft fuhr er zum Generalgouverneur, um ihm einen Besuch zu machen. An der Kreuzung bei der Gasetnü-Gasse, wo stets ein großes Gedränge von Kutschen und Droschken ist, hörte Alexei Alexandrowitsch auf einmal seinen Namen von einer so lauten, fröhlichen Stimme rufen, daß er nicht umhinkonnte, sich umzusehen. An der Ecke des Fußsteigs stand in einem kurzen, modernen Überzieher, den niedrigen, modernen Hut schief auf dem Kopfe, mit einem lustigen Lächeln, das die weißen Zähne zwischen den roten Lippen sichtbar werden ließ, vergnügt, jugendfrisch und strahlend Stepan Arkadjewitsch, der ihn energisch anrief und dringend zum Anhalten aufforderte. Mit der einen Hand hielt er das Fenster einer an der Ecke haltenden Kutsche angefaßt, aus der ein Frauenkopf unter einem Samthute und zwei Kinderköpfchen herausschauten, und mit der andern Hand winkte er seinem Schwager lächelnd zu. Auch die Dame lächelte herzlich und freundlich und winkte gleichfalls mit der Hand nach Alexei Alexandrowitsch hin. Es war Dolly mit ihren Kindern.
Alexei Alexandrowitsch hatte in Moskau mit niemandem in Berührung kommen wollen, und am allerwenigsten mit dem Bruder seiner Frau. Er lüftete den Hut und wollte weiterfahren; aber Stepan Arkadjewitsch befahl dem Kutscher seines Schwagers zu halten und lief durch den Schnee hindurch zu diesem hin.
»Na, schäme dich was, daß du mich gar nichts hast wissen lassen! Bist du schon lange hier? Ich war gestern bei Dussot und las auf dem Fremdenbrett ›Karenin‹; aber es kam mir gar nicht in den Sinn, daß du das wärest!« sagt Stepan Arkadjewitsch, den Kopf durch das Wagenfenster hereinsteckend. »Sonst hätte ich dich aufgesucht. Wie freue ich mich, dich wiederzusehen!« Er schlug mit einem Fuße gegen den andern, um den Schnee von ihnen abzuklopfen. »Schäme dich, daß du uns von deinem Hiersein nichts mitgeteilt hast!« sagte er noch einmal.
»Ich hatte keine Zeit; ich bin sehr beschäftigt«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch in trockenem Tone.
»Komm doch mit hin zu meiner Frau; sie wünscht so sehr, dich zu sprechen.«
Alexei Alexandrowitsch wickelte das Reisetuch ab, in das er seine gegen Kälte empfindlichen Beine eingewickelt hatte, stieg [174] aus dem Wagen und arbeitete sich durch den tiefen Schnee zu Darja Alexandrowna hindurch.
»Aber was stellt das vor, Alexei Alexandrowitsch? Warum lassen Sie uns so links liegen?« fragte Dolly lächelnd.
»Ich bin sehr beschäftigt gewesen. Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen«, sagte er in einem Tone, aus dem man deutlich heraushörte, wie verdrießlich er über diese Begegnung war. »Wie ist Ihr Befinden?«
»Nun, und wie geht es meiner lieben Anna?«
Alexei Alexandrowitsch murmelte irgend etwas und wollte sich wieder entfernen. Aber Stepan Arkadjewitsch hielt ihn zurück.
»Hör mal, was wir morgen tun wollen! Dolly, lade ihn doch zum Mittagessen ein! Wir laden dann noch Kosnüschew und Peszow dazu, um ihm die Spitzen unserer Moskauer Intelligenz vorzustellen.«
»Also bitte, kommen Sie ja!« sagte Dolly. »Wir werden Sie um fünf Uhr erwarten oder, wenn Sie wollen, um sechs Uhr. Nun, wie geht es meiner lieben Anna? Wie lange ...«
»Sie ist gesund«, brummte Alexei Alexandrowitsch mit mürrischem Gesichte. »Es ist mir eine große Freude gewesen!« Damit ging er wieder zu seinem Wagen hin.
»Sie kommen also doch?« rief Dolly ihm nach.
Alexei Alexandrowitsch antwortete etwas, was Dolly vor dem Lärm der vorbeifahrenden Wagen nicht verstehen konnte.
»Ich komme morgen zu dir!« rief ihm Stepan Arkadjewitsch noch zu.
Alexei Alexandrowitsch setzte sich in seinen Wagen und lehnte sich so tief in eine Ecke, daß er niemand sah und von niemand gesehen wurde.
»Ein wunderlicher Geselle!« sagte Stepan Arkadjewitsch zu seiner Frau; dann sah er nach der Uhr, machte vor seinem Gesichte mit der Hand eine Bewegung, die eine Liebkosung für seine Frau und für die Kinder bedeutete, und schritt mit jugendlichem Gange auf dem Fußweg dahin.
»Stiwa! Stiwa!« rief ihm Dolly errötend nach.
Er wendete sich um.
»Ich muß ja für Grigori und Tanja Mäntel kaufen. Gib mir doch Geld!«
»Ach, das macht nichts; sage nur, ich würde es bezahlen!« Er nickte noch einem vorbeifahrenden Bekannten vergnügt zu und war verschwunden.
Der folgende Tag war ein Sonntag. Stepan Arkadjewitsch fuhr nach dem Großen Theater zur Ballettprobe, überreichte dem Fräulein Mascha Tschibisowa, einer hübschen, dank seiner Fürsprache soeben angestellten Tänzerin, den Korallenschmuck, den er ihr am Abend vorher versprochen hatte, und machte es möglich, hinter den Kulissen in der Dunkelheit, die bei Tage in Theatern zu herrschen pflegt, ihr hübsches, vor Freude über das Geschenk strahlendes Gesichtchen zu küssen. Abgesehen von der Einhändigung des Korallenschmucks wollte er auch noch mit ihr ein Stelldichein nach dem Ballett verabreden. Er teilte ihr mit, es sei ihm nicht möglich, zum Anfange des Balletts da zu sein, versprach aber, zum letzten Akte zu kommen und sie zum Abendessen mitzunehmen. Vom Theater fuhr Stepan Arkadjewitsch nach der Markthalle, suchte dort persönlich die Fische und den Spargel für das Mittagessen aus und war schon um zwölf Uhr bei Dussot, wo er drei Herren besuchen wollte, die glücklicherweise alle in diesem selben Hotel wohnten: erstens Ljewin, der unlängst aus dem Auslande zurückgekehrt war und sich nun ein Weilchen in Moskau aufhielt, zweitens seinen neuen Vorgesetzten, der eben erst dieses höhere Amt angetreten hatte und nun in Moskau eine Revision vornahm, und drittens seinen Schwager Karenin, um ihn unter allen Umständen zum Mittagessen mitzunehmen.
Stepan Arkadjewitsch war überhaupt ein Freund vom Essen; ganz besonderes Vergnügen aber machte es ihm, ein Essen zu geben, klein, aber fein, sowohl was die Speisen und Getränke wie auch was die Auswahl der Gäste anlangte. Das Programm des heutigen Mahles gefiel ihm außerordentlich: es sollte Barsche geben, die er lebend gekauft hatte, Spargel und, als etwas Besonderes, ein wundervolles, aber ganz einfaches Roastbeef; dazu die zugehörigen Weine; dies also würden die Speisen und Getränke sein. An Gästen sollten da sein Kitty und Ljewin und, damit das nicht zu auffällig aussähe, noch eine Cousine und der junge Schtscherbazki, und als Überraschung unter den Gästen Sergei Kosnüschew und Alexei Karenin. Sergei Kosnüschew war Moskauer und Philosoph, Alexei Karenin Petersburger und Praktiker. Dazu wollte er dann, außer seinem Schwiegervater und Herrn Turowzün, noch den bekannten sonderbaren Schwärmer Peszow einladen, einen Fortschrittler, eifrigen Redner, Musiker, Historiker und überaus liebenswürdigen fünfzigjährigen Jüngling; dieser sollte gleichsam die Sauce oder Garnierung zu Kosnüschew und Karenin vorstellen. Diese beiden [176] beabsichtigte Stepan Arkadjewitsch ein bißchen aufzureizen und aneinanderzuhetzen.
Die zweite Rate des Kaufpreises für den Wald hatte er von dem Händler erhalten und noch nicht verausgabt; Dolly war in der letzten Zeit sehr lieb und gut gewesen, und der Gedanke an dieses Mahl machte Stepan Arkadjewitsch in jeder Hinsicht viel Freude. So befand er sich denn in der fröhlichsten Stimmung. Zwei Umstände waren allerdings einigermaßen unerfreulich; aber diese beiden Umstände gingen unter in dem Meere gutmütiger Fröhlichkeit, das in Stepan Arkadjewitschs Seele wogte und wallte. Die beiden Umstände waren folgende. Erstens war ihm tags zuvor, als er Alexei Alexandrowitsch auf der Straße getroffen hatte, dessen kühles, trockenes Benehmen ihm gegenüber aufgefallen; und wenn er diesen Gesichtsausdruck Alexei Alexandrowitschs sowie den Umstand, daß dieser ihn nicht besucht und ihm von seiner Anwesenheit keine Mitteilung gemacht hatte, mit den Gerüchten zusammenhielt, die ihm über Anna und Wronski zu Ohren gekommen waren, so mußte er auf die Vermutung kommen, daß dort zwischen Mann und Frau nicht alles in Ordnung sei.
Das war die eine Unannehmlichkeit. Die andere kleine Unannehmlichkeit war die, daß der neue Vorgesetzte, wie alle neuen Vorgesetzten, bereits in dem Rufe eines schrecklichen Menschen stand, der früh um sechs aufstehe, wie ein Pferd arbeite und ein gleiches Arbeitsquantum auch von seinen Untergebenen verlange. Außerdem hieß es noch von diesem Vorgesetzten, er sei im Umgange ein wahrer Bär, und den Gerüchten zufolge gehörte er einer Richtung an, die der völlig entgegengesetzt war, die der frühere Vorgesetzte und bisher Stepan Arkadjewitsch selbst angehört hatten. Gestern hatte sich Stepan Arkadjewitsch ihm dienstlich in Uniform vorgestellt, und der neue Vorgesetzte war sehr liebenswürdig gewesen und hatte sich mit ihm wie mit einem guten Bekannten unterhalten; daher hielt es Stepan Arkadjewitsch für seine Pflicht, ihm nun einen Besuch im Oberrock zu machen. Der Gedanke, daß der neue Vorgesetzte ihn vielleicht unfreundlich empfangen werde, war der zweite unangenehme Umstand. Aber Stepan Arkadjewitsch hatte das unwillkürliche Gefühl, das werde sich alles schon ganz vortrefflich »einrenken«. ›Wir sind ja alle Menschen und sind allzumal Sünder; wozu soll man sich da übereinander ärgern und sich miteinander zanken?‹ dachte er, als er in das Hotel hineinging.
»Guten Tag, Wasili«, sagte er, als er, mit schief aufgesetztem Hute den Seitengang entlanggehend, einen ihm bekannten [177] Kellner traf. »Du hast dir ja einen Backenbart stehenlassen. Herr Ljewin wohnt in Nummer sieben, nicht wahr? Bitte, führe mich hin! Und dann erkundige dich, ob Graf Anitschkin (das war der neue Vorgesetzte) Besuch annimmt.«
»Zu Befehl!« antwortete Wasili lächelnd. »Sie haben uns lange nicht die Ehre gegeben.«
»Ich war gestern hier; aber ich bin durch das andere Tor gekommen. Das ist Nummer sieben?«
Ljewin stand mit einem Bauern aus Twer mitten im Zimmer und maß mit einer Elle ein frisch abgezogenes Bärenfell aus, als Stepan Arkadjewitsch eintrat.
»Ah, habt ihr den geschossen?« rief Stepan Arkadjewitsch. »Ein prächtiges Stück! Wohl eine Bärin? Guten Tag, Archip!«
Er drückte dem Bauern die Hand und setzte sich, ohne Überzieher und Hut abzulegen, auf einen Stuhl.
»Aber so lege doch ab und bleib ein Weilchen hier!« sagte Ljewin, indem er ihm den Hut vom Kopfe nahm.
»Nein, ich habe keine Zeit; ich bin nur auf eine Sekunde hergekommen«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. Er schlug den Überzieher nur auseinander; nachher aber zog er ihn doch aus, blieb eine ganze Stunde da und unterhielt sich mit Ljewin über die Jagd und über seine eigenen geheimsten Herzensangelegenheiten. »Nun sage doch mal, was hast du denn im Auslande gemacht? Wo bist du eigentlich gewesen?« fragte er; der Bauer war inzwischen weggegangen.
»Ich bin in Deutschland, in Preußen, in Frankreich und in England gewesen, aber nicht in den Hauptstädten, sondern in den Fabrikorten, und habe viel Neues gesehen. Ich freue mich, daß ich dagewesen bin.«
»Ja, ich kenne deine Pläne über die Organisation der Arbeiter.«
»Darum handelt es sich ganz und gar nicht; in Rußland kann es keine Arbeiterfrage geben. In Rußland dreht sich die Frage nur um das Verhältnis der arbeitenden Bevölkerung zum Grund und Boden. Diese Frage besteht ja auch dort; aber dort handelt es sich um eine Besserung verdorbener Verhältnisse; bei uns hingegen ...«
Stepan Arkadjewitsch hörte ihm aufmerksam zu.
»Ja, ja«, sagte er. »Sehr möglich, daß du recht hast. Aber ich freue mich, daß du so munter und unternehmungslustig bist: du fährst auf die Bärenjagd und arbeitest und bist mit Leib und Seele bei dem, was du vorhast. Und da hat mir der junge Schtscherbazki gesagt (der hat dich ja getroffen), du wärest in gedrückter Stimmung und redetest immer nur vom Tode ...«
[178] »Nun ja, ich denke auch fortwährend an den Tod«, versetzte Ljewin. »Es ist wahr, daß uns der Tod nahe ist und daß das ganze Treiben hier Torheit ist. Ich muß dir aufrichtig sagen: ich lege ja auf meine Pläne und auf meine Arbeit einen hohen Wert; aber wenn man's ernsthaft überlegt, so ist doch diese unsere ganze Menschenwelt nur so eine Art Schimmelüberzug, der sich auf einem kleinwinzigen Planeten gebildet hat. Und da bilden wir uns ein, es könne bei uns etwas Großes geben, große Pläne, große Taten! All das sind nur Sandkörnchen.«
»Brüderchen, diese Erkenntnis ist so alt wie die Welt.«
»Gewiß; aber weißt du, wenn man das so recht klar erfaßt hat, so erscheint einem auf einmal alles so klein und nichtig. Wenn man einsieht, daß man bald sterben muß und nichts von einem übrigbleibt, dann kommt einem alles so klein und nichtig vor! Ich halte ja meine Pläne für etwas sehr Wichtiges; aber es stellt sich dann doch heraus, daß sie, selbst wenn ich sie durchführen könnte, etwas ebenso Geringfügiges und Unbedeutendes sind wie die Einkreisung und Erlegung dieser Bärin. Und so verbringt man sein Leben, indem man sich durch Jagd und Arbeit zerstreut, um nur nicht an den Tod zu denken.«
Stepan Arkadjewitsch lächelte in einer feinen, freundlichen Weise, während er das mit anhörte.
»Na, selbstverständlich! Da bist du ja ganz meiner Meinung geworden; besinnst du dich noch, wie du über mich herfielst, weil ich eingestand, daß ich im Leben mir möglichst viel Genuß zu verschaffen suche? Also sei nicht so streng, du Moralprediger!«
»Nein, es gibt doch auch wahrhaft Gutes im Leben ...« Ljewin geriet in Verwirrung. »Aber ich weiß darüber nichts. Ich weiß nur, daß wir bald sterben werden.«
»Aber warum denn bald?«
»Und, weißt du, das Leben hat ja zwar weniger Reiz, wenn man an den Tod denkt, aber man wird doch ruhiger.«
»Im Gegenteil, zu guter Letzt wird es immer lustiger. Na, aber nun muß ich gehen«, sagte Stepan Arkadjewitsch und stand zum zehnten Male auf.
»Aber nein, so bleib doch noch ein bißchen hier!« bat Ljewin und hielt ihn fest. »Wann werden wir uns denn nun wiedersehen? Ich reise morgen ab.«
»Ich bin aber gut! Und bin besonders deshalb hergekommen! Du mußt unter allen Umständen heute zu uns zum Mittagessen kommen. Dein Bruder kommt auch, und auch mein Schwager Karenin kommt.«
»Ist er denn hier?« erwiderte Ljewin und wollte schon nach Kitty fragen. Er hatte gehört, daß sie zu Anfang des Winters in [179] Petersburg bei ihrer anderen Schwester, der Frau eines Diplomaten, zu Besuch gewesen war, wußte aber nicht, ob sie von dort schon zurückgekehrt sei oder nicht. Er besann sich jedoch eines andern und fragte nicht. ›Ob sie heute da ist oder nicht, mir kann es gleich sein‹, sagte er sich.
»Also du kommst?«
»Ja, natürlich.«
»Also um fünf Uhr, im Oberrock.«
Stepan Arkadjewitsch stand auf und ging ein Stockwerk tiefer zu seinem neuen Vorgesetzten. Sein Gefühl hatte ihn nicht betrogen. Der schreckliche neue Vorgesetzte erwies sich als ein sehr umgänglicher Mann; Stepan Arkadjewitsch frühstückte mit ihm und blieb dabei so lange sitzen, daß er erst zwischen drei und vier Uhr zu Alexei Alexandrowitsch kam.
Nachdem Alexei Alexandrowitsch vom Meßgottesdienste zurückgekehrt war, hatte er den ganzen Vormittag zu Hause zugebracht. An diesem Vormittage hatte er zweierlei zu tun. Erstens mußte er eine Abordnung der Fremdvölker, die sich nach Petersburg begeben wollte und sich augenblicklich in Moskau befand, empfangen und unterweisen; zweitens mußte er dem Rechtsanwalte den in Aussicht gestellten Brief schreiben. Obgleich die Abordnung auf Alexei Alexandrowitschs eigene Anregung hin nach Petersburg gerufen worden war, konnte ihre Ankunft dort doch mancherlei mißliche Folgen haben, ja sogar gefährlich werden, und Alexei Alexandrowitsch war sehr froh, daß er sie noch in Moskau angetroffen hatte. Die Mitglieder dieser Abordnung hatten nicht die geringste Vorstellung von der Rolle, die sie zu spielen, und von den Pflichten, die sie zu erfüllen hatten. Sie hatten die naive Anschauung, daß ihre ganze Aufgabe darin bestände, ihre Nöte und die wirkliche Lage der Dinge darzulegen und die Regierung um Hilfe zu bitten, und konnten ganz und gar nicht begreifen, daß einige ihrer Mitteilungen und Forderungen zur Unterstützung der feindlichen Partei dienen und somit die ganze Sache verderben würden. Alexei Alexandrowitsch mühte sich lange mit ihnen ab. Er schrieb ihnen für das, was sie sagen sollten, ein Programm auf, innerhalb dessen sie sich zu halten hatten, und schrieb, nachdem er die Leute entlassen hatte, noch einige Briefe nach Petersburg, um die Abordnung dort auf dem richtigen Wege zu halten. Eine sehr wesentliche Hilfe in dieser Angelegenheit erwartete er von der [180] Gräfin Lydia Iwanowna. Sie galt als Sachverständige in Abordnungsangelegenheiten, und niemand verstand es so gut wie sie, eine solche Sache ordentlich in Gang zu bringen und die Abgeordneten zweckmäßig zu führen. Nach Erledigung dieses Geschäftes schrieb Alexei Alexandrowitsch auch noch den Brief an den Rechtsanwalt. Ohne auch nur im geringsten zu schwanken, gab er ihm Vollmacht, zu verfahren, wie er es für nützlich halten werde. In diesen Brief legte er drei Briefe Wronskis an Anna ein, die sich in der von ihm beschlagnahmten Briefmappe befunden hatten.
Seit Alexei Alexandrowitsch von zu Hause mit der Absicht weggereist war, nicht wieder zu seiner Frau zurückzukehren, und seit er den Besuch bei dem Rechtsanwalt gemacht und so wenigstens einem einzigen Menschen von seiner Absicht Mitteilung gemacht hatte und namentlich seit er diese Sache des wirklichen Lebens zu einer papiernen Aktensache gemacht hatte: seitdem fand er sich immer mehr und mehr in sein Vorhaben hinein und erkannte jetzt klar die Möglichkeit, es auszuführen.
Er war gerade dabei, den Brief an den Rechtsanwalt zuzusiegeln, als er Stepan Arkadjewitschs laut schallende Stimme hörte. Dieser stritt sich mit Alexei Alexandrowitschs Diener herum und bestand darauf, daß er ihn anmelden solle.
›Es ist ja doch ganz gleich‹, dachte Alexei Alexandrowitsch, ›oder vielleicht ist es sogar das beste: ich will ihn sofort von meinem Verhältnisse zu seiner Schwester in Kenntnis setzen und ihm auf diese Weise klarmachen, warum ich nicht bei ihm speisen kann.‹
»Ich lasse bitten!« rief er laut, indem er die Papiere zusammenfaßte und in seine Schreibmappe legte.
»Na, da siehst du ja, daß du mir etwas vorschwindelst und er doch zu Hause ist!« hörte er nun Stepan Arkadjewitsch zu dem Diener sagen, der ihn nicht hatte hineinlassen wollen, und im Gehen den Überzieher ausziehend, trat Oblonski ins Zimmer. »Na, ich freue mich sehr, daß ich dich zu Hause getroffen habe. Also ich hoffe ...«, begann Stepan Arkadjewitsch in munterem Tone.
»Es ist mir unmöglich zu kommen«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch, der selbst stand und auch den Besucher nicht zum Sitzen aufforderte.
Alexei Alexandrowitsch gedachte sofort das kühle Verhältnis in Kraft treten zu lassen, in dem er mit dem Bruder seiner Frau, gegen die er die Scheidungsklage einleitete, künftig werde stehen müssen; aber er hatte nicht mit jenem Meere von Gutmütigkeit gerechnet, das in Stepan Arkadjewitschs Seele über alle Ufer trat.
[181] Stepan Arkadjewitsch öffnete weit seine klaren, glänzenden Augen.
»Warum kannst du nicht kommen? Was willst du eigentlich damit sagen?« fragte er in höchstem Erstaunen auf französisch. »Nein, du hast es nun doch einmal schon versprochen. Und wir alle rechnen bestimmt auf dein Kommen.«
»Ich will damit sagen, daß ich in Ihrem Hause nicht verkehren kann, weil ich die verwandtschaftlichen Beziehungen, die zwischen uns bestanden haben, abbrechen muß.«
»Aber wie denn? Wie meinst du denn das? Warum?« fragte Stepan Arkadjewitsch lächelnd.
»Weil ich gegen Ihre Schwester, meine Frau, die Scheidungsklage einleite. Ich habe mich dazu genötigt gesehen ...«
Aber Alexei Alexandrowitsch hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als Stepan Arkadjewitsch sich in einer Weise benahm, wie es jener ganz und gar nicht erwartet hatte. Er stöhnte auf und ließ sich in einen Lehnsessel sinken.
»Nein, Alexei Alexandrowitsch, was redest du da nur!« rief er mit einem Ausdrucke schmerzlicher Betrübnis auf dem Gesichte.
»Es ist so.«
»Nimm es mir nicht übel, aber ich kann das nicht glauben, kann es schlechterdings nicht glauben ...«
Alexei Alexandrowitsch setzte sich nun gleichfalls, da er fühlte, daß seine Worte nicht die Wirkung gehabt hatten, die er von ihnen erwartet hatte, und daß er nun eine nähere Erklärung werde geben müssen und daß, welches auch immer der Inhalt der Erklärung sein mochte, sein Verhältnis zu seinem Schwager dasselbe bleiben werde wie bisher.
»Ja, ich sehe mich in die traurige Notwendigkeit versetzt, die Scheidung zu verlangen«, sagte er.
»Ich möchte nur eins sagen, Alexei Alexandrowitsch. Ich kenne dich als einen vortrefflichen, gerechtigkeitsliebenden Menschen, und ich kenne Anna (verzeih mir, aber ich kann meine Meinung über sie nicht ändern) als eine prächtige, vortreffliche Frau, und darum, verzeih mir, vermag ich es nicht zu glauben. Hier liegt ein Mißverständnis vor«, sagte er.
»Ja, wenn es nur ein Mißverständnis wäre ...«
»Erlaube, ich verstehe«, unterbrach ihn Stepan Arkadjewitsch. »Aber natürlich ... Nur eins; keine Übereilung! Hier darf keine Übereilung stattfinden, um alles in der Welt nicht!«
»Ich habe mich nicht übereilt«, versetzte Alexei Alexandrowitsch kalt. »Aber in einer solchen Sache kann man niemand um Rat fragen. Ich bin fest entschlossen.«
[182] »Das ist furchtbar!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch mit einem schweren Seufzer. »Aber eins würde ich an deiner Stelle tun, Alexei Alexandrowitsch. Ich bitte dich inständig, tue das!« sagte er. »Die Sache ist noch nicht eingeleitet, wenn ich dich recht verstanden habe. Ehe du einen solchen Schritt tust, komm einmal zu meiner Frau, sprich mit ihr. Sie liebt Anna wie eine Schwester, und sie hat auch dich sehr gern, und sie ist eine bewundernswerte Frau. Um Gottes willen, sprich mit ihr! Tu mir die Liebe, ich bitte dich inständig!«
Alexei Alexandrowitsch überlegte schweigend, und Stepan Arkadjewitsch blickte ihn teilnahmsvoll an, ohne ihn darin zu stören.
»Willst du zu ihr kommen?« fragte er endlich.
»Ich bin mir noch nicht schlüssig. Dies ist auch der Grund, weshalb ich nicht zu Ihnen gekommen bin. Ich bin der Ansicht, daß unser Verhältnis sich jetzt ändern muß.«
»Aber warum denn? Das sehe ich nicht ein. Gestatte mir zu glauben, daß du, ganz abgesehen von unseren verwandtschaftlichen Beziehungen, mir gegenüber wenigstens bis zu einem gewissen Grade die freundschaftlichen Empfindungen hegst, die ich immer für dich gehegt habe ... Und eine aufrichtige Hochachtung«, fügte Stepan Arkadjewitsch noch hinzu, indem er ihm die Hand drückte. »Und selbst wenn deine schlimmsten Vermutungen zuträfen, so würde ich mich nie für berufen halten, über die eine oder die andere Partei den Stab zu brechen, und ich sehe keinen Grund, weshalb unser gegenseitiges Verhältnis sich ändern sollte. Aber jetzt tu, was ich sagte, und komm zu meiner Frau!«
»Nun, wir haben über die Sache eine verschiedene Anschauung«, versetzte Alexei Alexandrowitsch kühl. »Übrigens, wir wollen nicht weiter davon reden.«
»Und warum solltest du denn nicht wenigstens heute zu uns zum Essen kommen? Meine Frau erwartet dich. Bitte, komm! Und vor allen Dingen: Sprich mit ihr darüber. Sie ist eine bewundernswerte Frau. Ich bitte dich herzlich, auf den Knien bitte ich dich!«
»Wenn Sie es so sehr wünschen, so will ich kommen«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch seufzend.
Und in dem Wunsche, dem Gespräche eine andere Richtung zu geben, fragte er nach etwas, was sie beide interessierte: nach Stepan Arkadjewitschs neuem Vorgesetzten, einem noch ziemlich jungen Manne, der trotzdem auf einmal einen so hohen Posten erhalten hatte.
Alexei Alexandrowitsch hatte schon vorher den Grafen Anitschkin [183] nicht leiden können und sich immer in Meinungsverschiedenheiten mit ihm befunden; jetzt nun aber konnte er, wie das bei einem Beamten erklärlich ist, sich nicht erwehren, einen Menschen zu hassen, dem eine Beförderung zuteil geworden war, während er seinerseits im Dienste eine Niederlage erlitten hatte.
»Nun also, bist du schon mit ihm zusammengekommen?« fragte Alexei Alexandrowitsch mit boshaftem Lächeln.
»Gewiß; er war gestern bei uns in unserm Amt. Er scheint mir eine vortreffliche Geschäftskenntnis zu besitzen und sehr arbeitseifrig zu sein.«
»Ja, aber worauf richtet sich sein Arbeitseifer?« versetzte Alexei Alexandrowitsch. »Will er Neues schaffen oder nur an dem, was er fertig vorfindet, herumändern? Das ist das Unglück unseres Staates, diese papierne Verwaltungsmethode, deren würdiger Vertreter er ist.«
»Wirklich, ich weiß nicht, was an ihm auszusetzen wäre. Seine Richtung kenne ich noch nicht; aber das eine weiß ich: er ist ein sehr netter Kerl«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. »Ich war jetzt eben bei ihm, und wirklich, er ist ein sehr netter Kerl. Wir haben zusammen gefrühstückt, und ich habe ihm gezeigt, wie man ein schönes Getränk herstellt, aus Wein und Apfelsinen, du wirst es ja kennen. Es ist sehr erfrischend. Ganz erstaunlich, daß er es noch nicht kannte. Aber es schmeckte ihm sehr gut. Nein, wirklich, er ist ein prächtiger Mensch.«
Stepan Arkadjewitsch sah nach der Uhr.
»Ach, Herrgott, es geht schon auf fünf, und ich muß noch zu Dolgowuschin! Also bitte, komm zum Essen! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr du mich und meine Frau kränken würdest.«
Alexei Alexandrowitsch begleitete seinen Schwager hinaus und benahm sich hierbei schon ganz anders als beim Empfange.
»Da ich nun einmal zugesagt habe, so werde ich auch kommen«, antwortete er trübe.
»Sei überzeugt, daß ich es zu schätzen weiß, und ich hoffe, du wirst es nicht bereuen«, antwortete Stepan Arkadjewitsch lächelnd.
Als er im Gehen den Überzieher anzog, stieß er dabei unversehens mit der Hand den Diener gegen den Kopf, lachte laut auf und ging hinaus.
»Um fünf Uhr, bitte, und im Oberrock!« rief er noch einmal, indem er zur Tür zurückkehrte.
Es war bereits zwischen fünf und sechs Uhr, und einige Gäste waren schon anwesend, als auch der Hausherr selbst erschien. Er trat zugleich mit Sergei Iwanowitsch Kosnüschew und Peszow ein, die sich an der Haustür getroffen hatten. Dies waren die beiden Hauptvertreter der Moskauer Intelligenz, wie Oblonski sie zu nennen pflegte. Beide erfreuten sich sowohl wegen ihres Charakters wie auch wegen ihres Verstandes allgemeiner Achtung. Auch achteten sie sich gegenseitig; aber es bestanden in fast allen Dingen zwischen ihnen die stärksten Meinungsverschiedenheiten, deren Überbrückung ganz aussichtslos erschien, nicht etwa weil sie beide entgegengesetzten Richtungen angehört hätten, sondern gerade weil sie sich zwar zu einer und derselben Partei hielten (von ihren Feinden wurden sie beide in denselben Topf geworfen), innerhalb dieser Partei jedoch ein jeder von ihnen seine besondere Schattierung hatte. Und da nichts einer Einigung hinderlicher ist als eine Meinungsverschiedenheit in halb abstrakten Dingen, so fanden sie sich nicht nur niemals mit ihren Meinungen zusammen, sondern sie hatten sich auch schon längst gewöhnt, einer über des andern unverbesserliche Verirrungen einfach zu lachen, ohne sich weiter zu ärgern.
Sie traten gerade, in einem Gespräche über das Wetter begriffen, in den Salon, als Stepan Arkadjewitsch sie einholte. Im Salon saßen schon Fürst Alexander Dmitrijewitsch Schtscherbazki, der junge Schtscherbazki, Turowzün, Kitty und Karenin.
Stepan Arkadjewitsch sah auf den ersten Blick, daß die Sache hier im Salon, solange er noch nicht anwesend war, einen schlechten Lauf nahm. Darja Alexandrowna, in ihrem grauseidenen Staatskleide, war offenbar in großer Unruhe sowohl wegen der Kinder, die allein in der Kinderstube essen mußten, wie auch wegen des Ausbleibens ihres Mannes und hatte es nicht verstanden, ohne ihn diese Gesellschaft hübsch durcheinanderzurühren. Alle saßen sie da wie Popentöchter auf Besuch (wie sich der alte Fürst ausdrückte), augenscheinlich in verständnislosem Staunen darüber, weshalb man sie eigentlich hierher geladen habe, und drückten ein paar Worte heraus, um nicht ganz stumm zu sein. Der gutmütige Turowzün hatte offenbar das Gefühl, daß er sich hier in einem Kreise befinde, in den er nicht hineinpasse, und das Lächeln seiner dicken Lippen, mit dem er Stepan Arkadjewitsch begrüßte, besagte so deutlich, wie es Worte nur gekonnt hätten: ›Aber hör mal, Bruder, da hast du mich ja mit gelehrten Leuten zusammengebracht! Mein Geschmack [185] ist vielmehr: gehörig zu trinken und mich am Château des fleurs zu ergötzen!‹ Der alte Fürst saß schweigend da und warf manchmal mit seinen blitzenden kleinen Augen einen Blick zur Seite nach Karenin hin, und Stepan Arkadjewitsch merkte, daß er bereits irgendein Bonmot ersonnen hatte, um diesen hohen Staatsbeamten zu charakterisieren, der den eigens dazu eingeladenen Gästen wie ein feiner Sterlet vorgesetzt wurde. Kitty blickte nach der Tür und nahm alle ihre Kraft zusammen, um bei Konstantin Ljewins Eintritt nicht zu erröten. Der junge Schtscherbazki, der versehentlich Karenin nicht vorgestellt worden war, bemühte sich zu zeigen, daß ihn das in keiner Weise störe. Karenin selbst war, wie es in Petersburg bei einem Essen mit Damen Sitte ist, in Frack und weißer Binde, und Stepan Arkadjewitsch ersah an seinem Gesichte, daß er nur, um sein gegebenes Wort zu halten, gekommen sei und durch seine Anwesenheit in dieser Gesellschaft eine lästige Pflicht erfülle. Er war auch in erster Linie schuld an der eisigen Temperatur, die alle Gäste vor Stepan Arkadjewitschs Eintreffen in Erstarrung versetzt hatte.
Bei seinem Eintritt in den Salon bat Stepan Arkadjewitsch um Entschuldigung, erklärte, er sei von dem Fürsten N.N. (ein solcher Fürst diente ihm immer als Sündenbock, sooft er sich verspätete oder ganz ausblieb) aufgehalten worden, und brachte dann in einem Augenblick seine Gäste miteinander in Berührung. Er führte Alexei Alexandrowitsch und Sergei Kosnüschew zusammen und warf ihnen als Gesprächsthema die Russifizierung Polens hin, in die sie sich denn auch sogleich, ebenso wie Peszow, verbissen. Er klopfte Turowzün auf die Schulter, flüsterte ihm etwas Lächerliches zu und setzte ihn zu seiner Frau und dem Fürsten. Dann sprach er ein paar Worte mit Kitty darüber, daß sie heute besonders hübsch aussähe, und stellte den jungen Schtscherbazki Herrn Karenin vor. In einem Augenblick hatte er diese ganze Gesellschaft wie einen Teig derart durchgeknetet, daß der Salon einen sehr hübschen Anblick bot und die Stimmen munter und lebhaft durcheinanderklangen. Nur Konstantin Ljewin war noch nicht da. Aber das war ein wahres Glück; denn Stepan Arkadjewitsch hatte beim Betreten des Speisesaals zu seinem Schrecken bemerkt, daß der Portwein und der Sherry von Deprès und nicht von Löwe entnommen waren; er hatte darauf angeordnet, der Kutscher solle so schnell wie möglich zu Löwe geschickt werden, und wollte sich nun wieder in den Salon begeben.
Auf dem Seitengang traf er mit Konstantin Ljewin zusammen.
»Ich bin doch nicht zu spät gekommen?«
[186] »Als ob du überhaupt jemals pünktlich sein könntest!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch und faßte ihn unter den Arm.
»Hast du viele Gäste? Wer ist denn alles da?« fragte Ljewin mit unwillkürlichem Erröten und klopfte mit dem Handschuh den Schnee von seiner Mütze ab.
»Nur Familie und gute Bekannte. Kitty ist auch da. Komm nur, ich will dich mit Karenin bekannt machen.«
Stepan Arkadjewitsch war trotz seiner fortschrittlichen Gesinnung überzeugt, daß es einem jeden schmeichelhaft sein müsse, Karenins Bekanntschaft zu machen, und hatte deshalb seine besten Freunde mit diesem zusammen eingeladen. Aber augenblicklich war Ljewin außerstande, das Vergnügen dieser Bekanntschaft völlig zu würdigen. Er hatte Kitty nach jenem unauslöschlich in seinem Gedächtnisse haftenden Abende, an dem er mit Wronski zusammengetroffen war, nicht wiedergesehen, wenn er den kurzen Augenblick nicht rechnete, wo er sie auf der Landstraße erblickt hatte. In der Tiefe seines Herzens wußte er, daß er sie heute hier wiedersehen werde; aber um imstande zu sein, auch an anderes zu denken, hatte er versucht, sich einzureden, daß er es nicht wisse. Jetzt nun aber, wo er hörte, daß sie da sei, bemächtigte sich seiner eine solche Freude und zugleich eine solche Furcht, daß es ihm den Atem benahm und er das, was er sagen wollte, nicht herausbringen konnte.
›Wie wird sie sein? Wie wird sie sein? So, wie sie früher war, oder so, wie sie im Wagen war? Wie nun, wenn Darja Alexandrowna die Wahrheit gesagt hat? Und warum sollte es nicht die Wahrheit gewesen sein?‹ dachte er.
»Ach ja, bitte, stelle mich Herrn Karenin vor«, brachte er endlich mühsam heraus, trat mit dem Mute der Verzweiflung in den Salon und erblickte sie.
Sie war weder so wie früher noch so, wie sie im Wagen gewesen war; sie war eine ganz andere.
Sie war erschrocken, schüchtern, beschämt und dadurch noch reizender. Sie sah ihn sofort, als er ins Zimmer trat. Sie hatte auf sein Kommen gewartet. Sie freute sich über sein Kommen und wurde über ihre Freude so verlegen, daß es einen Augenblick, gerade als er zur Hausfrau herantrat und ihr wieder einen Blick zuwarf, ihr und ihm und Dolly, die alles beobachtete, schien, sie würde sich nicht beherrschen können und in Tränen ausbrechen. Sie errötete, erblaßte, errötete wieder und wurde dann ganz starr, nur ihre Lippen zuckten. So wartete sie auf seine Annäherung. Er trat zu ihr, verbeugte sich und streckte ihr schweigend die Hand hin. Wäre nicht das leise Zittern ihrer[187] Lippen gewesen und der feuchte Schimmer, der ihre Augen überzog und ihren Glanz noch erhöhte, so hätte ihr Lächeln beinahe ruhig und gleichmütig ausgesehen, als sie sagte:
»Wie lange wir uns nicht gesehen haben!« Und mit einem verzweifelten Entschlusse drückte sie mit ihrer kalten Hand die seinige.
»Sie haben mich nicht gesehen, aber ich habe Sie gesehen«, erwiderte Ljewin mit strahlendem, glückseligem Lächeln. »Ich habe Sie gesehen, als Sie von der Eisenbahn nach Jerguschowo fuhren.«
»Wann denn?« fragte sie erstaunt.
»Auf Ihrer Hinreise nach Jerguschowo«, antwortete Ljewin, und es war ihm, als ob der Strom des Glücks, der seine Seele überflutete, ihn ersticken müßte. ›Wie habe ich es nur wagen können‹, dachte er, ›mit diesem rührenden Wesen den Gedanken an irgendwelches Verschulden zu verknüpfen! Ja, was Darja Alexandrowna gesagt hat, scheint wirklich die Wahrheit zu sein.‹
Stepan Arkadjewitsch ergriff ihn bei der Hand und führte ihn zu Karenin.
»Gestattet, daß ich euch miteinander bekannt mache!« Er nannte beider Namen.
»Es ist mir sehr angenehm, Ihnen wieder zu begegnen«, sagte Alexei Alexandrowitsch kühl und reichte Ljewin die Hand.
»Ihr kennt euch schon?« fragte Stepan Arkadjewitsch verwundert.
»Wir haben drei Stunden lang zusammen im Eisenbahnwagen gesessen«, versetzte Ljewin lächelnd, »trennten uns aber wie bei einem Maskenball, sehr neugierig, wer wohl der andere sein möge; wenigstens war das bei mir der Fall.«
»Ei so etwas! Aber wenn ich bitten darf«, sagte Stepan Arkadjewitsch und wies mit der Hand in der Richtung nach dem Speisesaale.
Die Herren begaben sich in den Speisesaal und traten an den Tisch mit den kalten Vorspeisen heran; dort standen sechs Sorten Liköre und ebenso viele Sorten Käse, teils mit kleinen silbernen Schaufeln, teils ohne solche, ferner Kaviar, Hering, allerlei Konserven und mehrere Teller mit Scheiben von Weißbrot.
Die Herren standen um die duftenden Liköre und Vorspeisen herum, und das Gespräch über die Russifizierung Polens, das Sergei Iwanowitsch Kosnüschew, Karenin und Peszow führten, verstummte in Erwartung des nun nahe bevorstehenden Mittagessens.
[188] Sergei Iwanowitsch, der es wie kein anderer verstand, zum Zwecke der Beendigung des ernstesten Streites über die weltentrücktesten Gegenstände unerwartet etwas attisches Salz auszustreuen und dadurch die Stimmung der Streitenden zu verändern, befolgte diese Praxis auch jetzt.
Alexei Alexandrowitsch hatte zu beweisen gesucht, daß die Russifizierung Polens nur mit den höheren Verwaltungsgrundsätzen durchgesetzt werden könne, die von der russischen Regierung dort eingeführt werden müßten. Peszow hingegen hatte behauptet, ein Land könne nur dann ein anderes sich angleichen, wenn es selbst dichter bevölkert sei.
Kosnüschew hatte das eine wie das andere als richtig anerkannt, jedoch mit gewissen Einschränkungen. Als sie nun aus dem Salon in den Speisesaal gingen, sagte er, um das Gespräch abzuschließen, lächelnd:
»Darum gibt es für die Russifizierung fremder Völker nur ein Mittel: möglichst viele Kinder zu erzeugen. Sehen Sie, ich und mein Bruder, wir entwickeln auf diesem Gebiete schmählicherweise die allergeringste Tätigkeit. Aber Sie, die verheirateten Herren, und namentlich Sie, Stepan Arkadjewitsch, wirken im höchsten Grade vaterländisch. Wie viele haben Sie denn eigentlich?« wandte er sich freundlich lächelnd an den Hausherrn und hielt ihm ein winzig kleines Likörgläschen zum Füllen hin.
Alle lachten, besonders lustig Stepan Arkadjewitsch.
»Ja, das ist das beste Mittel!« versetzte er, indem er seinen Käse hinterkaute und eine besonders feine Sorte Likör in das hingehaltene Gläschen einschenkte. So wurde das Gespräch wirklich durch dieses Späßchen beendet.
»Dieser Käse ist nicht übel. Ist Ihnen nicht davon gefällig?« sagte der Hausherr. »Hast du wirklich wie der Gymnastik getrieben?« wandte er sich an Ljewin und befühlte mit der linken Hand dessen Armmuskel. Ljewin lächelte, straffte den Arm, und unter Stepan Arkadjewitschs Fingern erhob sich wie ein rundlicher Käse eine stahlharte Erhöhung unter dem feinen Tuche des Oberrockes.
»So ein Bizeps! Du bist ja ein wahrer Simson!«
»Ich glaube, daß man zur Bärenjagd große Kraft besitzen muß«, bemerkte Alexei Alexandrowitsch, der von dieser Jagd nur eine sehr nebelhafte Vorstellung hatte. Er strich sich Käse auf ein Scheibchen Weißbrot und zerriß dabei die Krume, die so dünn wie ein Spinngewebe geschnitten war.
Ljewin lächelte.
»Keineswegs. Im Gegenteil, ein kleines Kind kann einen Bärentöten«, antwortete er und trat mit einer leichten Verbeugung [189] vor den Damen zur Seite, die, von der Hausfrau geleitet, sich jetzt dem Tische mit den kalten Vorspeisen näherten.
»Sie haben einen Bären erlegt, wie mir gesagt worden ist?« redete ihn Kitty an; sie bemühte sich vergebens, einen widerspenstigen, immer wieder wegrutschenden Pilz mit der Gabel aufzuspießen, und schüttelte dabei ihre Spitzenmanschette, durch die ihre weiße Hand hindurchschimmerte. »Gibt es denn bei Ihnen Bären?« fügte sie hinzu und wandte in halber Drehung ihr reizendes Köpfchen lächelnd nach ihm hin.
In dem, was sie sagte, schien nichts Außergewöhnliches zu liegen; aber welch ein Sinn, den sie ihm durch Worte nicht hätte ausdrücken können, lag in jedem Laute, in jeder Bewegung ihrer Lippen, Augen und Hände, während sie das sagte! Es lag darin eine Bitte um Verzeihung und ein zuversichtliches Vertrauen und etwas wie ein zartes, schüchternes Streicheln, und ein Versprechen, und eine Hoffnung und Liebe zu ihm, eine Liebe, an der er nicht zweifeln konnte und die ihm vor Glückseligkeit den Atem benahm.
»Nein, wir sind nach dem Gouvernement Twer auf die Jagd gefahren. Auf der Rückkehr von dort traf ich im Eisenbahnwagen mit Ihrem Schwager zusammen oder vielmehr mit dem Schwager Ihres Schwagers«, antwortete er lächelnd. »Es war eine komische Begegnung.«
Und er erzählte lustig und humoristisch, wie er, nachdem er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, in seinem kurzen Schafpelz in Alexei Alexandrowitschs Abteil eingedrungen war.
»Der Schaffner wollte mich wegen meiner Kleidung hinausweisen; aber da fing ich an, mich in gebildeter Sprache auszudrücken und ... Auch Sie«, wandte er sich an Karenin, dessen vollständigen Namen er vergessen hatte, »auch Sie wollten mich zuerst wegen meines Schafpelzes hinausjagen; aber dann traten Sie für mich ein, wofür ich Ihnen sehr dankbar war.«
»Die Rechte der Reisenden auf die Wahl ihrer Plätze sind überhaupt nur sehr mangelhaft festgelegt«, versetzte Alexei Alexandrowitsch und wischte sich mit dem Taschentuche die Fingerspitzen ab.
»Ich sah, daß Sie über mich im unklaren waren«, sagte Ljewin mit gutmütigem Lächeln, »und darum beeilte ich mich, ein gebildetes Gespräch anzufangen, um meinen Schafpelz wieder wettzumachen.«
Sergei Iwanowitsch, der ein Gespräch mit der Hausfrau führte und mit einem Ohre nach seinem Bruder hinüberhorchte, schielte jetzt nach ihm hin. ›Was mit ihm heute nur ist? Ganz wie ein siegreicher Feldherr!‹ dachte er. Er wußte nicht, daß jenem zumute [190] war, als seien ihm Flügel gewachsen. Ljewin wußte, daß sie seine Worte anhörte und gern anhörte. Nichts weiter als dieses eine interessierte und beschäftigte ihn. In diesem Zimmer, ja in der ganzen Welt lebten jetzt für ihn nur zwei Personen: er, der in seinen eigenen Augen eine gewaltige Bedeutung und Wichtigkeit erlangt hatte, und sie. Er fühlte sich auf einer Höhe, von der ihm schwindlig wurde, und irgendwo da unten, in weiter Ferne waren all diese guten, prächtigen Menschen, Karenin und Oblonski und die ganze übrige Welt.
Ganz unauffällig, ohne sie anzusehen, als ob er keinen andern Platz mehr wüßte, setzte Stepan Arkadjewitsch Ljewin und Kitty nebeneinander.
»Na, und du könntest dich ja etwa dorthin setzen«, sagte er zu Ljewin.
Das Essen war ebenso vorzüglich wie das Tafelgerät, wie denn für feines Tafelgerät Stepan Arkadjewitsch eine besondere Liebhaberei hatte. Die Suppe Marie Louise war ausgezeichnet gut geraten; die kleinen Pastetchen, die einem im Munde zergingen, waren tadellos. Zwei Lohndiener und Matwei, mit weißen Binden, walteten ihres Amtes beim Auftragen der Speisen und Einschenken der Weine unauffällig, leise und eifrig. In materieller Hinsicht war das Mahl entschieden wohlgelungen und nicht minder, was geistige Genüsse anlangte. Das Gespräch, das bald gemeinsam war, bald sich in Einzelunterhaltungen auflöste, verstummte keinen Augenblick und wurde gegen Ende der Mahlzeit so lebhaft, daß die Herren nicht einmal durch die Aufhebung der Tafel sich in ihrem Meinungsaustausch unterbrechen ließen und sogar Alexei Alexandrowitsch auftaute.
Peszow liebte es, eine Erörterung bis zur Erschöpfung des Gegenstandes fortzusetzen, und fühlte sich von dem, was Sergei Iwanowitsch vor Tisch gesagt hatte, nicht befriedigt, um so weniger, da er die Unrichtigkeit seiner eigenen Ansicht fühlte.
»Ich hatte«, sagte er während der Suppe, zu Alexei Alexandrowitsch gewendet, »nicht ausschließlich die Dichtigkeit der Bevölkerung gemeint, sondern diese in Verbindung mit der geistigen Grundrichtung des Volkes; von den Verwaltungsgrundsätzen würde ich mir allerdings keine besondere Wirkung versprechen.«
»Mir scheint«, antwortete Alexei Alexandrowitsch langsam und in mattem Tone, »daß das ein und dasselbe ist. Meiner Ansicht [191] nach kann auf ein anderes Volk nur ein solches einwirken, das auf einer höheren Stufe der Entwicklung steht und das ...«
»Aber das ist gerade die Frage«, unterbrach ihn mit seiner tiefen Stimme Peszow, der es immer sehr eilig hatte zu Worte zu kommen und anscheinend immer mit ganzer Seele bei dem Gegenstande eines Gespräches war, »worin haben wir die höhere Entwicklung zu finden? Die Engländer, die Franzosen, die Deutschen, welches von diesen Völkern steht auf der höchsten Stufe der Entwicklung? Welches von ihnen wird eins der anderen zu seiner eigenen Nationalität hinüberführen können? Wir sehen, daß die Rheingegend gallisiert worden ist, und doch stehen die Deutschen nicht auf einer niedrigeren Stufe!« rief er. »Da liegt noch ein anderes Gesetz vor!«
»Mir scheint, daß das Übergewicht immer auf seiten der wahren Bildung ist«, bemerkte Alexei Alexandrowitsch, indem er die Brauen ein wenig in die Höhe zog.
»Aber woran sollen wir denn die Merkmale der wahren Bildung erkennen?« fragte Peszow.
»Ich meine, diese Merkmale sind bekannt«, versetzte Alexei Alexandrowitsch.
»Sind sie wirklich so genau bekannt?« mischte sich Sergei Iwanowitsch mit einem feinen Lächeln ein. »Heutzutage gilt den meisten die rein klassische Bildung als die einzig wahre; aber wir sehen, daß die beiden Parteien einen erbitterten Kampf miteinander führen, und es ist nicht in Abrede zu stellen, daß auch die Gegner starke Beweise für sich ins Treffen zu führen haben.«
»Nun, Sie sind ja ein echter Vertreter der klassischen Bildung, Sergei Iwanowitsch. Befehlen Sie Rotwein?« sagte Stepan Arkadjewitsch.
»Ich spreche jetzt nicht mein Urteil über die eine und die andere Art der Bildung aus«, versetzte Sergei Iwanowitsch mit einem herablassenden Lächeln, wie wenn er zu einem Kinde spräche, und hielt sein Glas hin. »Ich sage nur, daß beide Parteien starke Gründe für sich haben«, fuhr er, sich wieder zu Alexei Alexandrowitsch wendend, fort. »Ich persönlich habe eine klassische Bildung genossen; aber bei diesem Streite weiß ich nicht, auf welche Seite ich mich stellen soll. Ich sehe keine klaren Gründe, weshalb man den klassischen Wissenschaften vor den realen den Vorzug gegeben hat.«
»Die Naturwissenschaften haben den gleichen pädagogischen Wert für die geistige Entwicklung«, fiel Peszow ein. »Nehmen Sie nur zum Beispiel die Astronomie, nehmen Sie die Botanik, die Zoologie mit ihrem strengen System allgemeingültiger Gesetze!«
[192] »Ich kann da nicht völlig zustimmen«, entgegnete Alexei Alexandrowitsch. »Mir scheint, es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß schon die eigenartige Verstandestätigkeit bei der Erlernung fremder Sprachen besonders günstig auf die geistige Entwicklung einwirkt. Außerdem ist auch nicht zu leugnen, daß die klassischen Schriftsteller einen im höchsten Grade moralischen Einfluß ausüben, während leider mit dem naturwissenschaftlichen Unterrichte jene schädlichen Irrlehren eng verbunden sind, die eine Seuche unserer Zeit bilden.«
Sergei Iwanowitsch wollte etwas erwidern; aber Peszow mit seiner tiefen Baßstimme kam ihm zuvor. Er machte sich hitzig daran, die Unrichtigkeit dieser Ansicht nachzuweisen. Sergei Iwanowitsch wartete ruhig, bis die Reihe zu reden an ihn kommen werde; offenbar hatte er eine schlagende Erwiderung in Bereitschaft.
»Aber«, begann er endlich mit feinem Lächeln, indem er sich an Karenin wandte, »man wird zugeben müssen, daß es eine schwere Aufgabe ist, alle Vorteile und Nachteile der einen und der anderen Gattung von Wissenschaften vollständig gegeneinander abzuwägen, und daß man nicht so rasch zu einer endgültigen Entscheidung der Frage, welche Gattung vorzuziehen sei, gelangt wäre, wenn nicht auf seiten der klassischen Bildung eben jener Vorzug vorhanden wäre, den Sie soeben hervorhoben: die moralische – disons le mot 1 – die antinihilistische Wirkung.«
»Unzweifelhaft.«
»Wäre nicht auf seiten der klassischen Wissenschaften dieser Vorzug der antinihilistischen Wirkung vorhanden, so würden wir die Sache doch länger in Erwägung ziehen, die Gründe beider Parteien sorgfältiger gegeneinander abwägen«, sagte Sergei Iwanowitsch mit feinem Lächeln, »und der einen wie der anderen Richtung freie Bahn lassen. So aber wissen wir, daß diesen Pillen der klassischen Bildung eine antinihilistische Heilkraft beiwohnt, und daher verordnen wir sie unbedenklich unseren Patienten ... Aber wenn es nun mit dieser Heilkraft nichts ist?« schloß er wieder damit, daß er eine Prise attischen Salzes in das Gespräch streute.
Bei dem Vergleiche mit den Pillen fingen alle an zu lachen, besonders laut und lustig Turowzün, der als Zuhörer des Gespräches immer schon darauf gelauert hatte, daß einmal etwas Komisches vorkäme, und nun endlich auf seine Rechnung gekommen war.
Stepan Arkadjewitsch hatte keinen Fehlgriff damit getan, daß er Peszow eingeladen hatte. Wo Peszow dabei war, konnte ein [193] ernstes, verständiges Gespräch auch nicht einen Augenblick lang abreißen. Kaum hatte Sergei Iwanowitsch das bisherige Gespräch mit einer scherzhaften Wendung zum Abschluß gebracht, als Peszow auch schon einen neuen Gegenstand zur Sprache brachte.
»Selbst das kann man nicht zugeben«, sagte er, »daß die Regierung dieses Ziel dabei im Auge hätte. Die Regierung läßt sich offenbar nur von Erwägungen ganz allgemeiner Art leiten und kümmert sich herzlich wenig darum, welche Wirkungen die von ihr ergriffenen Maßregeln haben mögen. So müßte zum Beispiel das Anwachsen der Frauenbildung von jenem Standpunkte aus als schädlich erachtet werden; aber die Regierung richtet Ausbildungskurse für Frauen ein und läßt die Frauen zum Universitätsstudium zu.«
Die Unterhaltung sprang nun sofort auf das neue Thema der Frauenbildung über.
Alexei Alexandrowitsch sprach den Gedanken aus, daß die Frage der Frauenbildung gewöhnlich mit der Frage der Frauengleichberechtigung zusammengeworfen werde und daß man die Frauenbildung nur deshalb für schädlich erachte.
»Ich bin im Gegenteil der Ansicht, daß diese beiden Fragen unlösbar miteinander verknüpft sind«, sagte Peszow. »Es liegt da ein irreführender Zirkelschluß vor. Der Frau werden die Rechte versagt wegen des Mangels an Bildung, und der Mangel an Bildung ist eine Folge des Fehlens von Rechten. Man darf nicht vergessen, daß die Knechtung der Frauen so allgemein und so alt ist, daß wir oft eine Abneigung dagegen haben, uns über die Kluft, die uns von ihnen trennt, klarzuwerden.«
»Sie sagten ›Rechte‹«, begann nun Sergei Iwanowitsch, der abgewartet hatte, bis Peszow schwieg, »und meinten wohl damit das Recht, die Tätigkeiten eines Geschworenen, eines Stadtverordneten, eines Gerichtspräsidenten, eines Verwaltungsbeamten, eines Parlamentsmitgliedes auszuüben ...«
»Gewiß.«
»Aber selbst wenn die Frauen, was immer eine seltene Ausnahme sein wird, imstande sein sollten, solche Stellen auszufüllen, so scheint mir doch, daß Sie dabei den Ausdruck ›Rechte‹ falsch angewandt haben. Es wäre richtiger, ›Pflichten‹ zu sagen. Jeder wird mir zugeben, daß wir bei der Ausübung irgendwelcher amtlichen Tätigkeit, der Tätigkeit eines Geschworenen, eines Stadtverordneten, eines Telegrafenbeamten, das Gefühl haben, daß wir damit eine Pflicht erfüllen. Und daher würde man sich richtiger ausdrücken, wenn man sagte: die Frauen streben nach Pflichten, und zwar in einer durchaus rechtmäßigen, gesetzmäßigen Weise. Und diesem ihrem Wunsche, bei der gemeinsamen [194] Arbeit der Männer mitzuhelfen, kann man nur beifällig gegenüberstehen.«
»Vollkommen richtig«, stimmte Alexei Alexandrowitsch zu. »Meiner Ansicht nach ist nur die Frage, ob die Frauen zur Erfüllung dieser Pflichten auch befähigt sind.«
»Wahrscheinlich werden sie sich als in hohem Grade befähigt herausstellen«, warf Stepan Arkadjewitsch dazwischen, »sobald die Bildung unter ihnen eine weitere Verbreitung gefunden haben wird. Wir sehen das ja ...«
»Aber was sagt das Sprichwort?« unterbrach ihn Fürst Schtscherbazki, dessen kleine Augen schon lange spöttisch gefunkelt hatten, während er dem Gespräche zuhörte. »Da von Damen nur meine Töchter da sind, kann ich's ja sagen: ›Langes Haar und kurzer Verstand.‹«
»Genau ebenso urteilte man über die Neger vor der Aufhebung der Sklaverei!« erwiderte Peszow ärgerlich.
»Ich finde es nur sonderbar, daß die Frauen nach neuen Pflichten suchen«, sagte Sergei Iwanowitsch, »während wir bedauerlicherweise sehen, daß die Männer sich ihren Pflichten gern entziehen.«
»Pflichten sind mit Rechten verbunden, und nach denen streben die Frauen, nach Macht, Geld, Ehre«, bemerkte Peszow.
»Das wäre dieselbe Geschichte, wie wenn ich nach dem Rechte, Amme zu sein, streben und mich gekränkt fühlen wollte, weil man Frauen für diesen Dienst bezahlt und mich nicht haben will«, meinte der alte Fürst.
Turowzün brach in ein lautes Gelächter aus, und Sergei Iwanowitsch fühlte ein gewisses Bedauern, daß er das nicht selbst gesagt hatte. Selbst Alexei Alexandrowitsch lächelte.
»Ja, aber ein Mann kann nicht nähren«, wendete Peszow ein, »hingegen kann eine Frau ...«
»Nun, ein Engländer hat doch einmal auf dem Schiffe seinen Säugling selbst genährt«, erwiderte der alte Fürst, der sich durch die Anwesenheit seiner Töchter nicht davon abhalten ließ, sich im Gespräche ein bißchen gehenzulassen.
»Es wird wohl so herauskommen, daß es ebensoviel weibliche Beamte gibt wie solche Engländer«, sagte Sergei Iwanowitsch.
»Ja, aber was soll ein Mädchen tun, das keine Familie hat?« wandte Stepan Arkadjewitsch ein und dachte dabei an Fräulein Tschibisowa, die er die ganze Zeit über im Sinne gehabt hatte, wo er mit Peszow übereingestimmt und ihm seinen Beifall bekundet hatte.
»Wenn man sich aber den Lebenslauf dieses Mädchens etwas genauer ansieht, so wird man finden, daß dieses Mädchen sich [195] von ihrer eigenen Familie oder von der Familie ihrer Schwester losgesagt hat, wo sie eine für ein weibliches Wesen passende Stellung hätte einnehmen können«, mischte sich unerwarteterweise Darja Alexandrowna in gereiztem Tone in das Gespräch; sie mochte wohl erraten haben, welches Mädchen Stepan Arkadjewitsch im Sinne hatte.
»Aber wir treten für den Grundsatz ein, für den Grundgedanken!« erwiderte Peszow mit seiner volltönenden Baßstimme. »Die Frau will das Recht haben, selbständig und gebildet zu sein. Das Gefühl, dies nicht erreichen zu können, beengt sie und drückt sie nieder.«
»Und ich fühle mich dadurch beengt und niedergedrückt, daß man mich im Findelhause nicht als Amme annehmen will«, sagte der alte Fürst wieder zum größten Vergnügen Turowzüns, der vor Lachen den Spargel mit dem dicken Ende in die Sauce fallen ließ.
1 (frz.) sprechen wir das Wort aus.
Alle hatten sich an diesem allgemeinen Gespräche beteiligt außer Kitty und Ljewin. Zu Anfang, als von der Einwirkung gesprochen wurde, die ein Volk auf das andere ausüben könne, fiel Ljewin unwillkürlich manches ein, was er selbst über diesen Gegenstand sagen konnte; aber diese Gedanken, die früher für ihn eine so große Wichtigkeit gehabt hatten, huschten ihm jetzt nur ganz flüchtig wie im Traume durch den Kopf und interessierten ihn nicht im geringsten mehr. Es kam ihm sogar sonderbar vor, weshalb doch diese Menschen mit solchem Eifer über Dinge redeten, die keinen von ihnen persönlich angingen. Ganz ebenso hätte wohl Kitty sich für das interessieren sollen, was da über Frauenrechte und Frauenbildung gesprochen wurde. Wie oft hatte sie über diesen Gegenstand nachgedacht, wenn sie sich an Warjenka, ihre Freundin von dem deutschen Badeorte her, und an deren schwere, abhängige Lebensstellung erinnerte; wie oft hatte sie auch an sich selbst gedacht, was aus ihr werden würde, wenn sie sich nicht verheiratete; und wie oft hatte sie mit ihrer Schwester hierüber gestritten! Aber jetzt interessierte sie das gar nicht. Zwischen ihr und Ljewin war ein besonderes Gespräch im Gange oder eigentlich nicht ein Gespräch, sondern eine Art von geheimnisvoller seelischer Verbindung, die sie von Minute zu Minute immer enger miteinander verknüpfte und in beiden ein Gefühl froher Bangigkeit vor jenem unbekannten Gebiete erweckte, in das sie sich jetzt anschickten einzutreten.
[196] Zuerst hatte Ljewin auf Kittys Frage, wie es denn zugegangen sei, daß er sie im vorigen Jahre im Wagen gesehen habe, ihr erzählt, wie er nach der Heuernte auf der Landstraße gewandert sei und sie dabei getroffen habe.
»Es war ganz früh am Morgen. Sie waren wahrscheinlich eben erst aufgewacht. Ihre maman schlief in ihrem Eckchen. Es war ein wunderschöner Morgen. Ich wanderte so dahin und dachte: ›Wer kommt denn da mit einem Viergespann angefahren?‹ Es war ein vorzügliches Viergespann mit Schellen; und in einem Augenblick rollten Sie an mir vorbei, und ich warf einen Blick ins Fenster, da saßen Sie so da – sehen Sie, so: Sie hielten mit beiden Händen die Bänder Ihres Häubchens fest und waren ganz tief in Gedanken versunken«, erzählte er lächelnd. »Ich hätte gar zu gern gewußt, woran Sie damals dachten. Wohl an etwas sehr Wichtiges?«
›Ob wohl auch mein Haar nicht unordentlich ausgesehen hat?‹ dachte sie; aber als sie das entzückte Lächeln sah, das durch die Erinnerung an diese Einzelheiten auf seinem Gesichte hervorgerufen wurde, da sagte sie sich, daß im Gegenteil der Eindruck, den sie gemacht habe, gut gewesen sein müsse. Sie errötete und lachte fröhlich.
»Ich erinnere mich wirklich nicht mehr.«
»Wie herzlich dieser Turowzün lacht!« bemerkte Ljewin und betrachtete mit Vergnügen dessen feuchtschimmernde Augen und schütternden Körper.
»Kennen Sie ihn schon lange?« fragte Kitty.
»Wer sollte den nicht kennen!«
»Ich merke, daß Sie ihn für einen schlechten Menschen halten?«
»Nicht für schlecht, aber für unbedeutend.«
»Da beurteilen Sie ihn falsch. Lassen Sie nur diese Ansicht recht schnell fallen!« versetzte Kitty. »Ich hatte auch eine sehr geringe Meinung von ihm, aber er ist ein sehr lieber und außerordentlich guter Mensch. Er hat ein goldenes Herz.«
»Wo haben Sie denn die Möglichkeit gehabt, sein Herz kennenzulernen?«
»Er und ich, wir sind gute Freunde. Ich kenne ihn sehr gut. Im vorigen Winter, bald nachdem ... nachdem Sie bei uns gewesen waren«, sagte sie mit einem schuldbewußten und zugleich doch vertrauensvollen Lächeln, »bekamen Dollys Kinder sämtlich Scharlach, und er machte zufällig einen Besuch bei ihr. Und können Sie sich das vorstellen«, fuhr sie flüsternd fort, »sie tat ihm so leid, daß er dablieb und ihr die Kinder pflegen half. Ja, und drei Wochen lang hat er bei ihnen im Hause gewohnt und die Kinder gepflegt wie eine Wärterin.«
[197] »Ich erzähle eben Konstantin Dmitrijewitsch von Turowzün beim Scharlach«, sagte sie, indem sie sich zu ihrer Schwester hinüberbeugte.
»Ja, das war eine bewundernswerte Aufopferung, ein prächtiger Mensch!« erwiderte Dolly; sie blickte Turowzün an, der gemerkt hatte, daß von ihm gesprochen wurde, und lächelte ihm sanft zu. Ljewin sah noch einmal zu Turowzün hin und wunderte sich, wie es möglich gewesen war, daß er die Vortrefflichkeit dieses Mannes nicht schon früher in ihrem ganzen Umfange erkannt hatte.
»Verzeihung, Verzeihung, ich will nie wieder von andern Leuten schlecht denken!« sagte er fröhlich, und was er sagte, war in diesem Augenblick wirklich seine aufrichtige Empfindung.
In dem begonnenen Gespräche über die Rechte der Frauen kamen auch heikle, in Gegenwart der Damen nicht wohl zu erörternde Fragen vor: über die Ungleichheit der Rechte in der Ehe. Peszow berührte bei Tische diese Fragen einige Male; aber Sergei Iwanowitsch und Stepan Arkadjewitsch lenkten ihn jedesmal behutsam wieder davon ab.
Als man von Tische aufgestanden war und die Damen das Zimmer verließen, folgte Peszow ihnen nicht, sondern wandte sich zu Alexei Alexandrowitsch und unternahm es, die Hauptursache dieser Ungleichheit darzulegen. Die Ungleichheit in der Stellung der Ehegatten hing seiner Ansicht nach damit zusammen, daß Untreue der Frau und Untreue des Mannes sowohl vom Gesetze wie auch von der öffentlichen Meinung nicht mit gleicher Schärfe verurteilt würden.
Stepan Arkadjewitsch trat schnell zu Alexei Alexandrowitsch heran und bot ihm zu rauchen an.
»Nein, danke, ich rauche nicht«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch ruhig, und als wollte er geflissentlich zeigen, daß er dieses Thema nicht scheue, wandte er sich wieder mit kaltem Lächeln zu Peszow.
»Ich meine, die Gründe einer derartigen Anschauung liegen in der Natur der Dinge selbst«, sagte er und wollte nach dem Salon gehen; aber nun ergriff plötzlich und unerwartet Turowzün das Wort und wandte sich dabei unmittelbar an Alexei Alexandrowitsch.
»Haben Sie schon von Prjatschnikow gehört?« fragte Turowzün. Er hatte längere Zeit nichts gesagt und nun, durch den [198] genossenen Champagner belebt, schon lange auf eine Gelegenheit gewartet, das ihn bedrückende Schweigen aufzugeben. »Wasili Prjatschnikow«, fuhr er mit dem ihm eigenen gutmütigen Lächeln um die feuchten, roten Lippen fort, indem er sich vorzugsweise an die bedeutendste Persönlichkeit unter den Gästen, an Alexei Alexandrowitsch, wandte, »Wasili Prjatschnikow hat sich, wie mir heute erzählt wurde, in Twer mit Kwitski duelliert und ihn erschossen.«
Wie es einem immer so vorkommt, als stoße man sich wie ausgesucht stets gerade an die schmerzhafte Stelle, so hatte jetzt Stepan Arkadjewitsch die Empfindung, daß das Gespräch heute unglücklicherweise jeden Augenblick Alexei Alexandrowitschs wunden Punkt berührte. Er wollte wieder seinen Schwager beiseite führen; aber Alexei Alexandrowitsch fragte selbst neugierig:
»Weshalb hat sich Prjatschnikow denn duelliert?«
»Wegen seiner Frau. Er hat sich wacker und schneidig benommen. Er hat ihn gefordert und erschossen!«
»Ah!« machte Alexei Alexandrowitsch gleichmütig und verließ, die Augenbrauen in die Höhe ziehend, den Speisesaal, um nach dem Salon zu gehen. Im Zwischenzimmer traf er Dolly.
»Wie freue ich mich, daß Sie gekommen sind«, redete sie ihn mit einem furchtsamen Lächeln an. »Ich habe dringend mit Ihnen zu reden. Wir können ja hier Platz nehmen.«
Alexei Alexandrowitsch setzte sich mit einem Ausdruck von Gleichgültigkeit, den die hinaufgezogenen Augenbrauen seinem Gesichte verliehen, neben Darja Alexandrowna und lächelte gezwungen.
»Es ist mir dies um so erwünschter«, versetzte er, »da ich Sie um Entschuldigung bitten und mich sogleich empfehlen wollte. Ich muß morgen abreisen.«
Darja Alexandrowna war von Annas Unschuld fest überzeugt und fühlte, wie sie blaß wurde und ihr die Lippen zitterten vor Zorn über diesen kalten, gefühllosen Menschen, der sich mit solcher Ruhe daranmachte, ihre unglückliche Freundin zugrunde zu richten.
»Alexei Alexandrowitsch«, sagte sie und blickte ihm mit der Entschlossenheit der Verzweiflung in die Augen, »ich habe Sie gestern nach Anna gefragt, und Sie haben mir nicht geantwortet. Wie geht es ihr?«
»Ich glaube, sie ist gesund, Darja Alexandrowna«, antwortete Alexei Alexandrowitsch, ohne sie anzusehen.
»Alexei Alexandrowitsch, verzeihen Sie mir, ich habe ja eigentlich kein Recht ... aber ich liebe und achte Anna wie [199] eine Schwester; ich bitte, ich flehe Sie an, sagen Sie mir, was ist zwischen Ihnen beiden vorgefallen? Was werfen Sie ihr vor?«
Alexei Alexandrowitsch runzelte die Stirn, schloß die Augen fast ganz und ließ den Kopf hängen.
»Ich setze voraus, daß Ihr Gatte Ihnen die Gründe mitgeteilt hat, die es mir notwendig erscheinen lassen, mein bisheriges Verhältnis zu Anna Arkadjewna zu ändern«, antwortete er, ohne ihr in die Augen zu sehen; unzufrieden blickte er sich nach dem jungen Schtscherbazki um, der durch das Zimmer ging.
»Ich glaube es nicht, ich glaube es nicht, ich kann es nicht glauben!« versetzte Dolly und preßte mit einer energischen Gebärde ihre knochigen Hände vor ihrer Brust zusammen. Sie stand rasch auf und legte ihre Hand auf Alexei Alexandrowitschs Arm: »Wir werden hier gestört; bitte, kommen Sie dorthin.«
Dollys Aufregung machte Alexei Alexandrowitsch nachgiebig. Er stand auf und folgte ihr gehorsam in das Unterrichtszimmer der Kinder. Sie nahmen an einem Tische Platz, dessen Wachstuchüberzug vielfach von Federmessern zerschnitten war.
»Ich glaube es nicht, ich glaube es nicht!« sagte Dolly noch einmal und gab sich Mühe, seinen Blick, der den ihrigen vermied, zu fangen.
»Den vorliegenden Tatsachen kann man nicht umhin Glauben zu schenken«, versetzte er und legte dabei einen besonderen Nachdruck auf das Wort »Tatsachen«.
»Aber was hat sie denn getan?« fragte Darja Alexandrowna. »Was ist es denn eigentlich, was sie getan hat?«
»Sie hat ihre Pflicht verletzt und ihren Mann betrogen. Das ist's, was sie getan hat«, antwortete er.
»Nein, nein, das ist nicht möglich! Nein, ich beschwöre Sie, Sie haben sich geirrt!« rief Dolly; sie griff sich mit den Händen an die Schläfen und schloß die Augen.
Alexei Alexandrowitsch lächelte kalt, nur mit den Lippen, in der Absicht, ihr und sich selbst die Festigkeit seiner Überzeugung zu zeigen; diese eifrige Verteidigung konnte ihn zwar nicht wankend machen, hatte aber die Wirkung, seine Wunde wieder aufzureißen. Er erwiderte mit größerer Lebhaftigkeit:
»Ein Irrtum ist wohl so gut wie ausgeschlossen, wenn die Frau selbst dem Manne die betreffende Mitteilung macht, ihm mitteilt, daß acht Jahre gemeinsamen Lebens und das Kind, daß das alles ein Irrtum war und daß sie noch einmal ganz von vorn zu leben anfangen will«, sagte er zornig, indem er hörbar den Atem durch die Nase einzog und ausstieß.
[200] »Anna und die Sünde – das kann ich nicht vereinigen, das kann ich nicht glauben.«
»Darja Alexandrowna!« begann er; er blickte ihr jetzt gerade in das herzensgute, aufgeregte Gesicht und fühlte, daß seine Zunge sich unwillkürlich freier bewegte. »Ich würde viel darum geben, wenn noch ein Zweifel möglich wäre. Damals, als ich noch zweifelte, war mir schwer ums Herz, aber doch immerhin leichter als jetzt. Damals, als ich noch zweifelte, war doch noch nicht alle Hoffnung geschwunden; aber jetzt ist keine Hoffnung mehr, und doch zweifle ich an allem. Ich zweifle derart an allem, daß ich meinen Sohn hasse und zuweilen nicht glaube, daß er mein Sohn ist. Ich bin sehr unglücklich.«
Er hätte das nicht zu sagen brauchen. Darja Alexandrowna hatte das erkannt, sobald er ihr ins Gesicht geblickt hatte; Mitleid mit ihm ergriff sie, und der Glaube an die Schuldlosigkeit ihrer Freundin geriet in ihrem Herzen ins Wanken.
»Ach, das ist furchtbar, furchtbar! Aber ist es denn wirklich wahr, daß Sie sich zur Scheidung entschlossen haben?«
»Ich habe mich zu dieser äußersten Maßregel entschlossen. Es blieb mir nichts anderes übrig.«
»Nichts anderes übrig, nichts anderes übrig ...«, wiederholte sie mit Tränen in den Augen. »Nein, sagen Sie nicht, daß Ihnen nichts anderes übrigbliebe!« rief sie.
»Das ist eben das Furchtbare bei einem Leide dieser Art, daß man nicht wie bei jedem andern Leide, bei einem Verluste, bei einem Todesfalle, sich darauf beschränken kann, sein Kreuz zu tragen, sondern daß man hier selbst handeln muß«, sagte er, wie wenn er ihre Gedanken erraten hätte. »Man muß aus der demütigenden Lage, in die man hineingeraten ist, herauszukommen suchen; zu dreien kann man nicht leben.«
»Ich begreife das, ich begreife das vollkommen«, erwiderte Dolly und ließ den Kopf sinken. Sie schwieg ein Weilchen und dachte an sich und ihren eigenen Kummer im Familienleben; plötzlich hob sie mit einer energischen Bewegung den Kopf in die Höhe und faltete flehend die Hände. »Tun Sie das nicht! Sie sind ein Christ. Denken Sie an das Schicksal des armen Weibes! Was soll aus ihr werden, wenn Sie sie verstoßen?«
»Ich habe darüber nachgedacht, Darja Alexandrowna, viel darüber nachgedacht«, versetzte Alexei Alexandrowitsch; auf seinem Gesichte traten rote Flecke hervor, und die trüben Augen blickten ihr gerade ins Gesicht. Darja Alexandrowna bemitleidete ihn jetzt von ganzer Seele. »Ich habe das erwogen, nachdem sie mir mitgeteilt hatte, welche Schande über mich gekommen war; ich ließ alles beim alten. Ich gewährte ihr die [201] Möglichkeit, sich zu bessern, und versuchte, sie zu retten. Und der Erfolg? Nicht einmal die leichteste Forderung, die Wahrung des äußeren Anstandes, hat sie erfüllt«, sagte er, heftiger werdend. »Retten kann man jemand, der nicht untergehen will; wenn aber jemand in seinem ganzen Wesen so verdorben und entsittlicht ist, daß ihm der Untergang selbst als Rettung erscheint, was soll man dann tun?«
»Alles, nur keine Scheidung!« antwortete Darja Alexandrowna.
»Was meinen Sie damit: ›alles‹?«
»Nein, das ist entsetzlich. Dann wird sie niemandes Gattin sein, sie wird untergehen!«
»Was kann ich dabei tun?« erwiderte Alexei Alexandrowitsch, indem er die Schultern und die Augenbrauen in die Höhe zog. Die Erinnerung an den letzten Verstoß seiner Frau versetzte ihn in solche Empörung, daß er wieder so eisig wurde, wie er beim Beginne des Gespräches gewesen war. »Ich bin Ihnen für Ihre Teilnahme sehr dankbar; aber ich muß jetzt aufbrechen«, sagte er und erhob sich.
»Nein, bleiben Sie noch! Sie dürfen sie nicht ins Verderben stoßen. Bleiben Sie noch, ich will Ihnen etwas von mir selbst erzählen. Ich habe geheiratet, und mein Mann hat mich betrogen; vor Zorn und Eifersucht wollte ich alles im Stich lassen und wollte sogar ... Aber ich kam zur Besinnung, und wer war's, der mich rettete? Anna! Und sehen Sie, ich lebe noch. Die Kinder wachsen auf; mein Mann kehrt zu seiner Familie zurück und ist sich seines Unrechtes bewußt; er wird reiner und besser, und ich lebe ... Ich habe verziehen, und Sie müssen auch verzeihen!«
Alexei Alexandrowitsch hörte zu; aber ihre Worte machten auf ihn keinen Eindruck mehr. In seiner Seele war wieder der ganze Ingrimm jenes Tages aufgelebt, an dem er den Entschluß gefaßt hatte, sich scheiden zu lassen. Er schüttelte sich und sagte mit scharfer, lauter Stimme:
»Verzeihen kann ich nicht, und ich will es auch nicht und halte es für ungerecht. Ich habe für diese Frau alles getan, und sie hat alles in den Kot getreten, der ihr Element ist. Ich bin kein böser Mensch; ich habe nie jemand gehaßt; aber sie hasse ich mit aller Kraft meiner Seele und bin völlig außerstande, ihr zu verzeihen, weil ich sie gar zu sehr hasse für all das Böse, das sie mir angetan hat!« Es war seiner Stimme anzuhören, daß ihm die Tränen des Grimmes nahe waren.
»Liebet, die euch hassen ...«, flüsterte Darja Alexandrowna schüchtern.
[202] Alexei Alexandrowitsch lächelte geringschätzig. Diesen Spruch kannte er schon längst; aber auf seinen Fall war der doch nicht anwendbar.
»Liebet, die euch hassen! Aber die zu lieben, die man selbst haßt, das ist unmöglich. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen Schmerz bereitet habe. Jeder hat an seinem eigenen Leide genug zu tragen!« Alexei Alexandrowitsch, der nun die Herrschaft über sich wiedergewonnen hatte, empfahl sich ruhig und fuhr weg.
Als man von Tische aufstand, wäre Ljewin gern Kitty in den Salon gefolgt; aber er fürchtete, es könnte ihr unangenehm sein, wenn es allzu offenkundig würde, daß er sich um sie bemühte. Er blieb daher bei den Herren und beteiligte sich an dem allgemeinen Gespräche; aber ohne daß er Kitty sah, empfand er durch das Gefühl ihre Bewegungen, ihre Blicke und den Platz, an dem sie sich im Salon befand.
Gleich auf der Stelle und ohne daß es ihn die geringste Anstrengung gekostet hätte, erfüllte er das Versprechen, das er ihr gegeben hatte: immer gut von allen Menschen zu denken und immer alle Menschen zu lieben. Das Gespräch war auf die Gemeindeorganisation übergegangen, in der Peszow ein besonderes Prinzip zu erkennen glaubte, das er als »Chorprinzip« bezeichnete. Ljewin war weder mit Peszow noch mit seinem Bruder einverstanden, der, wie das so seine Art war, den Wert der russischen Gemeindeorganisation zum Teil anerkannte und zum Teil auch wieder bestritt. Aber er nahm an ihrem Gespräche teil und richtete dabei sein Bemühen nur darauf, einen Ausgleich zwischen beiden herbeizuführen und die Schärfe ihrer Entgegnungen abzuschwächen. Er interessierte sich ganz und gar nicht für das, was er selbst sagte, und noch weniger für das, was jene beiden sagten; er hatte nur einen Wunsch: daß sie und alle Menschen sich wohl fühlen und vergnügt sein möchten. Er kannte jetzt das einzige, was in der Welt von Wichtigkeit war. Und dieses einzige befand sich zuerst dort im Salon und bewegte sich dann vorwärts und blieb an der Tür stehen. Ohne sich umzuwenden, fühlte er ihren auf ihn gerichteten Blick und ihr Lächeln, und nun mußte, mußte er sich umwenden. Sie stand mit dem jungen Schtscherbazki in der Tür und blickte nach ihm hin.
»Ich denke mir, Sie wollen zum Klavier gehen«, sagte er, zu ihr tretend. »Die Musik, das ist etwas, was mir auf dem Lande fehlt.«
[203] »Nein, wir sind nur gekommen, um Sie herauszuholen, und ich danke Ihnen«, bei diesem Worte belohnte sie ihn mit einem Lächeln wie mit einem Geschenke, »daß Sie zu uns herangetreten sind. Was haben die Leute nur davon, sich herumzustreiten? Es überzeugt ja doch nie einer den andern.«
»Ja, das ist richtig«, versetzte Ljewin. »Meistens streitet man nur deswegen so hitzig, weil man gar nicht begreifen kann, was der Gegner eigentlich beweisen will.«
Ljewin hatte oft, wenn die klügsten Leute miteinander stritten, die Beobachtung gemacht, daß die Streitenden nach ungeheuren Anstrengungen und einem gewaltigen Aufwande von logischen Feinheiten und von Worten endlich zu der Einsicht gelangten, daß das, was sie sich abmühten, einander klarzumachen, schon längst, schon vom Beginne des Streites an, beiden klar gewesen war, daß aber dem einen dies, dem andern etwas anderes Herzenssache war und sie das, was ihnen Herzenssache war, nicht hatten aussprechen mögen, um es nicht Angriffen auszusetzen. Er hatte es schon oft erlebt, daß man während eines Streites Verständnis für das gewinnt, was dem Gegner Herzenssache ist, und sich auf einmal selbst für ebendasselbe erwärmt und sofort mit dem Gegner einverstanden ist und daß dann alle Beweise als unnötig in Wegfall kommen. Und manchmal hatte er auch einen andern Hergang erlebt: man spricht endlich das aus, was einem Herzenssache ist und um dessentwillen man nach Beweisen herumgesucht hat, und wenn es sich so macht, daß das in gutherziger, aufrichtiger Weise herauskommt, so ist auf einmal der Gegner einverstanden und hört auf zu streiten. Ebendies hatte Ljewin sagen wollen.
Sie legte die Stirn in Falten und bemühte sich, ihn zu verstehen. Aber kaum fing er an, das Gesagte zu erläutern, als sie es auch schon begriffen hatte.
»Ich verstehe: man muß erkennen, wofür der Gegner eigentlich kämpft, was ihm Herzenssache ist; dann ist es möglich ...«
Sie hatte den Gedanken, den er vorher nur mangelhaft ausgedrückt gehabt hatte, vollständig erfaßt und richtig ausgedrückt. Ljewin lächelte froh; so überraschend war ihm dieser Übergang von dem wirren, wortreichen Streite mit Peszow und seinem Bruder zu dieser lakonischen, klaren, fast wortlosen Mitteilung der verwickeltesten Gedanken.
Der junge Schtscherbazki entfernte sich von ihnen; Kitty aber trat an einen dort aufgestellten Spieltisch, setzte sich, nahm den Kreidestift in die Hand und begann auf dem neuen grünen Tuche allerlei sich schneidende Kreislinien zu ziehen.
[204] Sie nahmen das Gespräch wieder auf, das bei Tische geführt worden war: über Frauenrecht und Frauentätigkeit. Ljewin schloß sich der von Darja Alexandrowna geäußerten Meinung an, daß ein Mädchen, das sich nicht verheiratet habe, eine weibliche Beschäftigung für sich in einer Familie finden könne. Zur Bekräftigung führte er an, keine Familie könne ohne eine Helferin auskommen, in jeder Familie, ob arm oder reich, gebe es Pflegerinnen für die Kinder und müsse es solche geben, möchten dies nun für Lohn angenommene Personen sein oder Verwandte.
»Nein«, versetzte Kitty errötend; aber sie sah ihn nur um so fester mit ihren ehrlichen Augen an, »manches Mädchen ist so gestellt, daß es nicht ohne Demütigung in eine andere Familie eintreten kann, und doch kann das Mädchen selbst ...«
Er verstand aus dem bloßen Anfange des Satzes, was sie meinte.
»O ja«, rief er, »ja, ja, ja, Sie haben recht, Sie haben recht!«
Alles, was Peszow bei Tische für die Gleichberechtigung der Frauen vorgebracht hatte, verstand Ljewin jetzt auf einmal, und zwar lediglich infolgedessen, weil er in Kittys Herzen die Furcht vor der Altjungfernschaft und einer solchen Demütigung wahrnahm; und da er sie liebte, fühlte er diese Furcht und diese Demütigung mit und warf sofort alle seine Beweisgründe über Bord.
Es trat ein Stillschweigen ein; sie zeichnete immer noch mit der Kreide auf dem Tische. Ihre Augen leuchteten in stillem Glanze. Ihre Stimmung hatte sich ihm mitgeteilt, und er fühlte in seinem ganzen Wesen die sich immer mehr steigernde Spannung der Glücksempfindung.
»Ach, ich habe den ganzen Tisch vollgemalt!« sagte sie, legte die Kreide hin und machte eine Bewegung, als ob sie aufstehen wollte.
›Wie kann ich denn hier allein bleiben, ohne sie?‹ dachte er erschrocken und griff nach der Kreide. »Bitte, bleiben Sie noch ein Augenblickchen!« sagte er, indem er sich an den Tisch setzte. »Ich wollte Sie schon lange etwas fragen.«
Er blickte ihr gerade in die freundlichen, wiewohl erschrockenen Augen.
»Fragen Sie, bitte!«
»Bitte, sehen Sie her«, sagte er und schrieb folgende Anfangsbuchstaben hin: A, S, m, a: E, k, n, s, b, d, n, o, n, d? Diese Buchstaben bedeuteten: »Als Sie mir antworteten: ›Es kann nicht sein‹, bedeutete das niemals oder nur damals?« Es war höchst unwahrscheinlich, daß sie diesen langen Satz sollte verstehen können; aber er blickte sie mit so ängstlicher Spannung an, als [205] hinge sein Leben davon ab, ob sie diese Worte verstehen werde oder nicht.
Sie sah ihn ernst an; dann stützte sie die gerunzelte Stirn auf die Hand und begann zu lesen. Bisweilen schaute sie ihn dabei an und fragte gleichsam mit dem Blicke: ›Bedeutet es das, was ich denke?‹
»Ich habe es verstanden«, sagte sie endlich errötend.
»Was ist das für ein Wort?« fragte er und zeigte auf das n, das »niemals« bedeutete.
»Dieses Wort heißt ›niemals‹«, antwortete sie. »Aber dieses Wort sagt nicht die Wahrheit.«
Er wischte das Geschriebene schnell weg, reichte ihr die Kreide hin und stand auf. Sie schrieb: D, k, i, n, a, a.
Dolly fühlte sich über den Kummer, den ihr das Gespräch mit Alexei Alexandrowitsch bereitet hatte, völlig hinweggetröstet, als sie diese beiden Gestalten nebeneinander sah: Kitty, die, die Kreide in der Hand, mit einem schüchternen, glückseligen Lächeln zu Ljewin in die Höhe blickte, und seine hübsche Gestalt, die sich über den Tisch beugte, mit den leuchtenden Augen, die sich bald auf den Tisch, bald auf sie richteten. Plötzlich strahlte er über das ganze Gesicht: er hatte verstanden. Es bedeutete: »Damals konnte ich nicht anders antworten.«
Er blickte sie zaghaft fragend an.
»Nur damals?«
»Ja«, antwortete ihr Lächeln.
»Und jetzt ... und jetzt?« fragte er.
»Nun, dann sehen Sie, bitte, her und lesen Sie! Ich werde schreiben, was mein Wunsch ist, mein dringender Wunsch!« Sie schrieb folgende Anfangsbuchstaben: D, S, v, u, v, k, w, g, i. Das bedeutete: »Daß Sie vergeben und vergessen könnten, was geschehen ist.«
Er ergriff mit krampfhaft zitternden Fingern die Kreide und schrieb in solcher Erregung, daß er die Kreide dabei zerbrach, die Anfangsbuchstaben folgender Sätze hin: »Ich habe nichts zu vergeben und zu vergessen; ich liebe Sie noch unverändert.«
Sie sah ihn mit einem regungslosen Lächeln an.
»Ich habe verstanden«, flüsterte sie.
Er setzte sich hin und schrieb einen langen Satz. Sie verstand alles, und ohne zu fragen, ob sie auch alles richtig aufgefaßt habe, nahm sie die Kreide und antwortete sofort.
Er konnte das, was sie geschrieben hatte, trotz längerer Bemühung nicht verstehen und blickte ihr oft in die Augen. Er war von seinem Glücke ganz benommen und schlechterdings [206] nicht imstande, für die Anfangsbuchstaben die Worte einzusetzen, die sie gemeint hatte; aber in ihren reizenden, glückstrahlenden Augen las er alles, was er zu wissen brauchte. Und nun schrieb er drei Buchstaben. Aber er hatte noch nicht zu Ende geschrieben, als sie schon das Geschriebene hinter seiner Hand las, es selbst zu Ende brachte und auch gleich die Antwort dazuschrieb: »Ja.«
»Ihr spielt wohl secrétaire 1?« fragte der alte Fürst, der zu ihnen herantrat. »Aber nun müssen wir fahren, wenn du noch zur rechten Zeit ins Theater kommen willst.«
Ljewin stand auf und begleitete Kitty bis zur Tür.
In ihrem Gespräche war alles Erforderliche gesagt worden; es war gesagt worden, daß sie ihn liebe und ihrem Vater und ihrer Mutter sagen wolle, daß er morgen vormittag hinkommen werde.
1 (frz.) Geheimschreiber.
Als Kitty weggefahren und Ljewin allein geblieben war, empfand er fern von ihr eine solche Unruhe und wünschte mit einer solchen Ungeduld die Zeit vorüber bis zum nächsten Vormittag, wo er sie wiedersehen und sich für immer mit ihr verbinden sollte, daß er diese vierzehn Stunden, die er ohne Kitty würde zubringen müssen, wie den Tod fürchtete. Er mußte unbedingt mit jemand zusammen sein und reden, um nur nicht ganz allein zu sein und um sich über die Zeit hinwegzutäuschen. Stepan Arkadjewitsch wäre für ihn der angenehmste Gesellschafter gewesen; aber der fuhr weg, wie er sagte, zu einer Abendgesellschaft, in Wirklichkeit jedoch zum Ballett. Ljewin fand nur gerade noch Zeit, ihm zu sagen, daß er glücklich sei und ihn sehr gern habe und nie vergessen werde, was er für ihn getan habe. Aus Stepan Arkadjewitschs Blick und Lächeln konnte Ljewin abnehmen, daß jener dieses Gefühl gebührendermaßen zu würdigen wußte.
»Nun also, es ist doch wohl noch nicht Zeit zum Sterben?« fragte Stepan Arkadjewitsch und drückte ihm gerührt die Hand.
»Nein, nein«, erwiderte Ljewin.
Darja Alexandrowna wünschte ihm, als er sich ihr empfahl, gleichfalls gewissermaßen Glück, indem sie sagte: »Ich freue mich sehr, daß Sie Kitty wiedergetroffen haben; alte Freundschaften muß man in Ehren halten.« Alle diese Worte Darja Alexandrownas erregten bei Ljewin eine unangenehme Empfindung. Diese Frau hatte gar kein Verständnis dafür, wie unerreichbar hoch das alles über ihr stand, und hätte nicht wagen [207] sollen, davon zu reden. Ljewin verabschiedete sich von den Wirten und Gästen; aber um nicht allein zu bleiben, hängte er sich an seinen Bruder.
»Wohin fährst du?«
»Ich fahre zu einer Stadtverordnetensitzung.«
»Na, dann komme ich mit. Darf ich?«
»Warum denn nicht? Komm nur!« versetzte Sergei Iwanowitsch lächelnd. »Was hast du nur heute?«
»Ich? Ich bin glücklich!« antwortete Ljewin und ließ das Fenster des Wagens, in dem sie fuhren, herunter. »Es ist dir doch nicht unangenehm? Es ist hier so stickig. Ich bin glücklich. Warum hast du eigentlich nie geheiratet?«
Sergei Iwanowitsch lächelte.
»Ich freue mich sehr; sie scheint mir ein reizendes Mäd ...« fing er an.
»Rede nicht, rede nicht, rede nicht!« rief Ljewin, faßte mit beiden Händen den Kragen von Sergei Iwanowitschs Pelz und schlug die beiden Teile übereinander. »Sie ist ein reizendes Mädchen«, das waren gar zu gewöhnliche, niedrige Ausdrücke, die so gar nicht seinem Gefühle entsprachen.
Sergei Iwanowitsch stimmte ein lustiges Lachen an, was bei ihm nur selten vorkam.
»Na, aber das darf ich doch wenigstens sagen, daß ich mich sehr darüber freue.«
»Das darfst du morgen sagen, morgen, aber jetzt nichts weiter! Nichts, nichts, ganz still sein!« meinte Ljewin, schlug ihm noch einmal den Pelz vor dem Munde zusammen und fügte hinzu: »Ich habe dich sehr gern! Wie ist's? Darf ich mit in die Sitzung?«
»Gewiß, selbstverständlich.«
»Was liegt denn bei euch heute vor?« fragte Ljewin, der immer weiter lächelte.
Sie kamen in die Sitzung. Ljewin hörte zu, wie der Sekretär, häufig anstoßend, ein Protokoll vorlas, das er offenbar selbst nicht verstand; aber Ljewin sah es diesem Sekretär am Gesicht an, was für ein lieber, guter, prächtiger Mensch er war. Das war daran zu sehen, wie verwirrt und verlegen er beim Vorlesen des Protokolls wurde. Dann begann die Verhandlung. Man stritt über die Streichung irgendwelcher Geldsummen und über die Legung irgendwelcher Röhren, und Sergei Iwanowitsch griff zwei andere Mitglieder der Versammlung sehr scharf an und hielt eine längere Rede, mit der er entschieden den Sieg davontrug. Und ein anderes Mitglied antwortete ihm, unter Benutzung eines Zettels mit Vermerken, anfangs etwas zaghaft, dann aber recht giftig und ganz allerliebst. Und dann sagte Swijaschski, [208] der auch da war, etwas in sehr schöner, vornehmer Weise. Ljewin hörte ihnen zu und sah deutlich, daß weder diese weggestrichenen Geldsummen noch die Röhren einem von ihnen Kummer machten und daß sie sich überhaupt nicht ärgerten und zankten, sondern sämtlich sehr gute, prächtige Menschen waren und daß es durchweg sehr hübsch und nett unter ihnen zuging. Sie taten niemandem etwas zuleide und fühlten sich offenbar alle sehr behaglich. Merkwürdig erschien ihm, daß sie alle für ihn heute gleichsam durchsichtig geworden waren und er an kleinen Anzeichen, die ihm früher entgangen waren, die Seele eines jeden genau beurteilen konnte und klar erkannte, daß sie sämtlich gute Menschen waren. Namentlich schienen sie alle ihn selbst heute außerordentlich gern zu haben. Das war aus der Art deutlich, wie sie mit ihm sprachen und wie sogar diejenigen, mit denen er gar nicht bekannt war, ihn freundlich und vertraulich ansahen.
»Nun also, bist du zufrieden?« fragte ihn Sergei Iwanowitsch.
»Sehr. Ich hätte nicht gedacht, daß das so interessant wäre! Wunderschön, ganz ausgezeichnet!«
Swijaschski trat zu Ljewin heran und lud ihn ein, in seiner Familie mit ihm Tee zu trinken. Ljewin konnte durchaus nicht begreifen und sich nicht erinnern, was ihm eigentlich an Swijaschski früher unangenehm gewesen sei und was er bei ihm vermißt habe. Er war ja doch ein überaus kluger und außerordentlich gutherziger Mensch.
»Sehr gern«, erwiderte er und erkundigte sich dann nach seiner Frau und nach seiner Schwägerin. Und infolge einer sonderbaren Gedankenverbindung, indem sich nämlich in seinem Kopfe der Gedanke an Swijaschskis Schwägerin mit dem Gedanken an das Heiraten verknüpfte, kam er zu der Vorstellung, daß er mit niemand besser von seinem Glücke reden könne als mit Swijaschskis Frau und Schwägerin, und so war es ihm denn eine große Freude, mit diesem mitzufahren.
Swijaschski befragte ihn über sein Unternehmen auf dem Lande und bestritt dabei wie immer die Möglichkeit, etwas zu finden, was in Europa noch nicht gefunden wäre; aber jetzt fühlte sich Ljewin dadurch in keiner Weise unangenehm berührt. Im Gegenteil sagte er sich, daß Swijaschski recht habe und dieses ganze Unternehmen wertlos sei, und er beachtete die bewundernswerte Milde und Zartheit, mit der Swijaschski es vermied, seine eigene Ansicht geradezu als die richtige zu bezeichnen. Swijaschskis Damen waren ganz besonders liebenswürdig. Ljewin hatte die Empfindung, als wüßten sie bereits alles und nähmen herzlich daran Anteil und wollten nur aus[209] Zartgefühl nicht davon reden. Er saß bei ihnen eine Stunde lang, zwei Stunden, drei Stunden und unterhielt sich mit ihnen über die mannigfaltigsten Gegenstände; aber er dachte im stillen nur an das, was seine ganze Seele ausfüllte, und bemerkte nicht, daß er Swijaschskis furchtbar langweilte und daß sie längst gern sich schlafen gelegt hätten. Swijaschski begleitete ihn gähnend in das Vorzimmer, höchst verwundert über den sonderbaren Zustand, in dem sich sein Freund befand. Es war schon ein Uhr durch. Ljewin kehrte in sein Hotel zurück und erschrak bei dem Gedanken, daß er nun die noch übrigen zehn Stunden allein mit seiner Ungeduld werde verbringen müssen. Der Kellner, der den Nachtdienst hatte und deshalb wach war, zündete ihm die Kerzen an und wollte dann wieder hinausgehen; aber Ljewin hielt ihn zurück. Dieser Kellner Jegor, den Ljewin früher gar nicht beachtet hatte, erwies sich als ein sehr verständiger, netter und vor allen Dingen auch als ein von Herzen guter Mensch.
»Nun, Jegor, das ist wohl eine schwere Aufgabe, so die ganze Nacht wach zu bleiben?«
»Was ist zu machen? Das gehört nun einmal mit zu unserm Dienst. Wenn man bei einer Herrschaft ist, hat man ja mehr Ruhe; aber dafür ist hier die Einnahme besser.«
Auf Ljewins Fragen teilte ihm Jegor mit, daß er verheiratet sei und drei Knaben und eine Tochter habe, die Näherin sei und nächstens einen Handlungsgehilfen aus einem Geschäft für Pferdegeschirre heiraten werde.
Ljewin setzte bei diesem Anlasse dem Kellner Jegor seine Ansicht auseinander, daß in der Ehe die Hauptsache die Liebe sei und daß man, wenn nur diese nicht fehle, immer glücklich sein müsse, weil die Quelle des Glückes nur im eigenen Herzen sei.
Jegor hörte aufmerksam zu und verstand offenbar Ljewins Meinung vollkommen; aber um diese noch seinerseits zu bekräftigen, brachte er die für Ljewin unerwartete Bemerkung vor, er sei, wenn er bei guten Herrschaften gedient habe, mit seinen Herrschaften immer zufrieden gewesen und sei auch jetzt mit seinem Brotherrn vollkommen zufrieden, obgleich dieser ein Franzose sei.
›Ein außerordentlich guter Mensch!‹ dachte Ljewin.
»Nun, und als du dich verheiratetest, Jegor, hast du da deine Frau geliebt?«
»Aber natürlich!« antwortete Jegor.
Und Ljewin sah, daß sich Jegor gleichfalls in einem Zustande des Entzückens befand und vorhatte, ihm alle seine seelischen Empfindungen zu schildern.
[210] »Mein Lebenslauf ist auch ein ganz wunderbarer. Von meiner Kindheit an ...«, begann er mit leuchtenden Augen; offenbar hatte ihn Ljewins Entzücken angesteckt, geradeso wie Gähnen ansteckend wirkt.
Aber in diesem Augenblicke ertönte eine Klingel; Jegor ging hinaus, und Ljewin blieb allein im Zimmer. Er hatte bei dem Mahle so gut wie nichts gegessen, bei Swijaschskis den angebotenen Tee und das Abendbrot dankend abgelehnt; aber trotzdem war ihm der Gedanke, jetzt noch etwas zu essen, ganz unmöglich. Er hatte in der vorigen Nacht nicht geschlafen, mochte aber an Schlaf überhaupt nicht denken. Im Zimmer war es kühl; aber er glaubte vor Hitze ersticken zu müssen. Er öffnete die beiden Luftklappen des Doppelfensters und setzte sich ihnen gegenüber auf den Tisch. Über einem schneebedeckten Dache war ein mit Ketten musterartig verziertes Kreuz sichtbar, das auf einer Kirchenkuppel stand, und höher hinauf das aufsteigende Dreieck des Sternbildes des Fuhrmanns mit der gelblich leuchtenden Kapella. Er blickte bald nach dem Kreuze, bald nach dem Sterne hin, atmete die frische Winterluft ein, die gleichmäßig ins Zimmer strömte, und verfolgte wie im Traum die Bilder und Erinnerungen, die vor seinem geistigen Auge auftauchten. Etwa um halb vier Uhr hörte er Schritte auf dem Seitengang und blickte aus der Tür. Es war ein ihm bekannter Spieler Mjaskin, der aus dem Klub kam. Mit finsterem Gesichte und zusammengezogenen Augenbrauen ging er hüstelnd nach seinem Zimmer. ›Der Arme, der Unglückliche!‹ dachte Ljewin, und Tränen der Liebe und des Mitleides mit diesem Menschen traten ihm in die Augen. Er wollte ihn schon anreden und ihm Trost zusprechen; aber da ihm noch einfiel, daß er nur im Hemde war, so unterließ er es und setzte sich wieder an die Luftklappe, um sich in der kalten Luft zu baden und dieses wunderlich geformte, stumme, aber für ihn so bedeutungsvolle Kreuz und den immer höher steigenden gelblich leuchtenden Stern zu betrachten. Nach sechs Uhr begannen die Dielenbohner zu lärmen; auf irgendeiner Kirche wurde zur Frühmesse geläutet, und Ljewin spürte, daß er zu frieren anfing. Er schloß die Luftklappe, wusch sich, kleidete sich an und ging auf die Straße hinaus.
Auf den Straßen war es noch sehr still und einsam. Ljewin ging zu dem Schtscherbazkischen Hause. Der Eingang für Herrschaften war noch geschlossen, und alles schlief. Er kehrte in sein [211] Hotel zurück, ging wieder auf sein Zimmer und bestellte sich Kaffee. Ein Kellner, aber nun ein anderer als Jegor, brachte ihn ihm. Ljewin wollte ein Gespräch mit ihm anknüpfen; aber es wurde nach dem Kellner geklingelt, und dieser ging hinaus. Ljewin versuchte Kaffee zu trinken und steckte ein Stück Semmel in den Mund; aber sein Mund wußte schlechterdings nicht, was er mit der Semmel anfangen sollte. Ljewin spie sie wieder aus, zog seinen Überzieher wieder an und ging nochmals auf die Straße. Es war zwischen neun und zehn Uhr, als er zum zweiten Male an das Tor des Schtscherbazkischen Hauses kam. Im Hause war man eben erst aufgestanden, und der Koch ging aus, um einzukaufen. Er mußte sich noch mindestens zwei Stunden gedulden.
Diese ganze Nacht und den Morgen hatte Ljewin verlebt, ohne überhaupt an sein eigenes Dasein zu denken, und er fühlte sich von allen äußeren Erfordernissen des Lebens völlig losgelöst. Er hatte den ganzen Tag fast nichts gegessen, zwei Nächte nicht geschlafen, hatte mehrere Stunden entkleidet in der Kälte zugebracht, und doch fühlte er sich nicht nur so frisch und gesund wie nur je zuvor, sondern auch geradezu unabhängig von seinem Körper: er bewegte sich, ohne die Muskeln anzustrengen, und hatte die Empfindung, daß er schlechthin alles könne. Er war überzeugt, daß er in die Höhe fliegen oder die Ecke eines Hauses fortschieben könne, wenn das erforderlich sein sollte. Während der noch übrigen Zeit wanderte er auf der Straße umher, wobei er unaufhörlich nach der Uhr sah und sich nach allen Seiten umblickte.
Und so interessante Dinge wie damals bekam er in seinem ganzen späteren Leben nicht wieder auf der Straße zu sehen. Besonderen Eindruck machten ihm die Kinder, die zur Schule gingen, die blaugrauen Tauben, die von einem Dache auf den Fußsteig heruntergeflogen kamen, und die mit Mehl überstäubten Semmeln, die eine unsichtbare Hand in einem Schaufenster auslegte. Diese Semmeln, diese Tauben sowie zwei kleine Knaben erschienen ihm wie Dinge, die nicht von dieser Welt waren. Folgendes begab sich alles in ein und demselben Augenblick: einer der beiden Knaben lief auf eine Taube zu und blickte lächelnd nach Ljewin hin; die Taube schlug klatschend mit den Flügeln und flog davon, wobei ihr Gefieder im Sonnenlichte zwischen den in der Luft zitternden Schneestäubchen hell leuchtete; und aus einem Fenster duftete es nach frisch gebackenem Brote, und es wurden dort die Semmeln ausgelegt. Alles dies zusammen war so außerordentlich hübsch, daß Ljewin vor Freude zugleich lachte und weinte. Nachdem er einen großen Rundgang durch die Gasetnü-Gasse und die Kislowka gemacht hatte, kehrte er [212] in sein Hotel zurück, legte die Uhr vor sich auf den Tisch, setzte sich hin und wartete, bis es zwölf sein würde. Im Nachbarzimmer wurde von Maschinen und von einer Betrügerei gesprochen, und es war ein energisches Husten zu hören, wie es sich morgens nach dem Aufwachen einzustellen pflegt. Die Leute dort hatten offenbar gar kein Verständnis dafür, daß der Uhrzeiger sich schon der Zwölf näherte. Endlich hatte der Zeiger die Zwölf erreicht, und Ljewin trat vor das Tor. Die Droschkenkutscher wußten augenscheinlich alles. Sie umringten Ljewin mit glückseligen Gesichtern und boten, sich untereinander streitend, ihre Dienste an. Ljewin wählte sich einen Kutscher aus, versprach den übrigen, damit sie sich nicht gekränkt fühlen möchten, bei späteren Gelegenheiten auch mit ihnen zu fahren, und gab dem seinigen als Ziel das Schtscherbazkische Haus an. Der Kutscher sah allerliebst aus mit seinem weißen Hemdkragen, der aus dem Rocke hervorschaute und den vollen, roten, kräftigen Hals straff umschloß. Und was den Schlitten dieses Kutschers anlangte, so war er hoch und außerordentlich bequem, ein Schlitten, wie er Ljewin in späteren Zeiten nie wieder vorkam; und auch das Pferd war gut und gab sich alle Mühe, schnell zu laufen, kam aber allerdings nicht vom Fleck. Der Kutscher kannte das Schtscherbazkische Haus, hob am Ziele, zum Zeichen besonderer Ehrerbietung gegen seinen Fahrgast, die Arme in einer schönen runden Geste, sagte: »Brr!« und hielt am Eingang. Der Schtscherbazkische Pförtner wußte bestimmt alles. Das konnte man aus seinem Lächeln abnehmen und aus der Art, wie er sagte:
»Ah, Sie sind ja lange nicht hier gewesen, Konstantin Dmitrijewitsch!«
Er wußte nicht nur alles, sondern war auch offenbar entzückt darüber und machte die größten Anstrengungen, um seine Freude zu verbergen. Ljewin blickte dem alten Manne in die guten, freundlichen Augen und fand dabei noch wieder einen neuen Anlaß, sich glücklich zu fühlen.
»Sind die Herrschaften schon aufgestanden?«
»Bitte, näher zu treten! Oh, lassen Sie sie nur hier!« sagte er lächelnd, als Ljewin umkehren und seine Mütze mit hereinnehmen wollte. Das hatte sicherlich etwas zu bedeuten.
»Wem darf ich Sie melden?« fragte der Diener.
»Der Fürstin ... dem Fürsten ... der Prinzessin ...«, antwortete Ljewin.
Die erste Person, die er traf, war Mademoiselle Linon. Sie ging durch den Saal, und ihre Löckchen und ihr Gesicht strahlten nur so. Kaum hatte er mit ihr ein paar Worte gewechselt, [213] als sich im Nebenzimmer hinter der Tür das Rascheln eines Kleides vernehmen ließ und Mademoiselle Linon ihm auf einmal aus den Augen verschwunden war. Ein freudiger Schreck über die Nähe seines Glückes überkam ihn. Mademoiselle Linon hatte es jetzt sehr eilig, ihn zu verlassen, und ging nach einer andern Tür hin. Kaum war sie hinausgegangen, als rasche, ganz rasche, leichte Schritte auf dem Parkett ertönten und sein Glück, sein Leben, sein wahres Selbst, sein besseres Ich, das, was er so lange gesucht und ersehnt hatte, sich ihm schnell, ganz schnell näherte. Sie ging nicht, sondern wurde durch eine Art von unsichtbarer Kraft zu ihm hingetragen.
Er sah nur ihre klaren, ehrlichen Augen und in ihnen das leise Erschrecken über ebendieselbe Liebesempfindung, von der sein eigenes Herz erfüllt war. Diese leuchtenden Augen kamen ihm immer näher und näher und blendeten ihn mit ihrem Liebesglanze. Sie blieb dicht vor ihm stehen, so daß ihr Kleid ihn berührte. Ihre Arme hoben sich in die Höhe und senkten sich auf seine Schultern herab.
Sie hatte alles getan, was sie nur konnte: sie war auf ihn zugeeilt und hatte sich, schüchtern und freudig zugleich, ihm ganz zu eigen gegeben. Er umarmte sie und drückte seine Lippen auf ihren Mund, der seinen Kuß suchte.
Auch sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und den ganzen Vormittag auf ihn gewartet.
Ihre Mutter und ihr Vater hatten sich widerspruchslos einverstanden erklärt und waren glücklich über das Glück ihres Kindes. Sie hatte auf ihn gewartet. Sie hatte die erste sein wollen, die ihm ihr und sein Glück mitteilte. Sie hatte sich vorgenommen, ihn allein zu empfangen, und sich über diesen Gedanken gefreut, war aber doch zaghaft gewesen und hatte sich geschämt und selbst nicht gewußt, was sie bei der Begegnung tun sollte. Da hatte sie seine Schritte und seine Stimme gehört und hinter der Tür gewartet, bis Mademoiselle Linon weggehen würde. Mademoiselle Linon war gegangen. Und nun war sie, ohne einen Augenblick zu überlegen und ohne sich zu fragen, was sie tun sollte und wie sie es tun sollte, zu ihm hingeeilt und hatte getan, was oben erzählt ist.
»Wir wollen zu Mama gehen!« sagte sie nun und faßte ihn bei der Hand. Er war längere Zeit nicht imstande, etwas zu sagen, nicht weil er fürchtete, der Erhabenheit seiner Empfindung durch ein gesprochenes Wort Eintrag zu tun, sondern weil er jedesmal, wenn er etwas sagen wollte, fühlte, daß ihm statt der Worte Tränen des Glückes kommen würden. Er ergriff ihre Hand und küßte sie.
[214] »Ist es denn wirklich wahr?« sagte er endlich mit tonloser Stimme. »Ich kann es gar nicht glauben, daß du mich liebst!«
Sie lächelte über dieses Du und über die Zaghaftigkeit, mit der er sie anblickte.
»Ja!« erwiderte sie langsam und mit ruhigem Ernste. »Ich bin so glücklich!«
Sie ließ seine Hand nicht los, als sie beide in den Salon traten. Sobald die Fürstin das Paar erblickte, ging ihr Atem schneller, und sie brach sogleich in Tränen aus, lachte dann aber unmittelbar darauf, eilte mit so energischen Schritten, wie es Ljewin von ihr gar nicht erwartet hätte, auf die beiden zu, umfaßte Ljewins Kopf, küßte ihn und benetzte seine Wangen mit ihren Tränen.
»So ist denn alles zum guten Ende gelangt. Ich bin so froh. Habe sie nur lieb! Ich bin so froh ... Kitty!«
»Das habt ihr ja schnell in Ordnung gebracht!« sagte der alte Fürst, der sich Mühe gab, gleichmütig zu erscheinen; aber Ljewin bemerkte, als er sich zu ihm wandte, daß ihm die Augen feucht waren. »Das habe ich schon lange gewünscht, immer gewünscht!« fuhr er fort, ergriff Ljewins Hand und zog ihn an sich. »Schon damals, als dieses flatterhafte Persönchen hier den Einfall hatte ...«
»Papa!« rief Kitty und hielt ihm die Hände vor den Mund.
»Na, ich bin ja schon stille!« sagte er. »Ich freue mich sehr, sehr ... Ach, wie töricht bin ich ...«
Er umarmte Kitty, küßte ihr Gesicht und ihre Hand und wieder ihr Gesicht und bekreuzte sie.
Und in Ljewin erwachte ein neues Gefühl der Liebe zu diesem ihm bisher so fremden Manne, dem alten Fürsten, als er sah, wie Kitty seine fleischige Hand lange und zärtlich küßte.
Die Fürstin saß schweigend und lächelnd in einem Lehnsessel; der Fürst setzte sich neben sie. Kitty stand bei dem Sessel ihres Vaters und ließ noch immer seine Hand nicht aus der ihrigen. Alle schwiegen.
Die Fürstin war die erste, die die Dinge einfach mit ihren Namen nannte und alle Gedanken und Gefühle zu den Fragen des wirklichen Lebens hinüberleitete. Im ersten Augenblicke fühlten sich dadurch alle in gleicher Weise seltsam und sogar geradezu schmerzlich berührt.
[215] »Nun also, wann denn? Wir müssen die Verlobung feiern und veröffentlichen. Und wann soll denn die Hochzeit sein? Wie denkst du darüber, Alexander?«
»Hier, der da«, erwiderte der alte Fürst, auf Ljewin zeigend, »der ist dabei die Hauptperson.«
»Wann?« fragte Ljewin errötend. »Morgen. Wenn Sie mich fragen: meiner Ansicht nach sollte heute die Verlobungsfeier sein und morgen die Hochzeit.«
»Nun, so mußt du nicht reden, mon cher, das ist Unsinn.«
»Nun, dann in einer Woche.«
»Er ist ganz von Sinnen.«
»Ja, aber warum denn nicht?«
»Aber ich bitte dich um alles in der Welt«, versetzte die Mutter, über seine Eile vergnügt lächelnd. »Und die Aussteuer?«
›Wird denn wirklich eine Aussteuer und all so etwas auch dabei sein?‹ dachte Ljewin mit Entsetzen. ›Indessen, kann denn etwa eine Aussteuer und eine Verlobungsfeier und all dergleichen, kann denn das etwa mein Glück stören? Durch nichts kann es gestört werden!‹ Er blickte Kitty an und sah, daß der Gedanke an eine Aussteuer für sie gar nichts, durchaus gar nichts Verletzendes hatte. ›Also wird das wohl so sein müssen‹, sagte er sich.
»Ich verstehe ja nichts davon; ich habe nur gesagt, was ich wünschen würde«, entschuldigte er sich.
»Dann wollen wir also einmal überlegen. Die Verlobung können wir gleich jetzt feiern und veröffentlichen; das ist in der Ordnung.«
Die Fürstin trat zu ihrem Manne, küßte ihn und wollte hinausgehen; aber er hielt sie zurück und küßte sie lächelnd mehrmals, so zärtlich wie ein verliebter junger Mann. Die beiden alten Leute waren offenbar für einen Augenblick ganz irre geworden und wußten nicht recht, ob sie selbst wieder verliebt seien oder nur ihre Tochter. Als der Fürst und die Fürstin hinausgegangen waren, trat Ljewin auf seine Braut zu und faßte sie an der Hand. Er hatte jetzt die Herrschaft über sich zurückgewonnen und war wieder im stande zu reden, und er hatte ihr vieles zu sagen. Aber was er sagte, war ganz und gar nicht das, was er eigentlich sagen wollte.
»Ich habe sicher gewußt, daß es so kommen würde! Zu hoffen habe ich es nie gewagt, aber im Grunde meines Herzens war ich doch immer davon überzeugt«, sagte er. »Ich glaube, daß es so vorherbestimmt war.«
»Ist es mir nicht ebenso gegangen?« versetzte sie. »Selbst damals ...«, sie stockte, fuhr dann aber fort, indem sie ihn mit [216] ihren ehrlichen Augen entschlossen anblickte, »selbst damals, als ich mein Glück von mir stieß. Ich habe immer nur Sie allein geliebt, aber ich war verblendet. Das muß ich jetzt bekennen ... Können Sie das vergessen?«
»Vielleicht ist das gerade zu meinem Besten. Denn Sie werden mir vieles verzeihen müssen. Ich muß Ihnen bekennen ...«
Dies war eins von den Dingen, die er ihr zu sagen beschlossen hatte. Er hatte beschlossen, ihr gleich in den ersten Tagen zweierlei mitzuteilen: erstens, daß er nicht so rein sei wie sie, und zweitens, daß er ungläubig sei. Das war eine qualvolle Aufgabe; aber er erachtete es für seine Pflicht, ihr das eine wie das andere zu sagen.
»Nein, nicht jetzt, später!« fügte er hinzu.
»Gut, später; aber sagen müssen Sie es mir unbedingt. Ich fürchte nichts. Ich muß alles wissen. Zwischen uns ist jetzt alles abgemacht.«
Er suchte den Sinn ihrer letzten Wendung genauer festzustellen:
»Ist es also abgemacht, daß Sie mich nehmen, wie auch immer ich sein mag, und mich nicht doch noch zurückweisen? Ja?«
»Ja, ja.«
Ihr Gespräch wurde durch Mademoiselle Linon unterbrochen, die mit einem zwar gekünstelten, aber doch wahrhaft zärtlichen Lächeln kam, um ihrem lieben Zöglinge Kitty Glück zu wünschen. Sie war noch nicht hinausgegangen, als die Dienerschaft mit ihren Glückwünschen erschien. Dann kamen die Verwandten, und nun begann jener glückselige Trubel, aus dem Ljewin bis zum Tage nach seiner Hochzeit nicht mehr herauskam. Es war ihm davon beständig unbehaglich und öde zumute; aber die starke Glücksempfindung hielt an und steigerte sich noch immer mehr. Er hatte beständig das Gefühl, daß von ihm vieles verlangt wurde, worauf er sich nicht verstand; aber er tat alles, was man ihm sagte, und all dies machte ihn nur noch glücklicher. Er meinte, daß sein Bräutigamsstand keine Ähnlichkeit mit dem anderer Leute habe und daß ein Bräutigamsstand von der gewöhnlichen Art sein ganz eigenartiges Glück stören würde; aber es kam schließlich so heraus, daß er genau dasselbe tat wie andere Bräutigame; und sein Glück wuchs dadurch nur noch mehr und gestaltete sich seiner Ansicht nach immer mehr zu einem ganz besonderen und eigenartigen, das seinesgleichen weder in der Vergangenheit gehabt habe, noch in Zukunft jemals haben werde.
»Jetzt werden wir aber einmal Konfekt zu essen bekommen!« äußerte Mademoiselle Linon, und Ljewin fuhr hin, um Konfekt zu kaufen.
[217] »Na, das freut mich recht«, sagte Swijaschski. »Ich empfehle Ihnen, die Blumen von Fomin zu entnehmen.«
»Also Blumen sind nötig?« Und er fuhr zu Fomin.
Sein Bruder meinte, er werde wohl etwas Geld aufnehmen müssen, da er doch viele Ausgaben haben werde, für Geschenke ...
»Ah, also Geschenke sind erforderlich?« Und er hatte es eilig, zum Bankier Fulde hinzukommen.
Und sowohl beim Konditor wie auch bei Fomin und bei Fulde sah er, daß die Leute ihn erwartet hatten und sich über sein Kommen freuten und an seinem Glücke teilnahmen, ganz so wie alle, mit denen er in dieser Zeit zu tun hatte. Es erschien ihm merkwürdig, daß ihn nicht nur alle Leute gern hatten, sondern sogar alle die Menschen, die ihm früher unleidlich gewesen waren und sich gegen ihn kühl und gleichgültig benommen hatten, nun von ihm entzückt waren, sich ihm in allen Dingen gefällig zeigten, seinem Gefühle gegenüber ein zartes, taktvolles Benehmen beobachteten und seine Überzeugung teilten, daß er der glücklichste Mensch der Welt sei, da seine Braut den Gipfel aller Vollkommenheit darstelle. Ganz dieselbe Empfindung hatte auch Kitty. Als die Gräfin Northstone sich erlaubte, eine Andeutung zu machen, daß sie eigentlich doch für Kitty noch etwas Besseres gewünscht habe, da wurde Kitty so heftig und bewies mit so überzeugenden Gründen, daß es einen besseren Gatten als Ljewin überhaupt auf der ganzen Welt nicht geben könne, daß die Gräfin Northstone dies zugeben mußte und von da an, sobald Kitty zugegen war, für Ljewin immer ein Lächeln des Entzückens bereit hatte.
Das Geständnis, das er seiner Braut versprochen hatte, war das einzige schmerzliche Ereignis in dieser ganzen Zeit. Er fragte darüber den alten Fürsten um Rat und übergab mit dessen Genehmigung Kitty sein Tagebuch, in dem das, was ihn so quälte, geschrieben stand. Auch hatte er dieses Tagebuch bereits damals, als er es anlegte, im Hinblick auf seine zukünftige Braut geschrieben. Ihn peinigten zwei Dinge: seine Unreinheit und sein Unglaube. Das Geständnis seines Unglaubens nahm Kitty ohne Erregung hin. Sie war religiös gesinnt und hatte nie an der Wahrheit der Religion gezweifelt; aber sein äußerlicher Unglaube machte überhaupt keinen Eindruck auf sie. Vermöge ihrer Liebe kannte sie seine ganze Seele, und was sie in seiner Seele sah, das schien ihr gut; daß aber ein solcher Seelenzustand als Unglaube bezeichnet wird, das war ihr völlig gleichgültig. Über das andere Geständnis hingegen vergoß sie bittere Tränen.
[218] Ljewin hatte ihr sein Tagebuch nicht ohne inneren Kampf übergeben. Er wußte, daß es zwischen ihm und ihr keine Geheimnisse geben könne und dürfe, und war daher zu der bestimmten Überzeugung gelangt, daß es seine Pflicht sei, dies zu tun; aber er war sich nicht darüber klargeworden, wie dies wirken könne, und hatte sich nicht in ihre Seele hineinversetzt. Erst als er an dem betreffenden Abend vor der Theatervorstellung zu Schtscherbazkis kam, in Kittys Zimmer trat und ihr verweintes, trauriges, liebes Gesichtchen erblickte, das infolge des von ihm verschuldeten, nie wiedergutzumachenden Kummers so tief unglücklich aussah: erst da begriff er ganz, durch welch eine Kluft seine schmähliche Vergangenheit von ihrer Taubenreinheit getrennt war, und erschrak tief über das, was er getan hatte.
»Nehmen Sie diese schrecklichen Bücher weg, nehmen Sie sie weg!« rief sie und stieß die Hefte, die vor ihr auf dem Tische lagen, von sich. »Warum haben Sie sie mir gegeben? ... Aber nein, es war doch besser so«, fügte sie, von Mitleid über seine verzweifelte Miene ergriffen, hinzu. »Aber es ist entsetzlich, entsetzlich!«
Er ließ den Kopf sinken und schwieg. Er war nicht imstande, etwas zu sagen.
»Sie werden es mir nicht verzeihen«, flüsterte er.
»Verziehen habe ich es, ja. Aber es ist entsetzlich!«
Aber sein Glück war so groß, daß selbst dieses Geständnis es nicht störte, sondern ihm nur eine neue Schattierung verlieh. Sie hatte ihm verziehen. Aber seitdem achtete er sich ihrer noch weniger für würdig, beugte sich moralisch noch tiefer vor ihr und schätzte sein unverdientes Glück noch höher.
Während Alexei Alexandrowitsch nach dem Hotel zurückfuhr, wo sein einsames Zimmer ihn erwartete, ließ er unwillkürlich in seinem Gedächtnisse die Eindrücke der bei und nach dem Essen geführten Gespräche noch einmal an sich vorüberziehen. Was Darja Alexandrowna vom Verzeihen gesagt, hatte ihn lediglich geärgert. Die Frage der Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit der christlichen Vorschrift auf seinen besonderen Fall war denn doch zu schwierig, als daß sie sich so obenhin erledigen ließe; auch hatte Alexei Alexandrowitsch diese Frage schon längst in verneinendem Sinne entschieden. Von allem, was heute bei Oblonskis gesagt worden war, hatten ihm die Worte des braven, einfältigen Turowzün den stärksten Eindruck gemacht: [219] ›Er hat sich wacker und schneidig benommen; er hat ihn gefordert und erschossen.‹ Offenbar hatten alle dieses Verhalten gebilligt, wenn sie das auch aus Höflichkeit nicht ausgesprochen hatten.
›Übrigens ist diese Angelegenheit endgültig abgeschlossen, so daß es zwecklos wäre, noch weiter darüber nachzudenken‹, sagte sich Alexei Alexandrowitsch und war, als er sein Hotelzimmer betrat, mit seinen Gedanken nur noch bei seiner bevorstehenden Abreise und bei seiner Revisionsangelegenheit. Er fragte den Pförtner, der ihn nach seinem Zimmer begleitet hatte, wo sein Diener sei; der Pförtner erwiderte, der Diener sei diesen Augenblick weggegangen. Alexei Alexandrowitsch bestellte sich Tee, setzte sich an den Tisch, nahm das Kursbuch zur Hand und legte sich seine Bahnfahrt zurecht.
»Zwei Telegramme«, sagte der Diener, der zurückgekehrt war und ins Zimmer trat. »Verzeihen Euer Exzellenz, ich war den Augenblick vorher weggegangen.«
Alexei Alexandrowitsch nahm die Telegramme und öffnete das eine. Dieses meldete ihm die Ernennung Stremows für eben den Posten, den er, Karenin, für sich selbst gewünscht hatte. Alexei Alexandrowitsch warf das Telegramm auf den Tisch; er war ganz rot geworden, stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Quos deus perdere vult, dementat« 1, sagte er, wobei er unter quos die Persönlichkeiten verstand, die bei dieser Ernennung mitgewirkt hatten. Er ärgerte sich nicht darüber, daß er nicht diese Stelle erhalten und man ihn offensichtlich übergangen hatte; aber es war ihm erstaunlich und unbegreiflich, daß man höheren Ortes hatte dafür blind sein können, daß dieser Schwätzer und Phrasenheld Stremow weniger als jeder andere für diese Stelle taugte. Wie hatte es den Leuten entgehen können, daß sie mit dieser Ernennung sich selbst und ihr eigenes Ansehen auf das schwerste schädigten!
›Gewiß noch etwas von derselben Sorte‹, sagte er ingrimmig bei sich, während er das zweite Telegramm öffnete. Es war von seiner Frau. Die mit Blaustift geschriebene Unterschrift »Anna« war das erste, was ihm in die Augen fiel. »Ich sterbe; ich bitte, ich flehe Sie an herzukommen. Mit Ihrer Verzeihung werde ich ruhiger sterben«, las er. Er lächelte verächtlich und warf das Telegramm hin. Daß dies nur ein schlauer Täuschungsversuch war, daran konnte, wie es ihm im ersten Augenblicke schien, kein Zweifel sein.
›Es gibt keinen Betrug, vor dem sie zurückschräke. Sie sieht ihrer Entbindung entgegen. Möglicherweise besteht die Krankheit nur in der Entbindung. Aber was haben sie dabei für einen [220] Zweck? Das Kind ehelich zu machen, mich bloßzustellen und die Scheidung zu verhindern?‹ überlegte er. »Aber hier heißt es doch: ›Ich sterbe ...‹« Er las das Telegramm noch einmal durch, und plötzlich fühlte er sich davon überrascht, wie echt und natürlich diese Worte klangen. ›Aber wenn es nun die Wahrheit ist?‹ fragte er sich. ›Wenn sie wirklich unter der Einwirkung schwerer Schmerzen und angesichts des nahen Todes aufrichtig bereut und ich das als Täuschungsversuch auffasse und mich weigere hinzukommen? Das würde nicht nur grausam sein und allgemein verurteilt werden, sondern es wäre auch von meiner Seite eine Dummheit.‹
»Peter, besorge mir einen Wagen! Ich reise nach Petersburg«, sagte er zu seinem Diener.
Alexei Alexandrowitsch hatte beschlossen, nach Petersburg zu fahren und seine Frau wiederzusehen. Er nahm sich dabei folgendes vor: sollte ihre Krankheit erdichtet sein, so würde er schweigen und wieder wegfahren; sollte sie aber wirklich todkrank sein und ihn vor ihrem Ende noch einmal sehen wollen, so würde er, wenn er sie noch am Leben träfe, ihr verzeihen und, wenn er zu spät käme, ihr die letzte Ehre erweisen.
Während der ganzen Reise dachte er nicht mehr an das, was er dort werde zu tun haben.
Mit jenem Gefühle von Müdigkeit und Unsauberkeit, das die Folge einer Nacht im Eisenbahnwagen zu sein pflegt, fuhr Alexei Alexandrowitsch durch den Petersburger Morgennebel den noch menschenleeren Newski-Prospekt entlang und blickte vor sich hin, ohne an das zu denken, was ihn zu Hause erwartete. Es widerstrebte ihm, daran zu denken; denn sobald er sich die bevorstehenden Möglichkeiten vergegenwärtigte, vermochte er den Gedanken nicht zu verscheuchen, daß ihr Tod mit einem Schlage alle Schwierigkeiten seiner Lage lösen würde. Die Brotverkäufer, die geschlossenen Läden, die Nachtdroschken, die Hausknechte, die den Fußsteig fegten: alle diese Bilder huschten vor seinen Augen vorüber, und er beobachtete dies alles mit der Absicht, in seinem Kopfe den Gedanken an das, was ihn erwartete und was er nicht zu wünschen wagte und doch wünschte, zu übertäuben. Er fuhr bei seinem Hause vor. Eine Droschke und ein Geschirr mit einem schlafenden Kutscher hielten vor der Tür. Als Alexei Alexandrowitsch in die Vorhalle trat, holte er gleichsam aus einem entlegenen Winkel seines Gehirnes den vorher gefaßten Entschluß heraus und machte ihn sich wieder geläufig. Der Inhalt dieses Entschlusses war: wenn es ein Täuschungsversuch ist, ruhige Verachtung und Abreise; wenn es Wahrheit ist, Wahrung des äußeren Anstandes.
[221] Der Pförtner öffnete die Tür, noch ehe Alexei Alexandrowitsch klingelte. Der Pförtner Petrow, alias Kapitonütsch, sah in seinem alten Rocke, ohne Halsbinde und in Pantoffeln recht sonderbar aus.
»Was macht die gnädige Frau?«
»Die gnädige Frau ist gestern glücklich entbunden worden.«
Alexei Alexandrowitsch blieb stehen und wurde ganz blaß. Jetzt kam es ihm deutlich zum Bewußtsein, wie stark er ihren Tod gewünscht hatte.
»Und wie ist ihr Befinden?«
Kornei, mit der Morgenschürze, kam die Treppe heruntergelaufen.
»Es steht sehr schlimm«, antwortete er. »Gestern hat eine Beratung mehrerer Ärzte stattgefunden, und der Hausarzt ist auch jetzt da.«
»Nimm das Gepäck«, sagte Alexei Alexandrowitsch. Er empfand ein gewisses Gefühl der Erleichterung infolge der Nachricht, daß doch noch Hoffnung auf ihren Tod bestand; so ging er in das Vorzimmer.
Am Kleiderständer hing ein Militärmantel. Alexei Alexandrowitsch bemerkte ihn und fragte:
»Wer ist da?«
»Der Arzt, die Hebamme und Graf Wronski.«
Alexei Alexandrowitsch ging weiter in die inneren Zimmer.
Im Salon war niemand; aus Annas Wohnzimmer kam auf das Geräusch seiner Schritte die Hebamme in einer Haube mit lila Bändern heraus.
Sie trat auf Alexei Alexandrowitsch zu, ergriff ihn mit der Vertraulichkeit, die die Nähe des Todes mit sich bringt, bei der Hand und wollte ihn nach dem Schlafzimmer führen.
»Gott sei Dank, daß Sie gekommen sind! Nur von Ihnen spricht sie, immer nur von Ihnen«, sagte sie.
»Geben Sie schnell Eis her, schnell!« ertönte aus dem Schlafzimmer die Stimme des Arztes in befehlendem Tone.
Alexei Alexandrowitsch trat in Annas Wohnzimmer. An ihrem Tische saß auf einem niedrigen Stuhle, seitwärts zur Lehne, Wronski; er hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt und weinte. Als er die Stimme des Arztes hörte, sprang er auf, nahm die Hände vom Gesicht und erblickte Alexei Alexandrowitsch. Beim Anblick des Ehemannes wurde er so verwirrt, daß er sich wieder hinsetzte und den Kopf in die Schultern zog, als wenn er irgendwohin zu verschwinden wünschte; aber dann nahm er sich gewaltsam zusammen, stand auf und sagte:
»Sie liegt im Sterben. Die Ärzte haben gesagt, es sei keine [222] Hoffnung mehr. Ich füge mich durchaus Ihrer Entscheidung; aber ich bitte Sie, mir zu gestatten, daß ich hierbleibe ... Indessen, ganz wie Sie darüber bestimmen; ich ...«
Als Alexei Alexandrowitsch sah, daß Wronski weinte, merkte er, daß ihn wieder jene seelische Verwirrung überkam, die der Anblick des Leidens anderer bei ihm regelmäßig hervorrief; er wandte das Gesicht ab und ging, ohne das, was jener sagte, zu Ende zu hören, rasch auf die Tür zu. Aus dem Schlafzimmer war Annas Stimme zu vernehmen, die irgend etwas sagte. Ihre Stimme klang heiter, lebhaft und außerordentlich fein abgetönt. Alexei Alexandrowitsch trat in das Schlafzimmer und näherte sich dem Bette. Sie lag so, daß sie ihm das Gesicht zuwandte. Ihre Wangen brannten dunkelrot; die Augen blitzten; die kleinen weißen Hände, die aus den Manschetten der Nachtjacke hervorschauten, spielten mit einem Zipfel der Bettdecke, den sie bald zusammenwickelten, bald wieder aufrollten. Anscheinend war sie nicht nur gesund und frisch, sondern auch in der allerbesten Gemütsstimmung. Sie sprach schnell, mit klangreicher Stimme und sehr richtigem, gefühlvollem Tonfall.
»Weil Alexei, ich meine Alexei Alexandrowitsch (welch ein sonderbares, schreckliches Zusammentreffen, daß sie beide Alexei heißen, nicht wahr?), weil Alexei es mir nicht abschlagen würde. Ich würde es vergessen, und er würde mir verzeihen ... Aber warum kommt er denn nicht? Er ist ein guter Mensch; er weiß selbst nicht, wie gut er ist. Ach, mein Gott, wie beklommen mir ist! Gebt mir schnell Wasser! Ach, das wird ihr, meinem kleinen Mädchen, schaden! Nun gut, dann beschafft für sie eine Amme. Nun, ich habe ja nichts dagegen; es ist sogar besser so. Wenn er kommt, würde es ihm peinlich sein, die Kleine zu sehen. Bringt sie weg!«
»Anna Arkadjewna, er ist gekommen; da ist er!« sagte die Hebamme, in dem Bemühen, ihre Aufmerksamkeit auf Alexei Alexandrowitsch zu lenken.
»Ach, was für Unsinn!« fuhr Anna fort, ohne ihren Mann zu sehen. »Gebt sie mir doch, gebt mir doch mein Töchterchen! Er ist noch nicht gekommen. Ihr sagt, er wird mir nicht verzeihen; aber ihr kennt ihn eben nicht. Niemand hat ihn gekannt. Nur ich, und auch mir ist es schwer geworden, ihn kennenzulernen. Das liegt nämlich an seinen Augen: Sergei hat ganz ebensolche, und darum mag ich sie gar nicht ansehen. Habt ihr auch Sergei sein Mittagbrot gegeben? Ich weiß ja, das werden alle vergessen. Er würde es nicht vergessen. Ihr müßt Sergei in dem Eckzimmer unterbringen und Mariette bitten, bei ihm zu schlafen.«
[223] Plötzlich krümmte sie sich zusammen, verstummte und hob erschrocken, wie wenn sie einen Schlag erwartete und sich davor schützen wollte, die Hände vor das Gesicht. Sie hatte ihren Mann erkannt.
»Nein, nein!« fing sie wieder an zu reden. »Ich fürchte ihn nicht, ich fürchte den Tod. Alexei, komm hierher! Ich habe Eile, denn ich habe keine Zeit mehr; ich habe nicht mehr lange zu leben; gleich wird das Fieber wieder beginnen, und dann verstehe ich nichts mehr. Jetzt verstehe ich noch; ich verstehe alles und sehe alles.«
Alexei Alexandrowitschs runzliges Gesicht hatte einen Ausdruck qualvollen Leides angenommen; er ergriff ihre Hand und wollte etwas sagen, vermochte aber keinen Laut herauszubringen. Seine Unterlippe zitterte; aber er suchte immer noch seine Erregung niederzukämpfen und blickte Anna nur von Zeit zu Zeit an. Und jedesmal, wenn er seinen Blick zu ihr hinwandte, sah er, daß ihre Augen ihn mit einer so innigen, zärtlichen Rührung anschauten, wie er sie an ihnen früher nie gesehen hatte.
»Warte doch, du weißt nicht ... Halt, halt ...«, sie hielt inne, als wollte sie ihre Gedanken sammeln. »Ja«, begann sie von neuem. »Ja, ja, ja. Das war's, was ich sagen wollte. Wundere dich nicht über mich! Ich bin noch immer dieselbe, die ich war ... Aber in mir ist noch eine andere; vor der fürchte ich mich; die verliebte sich in jenen Mann, und ich wollte dich hassen und konnte doch nicht vergessen, was für eine Frau ich früher gewesen war. Jene Frau bin ich nicht. Jetzt bin ich die richtige, ganz und gar. Ich sterbe jetzt; ich weiß, daß ich sterbe; frage nur den Arzt da! Ich fühle jetzt auch, da, da, die schweren, schweren Gewichte an meinen Händen, an meinen Füßen, an meinen Fingern. Die Finger ... sieh nur, wie furchtbar lang sie sind! Aber das hat alles bald ein Ende ... Nur eins möchte ich: verzeih du mir, verzeih mir völlig! Ich bin ein schlechtes, schlechtes Weib; aber mir hat einmal meine Kinderfrau gesagt, die heilige Märtyrerin – wie hieß sie doch? –, die ist noch schlechter gewesen. Und ich will nach Rom fahren; da sind stille, einsame Klöster, und da werde ich niemandem im Wege sein, und ich nehme nur Sergei mit und das kleine Mädchen ... Nein, du kannst mir nicht verzeihen! Ich weiß, das kann man nicht verzeihen! Nein, nein, geh weg, du bist zu gut!« Mit der einen ihrer glühend heißen Hände hielt sie seine Hand fest, mit der anderen stieß sie ihn von sich.
Alexei Alexandrowitschs seelische Verwirrung hatte sich immer mehr gesteigert und jetzt einen solchen Grad erreicht, daß er bereits aufgehört hatte, gegen sie anzukämpfen; aber plötzlich [224] fühlte er, daß das, was er für eine seelische Verwirrung gehalten hatte, im Gegenteil ein wohliger Seelenzustand war, der ihm auf einmal eine neue Glücksempfindung bescherte, wie er sie vorher noch nie kennengelernt hatte. Er überlegte nicht erst, daß jenes christliche Gebot, das er sein ganzes Leben lang zu befolgen sich vorgenommen habe, ihm befehle, zu verzeihen und seine Feinde zu lieben; aber ein freudiges Gefühl der Liebe und der Verzeihung für seine Feinde erfüllte seine Seele. Er fiel auf die Knie, legte seinen Kopf auf ihr Handgelenk, dessen glühende Hitze er durch den Jackenärmel hindurch fühlte, und schluchzte wie ein kleines Kind. Sie umfaßte sein kahles Haupt, rückte näher an ihn heran und richtete ihre Augen stolz und triumphierend nach oben.
»Da ist er, ich habe es ja gewußt! Jetzt lebt alle wohl, lebt wohl! ... Da sind sie wiedergekommen; warum gehen sie nicht fort? ... So nehmt doch diese Pelze von mir weg!«
Der Arzt nahm ihre Hände von dem Kopfe ihres Mannes weg, drückte die Kranke behutsam auf das Kissen zurück und deckte sie bis an die Schultern zu. Gehorsam ließ sie sich rücklings hinlegen und schaute mit strahlendem Blicke vor sich hin.
»Vergiß das eine nicht, daß ich weiter nichts wollte als deine Verzeihung; weiter will ich nichts ... Aber er, warum kommt er nicht?« fragte sie und wandte sich nach der Tür hin an Wronski. »Komm her, komm her! Gib ihm die Hand!«
Wronski trat an den Rand des Bettes und bedeckte, als er Anna erblickte, wieder sein Gesicht mit den Händen.
»Nimm die Hände vom Gesicht! Sieh ihn an! Er ist ein Heiliger!« sagte sie. »So nimm doch die Hände weg, nimm doch die Hände vom Gesicht!« rief sie heftig. »Alexei Alexandrowitsch, nimm ihm die Hände vom Gesicht! Ich will sein Gesicht sehen!«
Alexei Alexandrowitsch ergriff Wronskis Hände und zog sie ihm vom Gesicht fort, das von Schmerz und Scham furchtbar entstellt war.
»Gib ihm die Hand! Verzeihe ihm!«
Alexei Alexandrowitsch reichte ihm die Hand, ohne die Tränen zurückhalten zu wollen, die ihm aus den Augen strömten.
»Gott sei Dank, Gott sei Dank!« flüsterte sie. »Nun ist alles in Ordnung. Zieht mir nur noch die Beine ein wenig gerade! So, ja, so ist es schön. Wie geschmacklos diese Blumen gezeichnet sind; sie sehen gar nicht aus wie Veilchen«, sprach sie dann weiter, auf die Tapete weisend. »Mein Gott, mein Gott! Wann wird das ein Ende haben? Gebt mir doch Morphium! Doktor geben Sie mir doch Morphium! O mein Gott, mein Gott!«
Sie warf sich im Bette hin und her.
[225] Der Hausarzt und die hinzugezogenen Ärzte hatten sich dahin ausgesprochen, es liege Kindbettfieber vor, das in neunundneunzig Fällen unter hundert tödlich verlaufe. Den ganzen Tag hielt die Fieberhitze, das Phantasieren und die Bewußtlosigkeit an. Um Mitternacht lag die Kranke gefühllos da, und der Puls hatte fast ganz aufgehört.
Jeden Augenblick erwartete man das Ende.
Wronski war nach Hause gefahren, kam aber am Morgen wieder, um nachzufragen, und Alexei Alexandrowitsch, der ihm im Vorzimmer entgegenkam, sagte zu ihm: »Bleiben Sie; sie wird vielleicht nach Ihnen fragen«, und führte ihn selbst in das Wohnzimmer seiner Frau. Am Morgen begann wieder die Aufgeregtheit und Lebhaftigkeit, das hastige Denken und Reden, und dieser Zustand endete dann wieder mit Bewußtlosigkeit. Am dritten Tage wiederholte sich derselbe Hergang, und die Ärzte erklärten, es sei jetzt etwas Hoffnung vorhanden. An diesem Tage trat Alexei Alexandrowitsch in Annas Wohnzimmer, in dem Wronski saß, machte die Tür zu und setzte sich ihm gegenüber.
»Alexei Alexandrowitsch«, begann Wronski, der fühlte, daß jetzt die Aussprache bevorstehe, »ich bin nicht imstande zu reden, nicht imstande zu denken. Schonen Sie mich! Wie schwer Ihnen auch ums Herz sein mag, glauben Sie mir, mein Zustand ist noch furchtbarer.«
Er wollte aufstehen. Aber Alexei Alexandrowitsch ergriff ihn bei der Hand und sagte:
»Ich bitte Sie, mich anzuhören; es ist unumgänglich notwendig. Ich muß Ihnen meine Gefühle darlegen, die, die mich bisher in meinem Handeln geleitet haben, und die, von denen ich mich in Zukunft werde leiten lassen, damit Sie sich über mich nicht im Irrtum befinden. Sie wissen, daß ich mich zur Scheidung entschlossen und diese ganze Angelegenheit sogar schon in die Wege geleitet hatte. Ich verhehle Ihnen nicht, daß ich anfänglich unentschlossen war und seelisch schwer litt; ich gestehe Ihnen, daß mich der Gedanke nicht losließ, mich an Ihnen und an ihr zu rächen. Als ich das Telegramm erhielt, fuhr ich noch mit denselben Gefühlen hierher, ja, ich muß noch mehr sagen: ich wünschte ihren Tod. Aber ...«, er schwieg ein Weilchen, unschlüssig, ob er ihm das, was er jetzt empfand, aufdecken solle oder nicht. »Aber da sah ich sie wieder und habe ihr verziehen. Und aus der seligen Empfindung beim Verzeihen habe ich gelernt, was meine Pflicht ist. Ich habe ihr völlig verziehen. Ich will auch die andere Backe hinhalten; ich will auch den Rock hingeben, wenn man mir den Mantel nimmt. Ich bitte Gott nur [226] um das eine, daß er mir die Seligkeit des Verzeihens nicht nehmen möge!«
Die Tränen standen ihm in den Augen, und ihr heller, ruhiger Blick überraschte Wronski.
»Das ist jetzt meine Lage. Und nun können Sie mich in den Schmutz treten und mich zum Gespött der Welt machen: ich werde sie nicht verlassen und Ihnen nie ein Wort des Vorwurfs sagen«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort: »Meine Pflicht ist mir klar vorgezeichnet: ich muß mit ihr zusammenbleiben, und ich werde es tun. Sollte sie wünschen, Sie zu sehen, so werde ich Sie es wissen lassen; aber jetzt, möchte ich meinen, wird es das beste sein, wenn Sie sich entfernen.«
Er stand auf; vor Schluchzen konnte er nicht weiterreden. Wronski erhob sich gleichfalls und blickte ihn, ohne sich gerade zu richten, in gebeugter Haltung von unten her an. Ein volles Verständnis hatte er für Alexei Alexandrowitschs Empfindungen nicht. Aber so viel fühlte er doch, daß in dieser Weltanschauung etwas Hohes, für ihn geradezu Unerreichbares lag.
1 (lat.) Wen Gott verderben will, den schlägt er mit Blindheit.
Nach diesem Gespräche mit Alexei Alexandrowitsch trat Wronski vor das Tor des Kareninschen Hauses hinaus, blieb dort stehen und sammelte mit Mühe seine Gedanken, um zu wissen, wo er sei und wohin er nun gehen oder fahren solle. Er fühlte sich beschämt, erniedrigt, schuldig und der Möglichkeit beraubt, seine Demütigung abzuwaschen. Er fühlte sich aus dem Geleise herausgedrängt, in dem er sich bisher so stolz und leicht vorwärts bewegt hatte. Alle die Gewohnheiten und Grundsätze seines Lebens, die ihm so sicher und fest erschienen waren, hatten sich als falsch und unbrauchbar erwiesen. Der betrogene Gatte, den er sich bisher als ein klägliches Wesen, als ein zufälliges, einigermaßen lächerliches Hindernis seines Glückes vorgestellt hatte, war plötzlich von ihr selbst herbeigerufen und zu einer ehrfurchtgebietenden Höhe hinaufgehoben worden, und dieser Gatte erschien auf dieser Höhe nicht als ein schlechter, unwahrhaftiger, lächerlicher Mensch, sondern als ein guter, offener und edler. Dieser Erkenntnis konnte Wronski sich nicht verschließen. Die Rollen waren plötzlich vertauscht. Wronski fühlte seines Gegners sittliche Höhe und gerechtes Verhalten und seine eigene Niedrigkeit und Rechtsverletzung. Er fühlte, daß der Gatte sogar in seinem schweren Kummer sich großmütig, er selbst aber in seinem Betruge sich niedrig und erbärmlich [227] gezeigt hatte. Aber dieses Bewußtsein seiner eigenen Niedrigkeit gegenüber dem Manne, den er ungerechterweise verachtet hatte, machte nur einen kleinen Teil seiner Seelenpein aus. Er fühlte sich jetzt deswegen unsäglich elend, weil seine Liebesleidenschaft, die seiner eigenen Empfindung nach in der letzten Zeit schon im Erkalten begriffen gewesen war, jetzt, wo er wußte, daß er Anna für immer verloren hatte, stärker geworden war als je zuvor. Er hatte während ihrer Krankheit auf den tiefsten Grund ihres Herzens gesehen, ihre ganze Seele kennengelernt, und es schien ihm, als habe er sie bisher noch nie wahrhaft geliebt. Und jetzt, wo er sie erkannt hatte und sie liebte, wie sie geliebt zu werden verdiente, jetzt stand er als ein Erniedrigter vor ihr da, hatte sie für immer verloren und war für sie in Zukunft nichts weiter als eine beschämende Erinnerung. Am allerschrecklichsten aber war seine lächerliche, schmähliche Lage gewesen, als er vor Scham hatte vergehen wollen und Alexei Alexandrowitsch ihm die Hände vom Gesichte weggezogen hatte. Er stand wie verwirrt vor dem Tor des Kareninschen Hauses und wußte nicht, was er tun sollte.
»Befehlen Sie eine Droschke?« fragte der Pförtner.
»Ja, eine Droschke.«
Nach Hause zurückgekehrt, streckte sich Wronski nach den drei schlaflos verbrachten Nächten, ohne sich auszukleiden, auf das Sofa, mit dem Gesicht nach unten, faltete die Hände zusammen und legte den Kopf darauf. Der Kopf war ihm schwer. Die seltsamsten Vorstellungen, Erinnerungen und Gedanken lösten mit wunderbarer Schnelligkeit und Klarheit einander ab: da war bald die Arznei, die er für die Kranke in der Erregung so eingoß, daß der Löffel überfloß, bald die weißen Arme der Hebamme, bald Alexei Alexandrowitschs sonderbare Körperhaltung auf dem Fußboden vor dem Bette.
›Schlafen! Vergessen!‹ sagte er zu sich mit der ruhigen Zuversicht eines gesunden Menschen, der bestimmt erwartet, daß, wenn er müde ist und schlafen will, er auch sofort einschlafen wird. Und wirklich begann es ihm in demselben Augenblicke im Kopfe wirr zu werden, und er fing an, in den Abgrund der Selbstvergessenheit zu versinken. Die Wogen der Bewußtlosigkeit schlugen bereits über seinem Haupte zusammen, als es ihm plötzlich war, wie wenn er einen sehr starken elektrischen Schlag erhielte. Er fuhr so zusammen, daß er mit dem ganzen Körper auf den Sprungfedern des Sofas aufschnellte und, auf die Hände gestützt, erschrocken auf die Knie sprang. Seine Augen waren weit geöffnet, als ob er an Schlaf nie gedacht hätte. Die Schwere im Kopfe und die Mattigkeit in den Gliedern, die er noch [228] einen Augenblick vorher gefühlt hatte, waren auf einmal verschwunden.
›Nun können Sie mich in den Schmutz treten‹, hörte er Alexei Alexandrowitsch sagen und sah ihn vor sich und sah auch Annas Gesicht mit den fieberheißen Wangen und den glänzenden Augen, wie sie zärtlich und liebevoll nicht ihn, sondern Alexei Alexandrowitsch anblickte; er sah seine eigene, wie es ihm vorkam, alberne, lächerliche Gestalt, wie ihm Alexei Alexandrowitsch die Hände vom Gesicht nahm. Er streckte wieder die Beine gerade, warf sich in der früheren Haltung auf das Sofa und schloß die Augen. ›Schlafen, schlafen!‹ wiederholte er noch einmal bei sich. Aber mit geschlossenen Augen sah er noch deutlicher Annas Gesicht, wie es an jenem ihm unvergeßlichen Abend des Renntages ausgesehen hatte.
»Das ist alles vorbei und wird nie wiederkehren, und sie möchte es aus ihrer Erinnerung auslöschen. Ich aber kann ohne ihre Liebe nicht leben. Wie, ja wie können wir uns versöhnen, wie können wir uns versöhnen?« sagte er laut und begann unbewußt immer dieselben Worte zu wiederholen. Durch die stete Wiederholung dieser Worte wurde das Auftauchen neuer Bilder und Erinnerungen gehemmt, die, wie er fühlte, in seinem Kopfe wimmelten. Aber lange dauerte diese Hemmung seiner arbeitenden Einbildungskraft nicht. Wieder traten ihm mit seltsamer Schnelligkeit einer nach dem andern die schönsten Augenblicke in seinen Beziehungen zu Anna vor die Seele und zugleich damit auch die soeben erlittene Demütigung. ›Nimm ihm die Hände weg!‹ sagte Annas Stimme. Und da nahm ihm der Mann die Hände weg, und er selbst fühlte, was er für ein beschämtes, einfältiges Gesicht machte.
Er lag noch immer da und versuchte einzuschlafen, wiewohl er fühlte, daß dazu nicht die geringste Hoffnung vorhanden war, und immerzu wiederholte er flüsternd einzelne Worte aus irgendwelchem Gedankengange, um dadurch das Auftauchen neuer Bilder zu verhindern. Er horchte – und hörte sich selbst in dem sonderbaren Flüstertone eines Irrsinnigen immer die Worte wiederholen: ›Ich habe es nicht zu schätzen, nicht zu benutzen verstanden; ich habe es nicht zu schätzen, nicht zu benutzen verstanden.‹
›Was ist das? Werde ich wahnsinnig?‹ fragte er sich. ›Vielleicht, aus solchem Grunde wird man ja wahnsinnig, aus solchem Grunde erschießt man sich‹, antwortete er selbst auf seine Frage und erblickte, als er die Augen öffnete, mit Erstaunen neben seinem Kopfe ein Kissen, das ihm Warja, die Frau seines Bruders, früher einmal gestickt hatte. Er berührte ein paarmal [229] leise eine Quaste des Kissens und versuchte sich an Warja zu erinnern, an das letztemal, wo er sie gesehen hatte. Aber es war ihm eine Pein, an etwas Fremdartiges zu denken. ›Nein, ich muß schlafen!‹ Er rückte sich das Kissen näher und drückte seinen Kopf dagegen; aber es bedurfte für ihn besonderer Anstrengung, um die Augen geschlossen zu halten. Er sprang auf und setzte sich hin. ›Diese Sache ist für mich zu Ende‹, sagte er zu sich. ›Nun muß ich überlegen, was ich weiter tun soll. Was ist mir denn noch übriggeblieben?‹ Er durchmusterte rasch in Gedanken das, was von seinem Leben nicht in Beziehung zu Anna stand.
›Der Ehrgeiz? Serpuchowskoi? Die Gesellschaft? Der Hof?‹ Bei nichts vermochte er seine Gedanken festzuhalten. All das hatte früher eine gewisse Bedeutung für ihn gehabt; aber jetzt war das alles null und nichts. Er stand vom Sofa auf, zog den Rock aus, lockerte sich den Leibriemen, entblößte seine haarige Brust, um freier atmen zu können, und ging im Zimmer auf und ab. ›So wird man wahnsinnig‹, sagte er noch einmal, ›und so erschießt man sich ... damit man sich nicht zu schämen braucht‹, fügte er langsam hinzu.
Er ging zur Tür und machte sie zu; dann trat er mit starrem Blick und fest zusammengepreßten Zähnen an den Tisch, nahm seinen Revolver heraus, betrachtete ihn, drehte ihn auf die geladene Kammer und versank in Gedanken. Etwa zwei Minuten lang stand er mit gesenktem Kopfe und dem Ausdruck angestrengten Denkens, den Revolver in der Hand, da und sann und sann. ›Selbstverständlich‹, sagte er zu sich selbst, wie wenn ein längerer, klarer, logischer Gedankengang ihn zu einer zweifellos richtigen Schlußfolgerung geführt hätte. In Wahrheit aber war dieses so überzeugt klingende ›Selbstverständlich‹ lediglich die Folge der Wiederholung genau desselben Kreises von Erinnerungen und Vorstellungen, den er in dieser Stunde schon ein dutzendmal durchlaufen hatte. Es waren immer dieselben Erinnerungen an ein für alle Zeit verlorenes Glück, dieselbe Vorstellung von der Wertlosigkeit alles dessen, was ihm das Leben noch bringen konnte, dasselbe Bewußtsein seiner Demütigung. Und auch die Reihenfolge dieser Vorstellungen und Gefühle war immer dieselbe.
›Selbstverständlich‹, sagte er noch einmal, als sein Denken sich wieder zum drittenmal in diesem verhexten Kreise von Erinnerungen und Gedanken herumbewegte; er setzte den Revolver an die linke Brustseite, und indem er mit der ganzen Hand einen starken Ruck machte, als ob er sie plötzlich zur Faust zusammenballen wollte, drückte er auf den Abzug. Er hörte keinen Knall [230] von dem Schusse; aber ein heftiger Schlag gegen die Brust warf ihn zu Boden. Er wollte sich am Rande des Tisches festhalten, ließ dabei den Revolver fallen, wankte, setzte sich auf den Fußboden und blickte verwundert um sich. Er erkannte sein Zimmer nicht wieder, als er von unten her auf die geschweiften Beine des Tisches und den Papierkorb und das Tigerfell blickte. Die schnellen Schritte des Dieners, der mit knarrenden Stiefeln durch den Salon kam, brachten ihn wieder zur Besinnung. Mit Anstrengung sammelte er seine Gedanken und begriff nun, daß er am Boden lag, und als er das Blut auf dem Tigerfell und an seiner Hand sah, begriff er auch, daß er auf sich geschossen hatte.
›Dumm! Schlecht getroffen!‹ sagte er vor sich hin und tastete mit der Hand nach dem Revolver. Der Revolver lag nahe bei ihm; aber er suchte ihn weiter weg. Bei dem fortgesetzten Suchen reckte er sich nach der anderen Seite hin, und nicht imstande, das Gleichgewicht zu bewahren, sank er blutüberströmt nieder.
Der vornehme Diener mit dem Backenbarte, der schon öfters seinen Bekannten gegenüber über seine schwachen Nerven geklagt hatte, erschrak, als er seinen Herrn auf dem Fußboden liegen sah, dermaßen, daß er ihn weiterbluten ließ und davonlief, um Hilfe herbeizuholen. Nach einer Stunde kam Wronskis Schwägerin Warja angefahren, legte mit Hilfe dreier Ärzte, zu denen sie nach allen Seiten Boten geschickt hatte und die nun gleichzeitig eintrafen, den Verwundeten auf sein Bett und blieb bei ihm, um ihn zu pflegen.
Der Fehler, den Alexei Alexandrowitsch dadurch begangen hatte, daß er damals, als er sich auf das Wiedersehen mit seiner Frau vorbereitete, nicht auch die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, daß ihre Reue aufrichtig sein könne und er ihr verzeihen und sie nicht sterben werde, dieser Fehler wurde ihm als ein solcher zwei Monate nach seiner Rückkehr aus Moskau in seinem ganzen Umfange kenntlich. Aber dieser von ihm begangene Fehler war nicht nur daraus entsprungen, daß er diese Möglichkeit nicht mit erwogen hatte, sondern auch daher, daß er bis zu diesem Wiedersehen mit seiner todkranken Frau sein eigenes Herz nicht gekannt hatte. Am Krankenbette seiner Frau hatte er sich zum ersten Male in seinem Leben willig jenem Gefühle mitleidiger Rührung überlassen, das die Leiden anderer Menschen bei ihm hervorriefen und dessen er sich bisher als einer nachteiligen Schwäche geschämt hatte; und das Mitleid mit [231] ihr und die Reue darüber, daß er ihren Tod gewünscht hatte, und ganz besonders die Seligkeit des Vergebens hatten bewirkt, daß er auf einmal nicht nur eine Linderung seiner Leiden verspürte, sondern auch eine seelische Ruhe empfand, wie er sie früher nie gekannt hatte. Er war auf einmal zu der Einsicht gelangt, daß gerade das, was die Quelle seiner Leiden gewesen, die Quelle seiner seelischen Freude geworden war. Die Frage, die ihm unlösbar erschienen war, als er richtete, verdammte und haßte, war nun, wo er verzieh und liebte, einfach und klargeworden.
Er hatte seiner Frau verziehen und sie bemitleidet, gerührt durch ihr Leiden und durch ihre Reue. Er hatte auch Wronski vergeben und Mitleid mit ihm gehabt, besonders als Gerüchte über dessen verzweifelte Tat zu ihm gelangt waren. Auch seinen Sohn bedauerte er jetzt mehr als früher und machte sich Vorwürfe darüber, daß er sich ehemals zu wenig um ihn gekümmert hatte. Aber für das neugeborene kleine Mädchen hegte er ein ganz besonderes Gefühl nicht nur des Mitleides, sondern geradezu der Zärtlichkeit. Anfangs hatte er sich nur aus Mitleid um diese neugeborene schwächliche Kleine gekümmert, die nicht seine Tochter war und die, da sie während der Krankheit der Mutter nicht die gehörige Pflege hatte, wahrscheinlich gestorben wäre, wenn er nicht für sie gesorgt hätte – und er hatte selbst nicht gemerkt, wie lieb er das Kindchen gewann. Mehrmals täglich pflegte er in das Kinderzimmer zu gehen und sich dort längere Zeit aufzuhalten, so daß die Amme und die Kinderfrau, die zuerst eine Scheu vor ihm gehabt hatten, sich allmählich an ihn gewöhnten. Manchmal betrachtete er eine halbe Stunde lang das mit flaumigem Haarwuchs bedeckte Köpfchen und das gelbrote, faltige Gesichtchen des schlafenden Kindes und verfolgte die Bewegungen der sich runzelnden Stirn und der weichen, dicken Händchen mit den eingekrümmten Fingerchen, wie sie mit dem Handrücken die Äuglein und den Nasensattel rieben. Besonders in solchen Augenblicken fühlte Alexei Alexandrowitsch sich völlig ruhig und in seelischem Gleichgewichte und sah in seiner Lage nichts Ungewöhnliches und nichts, was einer Änderung bedurft hätte.
Aber je mehr die Zeit vorrückte, um so klarer sah er ein, daß man ihn in dieser Lage nicht werde verharren lassen, mochte sie ihm persönlich jetzt auch noch so natürlich erscheinen. Er fühlte, daß außer der rein sittlichen Kraft, von der seine Seele sich leiten ließ, noch eine andere, gröbere, ebenso mächtige oder noch mächtigere Kraft obwaltete, die seinem Leben die Richtung gab, und daß diese Kraft ihm jene stille Ruhe, die ihm so lieb [232] war, nicht lange belassen werde. Er fühlte, daß ihn alle Leute wie mit einer verwunderten Frage anblickten, ihn nicht verstanden und irgendwelchen Schritt von ihm erwarteten. Ganz besonders stark empfand er die Unnatürlichkeit und Unhaltbarkeit seines Verhältnisses zu seiner Frau.
Als die weiche Stimmung vorüber war, welche die Nähe des Todes bei ihr hervorgerufen hatte, merkte Alexei Alexandrowitsch immer deutlicher, daß Anna sich vor ihm fürchtete, sich durch seine Gegenwart belästigt fühlte und ihm nicht gerade in die Augen sehen konnte. Es war, als ob sie ihm etwas sagen wollte und sich doch nicht dazu entschließen könnte und als ob auch sie in dem Vorgefühl, daß ihr Verhältnis so nicht fortdauern könne, irgendeinen Schritt von seiner Seite erwartete.
Ende Februar erkrankte Annas neugeborenes Töchterchen, das gleichfalls den Namen Anna erhalten hatte. Alexei Alexandrowitsch war am Morgen im Kinderzimmer gewesen, hatte angeordnet, daß der Arzt gerufen werden sollte, und war dann nach dem Ministerium gefahren. Als er mit seinen Dienstgeschäften dort fertig war, kehrte er zwischen drei und vier Uhr nach Hause zurück. Im Vorzimmer erblickte er einen schöngewachsenen Lakaien in reich mit Tressen besetzter Livree, mit einem Umhang von Bärenfell; über dem Arme hielt er einen weißen Damenpelzmantel von amerikanischem Hundefell.
»Wer ist hier?« fragte Alexei Alexandrowitsch.
»Die Fürstin Jelisaweta Fedorowna Twerskaja«, antwortete der Lakai, wie es Alexei Alexandrowitsch schien, mit einem leisen Lächeln.
In dieser ganzen schweren Zeit hatte Alexei Alexandrowitsch die Beobachtung gemacht, daß seine Bekannten aus der vornehmen Gesellschaft, namentlich die Damen, ein außerordentlich lebhaftes Inte resse für ihn und für seine Frau an den Tag legten. Er hatte bei all diesen Bekannten eine nur mühsam verhehlte Freude über irgend etwas bemerkt, ebendieselbe Freude, die er in den Augen des Rechtsanwaltes wahrgenommen hatte und jetzt in den Augen des Lakaien sah. Alle schienen so vergnügt zu sein, wie wenn sie an einer Hochzeitsfeier teilnähmen. Sobald die Leute ihn sahen, erkundigten sie sich mit kaum unterdrückter Freude nach Annas Befinden.
Durch die Anwesenheit der Fürstin Twerskaja fühlte Alexei Alexandrowitsch sich unangenehm berührt, sowohl wegen der Erinnerungen, die sich für ihn an ihre Person knüpften, wie auch weil er sie überhaupt nicht leiden konnte; daher begab er sich geradeswegs nach den Zimmern der Kinder. Im ersten Kinderzimmer kniete Sergei auf einem Stuhle, hatte sich mit der Brust [233] über den Tisch gelegt und zeichnete etwas, wobei er vergnügt redete. Die Engländerin, die während Annas Krankheit an die Stelle der Französin getreten war, saß mit einer zierlichen Häkelei neben dem Knaben; sie stand eilig auf, knickste und zupfte Sergei, daß er seinen Vater begrüßen sollte.
Alexei Alexandrowitsch strich seinem Sohne freundlich mit der Hand über das Haar, beantwortete die Frage der Gouvernante nach dem Befinden seiner Frau und erkundigte sich dann, was der Arzt über das Baby gesagt habe.
»Der Doktor hat gesagt, es sei nichts Gefährliches, und hat Wannenbäder verordnet, gnädiger Herr.«
»Aber sie hat doch immer Schmerzen«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch, indem er nach dem Schreien des Kindes im Nachbarzimmer hinhorchte.
»Ich glaube, die Amme taugt nichts, gnädiger Herr«, erklärte die Engländerin in entschiedenem Tone.
»Warum glauben Sie das?« fragte er, stehen bleibend.
»Bei der Gräfin Pohl war es genau ebenso, gnädiger Herr. Es wurde an dem Kinde herumgedoktert, und schließlich stellte sich heraus, daß es einfach hungerte: die Amme hatte nicht genug Nahrung, gnädiger Herr.«
Alexei Alexandrowitsch wurde nachdenklich; er blieb noch ein paar Sekunden lang stehen und ging dann durch die andere Tür in das zweite Zimmer. Die Kleine lag mit zurückgeworfenem Köpfchen, sich krümmend, in den Armen der Amme und wollte weder die ihr angebotene üppige Brust annehmen noch zu schreien aufhören, obgleich sowohl die Amme wie auch die Kinderfrau, die sich gleichfalls über sie beugte, sie durch Zischen zu beruhigen suchten.
»Immer noch nicht besser?« fragte Alexei Alexandrowitsch.
»Sie ist sehr unruhig«, antwortete die Kinderfrau flüsternd.
»Miß Edward meint, die Amme habe vielleicht nicht genug Nahrung«, sagte er.
»Das glaube ich auch, Alexei Alexandrowitsch.«
»Aber warum sagen Sie es denn dann nicht?«
»Wem soll ich es denn sagen? Anna Arkadjewna ist doch immer noch krank«, erwiderte die Kinderfrau in mißvergnügtem Tone.
Die Kinderfrau war eine alte Dienerin des Hauses. Auch in ihren so natürlich klingenden Worten meinte Alexei Alexandrowitsch eine Anspielung auf seine Lage zu finden.
Das Kind schrie noch lauter; es wurde heiser, und die Stimme blieb zeitweilig ganz weg. Die Kinderfrau machte eine Handbewegung, als sei sie dagegen ratlos, trat zu der Kleinen hin, [234] nahm sie der Amme aus den Armen und begann, auf und ab gehend, sie hin und her zu wiegen.
»Wir müssen den Arzt bitten, die Amme zu untersuchen«, sagte Alexei Alexandrowitsch.
Die gesund aussehende, schön geputzte Amme bekam einen Schreck, daß man sie womöglich entlassen werde; sie murmelte etwas vor sich hin, verhüllte ihre große Brust wieder und lächelte verächtlich über einen solchen Zweifel an ihrer Nahrungsfülle. Auch in diesem Lächeln fand Alexei Alexandrowitsch wieder einen Spott über seine Lage.
»Du armes Würmchen!« sagte die Kinderfrau, während sie immer noch umherging und zur Beruhigung zischte.
Alexei Alexandrowitsch setzte sich auf einen Stuhl und verfolgte mit schmerzlicher, trüber Miene die auf und ab gehende Kinderfrau.
Als das Kind endlich still geworden war, die Kinderfrau es in sein tiefes Bettchen gelegt, das Kissen zurechtgemacht hatte und zurückgetreten war, da stand Alexei Alexandrowitsch auf und ging, mühsam nur mit den Fußspitzen auftretend, zu dem Kinde hin. Etwa eine Minute betrachtete er es schweigend und mit demselben trüben Gesichtsausdrucke; aber plötzlich trat ein Lächeln, bei dem sich sein Kopfhaar und die Stirnhaut verschob, auf sein Gesicht, und er verließ ebenso leise das Zimmer.
Im Eßzimmer klingelte er und befahl dem eintretenden Diener, es solle noch einmal zum Arzt geschickt werden. Er war ärgerlich auf seine Frau, daß sie sich um dieses reizende Kindchen so wenig kümmerte, und so wollte er infolge dieser Mißstimmung eigentlich nicht zu ihr gehen, hatte auch keine Lust, die Fürstin Betsy zu sehen. Aber seine Frau hätte sich wundern können, weshalb er seiner Gewohnheit entgegen nicht zu ihr käme, und deshalb überwand er sich und ging zum Schlafzimmer hin. Als er sich auf dem weichen Teppich der Tür näherte, hörte er unwillkürlich ein Gespräch, das er nicht hatte hören wollen.
»Wenn er nicht wegführe, so würde ich sowohl Ihre Weigerung wie auch die Ihres Mannes, ihn zu empfangen, begreifen können. So aber muß Ihr Mann darüber erhaben sein«, sagte Betsy.
»Nicht meines Mannes wegen, sondern um meiner selbst willen lehne ich es ab. Bitte, reden Sie nicht so!« erwiderte Anna erregt.
»Aber Sie müssen doch wünschen, einem Manne Lebewohl zu sagen, der sich um Ihretwillen hat erschießen wollen ...«
»Eben deswegen mag ich es nicht.«
Alexei Alexandrowitsch blieb mit erschrockener, schuldbewußter Miene stehen und wollte unbemerkt wieder zurückgehen. [235] Aber dann besann er sich, daß das ein seiner nicht würdiges Verhalten sein würde; er kehrte wieder um und näherte sich, nachdem er vorher gehustet hatte, dem Schlafzimmer. Die Stimmen verstummten, und er trat ein.
Anna saß in einem grauen Schlafrocke auf dem Liegestuhl; ihr schwarzes Haar, das nach der Krankheit stark ausging, war kurz geschoren und bildete nun um ihren runden Kopf eine dichte Bürste. Wie stets beim Anblicke ihres Mannes verschwand das lebendige Mienenspiel sofort aus ihrem Gesichte; sie ließ den Kopf sinken und blickte sich unruhig nach Betsy um. Betsy saß neben ihr, in sehr gerader Haltung ihrer flachen, hohen Figur; sie war nach der allerneuesten Mode gekleidet: der Hut schwebte über ihrem Kopfe wie eine Lampenglocke über der Lampe; das Kleid war taubengrau mit hellfarbigen, schrägen Streifen, die an der Hüfte in dieser, am Rocke nach jener Richtung liefen. Sie begrüßte Alexei Alexandrowitsch mit einer Neigung des Kopfes und einem spöttischen Lächeln.
»Ah!« machte sie, als ob sie sehr erstaunt wäre. »Ich freue mich sehr, daß Sie zu Hause sind. Sie lassen sich ja nirgends blicken, und ich habe Sie seit Annas Krankheit nicht mehr gesehen. Ich habe alles gehört – wieviel Sorge Sie gehabt haben. Ja, Sie sind ein bewunderungswürdiger Gatte!« sagte sie mit einer bedeutsamen, freundlichen Miene, als verleihe sie ihm den Orden der Großherzigkeit für sein Verhalten seiner Frau gegenüber.
Alexei Alexandrowitsch verbeugte sich kühl, küßte seiner Frau die Hand und fragte nach ihrem Befinden.
»Ich meine, es geht etwas besser«, antwortete sie, seinem Blicke ausweichend.
»Aber mir kommt es so vor, als hätten Sie eine fieberhafte Färbung im Gesicht«, erwiderte er und legte einen besonderen Nachdruck auf das Wort »fieberhaft«.
»Ich habe mit ihr zuviel geplaudert«, bemerkte Betsy. »Ich fühle, daß das meinerseits zu selbstsüchtig war, und will nun auch aufbrechen.«
Sie stand auf; aber Anna ergriff, plötzlich errötend, schnell ihre Hand.
»Nein, bitte, bleiben Sie noch ein Weilchen! Ich muß Ihnen sagen ... nein, Ihnen«, wandte sie sich an Alexei Alexandrowitsch, während eine dunkle Röte sich über ihren Hals und ihre Stirn ausbreitete. »Ich will und kann vor Ihnen kein Geheimnis haben«, fügte sie hinzu.
Alexei Alexandrowitsch knackte mit den Fingern und senkte den Kopf.
[236] »Betsy hat mir mitgeteilt, daß Graf Wronski zu uns zu kommen wünscht, um uns vor seiner Abreise nach Taschkent Lebewohl zu sagen.« Sie sah ihren Mann nicht an und beeilte sich offenbar, alles herauszureden, wie schwer es ihr auch werden mochte. »Ich habe ihr gesagt, daß ich ihn nicht empfangen kann.«
»Sie sagten, meine Liebe, das werde von Alexei Alexandrowitsch abhängen«, verbesserte Betsy sie.
»Nein, ich kann ihn nicht empfangen, und es hat ja auch keinen Zweck ...« Sie hielt plötzlich inne und richtete einen fragenden Blick auf ihren Mann; aber dieser sah sie nicht an. »Mit einem Worte, ich will nicht ...«
Alexei Alexandrowitsch trat näher an sie heran und wollte ihre Hand ergreifen.
Ihre erste unwillkürliche Bewegung war, ihre Hand von seiner feuchten, mit großen, hervortretenden Adern überzogenen Hand wegzuziehen, die nach der ihrigen suchte; aber dann bezwang sie sich offenbar mit Anstrengung und drückte ihm die Hand.
»Ich bin Ihnen für Ihr Vertrauen sehr dankbar«, begann er. »Aber ...«, hier geriet er in Verwirrung und fühlte zu seinem Ärger, daß er eine Frage, die er still für sich mit größter Leichtigkeit und Klarheit hätte entscheiden können, in Gegenwart der Fürstin Twerskaja nicht zu erwägen imstande war. Denn diese Frau erschien ihm als eine Verkörperung jener gröberen Kraft, die nach der Anschauung der Welt seinem Leben die Richtung geben sollte und ihn hinderte, sich seinem Gefühle der Liebe und Verzeihung zu überlassen. Er hielt inne und blickte die Fürstin Twerskaja an.
»Nun, leben Sie wohl, liebes Herz!« sagte Betsy und stand auf. Sie küßte Anna und ging hinaus. Alexei Alexandrowitsch gab ihr das Geleit.
»Alexei Alexandrowitsch, ich kenne Sie als einen Mann von wahrhaft edler Gesinnung«, sagte Betsy, indem sie im kleinen Salon stehenblieb und ihm die Hand noch einmal besonders kräftig drückte. »Ich stehe Ihnen ja verhältnismäßig fern; aber ich liebe Anna so sehr und empfinde für Sie eine solche Hochachtung, daß ich mir erlauben möchte, einen Rat aus zusprechen. Empfangen Sie ihn! Alexei Wronski ist der Inbegriff der Ehrenhaftigkeit, und er ist im Begriff, nach Taschkent abzureisen.«
»Ich danke Ihnen, Fürstin, für Ihre Teilnahme und für Ihren Rat. Aber die Frage, ob meine Frau jemanden empfangen kann oder nicht, muß sie selbst entscheiden.«
Bei diesen Worten zog er, wie es seine Gewohnheit war, die Augenbrauen würdevoll in die Höhe, wurde sich aber im gleichen Augenblicke bewußt, daß, mochte er die Worte auch noch [237] so kunstvoll wählen, von Würde in seiner Lage nicht die Rede sein konnte. Und daß Betsy dasselbe dachte, sah er an dem verhaltenen, boshaften, spöttischen Lächeln, mit dem sie ihn nach dieser Erwiderung anblickte.
Im Saale verbeugte sich Alexei Alexandrowitsch vor Betsy und ging zu seiner Frau zurück. Sie hatte in der Zwischenzeit gelegen, nahm aber, als sie seine Schritte hörte, schnell wieder ihre frühere sitzende Stellung ein und blickte ihn erschrocken an. Er sah, daß sie geweint hatte.
»Ich bin dir für dein Vertrauen zu mir sehr dankbar«, wiederholte er in sanftem Tone auf russisch den Satz, den er kurz vorher in Betsys Gegenwart auf französisch gesagt hatte, und setzte sich neben sie. Sobald er russisch zu ihr sprach und du zu ihr sagte, geriet Anna über dieses Du jedesmal in einen so gereizten Zustand, daß sie sich nicht beherrschen konnte. »Und ich bin dir sehr dankbar dafür, daß du die Frage in verneinendem Sinne entschieden hast. Ich bin gleichfalls der Ansicht, daß, wenn Graf Wronski abreist, es in keiner Weise erforderlich ist, daß er zu uns herkommt. Übrigens ...«
»Das habe ich ja schon gesagt; also wozu wiederholst du es noch einmal?« unterbrach ihn Anna plötzlich mit einer Gereiztheit, die sie nicht zu unterdrücken imstande war. ›Nein‹, dachte sie, ›es ist in keiner Weise erforderlich, daß ein Mann der Frau Lebewohl zu sagen kommt, die er liebt, um derentwillen er sich das Leben nehmen wollte und sich unglücklich gemacht hat und die ohne ihn nicht leben kann. Nein, das ist in keiner Weise erforderlich!‹ Sie preßte die Lippen zusammen und richtete ihre funkelnden Augen auf seine Hände mit den hervortretenden Adern; er rieb langsam eine Hand gegen die andere. »Wir wollen nie wieder davon sprechen«, fügte sie etwas ruhiger hinzu.
»Ich habe es dir überlassen, diese Frage zu entscheiden, und freue mich sehr, zu sehen ...«, begann Alexei Alexandrowitsch.
»Daß mein Wunsch mit dem Ihrigen zusammentrifft«, beendete sie schnell seinen Satz; daß er so langsam sprach, während sie alles, was er sagen wollte, im voraus wußte, machte sie nervös.
»Ja«, bestätigte er die Richtigkeit ihrer Ergänzung, »und die Fürstin Twerskaja mischt sich ganz unangebrachterweise in die schwierigsten Familienangelegenheiten. Gerade sie ...«
»Ich glaube nichts von dem, was über sie geredet wird«, fiel ihm Anna schnell ins Wort. »Ich weiß, daß sie mich aufrichtig lieb hat.«
[238] Alexei Alexandrowitsch seufzte und schwieg. Sie spielte erregt mit den Quasten ihres Schlafrockes und blickte ihren Mann mit jenem qualvollen Gefühle physischen Widerwillens an, weswegen sie sich oft schalt, das sie aber nicht zu überwinden vermochte. Sie wünschte jetzt nur eins: von seiner widerwärtigen Gegenwart befreit zu sein.
»Ich habe soeben nach dem Arzte geschickt«, sagte Alexei Alexandrowitsch.
»Ich bin gesund; wozu brauche ich den Arzt?«
»Du nicht; aber die Kleine schreit fortwährend, und es wird vermutet, daß die Amme zu wenig Nahrung hat.«
»Warum hast du mir nicht erlaubt, die Kleine selbst zu nähren, als ich dich darum bat? Es ist ja ganz gleichgültig« (Alexei Alexandrowitsch verstand, was dieses »ganz gleichgültig« bedeutete); »sie ist nur ein kleines Kind, und da läßt man sie umkommen.« Sie klingelte und befahl, ihr das Kind zu bringen. »Als ich bat, das Kind selbst nähren zu dürfen, wurde es mir nicht erlaubt, und jetzt bekomme ich die Vorwürfe.«
»Ich mache dir keine Vorwürfe ...«
»Doch, das tun Sie! Mein Gott, warum bin ich nicht gestorben!« Sie brach in Schluchzen aus. »Verzeih mir, ich bin so reizbar, ich bin ungerecht«, fügte sie kurz darauf, zur Besinnung kommend, hinzu. »Aber bitte, geh jetzt ...«
›Nein, das kann nicht so bleiben‹, sagte Alexei Alexandrowitsch mit aller Bestimmtheit zu sich selbst, während er hinausging.
Die Unzulässigkeit seiner Lage nach der Anschauung der Welt und der Haß seiner Frau gegen ihn und überhaupt die Macht jener rohen, geheimnisvollen Gewalt, die im Gegensatze zu seiner Seelenstimmung sein Leben lenkte und die Erfüllung ihres Willens und die Änderung seines Verhältnisses zu seiner Frau forderte, dies alles war ihm noch nie mit solcher Deutlichkeit vor Augen getreten wie heute. Er sah klar, daß die ganze Welt und seine Frau etwas von ihm verlangten; aber was sie eigentlich verlangten, das vermochte er nicht zu erfassen. Er fühlte, daß infolgedessen in seiner Seele ein gewisser Ingrimm heranwuchs, der ihm seine Ruhe raubte und das ganze Verdienst seiner edlen Tat zunichte machte. Er war der Ansicht, daß es für Anna das beste sei, die Beziehungen zu Wronski abzubrechen; aber wenn die Leute alle fanden, daß dies unmöglich sei, nun, so war er auch bereit, diese Beziehungen von neuem zu dulden, um nur nicht Schande über die Kinder kommen zu lassen, ihrer nicht beraubt zu werden und seine Lage nicht ändern zu müssen. Wie übel dies auch war, so war es doch immer noch besser als ein Bruch, durch den Anna in eine schmähliche, [239] rettungslose Lage geraten und er selbst alles verlieren würde, was er liebte. Aber er fühlte sich machtlos; er wußte im voraus, daß alle gegen ihn sein und ihn nicht das tun lassen würden, was ihm jetzt so natürlich und gut erschien, sondern ihn zwingen würden, das zu tun, was zwar schlecht, aber nach ihrer Meinung erforderlich war.
Betsy hatte den Saal noch nicht verlassen, als ihr in der Tür Stepan Arkadjewitsch begegnete; er kam soeben von Jelisew, wo frische Austern eingetroffen waren.
»Ah! Sie, Fürstin! Das nenne ich eine angenehme Begegnung!« rief er. »Ich bin soeben bei Ihnen gewesen.«
»Die Begegnung kann aber nur einen Augenblick dauern; denn ich bin im Weggehen«, antwortete Betsy lächelnd und zog sich den Handschuh an.
»Warten Sie noch, Fürstin, ziehen Sie sich den Handschuh noch nicht an; lassen Sie mich Ihnen vorher noch die Hand küssen. Nichts hat bei dem Wiederaufkommen der alten Gebräuche so sehr meinen Beifall wie der Handkuß.« Er küßte Betsy die Hand. »Wann sehen wir uns wieder?«
»Sie verdienen das gar nicht«, erwiderte Betsy lächelnd.
»Doch, doch! Ich verdiene es durchaus; denn ich bin der solideste Mensch von der Welt geworden. Ich bringe nicht nur meine eigenen, sondern auch fremde Familienangelegenheiten in Ordnung«, versetzte er mit vielsagender Miene.
»Ach, das freut mich sehr!« antwortete Betsy, die sofort begriff, daß er von Anna sprach. Sie kehrten in den Saal zurück und traten dort in eine Ecke. »Er wird sie zu Tode martern«, sagte Betsy im Flüstertone, aber mit starkem Nachdruck. »Das kann unmöglich so weitergehen, ganz unmöglich ...«
»Ich freue mich sehr, daß Sie dieser Ansicht sind«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch und wiegte mit dem Ausdrucke ernster, schmerzlicher Teilnahme den Kopf hin und her. »Ich bin deswegen nach Petersburg herübergekommen.«
»Die ganze Stadt spricht davon«, sagte sie. »Es ist ein ganz unmöglicher Zustand. Sie schwindet dabei rettungslos dahin. Er begreift nicht, daß sie eine von den Frauen ist, die nicht imstande sind, mit ihren Gefühlen zu scherzen. Eins von beiden muß geschehen: entweder muß der eine energisch vorgehen und sie entführen, oder der andere muß in die Scheidung willigen. Aber in der jetzigen Lage erstickt sie.«
[240] »Ja, ja ... sehr richtig ...«, antwortete Oblonski seufzend. »Deswegen bin ich eben hergekommen. Das heißt, nicht ausschließlich deswegen ... Ich bin zum Kammerherrn ernannt worden; na, und da muß man sich doch bedanken. Aber die Hauptsache ist doch, daß ich diese Angelegenheit hier in Ordnung bringen muß.«
»Nun, Gott helfe Ihnen bei Ihrem Bemühen!« sagte Betsy.
Nachdem er die Fürstin Betsy bis auf den Flur begleitet, ihr noch einmal die Hand oberhalb des Handschuhs, da, wo der Puls klopft, geküßt und ihr noch eine solche Menge pikanten Unsinns hingeschwatzt hatte, daß sie nicht wußte, ob sie sich darüber ärgern oder darüber lachen sollte, begab sich Stepan Arkadjewitsch zu seiner Schwester. Er fand sie in Tränen.
Trotz der übersprudelnd heiteren Stimmung, in der sich Stepan Arkadjewitsch befand, ging er doch sofort zu einem teilnahmsvollen, poetisch angehauchten Tone über, der zu ihrem Gemütszustand paßte, und es gelang ihm, diesen Ton in einer durchaus natürlich anmutenden Weise zu treffen. Er erkundigte sich nach ihrem Befinden und wie sie den Morgen verbracht habe.
»Schlecht, sehr schlecht. Den Morgen und alle vergangenen und zukünftigen Tage«, antwortete sie.
»Mir scheint, du überläßt dich zu sehr einer trüben Stimmung. Man muß sich aufraffen und das Leben mit festem Blick anschauen. Ich weiß, daß das manchmal schwer ist; aber ...«
»Ich habe gehört, daß manche Frau ihren Mann sogar wegen seiner Laster liebt«, begann Anna plötzlich; »ich aber hasse den meinigen wegen seiner Tugend. Ich kann nicht mit ihm leben. Glaube mir: sein bloßer Anblick wirkt physisch auf mich abstoßend; er macht mich geradezu wild. Ich kann nicht mit ihm leben, ich kann es nicht. Was soll ich nur anfangen? Ich war unglücklich und dachte, ein größeres Unglück könne es nicht geben; aber von dem furchtbaren Zustande, den ich jetzt durchmache, hatte ich keine Vorstellung. Kannst du das glauben: ich weiß, daß er ein guter, ein vortrefflicher Mensch ist, daß ich nicht soviel wert bin wie sein Fingernagel, und dennoch hasse ich ihn. Ich hasse ihn wegen seiner Großmut. Und es bleibt mir nichts weiter übrig als ...«
Sie wollte sagen: ›als der Tod‹; aber Stepan Arkadjewitsch ließ sie nicht ausreden.
»Du bist krank und reizbar«, sagte er. »Glaube mir, du übertreibst ungeheuer. So schrecklich ist die Lage ganz und gar nicht.«
Bei diesen Worten lächelte Stepan Arkadjewitsch. Kein anderer hätte an seiner Stelle, einer solchen Verzweiflung gegenüber, [241] sich erlaubt zu lächeln; denn ein Lächeln wäre als Roheit erschienen; aber in seinem Lächeln lag eine solche Gutmütigkeit und eine solche fast frauenhafte Zärtlichkeit, daß sein Lächeln nichts Verletzendes, sondern vielmehr etwas Besänftigendes, Beruhigendes hatte. Die Art, wie er leise und beschwichtigend redete und lächelte, wirkte mildernd und beruhigend wie Mandelöl. Und Anna fühlte das in kurzem.
»Nein, Stiwa«, sagte sie. »Mit mir ist es aus, mit mir ist es aus! Ja, es steht noch schlimmer: es ist eben noch nicht aus; ich kann nicht sagen, daß alles zu Ende wäre; im Gegenteil, ich fühle, daß es noch nicht zu Ende ist. Ich bin wie eine zu straff gespannte Saite, die reißen muß. Aber es ist noch nicht zu Ende ..., und es wird ein furchtbares Ende nehmen.«
»Aber nicht doch! Man kann die Saite ganz sachte nachlassen. Es gibt keine Lage, aus der man nicht einen Ausweg finden könnte.«
»Ich habe gesonnen und gesonnen. Es gibt nur einen ...«
Wieder merkte er an ihrem verstörten Blicke, daß dieser einzige Ausweg nach ihrer Ansicht der Tod war, und ließ sie nicht ausreden.
»Keineswegs«, unterbrach er sie, »erlaube einmal! Du kannst deine Lage nicht so genau beurteilen wie ich. Erlaube, daß ich dir aufrichtig meine Meinung sage!« Wieder lächelte er behutsam mit seinem Mandelöl-Lächeln. »Ich fange von Anfang an: du hast einen Mann geheiratet, der zwanzig Jahre älter ist als du. Du hast ohne Liebe geheiratet oder ohne die Liebe zu kennen. Das war ein Fehler, wie nicht zu leugnen ist.«
»Ein furchtbarer Fehler!« sagte Anna.
»Aber ich stelle fest: es ist eine vollendete Tatsache. Dann hast du, sagen wir einmal, das Unglück gehabt, dich in einen andern Mann zu verlieben. Das war ein Unglück; aber es ist gleichfalls eine vollendete Tatsache. Und dein Mann hat diese Tatsache als solche anerkannt und verziehen.« Er hielt nach jedem Satze inne, wie wenn er eine Erwiderung erwartete; aber sie antwortete nichts. »So steht es also. Jetzt ist nun die Frage: Kannst du weiter mit deinem Manne zusammen leben? Wünschst du das? Wünscht er es?«
»Ich weiß nichts; nichts weiß ich.«
»Aber du hast doch selbst gesagt, daß du ihn nicht ausstehen kannst.«
»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich widerrufe es. Ich weiß nichts und begreife nichts.«
»Ja, aber erlaube mal ...«
»Das kannst du nicht verstehen. Ich fühle, daß ich kopfüber [242] in einen Abgrund hinabstürze, aber mich nicht retten darf. Und ich kann es auch nicht.«
»Nun, das ist nicht schlimm; wir halten ein Sprungtuch darunter und fangen dich darin auf. Ich verstehe dich; ich verstehe, daß du es nicht über dich gewinnen kannst, das, was du wünschst und empfindest, auszusprechen.«
»Ich wünsche nichts; nichts wünsche ich ..., nur daß alles bald zu Ende sein möchte.«
»Aber er sieht das und weiß das. Und meinst du etwa, daß er sich weniger dadurch bedrückt fühlt als du? Du marterst dich ab, und er martert sich ab; was kann dabei herauskommen? Und doch würde eine Scheidung alle Schwierigkeiten lösen«, schloß Stepan Arkadjewitsch; diesen Hauptgedanken brachte er nur mit einer gewissen Anstrengung heraus und blickte sie nun bedeutungsvoll an.
Sie antwortete nichts und schüttelte nur verneinend ihren kurzgeschorenen Kopf. Aber an dem Ausdruck ihres Gesichtes, das auf einmal wieder in seiner früheren Schönheit erglänzte, sah er, daß sie dies nur deshalb nicht zu wünschen gewagt hatte, weil es ihr als ein unerreichbares Glück erschienen war.
»Ihr tut mir furchtbar leid! Und wie glücklich würde ich sein, wenn es mir gelänge, diese Sache in Ordnung zu bringen!« sagte Stepan Arkadjewitsch und lächelte nun schon wesentlich kühner. »Sprich nicht, sage kein Wort! Möge mir Gott beistehen, damit ich alles so sagen kann, wie ich es empfinde. Ich will jetzt zu ihm gehen.«
Gedankenvoll und mit leuchtenden Augen blickte Anna ihn an; aber sie schwieg.
Stepan Arkadjewitsch trat in Alexei Alexandrowitschs Arbeitszimmer mit jener einigermaßen feierlichen Miene ein, mit der er im Sitzungssaale seines Amtes auf dem Stuhle des Vorsitzenden Platz zu nehmen pflegte. Alexei Alexandrowitsch ging, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, im Zimmer auf und ab und dachte über denselben Gegenstand nach, über den Stepan Arkadjewitsch soeben mit Anna gesprochen hatte.
»Ich störe dich doch nicht?« fragte Stepan Arkadjewitsch, der beim Anblicke seines Schwagers ein ihm ungewohntes Gefühl der Verlegenheit verspürte. Um diese Verlegenheit zu verbergen, zog er ein eben erst gekauftes Zigarettenetui mit einem neuartigen Verschluß hervor, roch an dem Leder und nahm sich eine Zigarette heraus.
[243] »Nein. Wünschst du etwas?« antwortete Alexei Alexandrowitsch wenig freundlich.
»Ja, ich möchte gern ... ich muß ... ja, ich muß ein paar Worte mit dir sprechen«, versetzte Stepan Arkadjewitsch, der sich zu seiner Verwunderung einer ihm sonst fremden Zaghaftigkeit bewußt wurde.
Dieses Gefühl war für ihn etwas so Unerwartetes und Sonderbares, daß ihm nicht der Gedanke kam, dies könne wohl die Stimme des Gewissens sein, die ihm sage, daß das, was er zu tun beabsichtige, schlecht sei. Stepan Arkadjewitsch nahm sich kräftig zusammen und überwand diesen Anfall von Schüchternheit.
»Ich darf wohl hoffen, daß du von meiner Liebe zu meiner Schwester und von meiner aufrichtigen Zuneigung und Verehrung dir gegenüber überzeugt bist«, sagte er errötend.
Alexei Alexandrowitsch blieb stehen und antwortete nicht; aber zu seiner Überraschung nahm Stepan Arkadjewitsch wahr, daß das Gesicht seines Schwagers den Ausdruck eines ergebungsvollen Opfertieres trug.
»Ich hatte die Absicht ... ich wollte gern mit dir über meine Schwester und über eure beiderseitige Lage sprechen«, fuhr Stepan Arkadjewitsch fort; er hatte immer noch mit jener ihm ungewohnten Befangenheit zu kämpfen.
Alexei Alexandrowitsch lächelte trübe, blickte seinem Schwager forschend ins Gesicht, trat, ohne zu antworten, an seinen Schreibtisch, nahm einen dort liegenden angefangenen Brief und reichte ihn dem Schwager hin.
»Ich denke an diesen selben Gegenstand unaufhörlich«, sagte er. »Und hier ist der Anfang eines Schreibens, das ich für sie bestimmt hatte; denn ich glaube, daß ich es brieflich besser ausdrücken kann und daß meine Gegenwart sie nur aufregt.«
Stepan Arkadjewitsch nahm den Brief, blickte mit verständnisloser Verwunderung in die trüben Augen, die starr auf ihn gerichtet waren, und begann zu lesen:
»Ich sehe, daß meine Gegenwart Ihnen lästig ist. Wie schwer es mir auch geworden ist, dieser Überzeugung Raum zu gewähren, so sehe ich doch, daß es so ist und nicht anders sein kann. Ich messe Ihnen keine Schuld bei, und Gott ist mein Zeuge, daß ich, als ich Sie in Ihrer Krankheit wiedersah, von ganzer Seele den Entschluß faßte, alles, was zwischen uns getreten war, zu vergessen und ein neues Leben zu beginnen. Ich bereue das, was ich infolge dieses Entschlusses getan habe, nicht und werde es nie bereuen; aber ich habe nur eins gewünscht: Ihr Wohl, das Heil Ihrer Seele, und ich sehe jetzt, daß ich dieses Ziel nicht [244] erreicht habe. Sagen Sie mir selbst, was imstande ist, Ihnen wahres Glück zu verleihen und Ihrer Seele den Frieden wiederzugeben. Ich werde mich Ihrem Willen und Ihrem Gerechtigkeitssinne völlig fügen.«
Stepan Arkadjewitsch gab den Brief zurück und blickte dann seinen Schwager wieder ebenso verständnislos an wie vorher, ohne zu wissen, was er dazu sagen solle. Dieses Schweigen war für sie beide so peinlich, daß Stepan Arkadjewitschs Lippen, während er schwieg und kein Auge von Karenins Gesichte verwandte, fortwährend zuckten und zitterten.
»Das ist es, was ich ihr mitteilen wollte«, sagte Alexei Alexandrowitsch und wandte sich ab.
»Ja, ja ...«, begann Stepan Arkadjewitsch, war aber nicht imstande weiterzureden, weil ihm die Tränen so nahe waren daß ihm die Stimme versagte. »Ja, ja. Ich verstehe euch beide«, brachte er endlich heraus.
»Ich möchte gern wissen, worauf ihr Wunsch gerichtet ist«, sagte Alexei Alexandrowitsch.
»Ich fürchte, daß sie selbst kein rechtes Verständnis für ihre Lage hat; sie ist dafür nicht der geeignete Richter«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch, der seine Fassung wiedergewonnen hatte. »Sie fühlt sich erdrückt, tatsächlich erdrückt durch deine Großmut. Wenn sie diesen Brief liest, wird sie nicht imstande sein, etwas zu sagen; sie wird den Kopf nur noch tiefer sinken lassen.«
»Ja, aber was soll ich unter solchen Umständen tun? ... Wie kann ich darüber Klarheit erlangen? ... Wie kann ich erfahren, was sie wünscht?«
»Wenn du mir gestattest, meine Meinung auszusprechen, so möchte ich meinen, daß es bei dir steht, geradezu die Maßregeln zu bestimmen, die du für nötig hältst, um dieser Lage ein Ende zu machen.«
»Mithin findest du, daß ihr ein Ende gemacht werden muß?« unterbrach ihn Alexei Alexandrowitsch. »Aber wie?« fügte er hinzu und machte dabei eine ihm sonst nicht geläufige Bewegung mit den Händen vor den Augen. »Ich sehe keinen möglichen Ausweg.«
»Einen Ausweg gibt es in jeder Lage«, versetzte Stepan Arkadjewitsch, der jetzt lebhafter wurde, und stand auf. »Es hat eine Zeit gegeben, wo du die Trennung wünschtest ... Wenn du jetzt zu der Überzeugung gelangt bist, daß ihr einander nicht glücklich machen könnt ...«
»Es gibt verschiedene Begriffe von Glück. Aber nehmen wir an, daß ich mit allem einverstanden bin und auf jeden eigenen [245] Willen verzichte. Welchen Ausweg gibt es dann aus unserer Lage?«
»Wenn du meine Ansicht wissen willst«, antwortete Stepan Arkadjewitsch mit demselben besänftigenden, zärtlichen Mandelöl-Lächeln, mit dem er zu Anna gesprochen hatte. Diesem gutmütigen Lächeln wohnte eine solche Überredungskraft inne, daß Alexei Alexandrowitsch, der seine Schwäche fühlte und sich ihr widerstandslos überließ, unwillkürlich bereit war, alles zu glauben, was Stepan Arkadjewitsch sagen würde. »Sie wird es niemals aussprechen«, fuhr dieser fort; »aber es gibt nur einen Ausweg, und sie kann auch nur diesen einen wünschen: das ist die Aufhebung eurer jetzigen Beziehungen und die Beseitigung aller damit verbundenen Erinnerungen. Meiner Ansicht nach ist in eurer Lage eine klare Festlegung eines neuen wechselseitigen Verhältnisses unumgänglich notwendig. Und dieses Verhältnis kann sich nur dann dauerhaft gestalten, wenn beide Teile frei sind.«
»Das ist die Scheidung«, unterbrach ihn Alexei Alexandrowitsch mit einer Miene des Widerwillens.
»Ja, ich bin der Ansicht, daß die Scheidung, ja, daß die Scheidung ...«, begann Stepan Arkadjewitsch stockend und errötend. »Das ist in jeder Hinsicht der vernünftigste Ausweg für Gatten, die in einem solchen Verhältnisse zueinander stehen wie ihr. Was sollen denn Gatten anfangen, wenn sie gefunden haben, daß sie nicht mehr miteinander leben können? Und so etwas kann immer und überall vorkommen.«
Alexei Alexandrowitsch stieß einen schweren Seufzer aus und schloß die Augen.
»Es bleibt nur ein Punkt noch zu erwägen: ob einer der Gatten eine neue Ehe einzugehen wünscht. Wenn nicht, dann ist die ganze Sache sehr einfach«, erklärte Stepan Arkadjewitsch, der sich jetzt immer mehr und mehr von seiner Befangenheit frei machte.
Alexei Alexandrowitsch runzelte vor Erregung die Stirn, murmelte etwas vor sich hin und antwortete nichts. Alles das, was Stepan Arkadjewitsch für so außerordentlich einfach hielt, hatte Alexei Alexandrowitsch schon hundertmal, tausendmal durchdacht. Ihm erschien das alles keineswegs außerordentlich einfach; ihm erschien es im Gegenteil völlig unmöglich. Da er schon die Einzelheiten des Scheidungsverfahrens kannte, erschien ihm jetzt eine Scheidung unmöglich, weil das Gefühl der eigenen Würde und die Achtung vor der Religion ihm nicht erlaubten, die Schuld eines vorgetäuschten Ehebruchs auf sich zu nehmen, und er noch weniger zugeben mochte, daß seine Frau, nachdem er ihr verziehen und ihr seine Liebe wieder zugewandt hatte, [246] des Ehebruchs überführt und an den Pranger gestellt werde. Auch aus anderen, noch wichtigeren Gründen hielt er eine Scheidung für unmöglich.
Was sollte im Falle einer Scheidung aus seinem Sohne werden? Ihn bei der Mutter zu lassen, war unmöglich. Die geschiedene Mutter würde ihre eigene, unrechtmäßige Familie haben, in der die Stellung eines Stiefsohnes und seine Erziehung aller Wahrscheinlichkeit nach recht übel sein würden. Oder sollte er den Sohn bei sich behalten? Er wußte, daß das wie eine Rache von seiner Seite angesehen würde, und das wollte er nicht. Außerdem aber erschien ihm eine Scheidung ganz besonders deswegen unmöglich, weil er durch seine Einwilligung in die Scheidung Anna ins Verderben stürzen würde. Tief eingeprägt hatte sich ihm ein Gedanke, den Darja Alexandrowna ihm gegenüber in Moskau ausgesprochen hatte: daß er, wenn er sich zur Scheidung entschließe, dabei nur an sich denke und nicht daran, daß er Anna auf diese Weise unrettbar zugrunde richte. Und indem er nun mit diesem Gedanken noch den Umstand, daß er bereits verziehen hatte, sowie seine Zuneigung zu den Kindern in Verbindung brachte, faßte er das, was Darja Alexandrowna gesagt hatte, in seiner eigenen Weise folgendermaßen auf. In die Scheidung willigen, seiner Frau die Freiheit wiedergeben, das bedeutete nach seiner Anschauung: sich selbst des Letzten, was ihn noch an das Leben fesselte, der Kinder, die er liebte, berauben und ihr die letzte Stütze auf dem Wege des Guten entziehen und sie ins Verderben stoßen. Er wußte, daß sie als geschiedene Frau sich mit Wronski verbinden werde und daß diese Verbindung eine ungesetzliche und verbrecherische sein werde, weil nach dem Kirchengesetze eine neue Ehe für eine Frau unstatthaft ist, solange der erste Gatte noch lebt. ›Sie wird sich mit ihm verbinden, und in ein, zwei Jahren wird entweder er sie verlassen oder sie wieder ein neues Verhältnis eingehen‹, sagte sich Alexei Alexandrowitsch. ›Und ich, der ich zu dieser Scheidung mit ihren ungesetzlichen Folgen meine Zustimmung gegeben habe, werde an ihrem Verderben schuld sein.‹ Alles dies hatte er unzählige Male überlegt und war davon überzeugt, daß eine Scheidung keineswegs außerordentlich einfach sei, wie sein Schwager behauptete, sondern vielmehr vollständig unmöglich. Er hielt nichts von dem, was Stepan Arkadjewitsch sagte, für richtig; auf jeden Satz hatte er tausend Entgegnungen; aber er hörte ihm zu in dem Gefühl, daß in dessen Worten jene mächtige, rücksichtslose Kraft zum Ausdruck komme, die seinem Leben die Richtung gebe und der er sich werde fügen müssen.
[247] »Die Frage ist nur, in welcher Weise, unter welchen Bedingungen du dich mit der Scheidung einverstanden erklären willst. Sie verlangt nichts; sie wagt nicht, dich zu bitten; alles stellt sie deiner Großmut anheim.«
›Mein Gott! Mein Gott! Womit habe ich das verdient?‹ dachte Alexei Alexandrowitsch in Erinnerung an die Einzelheiten einer Ehescheidung, bei der der Ehemann die Schuld auf sich genommen hatte. Und er verbarg vor Scham sein Gesicht in den Händen mit der gleichen Gebärde wie seinerzeit Wronski.
»Du bist aufgeregt, und ich finde das sehr verständlich. Aber wenn du dir die Sache recht überlegst ...«
›Und wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem biete auch die linke dar, und wer dir den Mantel nimmt, dem gib auch den Rock‹, dachte Alexei Alexandrowitsch.
»Ja, ja!« rief er mit weinerlicher Stimme. »Ich will die Schmach auf mich nehmen und will sogar meinen Sohn hingeben; aber ... aber wäre es nicht doch besser, das alles zu unterlassen? Indes tu, was du willst ...«
Er wandte sich von seinem Schwager weg, damit dieser nicht sein Gesicht sehen könne, und setzte sich auf einen Stuhl am Fenster. Leid und Scham erfüllten sein Herz; aber zugleich mit dem Leid und der Scham empfand er eine gewisse Freude und Rührung über die Größe seiner Demut.
Stepan Arkadjewitsch war ergriffen. Er schwieg einige Augenblicke.
»Alexei Alexandrowitsch«, begann er dann, »glaube mir, sie wird deine Großmut zu schätzen wissen ... Aber es war offenbar Gottes Wille so«, fügte er hinzu, merkte jedoch, sobald er das gesagt hatte, daß es dumm und unpassend war, und unterdrückte nur mit Mühe ein Lächeln über seinen törichten Mißgriff.
Alexei Alexandrowitsch wollte etwas antworten, konnte aber vor Tränen nicht sprechen.
»Es ist ein vom Schicksal verhängtes Unglück, und das muß man hinnehmen. Ich erkenne dieses Unglück als vollendete Tatsache an und bemühe mich, sowohl meiner Schwester wie auch dir zu helfen«, sagte Stepan Arkadjewitsch.
Als er das Zimmer seines Schwagers verließ, war er gerührt; aber das hinderte ihn nicht, sehr zufrieden darüber zu sein, daß er diese Angelegenheit glücklich erledigt hatte; denn er war überzeugt, daß Alexei Alexandrowitsch von seiner Zusage nicht wieder zurücktreten werde. Zu diesem Gefühle der Befriedigung gesellte sich noch die Freude über einen guten Einfall, der ihm gekommen war. Wenn nämlich diese Sache ganz erledigt sein [248] würde, dann wollte er seiner Frau und seinen nächsten Bekannten ein Rätsel vorlegen: ›Welcher Unterschied ist zwischen mir und einem Chirurgen? Wenn ein Chirurg amputiert, so geht es dadurch allerhöchstens dem einen besser; ich aber habe eine Amputation vorgenommen, durch die es gleich drei Menschen mit einem Male besser geht.‹ Oder: ›Welche Ähnlichkeit ist zwischen mir und einem Chirurgen? Wenn der Chirurg ... Aber das muß ich erst noch besser zurechtmachen‹, dachte er lächelnd.
Wronskis Wunde war gefährlich gewesen, obwohl die Kugel das Herz nicht verletzt hatte. Mehrere Tage lang hatte er zwischen Leben und Tod geschwebt. Als er zum ersten Male wieder imstande war zu sprechen, befand sich nur Warja, die Frau seines Bruders, bei ihm im Zimmer.
»Warja«, sagte er, indem er sie ernst anblickte, »ich habe mich zufällig durch einen Schuß verletzt. Bitte, sprich zu mir nie davon und rede zu allen in diesem Sinne. Sonst nimmt sich die Sache gar zu dumm aus.«
Ohne darauf zu antworten, beugte Warja sich über ihn und blickte ihm mit frohem Lächeln ins Gesicht. Seine Augen waren hell, nicht fieberhaft; aber sie hatten einen tiefernsten Ausdruck.
»Nun, Gott sei Dank!« sagte sie. »Hast du keine Schmerzen?«
»Hier ein wenig.« Er zeigte auf die Brust.
»Dann erlaube, ich will dir einen neuen Verband machen.«
Schweigend preßte er die breiten Kiefer zusammen und blickte seine Schwägerin an, während sie ihn verband. Als sie damit fertig war, sagte er:
»Ich bin jetzt bei klarer Besinnung; bitte, wirke doch darauf hin, daß kein Gerede entsteht, als hätte ich absichtlich auf mich geschossen.«
»Das wird ja auch niemand sagen. Ich hoffe nur, daß du in Zukunft nicht wieder unvorsichtig schießen wirst«, versetzte sie mit einem fragenden Lächeln.
»Das werde ich ja wohl nicht tun; aber es wäre besser gewesen ...«
Er lächelte finster.
Trotz dieser Äußerung, über die, im Verein mit dieser Miene, Warja heftig erschrak, fühlte er, sobald die Entzündung vorüber war und die Genesung eintrat, daß er von einem Teile seines Kummers vollständig frei geworden war. Durch diese Tat hatte er sozusagen die Scham und die Demütigung, die er [249] vorher empfunden hatte, von sich abgewaschen. Er vermochte jetzt ruhig an Alexei Alexandrowitsch zu denken. Er erkannte dessen Großmut in vollem Umfange an, fühlte sich aber selbst nicht mehr erniedrigt. Außerdem war er nun wieder in das alte Geleise zurückgekehrt, in dem sich sein Leben früher bewegt hatte. Er glaubte, den Menschen nun wieder ohne Scham in die Augen blicken zu können, und war wieder imstande, so zu leben, wie es seinen Gewohnheiten entsprach. Das einzige, was er nicht aus seinem Herzen herauszureißen vermochte, obwohl er unaufhörlich gegen dieses Gefühl ankämpfte, war der an Verzweiflung grenzende Kummer darüber, daß er Anna für immer verloren hatte. In seinem Herzen sagte er sich mit aller Bestimmtheit und Festigkeit, daß er jetzt, wo er seine Schuld ihrem Manne gegenüber gebüßt hatte, verpflichtet sei, ihr zu entsagen, und sich in Zukunft niemals zwischen die Reuige und ihren Mann stellen dürfe; aber er war nicht imstande, den Schmerz über den Verlust ihrer Liebe aus seinem Herzen zu reißen, nicht imstande, jene Augenblicke des Glückes, die er mit ihr genossen, damals aber so wenig zu schätzen gewußt hatte, aus seinem Gedächtnisse wegzuwischen, die Erinnerung daran verfolgte ihn jetzt mit ihrem ganzen zauberhaften Reize.
Serpuchowskoi war auf den Gedanken einer Versetzung Wronskis nach Taschkent gekommen, und Wronski war auf diesen ihm gemachten Vorschlag, ohne einen Augenblick zu schwanken, eingegangen. Aber je näher der Augenblick der Abreise heranrückte, um so schwerer wurde ihm das Opfer, das er dem, was er für seine Pflicht hielt, brachte.
Seine Wunde war geheilt, und er fuhr bereits häufig aus, um die nötigen Vorbereitungen für die Abreise nach Taschkent zu treffen.
›Nur ein einziges Mal noch möchte ich sie sehen, und dann will ich mich vergraben und sterben‹, dachte er und sprach, als er seine Abschiedsbesuche machte, diesen Gedanken Betsy gegenüber aus. Mit dieser Aufgabe war dann Betsy von ihm zu Anna gefahren und hatte ihm darauf ihre abschlägige Antwort übermittelt.
›Um so besser‹, dachte Wronski, als er diese Nachricht erhielt. ›Es war das eine Schwäche, die meine letzten Kräfte vernichtet haben würde.‹
Am Morgen des folgenden Tages kam Betsy selbst zu ihm und teilte ihm mit, Anna habe von Oblonski die bestimmte Nachricht erhalten, daß Alexei Alexandrowitsch in die Scheidung willige und Wronski sie daher wiedersehen dürfe.
[250] Er dachte in seiner Aufregung nicht einmal daran, Betsy aus seiner Wohnung hinauszubegleiten; er vergaß alle seine Entschlüsse; er ließ nicht fragen, wann er Anna sprechen könne und wo ihr Mann sei; – er fuhr sofort, unverzüglich zu Karenins. Er stürmte die Treppe hinauf, ohne irgend jemand oder irgend etwas zu sehen, und trat schnellen Schrittes, indem er sich nur mühsam enthielt, geradezu zu laufen, in ihr Zimmer. Und ohne daran zu denken und sich darum zu kümmern, ob sonst noch jemand im Zimmer sei oder nicht, umarmte er sie und bedeckte ihr Gesicht, ihre Hände und ihren Hals mit Küssen.
Anna hatte sich auf dieses Wiedersehen vorbereitet gehabt und überlegt, was sie ihm sagen würde; aber sie kam nicht dazu, etwas davon zu sagen; seine Leidenschaft überwältigte sie. Sie wollte ihn beruhigen, sich selbst beruhigen; aber es war schon zu spät. Seine Erregung teilte sich ihr mit. Ihre Lippen zitterten so, daß sie lange nicht zu reden vermochte.
»Ja, du hast mich erobert, ich bin dein«, brachte sie endlich hervor und drückte seine Hände gegen ihre Brust.
»So mußte es kommen!« sagte er. »Und solange wir leben, muß es so bleiben. Das weiß ich jetzt.«
»Das ist wahr«, erwiderte sie; sie wurde immer blasser und umfaßte seinen Kopf mit beiden Händen. »Und doch liegt etwas Furchtbares darin, nach allem, was vorhergegangen ist.«
»Es wird alles vorübergehen, es wird alles vorübergehen, und wir werden so glücklich sein! Könnte unsere Liebe noch gesteigert werden, so würde sie gerade dadurch gesteigert werden, daß etwas Furchtbares in ihr liegt«, versetzte er, hob den Kopf in die Höhe und lächelte, so daß seine starken Zähne sichtbar wurden.
Und sie konnte nicht anders, sie mußte mit einem Lächeln antworten, nicht auf seine Worte, sondern auf seine Blicke voll heißer Liebe. Sie ergriff seine Hand und streichelte mit ihr ihre kalt gewordenen Wangen und das kurzgeschorene Haar.
»Ich erkenne dich kaum wieder mit diesem kurzen Haar. Du bist noch hübscher geworden, ein Knabe. Aber wie blaß du bist!«
»Ja, ich bin sehr schwach«, erwiderte sie lächelnd. Und ihre Lippen zitterten wieder.
»Wir reisen nach Italien; da wirst du dich schon erholen«, sagte er.
»Ist denn das möglich, daß wir wie Mann und Frau miteinander leben werden, wir beide allein als eine Familie?« sagte sie und blickte ihm aus nächster Nähe in die Augen.
»Mich hat nur gewundert, daß es jemals anders sein konnte.«
[251] »Stiwa sagt, daß er (das war ihr Mann) in alles willigt; aber ich kann seine Großmut nicht annehmen«, sagte sie, indem sie nachdenklich an Wronskis Gesicht vorbeiblickte. »Ich will die Scheidung gar nicht; mir ist jetzt alles gleich. Ich weiß nur nicht, was er über Sergei beschließen wird.«
Es war ihm völlig unverständlich, wie sie in diesem Augenblick des Wiedersehens an ihren Sohn und an die Scheidung denken und davon reden konnte. War denn das jetzt nicht ganz gleichgültig?
»Sprich nicht davon, denke nicht daran«, bat er; er drehte ihre Hand in der seinigen hin und her und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; aber sie sah ihn noch immer nicht an.
»Ach, warum bin ich nicht gestorben; das wäre das beste gewesen!« sagte sie; die Tränen strömten ihr still, ohne Schluchzen, über beide Wangen. Aber sie gab sich Mühe zu lächeln, um ihn nicht zu kränken.
Eine Ablehnung der auszeichnenden Ernennung auf den gefährlichen Posten in Taschkent wäre nach Wronskis früheren Anschauungen ein schmähliches Benehmen und ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Jetzt aber trat er, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, zurück und nahm, als er bemerkte, daß dieser Schritt höheren Ortes mißbilligt wurde, sofort den Abschied.
Einen Monat darauf war Alexei Alexandrowitsch mit seinem Sohn allein in der Wohnung zurückgeblieben; Anna war mit Wronski ins Ausland gereist. Eine Scheidung der Ehe war nicht erfolgt; Anna hatte sie entschieden abgelehnt.
Die Fürstin Schtscherbazkaja fand eigentlich, daß es ein Ding der Unmöglichkeit war, die Hochzeit noch vor den Fasten auszurichten, bis zu denen nur noch fünf Wochen Zeit blieb; bis zu diesem Zeitpunkt konnte kaum die Hälfte der Ausstattung fertiggestellt werden; aber sie mußte Ljewin darin recht geben, daß die Ansetzung auf die Zeit erst nach den Fasten sich leicht als eine allzu späte herausstellen konnte, da eine alte Tante des Fürsten Schtscherbazki schwerkrank war, möglicherweise bald starb und dann wegen der Trauer eine noch weitere Hinausschiebung der Hochzeit nötig werden würde. Die Fürstin willigte daher doch ein, daß die Hochzeit schon vor den Fasten gefeiert werden sollte, und entschloß sich, die Ausstattung in zwei Teile, einen größeren und einen kleineren, zu teilen. Und zwar wollte sie den kleineren Teil der Ausstattung gleich jetzt vollständig fertigstellen, den größeren aber später nachschicken, und sie war recht ärgerlich auf Ljewin, weil er es durchaus nicht fertigbringen konnte, ihr eine ernsthafte Antwort auf die Frage zu geben, ob er mit dieser Einrichtung einverstanden sei oder nicht. Diese Einrichtung war um so zweckmäßiger, als das junge Paar gleich nach der Hochzeit auf das Gut fahren wollte, wo sie die Bestandteile des größeren Teiles der Ausstattung nicht nötig hatten.
Bei Ljewin dauerte immer noch jener Zustand der Verwirrung fort, nach dem er die Vorstellung hatte, daß er und sein Glück den wichtigsten, ja einzigen Zweck der ganzen Welt bildeten und daß er jetzt an nichts anderes zu denken und sich um nichts zu kümmern brauche, sondern alles für ihn von anderen Leuten getan und besorgt werden würde. Nicht einmal irgendwelche Pläne und Ziele für sein künftiges Leben hatte er; die Entscheidung darüber stellte er anderen anheim, in der zuversichtlichen Überzeugung, daß sich auf diese Art alles wunderschön gestalten werde. Sein Bruder Sergei Iwanowitsch, Stepan Arkadjewitsch und die Fürstin gaben ihm in allen Dingen Anweisung, was er zu tun habe, und er war immer mit allem, was sie ihm [253] vorschlugen, völlig einverstanden. Sein Bruder nahm eine Hypothek für ihn auf; die Fürstin riet ihm, nach der Hochzeit aus Moskau wegzufahren. Stepan Arkadjewitsch empfahl ihm, ins Ausland zu reisen. Mit allem war er einverstanden. ›Richtet alles ein, wie ihr wollt, wenn euch das Vergnügen macht. Ich bin glücklich, und mein Glück kann dadurch weder größer noch kleiner werden, wie ihr auch die Sache einrichten mögt‹, dachte er. Als er Kitty von Stepan Arkadjewitschs Rat, ins Ausland zu reisen, Mitteilung machte, war er sehr verwundert, daß sie damit nicht einverstanden war, sondern über ihr beiderseitiges künftiges Leben ihre eigenen, ganz bestimmten Gedanken hegte. Sie wußte, daß Ljewin auf dem Gute eine Tätigkeit hatte, die er gern ausübte. Obwohl sie nun, wie er sah, von dieser Tätigkeit nichts verstand, ja auch nichts davon verstehen wollte, so hinderte sie das doch nicht daran, diese Tätigkeit für etwas sehr Wichtiges zu halten. Und daher sagte sie sich, daß sie ihr ständiges Heim würden auf dem Lande haben müssen, und mochte nicht ins Ausland reisen, wo sie doch nicht lange würden wohnen können, sondern dahin, wo ihr Heim sein würde. Dieser bestimmt ausgesprochene Wille versetzte Ljewin in Verwunderung. Aber da es ihm ganz gleich war, so bat er sofort Stepan Arkadjewitsch, wie wenn das dessen Pflicht gewesen wäre, nach dem Gute zu fahren und dort alles, was er für nötig erachten würde, mit jenem Geschmack, der ihm in so hohem Maße eigen sei, einzurichten.
»Aber höre mal«, sagte Stepan Arkadjewitsch nach seiner Rückkehr vom Gute, wo er alles für die Ankunft des jungen Paares vorbereitet hatte, gelegentlich zu Ljewin, »hast du denn auch ein Beichtzeugnis?«
»Nein, wieso?«
»Ohne das kannst du nicht getraut werden.«
»O weh, o weh, o weh!« rief Ljewin. »Ich glaube, ich bin seit neun Jahren nicht mehr zum Abendmahl gewesen. Daran habe ich ja gar nicht gedacht.«
»Na, du bist gut!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch lachend. »Und dabei nennst du mich einen Nihilisten! Aber das ist unumgänglich. Du mußt dich zum Abendmahl vorbereiten.«
»Aber wann denn? Wann? Es sind ja nur noch vier Tage!«
Stepan Arkadjewitsch leitete auch hier alles Erforderliche ein, und Ljewin begann, sich zum Abendmahl vorzubereiten. Für Ljewin, der selbst nicht gläubig war, dabei aber doch den Glauben anderer achtete, war es immer schon eine schwere, peinliche Aufgabe gewesen, bei irgendwelchen kirchlichen Zeremonien zugegen sein und sich daran beteiligen zu müssen. Jetzt nun vollends [254] in der empfindsamen, weichen Gemütsstimmung, in der er sich befand, kam es ihm nicht nur schwer an, daß er heucheln sollte, sondern es erschien ihm geradezu unmöglich. Jetzt, wo er sich so groß und gehoben fühlte, wo alles in ihm sproßte und blühte, jetzt sollte er entweder lügen oder mit der Religion Spott treiben. Weder das eine noch das andere zu tun, fühlte er sich imstande. Aber soviel er auch Stepan Arkadjewitsch mit Fragen zusetzte, ob er nicht das Zeugnis ohne diese Vorbereitung erhalten könne, Stepan Arkadjewitsch erklärte das für unmöglich.
»Na, und was hast du denn auch für Mühe damit? Zwei Tage! Und er ist ein so nettes, verständiges altes Männchen. Er zieht dir diesen Zahn so, daß du gar nichts davon merkst.«
Als Ljewin der ersten Messe beiwohnte, versuchte er, in seiner Seele die Erinnerung aus seiner Jugendzeit wieder lebendig zu machen, die Erinnerungen an jene Zeit starken religiösen Empfindens, die er von seinem sechzehnten bis zu seinem siebzehnten Lebensjahre durchgemacht hatte; aber er gelangte sehr schnell zu der Überzeugung, daß das für ihn völlig unmöglich sei. Dann versuchte er, dieses ganze Kirchenwesen wie einen leeren, bedeutungslosen Brauch anzusehen, ähnlich dem des Abstattens von Visiten; aber er fühlte, daß er sich auch auf diesen Standpunkt nicht zu stellen vermochte. Wie die Mehrzahl seiner Alters- und Standesgenossen befand sich Ljewin der Religion gegenüber in einer sehr unbestimmten Stellung. Zu glauben vermochte er an die Lehre der Kirche nicht, er war aber gleichzeitig auch nicht fest davon überzeugt, daß sie so ganz und gar unrichtig sei. Da er deshalb nicht imstande war, an die Bedeutsamkeit dessen, was er jetzt tat, zu glauben, und ebensowenig, es mit Gleichgültigkeit wie eine leere Förmlichkeit anzusehen, so wurde er während dieser ganzen Vorbereitungszeit ein Gefühl der Verlegenheit und Scham darüber nicht los, daß er etwas tue, wofür er kein Verständnis habe, also, wie ihm eine innere Stimme sagte, etwas Unwahrhaftiges und Schlechtes.
Während des Gottesdienstes hörte er bald auf die Gebete hin und bemühte sich, ihnen eine Bedeutung unterzulegen, die sich mit seinen Anschauungen in Übereinstimmung bringen ließe, bald wieder, wenn er merkte, daß er für diese Gebete doch kein Verständnis habe und sie ablehnen müsse, gab er sich Mühe, nicht hinzuhören, und beschäftigte sich mit seinen Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen, die ihm, während er so müßig in der Kirche dastand, mit besonderer Lebhaftigkeit durch den Kopf gingen.
Er wohnte der Mittagsmesse, der Nachmittagsmesse und dem [255] Abendgebete bei und kam am anderen Tage, nachdem er früher als gewöhnlich aufgestanden war, ohne Tee getrunken zu haben, um acht Uhr wieder in die Kirche, um das Morgengebet anzuhören und zu beichten.
In der Kirche war niemand anwesend außer einem bettelnden Invaliden, zwei alten Weibern und dem Kirchenpersonal.
Der junge Diakon, dessen Gestalt sich in dem dünnen Amtskleide scharf abhob, begrüßte ihn, trat dann sofort zu einem Tischchen an der Wand und begann die Gebete zu lesen. Während des Lesens und besonders bei der häufigen, schnellen Wiederholung derselben Worte: »Herr, erbarme dich!«, die sich dabei, stark verstümmelt, wie ein einziges Wort anhörten, hatte Ljewin die Empfindung, als ob seine Verstandeswelt verschlossen und versiegelt sei und er sie jetzt nicht anrühren und in Bewegung setzen dürfe, um sie nicht völlig in Verwirrung zu bringen; und daher fuhr er, hinter dem Diakon stehend, fort, sich seinen eigenen Gedanken zu überlassen, ohne auf die Gebete hinzuhören und aufzumerken. ›Ganz erstaunlich ist doch, wie ausdrucksvoll ihre Hand ist‹, dachte er, in Erinnerung daran, wie sie gestern zusammen an einem Ecktisch gesessen hatten. Sie hatten, wie fast immer während dieser ganzen Zeit, nicht recht gewußt, wovon sie reden sollten, und so hatte sie ihre Hand auf den Tisch gelegt und sie abwechselnd auf und zu gemacht und selbst gelacht, indem sie die Bewegung ihrer Hand beobachtete. Er dachte daran, wie er ihre Hand geküßt und dann die zusammenlaufenden Linien auf der rosigen Innenseite betrachtet hatte. ›Wieder dieses verkürzte »Herr, erbarme dich!«‹ dachte Ljewin, indem er sich bekreuzte, verneigte und dabei die geschmeidigen Bewegungen des Diakons beobachtete. ›Dann nahm sie meine Hand und betrachtete die Linien darin. »Du hast eine prachtvolle Hand«‹, sagte sie. Und nun blickte er auf seine Hand und dann auf die kurzfingerige Hand des Diakons. ›Ja, jetzt ist es bald zu Ende‹, hoffte er. ›Nein, ich glaube, es geht noch einmal von Anfang los‹, dachte er, indem er nach den Gebeten hinhörte. ›Nein, es ist doch zu Ende; da, er machte ja schon eine Verbeugung bis zur Erde. Das ist immer dicht vor dem Schluß.‹
Der Diakon nahm mit der Hand, die in dem Plüschaufschlag des Ärmels steckte, scheinbar ohne es selbst zu bemerken, einen Dreirubelschein in Empfang, sagte, er werde Ljewin in die Liste eintragen, und ging in das Allerheiligste, wobei seine neuen Stiefel auf den Steinplatten der leeren Kirche einen kräftigen Klang erweckten. Eine Minute darauf blickte er von dort wieder hervor und winkte Ljewin mit der Hand. Die bisher verschlossene [256] Verstandeswelt in Ljewins Kopfe wollte jetzt anfangen sich zu regen; aber er scheuchte sie eiligst zurück. ›Es wird sich schon irgendwie machen‹, dachte er und ging zum Altar. Er stieg die Stufen hinan, wandte sich rechts und erblickte den Geistlichen. Dieser, ein altes Männchen mit dünnem, halb ergrautem Barte und müden, gutmütigen Augen, stand am Chorpult und blätterte in der Agende. Er verneigte sich leicht vor Ljewin und begann sogleich in dem herkömmlichen Tone die Gebete vorzulesen. Als er damit fertig war, machte er eine Verbeugung bis zur Erde und wandte sich dann mit dem Gesicht zu Ljewin.
»Christus steht hier unsichtbar vor Ihnen und empfängt Ihre Beichte«, begann er, auf das Kruzifix weisend. »Glauben Sie an alles, was uns die heilige apostolische Kirche lehrt?« fuhr er fort, indem er die Augen von Ljewins Gesicht wegwandte und die Hände unter dem Schultertuche faltete.
»Ich habe an allem gezweifelt und tue es noch«, antwortete Ljewin; der Klang seiner Stimme mißfiel ihm selbst. Dann schwieg er.
Der Geistliche wartete einige Sekunden, ob er vielleicht noch etwas hinzufügen wolle; dann schloß er die Augen und sagte mit ziemlicher Geschwindigkeit in der Mundart des Gouvernements Wladimir, die viele o enthält:
»Das Zweifeln ist der menschlichen Schwachheit eigen; aber wir müssen beten, damit der barmherzige Gott uns fest mache. Welche besonderen Sünden haben Sie begangen?« fuhr er ohne die geringste Pause fort, wie wenn er darauf bedacht wäre, keine Zeit zu verlieren.
»Meine größte Sünde ist der Zweifel. Ich zweifle an allem und befinde mich fast immer in Zweifel.«
»Das Zweifeln ist der menschlichen Schwachheit eigen«, sagte der Geistliche noch einmal wie kurz zuvor. »Woran zweifeln Sie denn hauptsächlich?«
»Ich zweifle an allem. Ich zweifle manchmal sogar an dem Dasein Gottes«, antwortete Ljewin unwillkürlich und erschrak selbst über die Unschicklichkeit dessen, was er gesagt hatte. Aber auf den Geistlichen machten Ljewins Worte anscheinend keinen besonderen Eindruck.
»Wie kann denn jemand an dem Dasein Gottes zweifeln?« erwiderte er unverzüglich mit einem ganz leisen Lächeln.
Ljewin schwieg.
»Wie können Sie denn an dem Schöpfer zweifeln, wenn Sie seine Schöpfung anschauen?« fuhr der Geistliche in schneller, gewohnheitsmäßiger Redeweise fort. »Wer hat das Himmelsgewölbe [257] mit Sternen geschmückt? Wer hat die Erde in ihre Schönheit gekleidet? Wie ist das denkbar ohne einen Schöpfer?« sagte er und blickte Ljewin fragend an.
Ljewin fühlte, daß es unpassend wäre, sich auf eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Geistlichen einzulassen, und gab daher nur eine Antwort, die direkt der Frage entsprach.
»Ich weiß es nicht«, sagte er.
»Sie wissen es nicht? Wie können Sie dann also daran zweifeln, daß Gott alles geschaffen hat?« erwiderte der Geistliche mit heiterer Verwunderung.
»Ich verstehe nichts davon«, antwortete Ljewin errötend; er fühlte, daß seine Antworten dumm waren und in einer solchen Lage nicht anders als dumm sein konnten.
»Beten Sie zu Gott und bitten Sie ihn. Sogar die heiligen Väter wurden von Zweifeln heimgesucht und baten Gott, ihren Glauben zu stärken. Der Teufel hat eine große Gewalt, und wir dürfen uns ihm nicht unterwerfen. Beten Sie zu Gott, bitten Sie ihn. Beten Sie zu Gott«, fügte er schnell noch einmal hinzu.
Der Geistliche schwieg eine Weile, wie in Gedanken versunken.
»Wie ich gehört habe, beabsichtigen Sie mit der Tochter meines Pfarrkindes und Beichtsohnes, des Fürsten Schtscherbazki, in die Ehe zu treten?« fragte er dann lächelnd. »Ein vortreffliches Mädchen!«
»Ja«, erwiderte Ljewin und errötete über diese ihm ungehörig scheinenden Worte des Geistlichen. ›Wozu braucht er mich danach in der Beichte zu fragen?‹ dachte er.
Und wie wenn er auf diesen Gedanken Ljewins antwortete, sagte der Geistliche zu ihm:
»Sie beabsichtigen in die Ehe einzutreten, und Gott wird Sie vielleicht mit Nachkommenschaft segnen, nicht wahr? Nun, welche Erziehung werden Sie Ihren Kleinen geben können, wenn Sie nicht in Ihrer eigenen Seele die Versuchung des Teufels, der Sie zum Unglauben verleitet, besiegt haben?« fragte er mit mildem Vorwurf. »Wenn Sie ihr Kind lieben, so werden Sie als ein guter Vater ihm nicht nur Reichtum, Wohlleben und Ehren wünschen, sondern Sie werden auch sein wahres Heil wünschen, seine geistige Erleuchtung durch das Licht der Wahrheit. Nicht wahr? Was werden Sie ihm nun aber antworten, wenn das unschuldige Kindlein Sie fragt: ›Lieber Vater, wer hat alles das erschaffen, was mich in dieser Welt ergötzt: die Erde, und die Gewässer, und die Sonne, und die Blumen und die Gräser?‹ Wollen Sie ihm wirklich antworten: ›Ich weiß es nicht‹? Und es ist ja nicht möglich, daß Sie es nicht wissen sollten, da Gott der Herr es Ihnen in seiner großen Gnade geoffenbart [258] hat. Oder aber Ihr Kind wird Sie fragen: ›Was erwartet mich nach dem Tode im Jenseits?‹ Was werden Sie ihm sagen, wenn Sie nichts darüber wissen? Welche Antwort werden Sie ihm geben? Wollen Sie Ihr Kind der Hinterlist der Welt und des Teufels überlassen? Das wäre nicht recht gehandelt!« sagte er, hielt inne, beugte den Kopf zur Seite und blickte Ljewin mit seinen guten, sanften Augen an.
Ljewin antwortete ihm jetzt nichts mehr, nicht deshalb, weil er sich mit dem Geistlichen nicht in einen Streit einlassen wollte, sondern weil ihm noch niemand solche Fragen vorgelegt hatte. Er meinte, wenn einmal seine Kleinen diese Fragen an ihn richten würden, dann würde es immer noch Zeit sein zu überlegen, was er ihnen antworten solle.
»Sie treten jetzt in einen Abschnitt Ihres Lebens ein«, fuhr der Geistliche fort, »wo Sie Ihren Weg werden wählen und dann unbeirrt verfolgen müssen. Beten Sie zu Gott, daß er in seiner Gnade Ihnen helfe und sich Ihrer erbarme!« schloß er. »Unser Herr und Gott Jesus Christus verzeihe dir, mein Sohn, in seiner Gnade und in der Fülle seiner Liebe zu den Menschen ...«, und nachdem der Geistliche das Absolutionsgebet zu Ende gesprochen hatte, segnete er Ljewin und entließ ihn.
Als Ljewin an diesem Tage nach Hause zurückkehrte, hatte er die angenehme Empfindung, daß seine unbehagliche Lage beendet war, und zwar beendet war, ohne daß er hatte zu lügen brauchen. Außerdem war ihm eine unklare Erinnerung haftengeblieben, daß das, was dieser gute, liebe Alte gesagt hatte, ganz und gar nicht so töricht sei, wie es ihm am Anfang vorgekommen war, und daß etwas darin liege, worüber er sich klarwerden müsse.
›Natürlich nicht jetzt gleich‹, dachte Ljewin, ›sondern später einmal.‹ Ljewin hatte jetzt in höherem Grade als früher die Empfindung, daß etwas in seiner Seele unklar und unrein sei und daß er sich in religiöser Hinsicht in derselben Lage befinde, die er bei anderen so deutlich wahrnahm und so wenig leiden konnte und die er auch seinem Freunde Swijaschski zum Vorwurf machte.
Den Abend dieses Tages brachte Ljewin mit seiner Braut bei Dolly zu; er war besonders vergnügt und sagte zu Stepan Arkadjewitsch zur Erklärung der aufgeräumten Stimmung, in der er sich befand, er sei vergnügt wie ein Hund, den man dazu abrichtet, durch den Reifen zu springen, und der, nachdem er endlich das, was von ihm verlangt wird, begriffen und ausgeführt hat, nun aufjohlt und schwanzwedelnd vor Entzücken auf die Tische und Fensterbretter springt.
Am Hochzeitstage durfte Ljewin dem Brauche gemäß (auf der genauen Innehaltung aller Bräuche bestanden die Fürstin und Darja Alexandrowna mit großer Strenge) seine Braut nicht sehen und speiste in seinem Hotel zu Mittag, und zwar mit drei Junggesellen zusammen, die sich zum Teil zufällig zu ihm gefunden hatten. Dies waren: erstens Sergei Iwanowitsch; dann Katawasow, ehemals sein Kommilitone auf der Universität, jetzt Professor der Naturwissenschaften, den Ljewin auf der Straße getroffen und mit sich ins Hotel geschleppt hatte; und endlich Tschirikow, Friedensrichter in Moskau, Ljewins Genosse auf der Bärenjagd und jetzt sein Hochzeitsmarschall. Das Mittagessen gestaltete sich höchst vergnügt. Sergei Iwanowitsch war in heiterster Laune und hatte seine Freude an Katawasows eigenartigem Wesen. Sobald Katawasow merkte, daß seine Art Verständnis und Würdigung fand, begann er geflissentlich, sie zur Schau zu stellen. Tschirikow beteiligte sich fröhlich und gutmütig an jedem Gespräche.
»Wenn man so bedenkt«, sagte Katawasow und zog dabei nach einer Gewohnheit, die er sich auf dem Lehrstuhl zu eigen gemacht hatte, die Worte in die Länge, »was für ein hochbefähigter junger Mensch unser Freund Konstantin Dmitrijewitsch gewesen ist! Ich rede von jemand, der nicht hier ist; denn dieser Konstantin Dmitrijewitsch lebt nicht mehr. Auch liebte er damals, als er von der Universität abging, die Wissenschaft und interessierte sich für das Wohl der Menschheit; aber jetzt hat er die eine Hälfte seiner Fähigkeiten darauf gerichtet, sich selbst zu betrügen, und die andere, diesen Betrug zu rechtfertigen.«
»Einen entschiedeneren Gegner der Ehe als Sie habe ich noch nie gefunden«, sagte Sergei Iwanowitsch.
»Nicht doch, ich bin kein Gegner der Ehe. Ich bin nur für Arbeitsteilung. Leute, die nichts anderes hervorbringen können, die sollen Menschen hervorbringen; die übrigen aber sollen an der geistigen Bildung und dem Glück der Menschheit arbeiten. Das ist meine Auffassung. Unzählige versuchen, die beiden Berufsarten miteinander zu vereinigen; ich gehöre nicht zu diesen.«
»Wie glücklich werde ich sein, wenn ich einmal hören werde, daß Sie sich verliebt haben!« sagte Ljewin. »Bitte, laden Sie mich dann zu Ihrer Hochzeit ein.«
»Verliebt bin ich schon.«
»Ja, in den Tintenfisch. Weißt du«, wandte sich Ljewin zu seinem Bruder, »Michail Semjonowitsch schreibt eine Abhandlung über die Ernährung und ...«
[260] »Na, richten Sie keine Verwirrung an! Aber es ist ja ganz gleichgültig, worüber ich schreibe. Die Hauptsache ist, daß ich wirklich den Tintenfisch liebe.«
»Aber der wird Sie nicht hindern, eine Frau zu lieben.«
»Der Tintenfisch würde mir nicht hinderlich sein, wohl aber die Frau.«
»Wieso denn?«
»Das werden Sie schon noch sehen. Sie lieben ja die Landwirtschaft und die Jagd; na, da passen Sie mal auf!«
»Heute war Archip hier und sagte, es gäbe in Prudnoje eine Unmenge Elentiere und zwei Bären«, sagte Tschirikow.
»Na, die müssen Sie also schon ohne mich schießen.«
»Das wird wohl nicht anders gehen«, erwiderte Sergei Iwanowitsch. »Und auch für die Zukunft kannst du nur der Bärenjagd Lebewohl sagen; da wird dich deine Frau nicht mehr hinlassen!«
Ljewin lächelte. Die Vorstellung, daß seine Frau ihn nicht werde auf die Jagd gehen lassen, hatte für ihn etwas so Angenehmes, daß er bereit war, für immer auf das Vergnügen zu verzichten, einen Bären wieder zu Gesichte zu bekommen.
»Aber schade ist es doch, daß diese beiden Bären ohne Ihre Mitwirkung erlegt werden sollen. Denken Sie wohl noch an das letztemal in Chapilowo? Das war eine wundervolle Jagd«, sagte Tschirikow.
Ljewin wollte ihm nicht den Wahn benehmen, daß es irgendwo ohne Kitty etwas Schönes geben könne, und antwortete deshalb nicht.
»Nicht ohne guten Grund hat sich doch dieser Brauch herausgebildet, vom Junggesellenleben förmlich Abschied zu nehmen«, meinte Sergei Iwanowitsch. »Mag sich einer bei seiner Verheiratung auch noch so glücklich fühlen, es tut ihm doch leid um seine Freiheit.«
»Gestehen Sie es nur ein: es ist Ihnen auch wohl so zumute wie dem Bräutigam bei Gogol, daß Sie am liebsten aus dem Fenster springen möchten?« neckte Tschirikow.
»Natürlich ist ihm so zumute; aber zugeben wird er es nicht!« sagte Katawasow und lachte laut auf.
»Nun, wie denken Sie darüber? Das Fenster ist offen. Fahren wir sofort nach Twer. Da ist eine Bärin, zu deren Lager wir ohne weiteres gehen können. Im Ernst, fahren wir mit dem Fünfuhrzug! Und die Leute hier in Moskau mögen anfangen, was sie wollen!« schlug Tschirikow lächelnd vor.
»Aber ich kann auf meine Ehre versichern«, erwiderte Ljewin lächelnd, »ein solches Gefühl des Bedauerns über den Verlust meiner Freiheit vermag ich in meiner Seele nicht zu finden!«
[261] »Ja, in Ihrer Seele ist jetzt ein solcher Wirrwarr, daß Sie überhaupt nichts darin finden können«, entgegnete Katawasow. »Aber warten Sie nur ein Weilchen; wenn Sie da erst ein bißchen Ordnung hergestellt haben, dann werden Sie es schon finden!«
»Nein, wenn in meiner Seele ein Bedauern über den Verlust der Freiheit überhaupt vorhanden wäre, so würde ich es neben meinem Gefühle« (er mochte dem Spötter gegenüber nicht das Wort Liebe gebrauchen) »und neben meiner Glückseligkeit doch wenigstens ein klein bißchen empfinden. Aber ganz im Gegenteil, ich freue mich über diesen Verlust meiner Freiheit.«
»Schlimm, schlimm! Ein unheilbarer Kranker!« sagte Katawasow. »Na, wir wollen auf seine Genesung trinken oder ihm wünschen, daß auch nur der hundertste Teil seiner Zukunftsträume zur Wirklichkeit werden möge. Schon das wird ein Glück sein, wie es auf der Welt noch nie dagewesen ist.«
Bald nach dem Essen fuhren die Gäste weg, um sich noch zur Hochzeit umzukleiden.
Als Ljewin allein geblieben war und nochmals an die Gespräche dieser Junggesellen zurückdachte, legte er sich noch einmal die Frage vor, ob in seiner Seele dieses Gefühl des Bedauerns über den Verlust seiner Freiheit vorhanden sei, von dem sie gesprochen hatten. Er lächelte bei dieser Frage. ›Freiheit? Wozu habe ich Freiheit nötig? Das Glück besteht nur darin, daß ich liebe, daß ich wünsche, was sie wünscht, denke, was sie denkt; von Freiheit ist dabei nicht die Rede. Das, ja das ist das Glück!‹
›Aber kenne ich denn auch ihre Gedanken, ihre Wünsche, ihre Gefühle?‹ flüsterte ihm auf einmal eine Stimme in seinem Innern zu. Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht, und er versank in Nachdenken. Und plötzlich überkam ihn ein sonderbares Gefühl. Angst und Zweifel ergriffen ihn – Zweifel an allem.
›Aber wenn sie mich nun nicht liebt? Wenn sie mich nur heiratet, um einen Mann zu bekommen? Wenn sie selbst nicht weiß, was sie tut?‹ fragte er sich. ›Vielleicht kommt sie erst, wenn sie mich geheiratet hat, zur Besinnung und sieht dann ein, daß sie mich nicht liebt und mich nicht hat lieben können.‹ Und nun kamen ihm sonderbare, ganz arge Gedanken über Kitty in den Kopf. Er war auf Wronski eifersüchtig wie vor einem Jahre, als ob jener Abend, an dem er sie mit Wronski zusammen gesehen hatte, erst gestern gewesen wäre. Er argwöhnte, daß sie ihm nicht alles gesagt habe.
Schnell sprang er auf. ›Nein, da muß etwas geschehen!‹ sagte er in Verzweiflung zu sich selbst. ›Ich will zu ihr gehen‹, sie fragen und zum letzten Male zu ihr sagen: ›Noch sind wir frei; [262] ist es nicht das beste, noch jetzt haltzumachen? Alles ist besser als lebenslängliches Unglück, Schande und Untreue!‹ Mit Verzweiflung im Herzen und mit einer wahren Wut auf alle Menschen und auf sich selbst und auf Kitty verließ er sein Hotel und fuhr zu ihr.
Er fand sie in den hinteren Zimmern. Sie saß auf einem Koffer und gab dem Stubenmädchen irgendwelche Anweisungen; beide waren damit beschäftigt, Haufen verschiedenfarbiger Kleider zu durchsuchen, die auf den Stuhllehnen und auf dem Fußboden ausgebreitet lagen.
»Ah!« rief sie, als sie ihn erblickte; ihr ganzes Gesicht erstrahlte vor Freude. »Was bringst du, was bringen Sie?« (Noch bis zu diesen letzten Tagen nannte sie ihn bald du, bald Sie.) »Ein unerwarteter Besuch! Ich bin dabei, meine Mädchenkleider durchzusehen, wem ich jedes schenken soll ...«
»Soso! Das ist ja sehr hübsch!« sagte er und blickte finster nach dem Stubenmädchen.
»Geh hinaus, Dunjascha, ich werde dich nachher rufen«, sagte Kitty. »Was hast du?« fragte sie, sobald das Mädchen hinausgegangen war; sie redete ihn nun entschlossen mit du an. Sie hatte seine sonderbare, aufgeregte, finstere Miene bemerkt und einen Schreck darüber bekommen.
»Kitty, ich leide Qual. Ich kann das nicht allein ertragen«, sagte er in einem Ton, dem man die Verzweiflung anhörte; er war vor ihr stehengeblieben und blickte ihr flehend in die Augen. Er sah schon an dem liebevollen, offenen Ausdruck ihres Gesichtes, daß das, was er ihr von einem Auseinandergehen zu sagen beabsichtigte, keine Folge haben werde; aber es war ihm doch ein Bedürfnis, daß sie selbst ihm seinen Irrtum nehme. »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß es noch Zeit ist. Es ist noch möglich, alles rückgängig zu machen und wieder in Ordnung zu bringen.«
»Was sagst du da? Ich verstehe dich nicht. Was hast du nur?«
»Mich quält das, was ich schon tausendmal gesagt habe und wovon ich nicht loskommen kann: daß ich deiner nicht würdig bin. Es kann nicht dein wahrer Wille gewesen sein, mich zu heiraten. Überlege es noch einmal. Du hast dich geirrt. Überlege es dir recht genau. Du kannst mich nicht lieben ... Wenn es so ist, dann sage es lieber.« Er sah sie bei diesen Worten nicht an. »Ich werde unglücklich sein. Mögen alle Menschen reden, was sie wollen; das ist immer noch besser als ein lebenslängliches Unglück ... Besser jetzt, solange es noch Zeit ist ...«
»Ich verstehe dich nicht«, antwortete sie erschrocken. »Heißt das, daß du zurücktreten willst? Daß es nichts werden soll?«
[263] »Ja, wenn du mich nicht liebst.«
»Du hast den Verstand verloren!« rief sie und wurde rot vor Ärger. Aber sein Gesicht sah so kläglich aus, daß sie ihren Ärger unterdrückte; sie warf die Kleider von einem Stuhle herunter und setzte sich näher zu ihm heran. »Also, was hast du gedacht? Sage mir alles.«
»Ich glaube, daß du mich nicht lieben kannst. Womit könnte ich es denn verdienen, daß du mich liebtest?«
»Mein Gott, was soll ich nur tun?« sagte sie, in Tränen ausbrechend.
»Ach, was habe ich angerichtet!« rief er, fiel vor ihr auf die Knie und bedeckte ihre Hände mit Küssen.
Als die Fürstin fünf Minuten darauf ins Zimmer trat, fand sie das junge Paar schon vollständig versöhnt. Kitty hatte ihn nicht nur zu der Überzeugung gebracht, daß sie ihn liebe, sondern sogar in Beantwortung der Frage, weswegen sie ihn liebe, ihm die Gründe ihrer Liebe dargelegt. Sie hatte ihm gesagt, sie liebe ihn, weil sie ihn ganz verstehe und weil sie wisse, was er lieben müsse, und weil alles, was er liebe, gut sei. Und diese Begründung war ihm vollständig klar erschienen. Als die Fürstin zu ihnen hereinkam, saßen sie nebeneinander auf dem Koffer, durchsuchten die Kleider und stritten sich, weil Kitty das braune Kleid, das sie getragen hatte, als Ljewin ihr seinen Antrag machte, an Dunjascha verschenken wollte, Ljewin aber darauf bestand, dieses Kleid dürfe überhaupt an niemand weggegeben werden, und sie solle Dunjascha das blaue schenken.
»Aber daß du das nicht begreifen kannst! Sie ist ja brünett, und das wird ihr nicht stehen ... Ich habe mir das alles überlegt.«
Als die Fürstin hörte, warum er eigentlich gekommen war, wurde sie halb im Scherz, halb im Ernst böse und schickte ihn nach Hause, damit er sich umkleide und Kitty nicht beim Frisieren störe, da Herr Charles jeden Augenblick kommen müsse.
»Sie hat sowieso schon alle diese Tage über nichts gegessen und ein schlechtes Aussehen bekommen, und nun machst du ihr noch Unruhe mit deinen Torheiten«, sagte sie zu ihm. »Mach, daß du wegkommst, mach, daß du wegkommst, lieber Freund!«
Schuldbewußt und beschämt, aber beruhigt kehrte Ljewin in sein Hotel zurück. Sein Bruder, Darja Alexandrowna und Stepan Arkadjewitsch, alle bereits in voller Festkleidung, warteten schon auf ihn, um ihn mit dem Heiligenbilde zu segnen. Es war jetzt keine Zeit mehr zu verlieren. Darja Alexandrowna mußte noch einmal nach ihrer Wohnung fahren, um ihren Sohn abzuholen, [264] der, schön pomadisiert und mit gebrannten Löckchen, dazu bestimmt war, das Heiligenbild vor der Braut herzutragen. Dann mußte der eine Wagen geschickt werden, den Hochzeitsmarschall zu holen, und der andere, mit dem Sergei Iwanowitsch fahren sollte, nachher zurückgesandt werden ... Überhaupt waren da viele höchst verwickelte Erwägungen nötig. Eins aber stand fest: daß man sich nicht lange aufhalten durfte, denn es war schon halb sieben.
Das Segnen mit dem Heiligenbilde war nicht sehr wirkungsvoll. Stepan Arkadjewitsch stellte sich in komisch feierlicher Haltung neben seiner Frau auf, nahm das Heiligenbild, hieß Ljewin sich bis zur Erde verneigen, segnete ihn mit einem gutmütigen, etwas spöttischen Lächeln und küßte ihn dreimal. Das gleiche tat dann auch Darja Alexandrowna und fuhr darauf schleunigst ab, nachdem sie vorher den für die Wagen festgesetzten Fahrplan schnell noch einmal wieder umgestoßen hatte.
»Nun, dann wollen wir es so machen: bringe du ihn in unserm Wagen hin, und Sergei Iwanowitsch ist wohl so gut, zum Hochzeitsmarschall zu fahren und uns nachher den Wagen zu schicken.«
»Schön, sehr gern.«
»Ich fahre sofort mit ihm hin. Ist dein Gepäck schon weggeschafft?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
»Jawohl, jawohl«, antwortete Ljewin und befahl Kusma, ihm beim Ankleiden behilflich zu sein.
Eine große Volksmenge, namentlich aus Frauen bestehend, umgab das Tor der für die Trauungsfeier hell erleuchteten Kirche. Die nicht weit genug nach der Mitte hatten vordringen können, drängten sich um die Fenster und blickten, einander stoßend und sich zankend, durch deren Gitter.
Mehr als zwanzig Wagen bildeten bereits auf der Straße nach Anweisung der Schutzleute eine lange Reihe. Ein Polizeioffizier stand, ohne Rücksicht auf die starke Kälte, in glänzender Uniform ohne Mantel am Eingang. Unaufhörlich kamen noch mehr Wagen vorgefahren, und blumengeschmückte Damen, die Schleppen mit der Hand tragend, und Herren, die Uniformmützen oder die schwarzen Hüte abnehmend, traten in die Kirche ein. In der Kirche waren bereits beide Kronleuchter und sämtliche Kerzen vor den Heiligenbildern angezündet. Die goldenen [265] Heiligenscheine auf dem roten Untergrunde des Ikonostas, das Silber der Kronleuchter und Armleuchter und die Fliesen des Fußbodens und die Teppiche und die Kirchenfahnen auf den Chorestraden und die Altarstufen und die alten, schwarz gewordenen Bücher und die Leibröcke und die Chorhemden – alles war von Licht übergossen. Auf der rechten Seite der Kirche, in dem bunten Gewühl von Fräcken und weißen Halsbinden, von Uniformen und samtenen und seidenen Damenkleidern, Haaren, Blumen, entblößten Schultern und Armen und hoch hinaufreichenden Handschuhen, wurden mit gedämpfter Stimme lebhafte Gespräche geführt, die in der hohen Kuppel einen seltsamen Widerhall erweckten. Jedesmal, wenn der kreischende Ton der sich öffnenden Kirchtür sich vernehmen ließ, verstummte das Gespräch in dem dichten Schwarm, und alle schauten sich um in der Erwartung, das eintretende Brautpaar zu erblicken. Aber die Tür hatte sich schon mehr als zehnmal geöffnet, und jedesmal war es entweder ein verspäteter Gast, Herr oder Dame, gewesen, der sich dann auf der rechten Seite zu der Gruppe der Eingeladenen gesellte, oder eine Zuschauerin, die den Polizeioffizier zu täuschen oder auch zu erweichen gewußt hatte und sich nun dem links stehenden Haufen der fremden Teilnehmer anschloß. Die Hochzeitsgesellschaft sowohl wie die Fremden hatten bereits alle Stufen der Erwartung durchgemacht.
Anfänglich hatte man gemeint, der Bräutigam und die Braut müßten ja jeden Augenblick kommen, und hatte dieser Verspätung weiter keine Bedeutung beigemessen. Darauf hatte man angefangen, immer häufiger nach der Tür hinzusehen und darüber zu reden, ob auch nicht etwas vorgefallen sei. Dann aber wurde diese Verspätung allmählich peinlich, und die Verwandten und Gäste suchten sich den Anschein zu geben, als dächten sie gar nicht an den Bräutigam und seien ganz mit ihren Gesprächen beschäftigt.
Der Protodiakon, wie um daran zu erinnern, daß seine Zeit kostbar sei, hustete ungeduldig, so daß die Fensterscheiben zitterten. Man hörte, wie auf der Chorestrade die gelangweilten Sänger bald ihre Stimme probierten, bald sich schneuzten. Der Geistliche schickte unaufhörlich bald den Küster, bald den Diakon hinaus, um nachzusehen, ob der Bräutigam noch nicht gekommen sei, und trat selbst in seinem lila Meßgewand mit dem gestickten Gürtel immer häufiger in Erwartung des Bräutigams an die Seitenpforte. Endlich sagte eine der Damen nach einem Blick auf die Uhr: »Das ist aber wirklich seltsam!« und alle Gäste gerieten in Unruhe und begannen ihrer Verwunderung und ihrer Unzufriedenheit lauten Ausdruck zu geben. Einer der [266] Brautführer fuhr hin, um nachzuforschen, was denn vorgefallen sei. Unterdessen stand Kitty, schon längst völlig fertig, in weißem Kleide, langem Schleier und einem Kranze aus Orangenblüten, mit ihrer Schwester, Frau Lwowa, die als Brautmutter walten sollte, in dem Saale des Schtscherbazkischen Hauses, blickte durchs Fenster und wartete schon seit mehr als einer halben Stunde vergeblich darauf, daß ihr Brautführer ihr die Nach richt von der Ankunft des Bräutigams in der Kirche bringe.
Inzwischen ging Ljewin in Beinkleidern, aber ohne Weste und Frack, in seinem Hotelzimmer auf und ab, steckte alle Augenblicke den Kopf aus der Tür und blickte den Flur entlang. Aber von dem, den er erwartete, war auf dem Vorsaal nichts zu sehen, und verzweifelt mit den Armen in der Luft umherfahrend, wandte sich Ljewin zu Stepan Arkadjewitsch, der mit Seelenruhe rauchte.
»Ob sich wohl jemals ein Mensch in einer so entsetzlichen, albernen Lage befunden hat!« sagte er.
»Ja, es ist eine dumme Geschichte!« stimmte ihm Stepan Arkadjewitsch bei und lächelte ihn besänftigend an. »Aber beruhige dich; er wird es ja den Augenblick bringen.«
»Jawohl, er wird!« versetzte Ljewin, seine Wut kaum zurückhaltend. »Und diese albernen ausgeschnittenen Westen! Es ist unmöglich!« sagte er, indem er das zerknitterte Vorderteil seines Hemdes betrachtete. »Und wenn nun das Gepäck schon nach der Bahn gebracht ist, was dann?« rief er in heller Verzweiflung.
»Dann ziehst du das von mir an.«
»Das hätte ich schon längst tun sollen.«
»Habe dich doch nicht so komisch! ... Warte nur, es zieht sich alles zurecht.«
Die Sache war nämlich folgende: Als Ljewin sich zur Trauung anziehen wollte, hatte ihm sein alter Diener Kusma Frack, Weste, und was sonst nötig war, hereingebracht.
»Aber wo hast du das Hemd?« hatte Ljewin gerufen.
»Das Hemd haben Sie ja an«, hatte Kusma mit ruhigem Lächeln erwidert.
Ein reines Hemd zurückzulassen, daran hatte Kusma gar nicht gedacht, und als ihm befohlen worden war, alles einzupacken und zu Schtscherbazkis zu schaffen, von wo das junge Paar am Abend dieses Tages abreisen sollte, da hatte er es auch so gemacht und alles mit Ausnahme des Frackanzuges eingepackt.
Aber das Hemd, das Ljewin am Morgen angezogen hatte, war schon zerknittert, und Ljewin konnte es zu der modisch ausgeschnittenen Weste unmöglich tragen. Zu Schtscherbazkis zu [267] schicken, war ihm zu weit erschienen. Er hatte nach einem Geschäft geschickt, um ein Hemd kaufen zu lassen. Der Kellner war unverrichteter Sache zurückgekommen: es sei alles geschlossen, wegen des Sonntags. Dann war in Stepan Arkadjewitschs Wohnung geschickt worden; ein Hemd war gebracht worden; aber es war viel zu weit und zu kurz. Schließlich hatte er doch zu Schtscherbazkis geschickt, um die Sachen wieder auspacken zu lassen. In der Kirche wartete man auf den Bräutigam; aber der lief, wie ein in einen Käfig eingesperrtes wildes Tier, im Zimmer hin und her, blickte alle Augenblicke auf den Flur hinaus und fragte sich in Erinnerung an die Torheiten, die er heute zu Kitty gesagt hatte, voll Entsetzen und Verzweiflung, was sie jetzt wohl von ihm denken möge.
Endlich stürzte Kusma, der dies alles verschuldet hatte, keuchend und atemlos mit dem Hemd ins Zimmer.
»Ich habe es gerade noch abgefaßt. Der Spediteur war schon dabei, die Sachen aufzuladen«, berichtete Kusma.
Drei Minuten darauf lief Ljewin, ohne nach der Uhr zu sehen, um seine Herzenswunde nicht noch mehr aufzureißen, den Vorsaal entlang.
»Damit kannst du nichts mehr gutmachen«, sagte lächelnd Stepan Arkadjewitsch, der ihm rasch, aber ohne übermäßige Hast folgte. »Es zieht sich alles zurecht, sage ich dir; es zieht sich alles zurecht.«
»Da sind sie! ... Das ist er! ... Welcher? ... Der jüngere doch wohl, nicht? ... Und sie ist mehr tot als lebendig, das liebe Kind!« So schwirrten in dem Zuschauerhaufen die Worte durcheinander, als Ljewin, der seine Braut am Kirchentor in Empfang genommen hatte, mit ihr in die Kirche schritt.
Stepan Arkadjewitsch teilte seiner Frau den Grund der Verspätung mit, und die Gäste flüsterten lächelnd untereinander. Ljewin achtete auf nichts und auf niemand; er sah nur seine Braut an, ohne ein Auge von ihr zu wenden.
Alle sagten, daß Kittys Aussehen sich in diesen letzten Tagen sehr verschlechtert habe und daß sie jetzt im Brautkranze lange nicht so hübsch sei wie gewöhnlich; aber Ljewin fand das nicht. Er blickte nach ihrer hohen Frisur mit dem langen, weißen Schleier und den weißen Blüten, nach dem hochstehenden, gefältelten Kragen, der so recht jungfräulich ihren schlanken Hals an den Seiten verhüllte und vorn offen ließ, nach der erstaunlich schmalen Hüfte, und Kitty erschien ihm reizender als je, [268] nicht als ob diese Blüten, dieser Schleier, dieses aus Paris bezogene Kleid etwas zu ihrer Schönheit hinzugefügt hätten, sondern weil trotz dieser kunstvollen Pracht ihrer Gewandung der Ausdruck ihres lieben Gesichtes, ihrer Augen, ihrer Lippen unverändert der ihr eigene Ausdruck von Unschuld und Wahrhaftigkeit geblieben war.
»Ich dachte schon, du wolltest mir davongehen«, sagte sie und lächelte ihm zu.
»Was mir passiert ist, ist so dumm, daß ich mich schäme, es zu sagen«, antwortete er errötend. In diesem Augenblicke trat Sergei Iwanowitsch zu ihm heran, und er mußte sich zu diesem wenden.
»Die Geschichte mit deinem Hemd ist aber wundervoll!« sagte Sergei Iwanowitsch lächelnd und kopfschüttelnd.
»Ja, ja«, erwiderte Ljewin, der gar nicht verstanden hatte, was zu ihm gesagt war.
»Nun, Konstantin«, sagte Stepan Arkadjewitsch und machte heuchlerisch eine aufgeregte Miene. »Jetzt tritt die Entscheidung einer wichtigen Frage an dich heran. Gerade jetzt bist du in der Lage, die ganze Wichtigkeit dieser Frage zu würdigen. Ich werde gefragt, ob angebrannte Kerzen angezündet werden sollen oder noch nicht angebrannte. Der Unterschied beträgt zehn Rubel«, fügte er hinzu, indem er die Lippen zu einem Lächeln verzog. »Ich habe allerdings bereits eine Entscheidung getroffen, fürchte aber, daß du dich nicht damit einverstanden erklärst.«
Ljewin merkte, daß das ein Späßchen war, vermochte aber nicht darüber zu lächeln.
»Also wie denn nun? Angebrannte oder nicht angebrannte? Das ist die Frage.«
»Ja, ja! Nicht angebrannte.«
»Na, das freut mich sehr! Damit ist die Frage entschieden!« versetzte Stepan Arkadjewitsch lächelnd. »Aber wie dumm doch die Menschen in dieser Lage werden«, sagte er zu Tschirikow, nachdem Ljewin, der ihn zerstreut angesehen hatte, wieder näher an seine Braut herangetreten war.
»Gib wohl acht, Kitty, daß du auch ja zuerst auf den Teppich trittst«, sagte die Gräfin Northstone, die zu ihr trat. »Sie haben ja einen kostbaren Streich gemacht!« wandte sie sich an Ljewin.
»Nun, hast du keine Bange?« fragte Marja Dmitrijewna, eine alte Tante.
»Ist es dir auch nicht zu kühl? Du siehst so blaß aus. Warte mal, bücke dich ein wenig«, sagte Kittys Schwester, Frau Lwowa, und rückte ihr, die vollen, schönen Arme hebend, die Blumen auf dem Kopfe zurecht.
[269] Dolly trat heran und wollte etwas sagen; aber sie war nicht imstande, etwas herauszubringen, sondern brach in Tränen aus und lachte dann gekünstelt.
Kitty blickte alle mit ebenso abwesenden Blicken an, wie Ljewin es tat.
Unterdessen hatten die Kirchendiener ihren Ornat angelegt, und der Geistliche und der Diakon begaben sich zu dem Chorpult, das im Kirchenschiff stand. Der Geistliche wandte sich an Ljewin und sagte ihm etwas. Aber Ljewin hatte es nicht verstanden.
»Fassen Sie Ihre Braut an der Hand und führen Sie sie«, sagte der Hochzeitsmarschall zu Ljewin.
Lange Zeit konnte Ljewin nicht begreifen, was von ihm verlangt wurde. Lange Zeit verbesserte man an ihm herum und wollte die Sache schon als hoffnungslos aufgeben (weil er immer nicht die richtige Hand hinreichte oder nicht die richtige Hand ergriff), als er endlich verstand, daß er, ohne seine Stellung zu ändern, mit seiner rechten Hand ihre rechte Hand fassen sollte. Nachdem er nun schließlich seine Braut so an der Hand gefaßt hatte, wie es sein mußte, ging der Geistliche einige Schritte vor ihnen her und blieb vor dem Chorpult stehen. Der Schwarm der Verwandten und Bekannten zog unter Stimmengesumm und mit raschelnden Schleppen ihnen nach. Jemand bückte sich und legte die Schleppe der Braut in Ordnung. In der Kirche wurde es so still, daß man das Fallen der Wachstropfen hörte.
Der alte Geistliche, in seiner hohen Kappe, mit den silberglänzenden, grauen Haarsträhnen, die hinter den Ohren nach beiden Seiten auseinandergeteilt waren, nahm die kleinen, greisenhaften Hände unter dem schweren Meßgewande, das reich mit Silber verziert und auf dem Rücken mit einem goldenen Kreuz geschmückt war, hervor und machte sich mit einem Buche auf dem Chorpult zu schaffen.
Stepan Arkadjewitsch ging leise zu ihm, flüsterte ihm etwas zu und trat dann, nachdem er noch Ljewin mit den Augen zugewinkt hatte, wieder zurück.
Der Geistliche zündete zwei mit Blumen bemalte Kerzen an, die er in der linken Hand schräg hielt, so daß das Wachs langsam von ihnen heruntertropfte, und wandte sich dann mit dem Gesicht dem Brautpaare zu. Es war derselbe Geistliche, bei dem Ljewin gebeichtet hatte. Er sah mit müdem, traurigem Blicke den Bräutigam und die Braut an, seufzte, streckte die rechte Hand unter dem Meßgewand hervor und segnete mit ihr den Bräutigam; ebenso, aber mit einer leisen Spur von behutsamer Zärtlichkeit, legte er dann die eng zusammengehaltenen Finger [270] auf Kittys gesenktes Haupt. Darauf reichte er ihnen die Kerzen, ergriff das Räucherfaß und trat von ihnen zurück.
›Ist denn das alles wahr?‹ dachte Ljewin und blickte seine Braut an. Er sah ihr Profil ein wenig von oben her und merkte an einer ganz leisen Bewegung ihrer Lippen und Wimpern, daß sie seinen Blick fühlte. Sie sah nicht nach ihm hin; aber ihr hoher, gefältelter Kragen bewegte sich leise und hob sich bis an ihr kleines, rosiges Ohr. Er sah, daß sie einen Seufzer in der Brust zurückhielt und daß die kleine Hand, mit der sie die Kerze hielt, in dem hoch hinaufreichenden Handschuh zitterte.
Sein ganzer Ärger mit dem Hemd und der Verspätung, das Gerede der Bekannten und Verwandten, ihre Unzufriedenheit, seine lächerliche Lage: alles war auf einmal verschwunden, und es wurde ihm freudig und bang zugleich zumute.
Der schöne, hochgewachsene Protodiakon im silberverzierten Chorrock, mit kunstvoll gekräuselten, nach den Seiten auseinandergekämmten starren Locken, trat mit energischen Schritten vor, hob mit einer ihm durch die Übung geläufigen Bewegung die Stola mit zwei Fingern in die Höhe und blieb vor dem Geistlichen stehen.
»Seg-ne uns, o Herr!« ertönten die feierlichen Klänge langsam, einer nach dem andern, und versetzten die Luft in schwankende Wellenbewegung.
»Gelobt sei unser Gott allzeit, heut und immerdar und in die Ewigkeiten der Ewigkeiten«, antwortete demütig und in singendem Tone der alte Geistliche, indem er fortfuhr, an dem Chorpult in einem Buche zu blättern. Und von einem unsichtbaren Chore gesungen, erklang, die ganze Kirche von den Fenstern bis zu den Deckengewölben erfüllend, harmonisch in volltönendem Akkorde das Amen, schwoll immer mehr an Stärke an, schien dann einen Augenblick in derselben Stärke anzuhalten und erstarb zuletzt leise.
Es wurde, wie immer, um den Frieden von oben her und um das Heil der Seelen gebetet, für den Synod, für den Kaiser; gebetet wurde auch für den Knecht Gottes Konstantin und die Magd Gottes Jekaterina, die jetzt das kirchliche Verlöbnis begingen.
»Daß er ihnen herniedersende die allervollkommenste, allerfriedlichste Liebe und seine Hilfe, das erbitten wir von Gott!« sang der Protodiakon, und das ganze Kirchengebäude schien mitzusingen.
Ljewin hörte diese Worte, und sie machten ihn betroffen. ›Wie haben sie es erraten können, daß ich Hilfe nötig habe, gerade Hilfe?‹ dachte er in Erinnerung an all die Beängstigungen und [271] Zweifel, die er erst ganz kürzlich durchgemacht hatte. ›Was weiß und verstehe ich denn hierbei aus eigener Macht? Was vermag ich dieser furchtbaren Aufgabe gegenüber ohne Hilfe?‹ dachte er. ›Hilfe habe ich jetzt nötig, ja gerade Hilfe.‹
Als der Protodiakon das Responsorium beendet hatte, wandte sich der Geistliche mit dem Buch zu dem Brautpaar herum:
»Ewiger Gott, der Du die Entfernten zusammengeführt hast zur Vereinigung«, las er mit sanfter, singender Stimme, »und das unzerreißbare Band der Liebe um sie geschlungen hast, der Du Isaak und Rebekka gesegnet und zu Erben Deiner Verheißung gemacht hast: segne Du selbst auch diese Deine Knechte, Konstantin und Jekaterina, und leite sie zu allem Guten. Denn Du bist ein gütiger und gnädiger Gott, und wir lobsingen Dir, dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, heut und immerdar, und die Ewigkeiten der Ewigkeiten.« – »Amen!« flutete wieder der Gesang des unsichtbaren Chores durch den Raum.
»Der Du die Entfernten zusammengeführt hast zur Vereinigung und das Band der Liebe um sie geschlungen hast« – ›wie tiefsinnig sind diese Worte, und wie genau entsprechen sie dem, was man in einem solchen Augenblicke fühlt!‹ dachte Ljewin. ›Ob sie wohl dasselbe fühlt wie ich?‹
Und nach ihr hinschauend, begegnete er ihrem Blicke.
Aus dem Ausdruck ihres Blickes schloß er, daß sie dieselben Gedanken habe wie er. Aber diese Annahme traf nicht zu: sie hatte überhaupt fast kein Wort von dem Gottesdienste verstanden und während der Verlobung durch den Priester nicht einmal danach hingehört. Sie war nicht imstande, diese Worte zu hören und zu verstehen; so mächtig war bei ihr das eine Gefühl, das ihre Seele erfüllte und sich immer mehr und mehr steigerte. Dieses Gefühl war die Freude über die abschließende Vollendung dessen, was nun schon anderthalb Monate lang sich in ihrer Seele vollzogen hatte und im Laufe dieser ganzen sechs Wochen ihre Wonne und ihre Qual gewesen war. In ihrer Seele hatte sich an jenem Tage, als sie in ihrem braunen Kleide in dem Saal des Hauses in der Arbat-Straße schweigend zu ihm getreten war und sich ihm zu eigen gegeben hatte – in ihrer Seele hatte sich an diesem Tage und in dieser Stunde ein vollständiger Bruch mit ihrem ganzen früheren Leben vollzogen, und es hatte ein völlig anderes, neues, bisher ihr vollständig unbekanntes Leben begonnen, während sie äußerlich das alte Leben fortsetzte. Diese sechs Wochen waren für sie die seligste und die qualvollste Zeit gewesen. Ihr ganzes Leben, all ihre Wünsche und Hoffnungen hatten sich auf diesen einen ihr noch unverständlichen Mann gerichtet, [272] mit dem sie etwas noch Unverständlicheres, als es der Mann selbst war, verknüpfte, nämlich jenes Gefühl, das sie bald zu ihm hinzog, bald von ihm wegstieß; und zugleich hatte sie in den äußeren Verhältnissen ihres bisherigen Lebens weitergelebt. Während sie so ihr altes Leben fortsetzte, war sie über sich selbst erschrocken gewesen, über ihre völlige, unüberwindliche Gleichgültigkeit gegen ihre ganze Vergangenheit: gegen ihre Sachen, gegen ihre Gewohnheiten, gegen die Menschen, die sie bisher geliebt hatten und noch liebten, gegen ihre Mutter, die sich durch diese Gleichgültigkeit gekränkt fühlte, gegen ihren lieben, zärtlichen Vater, den sie vorher über alles in der Welt geliebt hatte. Bald war sie über diese Gleichgültigkeit erschrocken gewesen, bald hatte sie sich über das gefreut, wodurch diese Gleichgültigkeit hervorgebracht worden war. Sie war zu keinem Gedanken, zu keinem Wunsche fähig gewesen, der außerhalb des Zusammenlebens mit diesem Manne gelegen hätte; aber dieses neue Leben war noch nicht Wirklichkeit gewesen, und sie hatte sich nicht einmal eine klare Vorstellung davon machen können. Es war immer nur die Erwartung dagewesen, die bängliche und freudige Erwartung von etwas Neuem und Unbekanntem. Und jetzt, jetzt sollte nun die Erwartung und die Unklarheit und die Selbstanklage wegen der Abkehr von dem früheren Leben, jetzt sollte das alles ein Ende nehmen und das neue Leben beginnen. Dieses neue Leben mußte ihr, weil es ihr noch unbekannt war, notwendigerweise furchtbar erscheinen; aber mochte es furchtbar sein oder nicht, innerlich, in ihrer Seele, hatte sich der Übergang zu ihm schon vor sechs Wochen vollzogen, jetzt erhielt das, was in ihrer Seele schon längst vorgegangen war, lediglich seine Weihe.
Sich wieder zum Chorpulte umwendend, wurde der Geistliche nur mit Mühe des kleinen Ringes an Kittys Finger habhaft; dann forderte er Ljewins Hand und steckte ihm Kittys Ring auf das erste Glied seines Fingers. »Es wird verlobt der Knecht Gottes Konstantin und die Magd Gottes Jekaterina.« Und nachdem er Ljewins großen Ring an Kittys kleinen, rosigen Finger gesteckt hatte, in dessen Schwäche etwas Rühren des lag, sprach der Geistliche noch einmal dieselben Worte.
Die Verlobten versuchten mehrmals zu erraten, was sie nun zu tun hätten, irrten sich aber jedesmal, und der Geistliche gab ihnen dann flüsternd das Richtige an. Nachdem er endlich das Erforderliche erreicht und sie mit den Ringen bekreuzt hatte, übergab er wieder Kitty den großen und Ljewin den kleinen Ring; aber wieder richteten die Verlobten Unordnung an; die Ringe wanderten zweimal aus einer Hand in die andere, und es kam trotzdem nicht das heraus, was verlangt wurde.
[273] Dolly, Tschirikow und Stepan Arkadjewitsch traten vor, um ihnen behilflich zu sein. Es gab nun einige Verlegenheit, ein Flüstern und Lächeln; aber der feierlich gerührte Ausdruck auf den Gesichtern der Verlobten blieb unverändert; im Gegenteil, während sie mit den Händen Verwirrung anrichteten, blickten sie noch ernster und feierlicher drein als vorher, und das Lächeln, mit dem ihnen Stepan Arkadjewitsch zuflüsterte, jetzt möge jeder seinen eigenen Ring anstecken, erstarb ihm unwillkürlich auf den Lippen. Er fühlte, daß jetzt jedes Lächeln für sie etwas Verletzendes habe.
»Denn Du hast von Anbeginn her erschaffen das männliche Geschlecht und das weibliche«, las der Geistliche nach dem Wechsel der Ringe, »und von Dir wird dem Manne das Weib beigesellt zur Hilfe und zur Erhaltung des Menschengeschlechtes. Herr, unser Gott, der Du die Wahrheit und Deine Verheißung gesandt hast zu Deinem Erbe, zu Deinen Knechten, unseren Vätern, von Geschlecht zu Geschlecht, Deinen Auserwählten, blicke Du selbst auf Deinen Knecht Konstantin und auf Deine Magd Jekaterina und befestige ihren Bund im Glauben, und in der Einmütigkeit, und in der Wahrheit, und in der Liebe ...«
Ljewin kam immer mehr und mehr zu der Empfindung, daß alle seine Gedanken über die Ehe, seine Träumereien darüber, wie er sein Leben gestalten wolle, daß das alles kindisch gewesen sei und daß die Ehe etwas sei, was er bisher nicht begriffen habe und jetzt noch weniger zu begreifen vermöge, obwohl es sich an ihm selbst vollziehe. Ein Zittern stieg ihm in der Brust immer höher und höher, und Tränen, die sich nicht wollten zurückhalten lassen, traten ihm in die Augen.
Ganz Moskau war in der Kirche, Verwandte und Bekannte. Während der Verlobungsfeierlichkeiten wurde in der glänzend beleuchteten Kirche in dem großen Schwarm der geputzten verheirateten Damen und jungen Mädchen sowie der Herren in Frack und weißer Binde und in Uniform ununterbrochen in angemessen leisem Tone eine Unterhaltung geführt, vorzugsweise von den Herren, während die Damen vollauf damit zu tun hatten, alle Einzelheiten der heiligen Handlung zu beobachten, die ihnen ja immer so nahegeht.
In dem Kreise, der die Braut am nächsten umgab, standen ihre beiden Schwestern: Dolly, die älteste, und Frau Lwowa, die sich aus dem Auslande eingefunden hatte, eine ruhige Schönheit.
[274] »Was soll das nur vorstellen, daß Marja in einem lila Kleid – es sieht schon mehr schwarz aus – zur Hochzeit gekommen ist?« sagte Frau Korsunskaja.
»Bei ihrer Hautfarbe ist das für sie die einzige Rettung ...«, antwortete Frau Drubezkaja. »Ich wundere mich, warum die Hochzeit am Abend stattfindet. Das ist doch sonst eigentlich nur in Kaufmannskreisen üblich.«
»Es ist hübscher so. Ich bin auch am Abend getraut worden«, versetzte Frau Korsunskaja mit einem Seufzer, in Erinnerung daran, wie allerliebst sie an jenem Tage ausgesehen hatte, und wie lächerlich verliebt ihr Mann damals in sie gewesen war, und wie alles jetzt so ganz anders war.
»Es heißt, wer zehnmal Brautführer gewesen ist, heiratet nicht mehr; ich wollte es gern hier zum zehnten Male sein, um mich zu feien; aber die Stelle war bereits besetzt«, sagte Graf Sinjawin zu der hübschen Prinzessin Tscharskaja, die Absichten auf ihn hatte.
Die junge Dame antwortete ihm nur mit einem Lächeln. Sie sah Kitty an und dachte, wie und wann sie wohl mit dem Grafen Sinjawin ebenso dastehen werde wie Kitty und wie sie ihn dann an seinen jetzigen Scherz erinnern werde.
Der junge Schtscherbazki sagte zu dem ältlichen Hoffräulein Nikolajewa, er beabsichtige, die Krone auf Kittys Chignon zu setzen, damit sie in der Ehe glücklich werde.
»Einen Chignon sollte sie eigentlich heute überhaupt nicht tragen«, antwortete Fräulein Nikolajewa, die mit sich selbst schon längst darüber schlüssig war, daß, wenn der alte Witwer, nach dem sie angelte, sie heiraten würde, die Hochzeit in ganz einfacher Form gefeiert werden sollte. »Ich bin keine Freundin eines solchen Prunkes.«
Sergei Iwanowitsch sprach mit Marja Dmitrijewna und behauptete im Scherz, die Sitte, nach der Hochzeit wegzureisen, breite sich deswegen immer mehr aus, weil die Neuvermählten sich immer ein bißchen schämten.
»Ihr Bruder kann stolz sein. Sie ist ganz allerliebst. Ich denke mir, Sie beneiden ihn.«
»Ich bin schon über das Heiratsalter hinaus, Marja Dmitrijewna«, antwortete er, und sein Gesicht nahm auf einmal einen ernsten, traurigen Ausdruck an.
Stepan Arkadjewitsch trug seiner Schwägerin seinen Witz über die Ehescheidung vor.
»Der Kranz müßte ihr zurechtgerückt werden«, antwortete sie; sie hatte gar nicht auf ihn hingehört.
»Wie schade, daß sie heute so wenig gut aussieht«, sagte die [275] Gräfin Northstone zu Frau Lwowa. »Aber er ist doch nicht soviel wert wie ihr kleiner Finger, nicht wahr?«
»Nicht doch, mir gefällt er sehr gut; und ich sage das nicht nur, weil er mein zukünftiger beau-frère ist«, erwiderte Frau Lwowa. »Und wie gut er sich hält! Und dabei ist es doch schwer, sich in solcher Lage gut zu halten, nicht lächerlich zu werden. Aber an ihm ist nichts Lächerliches, nichts Gemachtes; man sieht, daß er mit dem Herzen dabei ist.«
»Sie hatten es wohl erwartet, daß diese Partie zustande kommen werde?«
»Einigermaßen; sie hat ihn von jeher geliebt.«
»Nun, wir wollen nachher einmal aufpassen, wer von ihnen zuerst auf den Teppich tritt. Ich habe Kitty daran erinnert.«
»Das ist doch ganz gleichgültig«, versetzte Frau Lwowa. »Wir sind ja sämtlich gehorsame Ehefrauen; das liegt nun einmal in unserer Natur.«
»Als ich Wasili heiratete, bin ich absichtlich zuerst daraufgetreten. Nun, und Sie, Dolly?«
Dolly stand neben ihnen und hörte, was sie redeten, antwortete aber nicht. Sie war gerührt. Die Tränen standen ihr in den Augen, und sie hätte nichts sagen können, ohne loszuweinen. Sie hatte ihre Freude an Kitty und Ljewin; mit ihren Gedanken kehrte sie zu ihrer eigenen Hochzeit zurück und blickte ab und zu nach ihrem strahlenden Stepan Arkadjewitsch; sie hatte die ganze Gegenwart vergessen und dachte nur an die Zeit ihrer ersten, unschuldigen Liebe. Und sie verweilte mit ihren Erinnerungen nicht nur bei sich selbst, sondern bei allen Frauen, die ihr nahestanden oder mit ihr bekannt waren; sie erinnerte sich an sie, wie sie bei jener für sie alle einzigartigen Feier, geradeso wie Kitty, den Brautkranz im Haar dagestanden hatten, Liebe, Hoffnung und Bangigkeit im Herzen, von der Vergangenheit sich lossagend und in eine geheimnisvolle Zukunft eintretend. Und unter all diesen Bräuten, die ihr ins Gedächtnis kamen, erinnerte sie sich auch an ihre liebe Anna, über deren in Aussicht stehende Scheidung sie kürzlich Näheres gehört hatte. Auch diese hatte einstmals ebenso reinen Herzens mit dem Kranze von Orangenblüten und dem Schleier dagestanden. Und jetzt? ›Furchtbar und unfaßbar!‹ sagte sie vor sich hin.
Und nicht allein die Schwestern, die übrigen Verwandten und die Freundinnen beobachteten aufmerksam alle Einzelheiten der heiligen Handlung; auch die fremden Frauen, die sich zum Zuschauen eingefunden hatten, verfolgten den Hergang in einer Erregung, die ihnen fast den Atem benahm, und fürchteten, es [276] könnte ihnen irgendeine Bewegung, irgendein Gesichtsausdruck an dem Bräutigam und der Braut entgehen; und wenn die gleichmütigeren Männer scherzhafte oder fremdartige Bemerkungen machten, so gaben sie ärgerlich keine Antwort oder hörten oft auch gar nicht hin.
»Warum mag sie denn so verweint aussehen? Ob sie ihn ungern heiratet?«
»Wie wird sie denn so einen hübschen jungen Menschen ungern heiraten! Er ist wohl ein Fürst, was?«
»Und die in weißem Atlas, das ist ihre Schwester? Nun hör nur, wie der Protodiakon brüllt: ›Sie soll ihrem Manne untertan sein‹.«
»Sind es die Sänger vom Tschudow-Kloster?«
»Nein, die Synodischen.«
»Ich habe mich bei einem Lakaien erkundigt. Es heißt, er nimmt sie gleich mit sich auf sein Stammgut. Er soll ja furchtbar reich sein. Darum hat er sie auch gekriegt.«
»Aber nein, es ist wirklich ein hübsches Paar.«
»Und da haben Sie nun bestritten, Marja Wasiljewna, daß die Reifröcke frei abstehend getragen werden! ... Und sehen Sie mal die im Plüschkleid, es soll die Frau eines Gesandten sein, wie ihr Kleid gerafft ist, erst so und dann noch einmal so.«
»Nein, diese niedliche kleine Braut, wie ein geschmücktes Lämmchen! Da kann man nun sagen, was man will, aber uns Frauen tut so ein Mädchen doch immer leid.«
Solche Reden wurden in dem dichten Haufen der Zuschauerinnen geführt, die es fertiggebracht hatten, durch die Kirchtüren hereinzuschlüpfen.
Nachdem die Verlobung beendet war, breitete ein Kirchendiener vor dem Chorpulte in der Mitte der Kirche ein Stück rosa Seidengewebe aus, der Chor stimmte einen kunstvoll vertonten Psalm an, bei dem Baß und Tenor einander antworteten, und der Geistliche wandte sich zu den Verlobten um und deutete auf das rosafarbene Zeug. So oft und so viel sie nun auch schon beide von dieser Vorbedeutung gehört hatten, daß, wer zuerst auf den Teppich trete, der Herr im Hause sein werde, so war doch weder Ljewin noch Kitty, während sie diese wenigen Schritte vortraten, imstande, daran zu denken. Ebensowenig hörten sie die lauten Bemerkungen und den Streit darüber, ob, was einige beobachtet haben wollten, er zuerst daraufgetreten sei oder, wie andere meinten, beide zugleich.
[277] Nach den üblichen Fragen, ob sie den Wunsch hätten, miteinander die Ehe zu schließen, und ob sie sich nicht schon anderen versprochen hätten, und nach ihren Antworten, die ihnen selbst sonderbar klangen, begann der zweite Teil der Feier, die Trauung. Kitty hörte auf die Worte des Gebetes hin und hätte gern ihren Sinn verstanden; aber sie war nicht imstande dazu. Ein Gefühl des Triumphes und der hellen Freude erfüllte, je weiter die heilige Handlung fortschritt, immer mehr und mehr ihre Seele und machte ihr eine eindringende Aufmerksamkeit unmöglich.
Es wurde gebetet: »Verleihe ihnen Keuschheit und Frucht des Leibes zu ihrem Besten und laß sie sich erfreuen am Anblick ihrer Söhne und Töchter.« Es kam darin auch vor, daß Gott das Weib aus der Rippe Adams geschaffen habe, und: »Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch«, und: »Dies ist ein hohes Geheimnis«. Da war auch die Bitte, Gott möge ihnen Fruchtbarkeit und Segen verleihen, wie Isaak und Rebekka, Joseph, Moses und Zipporah, und ihnen vergönnen, noch Söhne ihrer Söhne zu sehen. ›Alles das ist wunderschön‹, dachte Kitty, als sie diese Worte hörte, ›und so, und nicht anders, muß auch alles sein‹, und ein Lächeln der Freude, das sich unwillkürlich allen mitteilte, die sie ansahen, leuchtete auf ihrem strahlenden Gesicht.
»Setzen Sie sie ihr ganz auf!« rieten flüsternd einige der Umstehenden, als zunächst der Geistliche ihnen die Kronen aufgesetzt hatte und nun der junge Schtscherbazki mit zitternder, in einem dreiknöpfigen Handschuh steckender Hand Kittys Krone hoch über ihrem Kopfe hielt.
»Setzen Sie sie mir auf«, flüsterte sie lächelnd.
Ljewin blickte zu ihr hin und war von dem freudigen Glanze überrascht, der auf ihrem ganzen Gesicht lag; und dieses Gefühl teilte sich ihm unwillkürlich mit. Ebenso wie ihr wurde auch ihm hell und froh zumute.
Es machte ihnen Freude, zuzuhören, wie aus den Apostelbriefen vorgelesen wurde, und bei dem letzten Verse, auf den das fremde Publikum mit größter Ungeduld gewartet hatte, rollte die Stimme des Protodiakons wie Donner. Es machte ihnen Freude, aus der flachen Schale den warmen, mit Wasser vermischten Rotwein zu trinken, und noch höher stieg ihre Freude, als der Geistliche sein Meßgewand zurückschlug, beider Hände in die seinigen nahm und sie, während die Baßstimme dröhnend den Hymnus auf die Mutter Gottes: »Jauchze, Jesaias!« anstimmten, um das Chorpult herumführte. Der junge Schtscherbazki [278] und Tschirikow, die die Kronen über den Häuptern des Brautpaares hielten und gleichfalls lächelten und sich über irgend etwas freuten, blieben manchmal zurück und prallten ein paarmal, wenn der Geistliche stehenblieb, gegen die Brautleute an. Der Freudenfunke, der bei Kitty aufgeflammt war, schien bei allen in der Kirche Anwesenden weitergezündet zu haben. Ljewin hatte die Vorstellung, als ob auch der Geistliche und der Protodiakon ebensolche Lust zu lächeln hätten wie er selbst.
Der Geistliche nahm die Kronen von ihren Häuptern herab, las das letzte Gebet und beglückwünschte das junge Paar. Ljewin blickte auf Kitty und hatte sie noch nie so schön gesehen wie jetzt. Sie war entzückend in dem neuen Glanze von Glückseligkeit, der auf ihrem Antlitz lag. Ljewin hätte ihr gern etwas gesagt, wußte aber nicht, ob auch wirklich alles zu Ende sei. Der Geistliche half ihm aus dieser Schwierigkeit heraus. Indem ein gutmütiges Lächeln seinen Mund umspielte, sagte er leise: »Küssen Sie Ihre Gattin, und Sie Ihren Gatten«, und nahm ihnen die Kerzen aus den Händen.
Ljewin küßte behutsam Kittys lächelnde Lippen, reichte ihr den Arm und ging, indem er sich in neuer, eigenartiger Weise ihr nahe fühlte, aus der Kirche. Er glaubte nicht, konnte nicht glauben, daß das alles Wirklichkeit war. Nur wenn seine und ihre verwunderten, schüchternen Blicke einander trafen, nur dann glaubte er daran, weil er fühlte, daß sie beide schon eins waren.
Nach dem Hochzeitsessen fuhr das junge Paar noch in derselben Nacht nach dem Gute.
Wronski und Anna reisten schon seit drei Monaten zusammen in Europa umher. Sie hatten Venedig, Rom und Neapel besucht und waren soeben im Hotel einer kleineren italienischen Stadt angekommen, wo sie eine Zeitlang sich aufzuhalten gedachten.
Der schöne Oberkellner, durch dessen dichtes, wohlpomadisiertes Haar sich ein vom Nacken anfangender Scheitel zog, im Frack und mit breiter, weißer, batistner Hemdbrust, mit einem ganzen Bündel Berlocken auf dem rundlichen Bauche, hatte die Hände in den Taschen und kniff geringschätzig die Augen zusammen, während er einem vor ihm stehenden Herrn in wenig höflichem Tone eine Antwort gab. Als er aber von der andern Seite, vom Eingang her, Schritte vernahm, die die Treppe heraufkamen, wandte er sich um, und sobald er den russischen [279] Grafen erblickte, der bei ihnen im Hotel die besten Zimmer inne hatte, nahm er ehrerbietig die Hände aus den Taschen und meldete in vorgebeugter Haltung, der Kurier sei dagewesen, und die Angelegenheit mit dem Mieten eines Palazzos sei in Ordnung gebracht. Der Intendant sei bereit, den Vertrag zu unterzeichnen.
»Ah, das ist mir sehr angenehm«, antwortete Wronski. »Ist die gnädige Frau zu Hause?«
»Die gnädige Frau war spazierengegangen, ist aber jetzt bereits zurückgekehrt«, erwiderte der Oberkellner.
Wronski nahm den weichen, breitkrempigen Hut vom Kopf und fuhr sich mit dem Taschentuch über die schweißbedeckte Stirn und über das Haar, das er sich halb über die Ohren hatte wachsen lassen, aber zurückgekämmt trug, damit es seine Glatze verdeckte. Mit einem zerstreuten Blick auf den Herrn, der noch dastand und ihn aufmerksam betrachtete, wollte er vorbeigehen.
»Der Herr ist Russe und hat nach Ihnen gefragt«, berichtete der Oberkellner.
Mit einem Gefühl, in dem sich der Ärger darüber, daß man doch nirgends seinen Bekannten entgehen könne, mit dem Wunsche vermischte, irgendwelche Zerstreuung in der Einförmigkeit seines Lebens zu erhalten, blickte Wronski noch einmal nach dem Herrn hin, der zur Seite getreten und dort stehengeblieben war. Und in ein und demselben Augenblick leuchteten die Augen des einen wie des andern auf.
»Golenischtschew!«
»Wronski!«
Es war wirklich Golenischtschew, Wronskis ehemaliger Kamerad im Pagenkorps. Golenischtschew hatte im Korps zur Fortschrittspartei gehört; er hatte das Korps mit einem Zivilrang verlassen, aber nirgends ein Amt übernommen. Mit dem Abgang aus dem Korps hatten die wechselseitigen Beziehungen der beiden Kameraden aufgehört, und sie waren nachher nur noch einmal zusammengetroffen.
Bei jener Begegnung hatte Wronski gemerkt, daß Golenischtschew sich ein hochgeistiges Wirken für die liberalen Ideen zur Lebensaufgabe gemacht hatte und infolgedessen geneigt war, auf Wronskis Beruf und Tätigkeit mit Geringschätzung herabzublicken. Daher hatte Wronski bei jener Begegnung mit Golenischtschew sich gegen ihn mit der kalten, stolzen Zurückhaltung benommen, die er Leuten dieser Art gegenüber zum Ausdruck zu bringen verstand und deren Sinn dieser war: ›Ihr könnt meine Art zu leben billigen oder mißbilligen; haltet das, wie ihr wollt; mir ist es völlig gleichgültig. Wollt ihr aber mit [280] mir verkehren, so müßt ihr mich achten.‹ Golenischtschew seinerseits hatte diesem Tone Wronskis gegenüber eine geringschätzige Gleichgültigkeit gezeigt. Man hätte meinen sollen, diese Begegnung hätte sie einander noch mehr entfremden müssen. Und doch leuchteten jetzt ihre Gesichter auf, und sie stießen einen Ruf freudiger Überraschung aus, als sie einander erkannten. Wronski hätte nie geglaubt, daß er sich über ein Wiedersehen mit Golenischtschew so freuen könnte; aber er war sich wohl selbst nicht klar darüber geworden, wie sehr er sich in Wirklichkeit langweilte. Den unangenehmen Eindruck ihres letzten Zusammenseins vergessend, streckte er seinem früheren Kameraden mit offener, froher Miene die Hand entgegen. Und der gleiche Ausdruck von Freude trat auf Golenischtschews Gesicht an die Stelle der bisher sichtbaren Unsicherheit.
»Wie freue ich mich, dich wiederzusehen!« sagte Wronski mit einem freundschaftlichen Lächeln, das seine kräftigen, weißen Zähne sichtbar machte.
»Ich hatte gehört: ›Wronski‹, wußte aber nicht, welcher. Ich freue mich sehr, wirklich sehr!«
»Komm doch mit herein. Nun, wie geht es dir denn?«
»Ich wohne hier schon über ein Jahr lang. Ich arbeite.«
»Ah!« machte Wronski interessiert. »Komm doch herein.«
Und statt das, was er die Dienerschaft nicht wollte verstehen lassen, hier gerade auf russisch zu sagen, begann er nach der den Russen geläufigen Gewohnheit, französisch zu sprechen.
»Bist du mit Frau Karenina bekannt? Wir reisen zusammen. Ich gehe eben zu ihr«, sagte er auf französisch und blickte dem andern aufmerksam ins Gesicht.
»Ah! Das wußte ich gar nicht« (er wußte es recht wohl), antwortete Golenischtschew gleichmütig. »Bist du schon lange hier?« fügte er hinzu.
»Ich? Es ist heute der vierte Tag«, erwiderte Wronski und sah seinen ehemaligen Kameraden noch einmal forschend an.
›Ja, er ist ein anständiger Mensch und betrachtet die Sache in der richtigen Weise‹, sagte sich Wronski; er schloß dies aus Golenischtschews Gesichtsausdruck und auch aus der Art, wie dieser dem Gespräch eine andere Richtung gegeben hatte. ›Ich kann ihn mit Anna bekannt machen; er faßt die Sache richtig auf.‹
In diesen drei Monaten, die Wronski nun mit Anna im Ausland lebte, hatte er sich, sooft er mit neuen Menschen zusammentraf, immer die Frage vorgelegt, wie jede neue Persönlichkeit sein Verhältnis zu Anna beurteile, und hatte bei den Männern größtenteils die »richtige« Auffassung gefunden. Hätte man aber [281] ihn und die Leute, die die Sache »richtig« auffaßten, gefragt, worin denn diese »richtige« Auffassung eigentlich bestehe, so würden sowohl er wie auch sie in großer Verlegenheit gewesen sein.
In Wirklichkeit hatten die Leute, die nach Wronskis Meinung die Sache richtig auffaßten, sich überhaupt kein Urteil darüber gebildet, sondern benahmen sich einfach so, wie sich wohlerzogene Menschen all den schwierigen und unlösbaren Fragen gegenüber benehmen, die uns im Leben von allen Seiten umgeben: sie benahmen sich anständig und vermieden Anspielungen und unerwünschte Fragen. Sie gaben sich den Anschein, als hätten sie für das Wesen und die innere Begründung dieser Lage ein volles Verständnis, als erkennten sie diese Lage an und billigten sie sogar, aber als hielten sie es für ungehörig und überflüssig, das alles auszusprechen.
Wronski fühlte sofort heraus, daß Golenischtschew zu dieser Menschengattung gehörte, und freute sich daher doppelt, ihn zu sehen. Und wirklich benahm sich Golenischtschew, sobald er Frau Karenina vorgestellt war, ihr gegenüber so, wie es Wronski nur irgend wünschen konnte. Er vermied offenbar, ohne daß es irgendwie gezwungen ausgesehen hätte, alle Gespräche, die unbehaglich hätten werden können.
Er hatte Anna vorher nicht gekannt und war überrascht von ihrer Schönheit und noch mehr von der schlichten Natürlichkeit, mit der sie sich in ihre Lage hineinfand. Sie errötete, als Wronski ihr Golenischtschew vorstellte, und dieses kindliche Erröten, das ihr schönes, offenes Gesicht überzog, gefiel ihm außerordentlich. Ganz besonders aber gefiel es ihm, daß sie gleich von vornherein, wie mit Absicht, daß bei dem Fremden kein Mißverständnis entstehen könne, Wronski einfach »Alexei« anredete und erwähnte, sie siedelten beide in ein Haus, hier Palazzo genannt, über, das sie soeben gemietet hätten. Dieses offene, schlichte Benehmen in ihrer Lage gefiel Golenischtschew. Wenn er jetzt Annas gutmütig heiteres, frisches Wesen sah, so glaubte er, der sowohl Alexei Alexandrowitsch wie auch Wronski kannte, vollständig zu verstehen, wie sie so hatte handeln können. Er meinte zu begreifen, was übrigens sie selbst durchaus nicht zu begreifen vermochte: nämlich wie es nur möglich war, daß sie, nachdem sie ihren Mann unglücklich gemacht, ihn und ihren Sohn verlassen und ihren guten Ruf eingebüßt hatte, sich nun doch frisch und munter und glücklich fühlte.
»Er ist auch im Reiseführer genannt«, bemerkte Golenischtschew über jenen Palazzo, den Wronski gemietet hatte. »Es ist da ein schönes Bild von Tintoretto; aus seiner letzten Periode.«
[282] »Wissen Sie was? Es ist prächtiges Wetter, wir wollen hingehen und ihn uns noch einmal ansehen«, sagte Wronski, zu Anna gewendet.
»Sehr gern; ich will gleich gehen und mir den Hut aufsetzen. Ist es sehr heiß draußen?« sagte sie, indem sie an der Tür stehenblieb und Wronski fragend anblickte. Und wieder überzog eine dunkle Röte ihr Gesicht.
Wronski merkte an ihrem Blick, daß sie nicht recht wußte, auf welchem Fuß er mit Golenischtschew zu verkehren beabsichtigte, und daß sie daher im Zweifel war, ob sie sich auch so benommen habe, wie es seinen Wünschen entspräche.
Er sah sie mit einem langen, zärtlichen Blicke an.
»Nein, es ist nicht besonders heiß«, antwortete er.
Sie glaubte die Bedeutung dieses Blickes zu verstehen, namentlich auch, daß er mit ihr zufrieden sei; ihm zulächelnd, ging sie raschen Schrittes zur Tür hinaus.
Die Freunde blickten einander an, und auf den Gesichtern beider malte sich eine gewisse Verlegenheit, wie wenn Golenischtschew, auf den sie offenbar einen vorzüglichen Eindruck gemacht hatte, etwas über sie sagen wollte und nichts Passendes fand, Wronski aber eine Äußerung von dem anderen wünschte und zugleich fürchtete.
»Nun sieh einmal an«, begann Wronski, um irgendein Gespräch in Gang zu bringen. »Also du hast dich hier niedergelassen? Und du beschäftigst dich immer noch mit demselben Gegenstand?« fuhr er fort, da er sich erinnerte, daß ihm jemand gesagt hatte, Golenischtschew schreibe etwas.
»Ja, ich schreibe an dem zweiten Teil meiner ›Zwei Prinzipien‹«, erwiderte Golenischtschew, der bei dieser Frage vor Vergnügen ganz rot wurde, »das heißt, genau gesagt, ich schreibe noch nicht, sondern mache Vorarbeiten, sammle Stoff. Dieser Teil wird weit umfangreicher werden und fast alle Fragen dieses Gebietes behandeln. Bei uns in Rußland will man nicht begreifen, daß wir die Erben von Byzanz sind«, begann er in erregtem Ton eine längere Darlegung.
Wronski fühlte sich anfangs etwas unbehaglich, weil er den ersten Teil der »Zwei Prinzipien« nicht gelesen hatte, von dem der Verfasser mit ihm wie von etwas Bekanntem sprach. Aber als dann Golenischtschew seine Ideen auseinanderzusetzen begann und Wronski ihnen zu folgen vermochte, da hörte er, auch ohne die »Zwei Prinzipien« zu kennen, mit Teilnahme zu, zumal Golenischtschew wirklich gut sprach. Aber mit Erstaunen und Bedauern erfüllte ihn die gereizte, erregte Stimmung, in die Golenischtschew geriet, während er über den Gegenstand, der [283] ihn beschäftigte, diese Mitteilungen machte. Je länger er sprach, um so mehr glühten seine Augen, um so eifriger entgegnete er seinen angenommenen Gegnern und um so unruhiger und erbitterter wurde sein Gesichtsausdruck. Wronski hatte noch recht wohl in der Erinnerung, was für ein schmächtiger, lebhafter, gutmütiger, vornehm denkender Knabe Golenischtschew gewesen war, wie er im Pagenkorps immer den ersten Platz in seiner Abteilung innegehabt hatte, und er konnte den Grund dieser Gereiztheit nicht verstehen und hielt sie für einen Fehler. Besonders mißfiel es ihm, daß Golenischtschew, ein Mann von gutem Stande, sich mit irgendwelchen Literaten, die ihn angriffen, auf eine Stufe stellte und sich über sie ärgerte. War denn die Sache das wert? Das mißfiel Wronski, aber trotzdem bedauerte er Golenischtschew auch, da er fühlte, daß dieser unglücklich sei. Ein inneres Leid, beinah etwas wie Geistesstörung, gab sich auf diesem beweglichen, ganz hübschen Gesicht zu erkennen, als er, ohne Annas Eintritt überhaupt zu bemerken, hastig und hitzig seine Ideen zu entwickeln fortfuhr.
Als Anna mit Hut und Umhang wieder ins Zimmer trat und, mit der schönen Hand in schnellen Bewegungen an ihrem Sonnenschirm herumspielend, neben Wronski stehengeblieben war, machte sich dieser mit einem Gefühl der Erleichterung von Golenischtschews unverwandt auf ihn gerichteten, mißmutig klagenden Blick los und schaute mit neuer Liebe auf seine reizende, lebensfrische, frohe Gefährtin. Golenischtschew gewann nur mit Mühe seine Fassung wieder und war zunächst sehr niedergeschlagen und finster; aber Anna, die es mit allen Menschen gut und freundlich meinte (so war sie eben damals), wußte ihn durch ihr einfaches, munteres Wesen bald aufzuheitern. Nachdem sie es mit verschiedenen Gesprächsstoffen versucht hatte, brachte sie ihn auf die Malerei, über die er sehr gut sprach, und hörte ihm aufmerksam zu. Sie gingen zu Fuß nach dem gemieteten Hause und besichtigten es.
»Eins macht mir ganz besondere Freude«, sagte Anna zu Golenischtschew, als sie bereits wieder auf dem Heimweg waren: »Alexei wird hier ein gutes Atelier haben. Nimm dir dazu unter allen Umständen das Zimmer, von dem wir sprachen«, sagte sie zu Wronski auf russisch und redete ihn dabei mit du an, da sie bereits voraussah, daß Golenischtschew bei ihrer Vereinsamung ihnen nähertreten werde und sich deshalb sagte, daß man sich vor ihm nicht zu verstellen brauchte.
»Malst du denn?« fragte Golenischtschew, sich schnell an Wronski wendend.
»Ja, ich habe mich vor langer Zeit damit beschäftigt und es [284] jetzt wieder ein bißchen hervorgeholt«, versetzte Wronski errötend.
»Er hat großes Talent«, fügte Anna mit freudigem Lächeln hinzu. »Ich vermag es ja natürlich nicht zu beurteilen; aber sachverständige Beurteiler haben dasselbe gesagt.«
Anna fühlte sich in dieser ersten Zeit ihrer Freiheit und ihrer schnellen Genesung in unverzeihlicher Weise glücklich und voll Lebensfreude. Die Erinnerung an die unglückliche Lage ihres Mannes trübte ihr Glück nicht. Einerseits war diese Erinnerung gar zu schrecklich, als daß sie mit ihren Gedanken dabei hätte verweilen mögen; und anderseits war das Unglück ihres Mannes für sie die Quelle eines zu großen Glückes geworden, als daß sie es hätte bereuen können, ihn unglücklich gemacht zu haben. Die Erinnerung an alles, was mit ihr nach ihrer Krankheit geschehen war: die Versöhnung mit ihrem Mann, die Entzweiung, die Nachricht von Wronskis Verwundung, sein Wiedererscheinen, die Vorbereitungen zur Scheidung, der Abschied von ihrem Sohn, die Wegfahrt von dem Hause ihres Mannes – alles das erschien ihr wie ein Fiebertraum, aus dem sie erst erwachte, als sie sich allein mit Wronski im Ausland befand. Die Erinnerung an das Leid, das sie ihrem Manne zugefügt hatte, erregte bei ihr ein Gefühl von Widerwillen, ein Gefühl, wie es jemand empfinden mag, der in Gefahr war zu ertrinken und einen andern Menschen, der sich an ihn anklammerte, von sich gestoßen hat. Dieser Mensch ist ertrunken. Selbstverständlich, das war unmoralisch gehandelt; aber es war die einzige Rettung, und nun ist es das beste, man denkt an diese furchtbaren Einzelheiten nicht mehr.
Nur eine einzige beruhigende Überlegung über das, was sie getan, war ihr damals im ersten Augenblick nach dem Bruch in den Sinn gekommen, und sobald sie jetzt an alles Vergangene dachte, erinnerte sie sich auch wieder an diesen einen Gedanken. ›Ich habe es nicht vermeiden können, diesen Menschen unglücklich zu machen‹, dachte sie, ›aber ich will aus diesem Unglück keinen Nutzen ziehen; auch ich leide und werde immer leiden; ich habe verloren, was mir das Teuerste war, meinen ehrlichen Namen und meinen Sohn. Ich habe schlecht gehandelt, und darum will ich kein Glück für mich; ich will keine Scheidung; die Schande und die Trennung von meinem Sohn, das wird mein Leid sein.‹ Aber wie aufrichtig auch Annas Wunsch war, selbst [285] zu leiden: sie litt nicht. Von Schande war nichts zu spüren. Mit jenem Taktgefühl, das ihnen beiden in so hohem Maße eigen war, vermieden sie im Auslande Begegnungen mit russischen Damen, so daß sie sich nicht in eine falsche Stellung brachten, und verkehrten immer nur mit Leuten, die sich stellten, als hätten sie für ihr beiderseitiges Verhältnis ein völliges Verständnis, sogar ein noch weit besseres als sie beide selbst. Selbst die Trennung von ihrem Sohn, den sie so sehr liebte, bereitete ihr in der ersten Zeit keinen allzu großen Schmerz. Das kleine Mädchen, sein Kind, war so lieb und hatte Annas Zuneigung, seit ihr nur dieses eine Kind geblieben war, in dem Grade gewonnen, daß sie nur selten an ihren Sohn dachte.
Annas Lebenslust, die noch durch das Gefühl der Genesung gesteigert wurde, war so groß und ihre augenblicklichen Lebensverhältnisse waren so neu und so angenehm, daß sie sich in unverzeihlicher Weise glücklich fühlte. Je mehr Sie Wronski kennenlernte, um so mehr liebte sie ihn. Sie liebte ihn um seiner selbst willen und wegen seiner Liebe zu ihr. Das Bewußtsein, daß er ganz ihr gehörte, war ihr eine beständige Freude, seine Nähe ihr stets angenehm. Alle die einzelnen Züge seines Charakters, den sie immer genauer kennenlernte, erfüllten sie mit unsagbarem Entzücken. Sein Äußeres, durch die Zivilkleidung verändert, hatte für sie einen solchen Reiz wie für ein verliebtes junges Mädchen. In allem, was er sagte, dachte und tat, sah sie etwas besonders Edles und Erhabenes. Oft erschrak sie selbst darüber, mit welcher Schwärmerei sie ihn verehrte; sie suchte an ihm nach Fehlern, konnte aber keinen finden. Sie mochte es ihn nicht merken lassen, wie gering sie sich ihm gegenüber vorkam; denn sie hatte die Empfindung, er könne, wenn er das wüßte, schneller aufhören, sie zu lieben, und nichts fürchtete sie, obwohl sie dazu keinerlei Anlaß hatte, jetzt so sehr als den Verlust seiner Liebe. Aber sie konnte nicht anders als ihm dankbar sein für sein Verhalten ihr gegenüber, und sie konnte nicht anders als ihm zeigen, wie sehr sie dieses Verhalten zu schätzen wisse. Er, der ihrer Meinung nach einen so entschiedenen Beruf zu staatsmännischer Tätigkeit hatte und auf diesem Gebiete sicherlich eine bedeutende Rolle gespielt hätte, er hatte ihr seinen Ehrgeiz zum Opfer gebracht, ohne jemals das geringste Bedauern darüber zu bekunden. Er war gegen sie noch liebevoller und ehrerbietiger als früher und mit unermüdlicher Sorge darauf bedacht, daß sie das Peinliche ihrer Lage nur ja nicht empfinden möge. Er, dieser mannhafte Charakter, hatte ihr gegenüber niemals ein Wort des Widerspruchs, ja überhaupt keinen eigenen Willen und schien auf nichts anderes [286] zu sinnen, als wie er ihren Wünschen zuvorkommen könne. Und sie konnte nicht umhin, ihm dieses Verhalten hoch anzurechnen, obwohl gerade dieser hohe Grad seiner zarten Rücksichtnahme auf sie, diese stetige liebevolle Fürsorge, mit der er sie umgab, ihr mitunter drückend wurden.
Wronski seinerseits fühlte sich trotz der vollen Verwirklichung dessen, was er so lange gewünscht hatte, doch nicht vollkommen glücklich. Er hatte bald die Empfindung, daß durch die Verwirklichung seines Wunsches ihm doch nur ein Sandkorn von jenem Berge von Glückseligkeit zuteil geworden war, den er erwartet hatte. Diese Verwirklichung brachte ihm jenen ewigen Irrtum zum Bewußtsein, den die Menschen begehen, indem sie von einer Verwirklichung ihrer Wünsche ihr Glück erhoffen. In der ersten Zeit, nachdem er sich mit Anna vereinigt und Zivilkleidung angelegt, hatte er den ganzen Reiz der Freiheit überhaupt, der ihm bis dahin unbekannt gewesen war, und der Freiheit in der Liebe im besonderen empfunden und war zufrieden gewesen; aber das hatte nicht lange gedauert. Er hatte bald gefühlt, daß sich in seiner Seele sozusagen das Verlangen nach einem Verlangen herausbildete: die Langeweile. Ohne es selbst zu wollen, begann er sich jeder augenblicklichen Laune zu überlassen, indem er sie für ein ernsthaftes Verlangen, für ein erstrebenswertes Ziel ansah. Die sechzehn Stunden des Tages mußten doch auf irgendwelche Art ausgefüllt werden, da er und Anna im Auslande in vollständiger Freiheit lebten, fern von jenem gesellschaftlichen Verkehr, der in Petersburg soviel Zeit beanspruchte. An Junggesellen-Vergnügungen, die Wronski sich auf früheren Auslandsreisen gestattet hatte, war nun schon gar nicht zu denken, da der einzige Versuch, den er nach dieser Richtung hin unternommen hatte, in ganz unerwarteter Weise auf Anna eine niederdrückende Wirkung ausgeübt hatte, eine unverhältnismäßig starke Wirkung für ein etwas länger dauerndes Souper mit ein paar Bekannten. Mit der einheimischen und der russischen Gesellschaft Beziehungen zu unterhalten, war bei der Unregelmäßigkeit ihres Verhältnisses gleichfalls unmöglich. Die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten hatte, ganz abgesehen davon, daß er alles schon früher gesehen hatte, für ihn als Russen und vernünftigen Menschen nicht jene unerklärliche Wichtigkeit, die die Engländer ihr beizulegen gewohnt sind.
Und wie ein hungriges Tier jeden Gegenstand, der ihm in den Wurf kommt, packt, in der Hoffnung, an ihm Nahrung zu finden, so stürzte sich Wronski ganz unbewußt bald auf die Politik, bald auf neue Bücher, bald auf Gemälde.
[287] Da er von klein auf eine gewisse Befähigung zum Malen besessen und in der Zeit, wo er nicht wußte, was er mit seinem Gelde anfangen sollte, begonnen hatte, Kupferstiche zu sammeln, so blieb er jetzt bei der Malerei stehen, beschäftigte sich ziemlich viel mit ihr und verwandte auf sie jenen unbenutzt daliegenden Vorrat von Tätigkeitsdrang, der nach Befriedigung verlangte.
Er besaß die Fähigkeit, ein Kunstwerk zu verstehen, sowie die Fähigkeit, ein Kunstwerk treu und geschmackvoll nachzubilden; so meinte er denn, eben das zu besitzen, was ein Künstler nötig habe, und nachdem er einige Zeit geschwankt hatte, für welche Gattung der Malerei er sich entscheiden solle, für die religiöse, die historische, das Genre oder die realistische, machte er sich daran zu malen. Er hatte für alle diese Gattungen Verständnis und war imstande, sich sowohl für die eine wie auch für eine andere zu begeistern; er konnte sich aber nicht vorstellen, daß es möglich sein sollte, gar nicht zu wissen, welche Richtungen es in der Malerei gibt, und sich unmittelbar für das zu begeistern, was einem in der Seele lebt, ohne sich darum zu kümmern, ob das, was man malen wolle, zu irgendeiner bestimmten Richtung gehören werde. Da er dies nicht verstand und sich nicht unmittelbar durch das Leben begeistern ließ, sondern mittelbar durch das von der Kunst bereits verkörperte Leben, so begeisterte er sich sehr rasch und leicht und erreichte es ebenso rasch und leicht, daß das, was er malte, derjenigen Richtung sehr ähnlich wurde, die er nachahmen wollte.
Mehr als alle anderen Richtungen gefiel ihm die anmutige und wirkungsvolle französische Richtung, und so begann er denn im Stil dieser Richtung Annas Porträt in italienischem Kostüm zu malen, und mit ihm waren alle, die dieses Porträt sahen, der Ansicht, daß es sehr gut gelinge.
Der alte, verwahrloste Palazzo mit den hohen, stuckverzierten Zimmerdecken und den Fresken an den Wänden, mit den Mosaikfußböden, mit den schweren, gelben Stoffgardinen an den hohen Fenstern, mit den Vasen auf Konsolen und Kaminen, mit den geschnitzten Türen und den düsteren Sälen, die mit Gemälden vollgehängt waren – dieser Palazzo nährte, nachdem sie nun nach ihm übergesiedelt waren, bei Wronski die angenehme Täuschung, daß er nicht so sehr ein russischer Gutsbesitzer und Hofstallmeister z.D., vielmehr ein hochgebildeter Liebhaber und [288] Beschützer der Künste sei und zugleich selbst ein bescheidener Künstler, der um eines geliebten Weibes willen auf seine Stellung in der Welt, auf alle seine guten Verbindungen und auf allen Ehrgeiz verzichtet habe.
Diese Rolle, die sich Wronski bei der Übersiedlung nach dem Palazzo zurechtgemacht hatte, gelang ihm vollkommen, und nachdem er durch Golenischtschews Vermittlung auch noch einige interessante Persönlichkeiten kennengelernt hatte, war ihm in der ersten Zeit ruhig und wohl zumute. Er malte unter der Anleitung eines italienischen Professors der Malerei Studien nach der Natur und beschäftigte sich mit dem italienischen Leben im Mittelalter. Dieses mittelalterliche italienische Leben gewann zuletzt für Wronski einen solchen Reiz, daß er sich sogar einen Hut nach damaliger Art anschaffte und einen Überwurf nach damaliger Sitte über der Schulter trug, was ihm sehr gut stand.
»Da leben wir nun hier und wissen von nichts«, sagte Wronski einmal zu Golenischtschew, der am Vormittag zu ihm kam. »Hast du Michailows Bild gesehen?« fragte er ihn, indem er ihm eine soeben am Morgen eingetroffene russische Zeitung reichte und auf einen Aufsatz über einen russischen Maler zeigte, der in der gleichen Stadt lebte und ein Gemälde fast vollendet hatte, das schon lange allerlei umlaufende Gerüchte veranlaßt und schon im voraus einen Käufer gefunden hatte. Dieser Aufsatz enthielt Vorwürfe gegen die Regierung und gegen die Akademie, weil sie einen so hervorragenden Künstler ohne jede Aufmunterung und Unterstützung gelassen hätten.
»Ja, ich habe es gesehen«, antwortete Golenischtschew. »Versteht sich, es mangelt ihm nicht an Talent; aber seine Richtung ist völlig verkehrt. Immer die Iwanow-Strauß-Renansche Stellungnahme zur Christusgestalt und zur religiösen Malerei.«
»Was stellt denn das Bild dar?« fragte Anna.
»Christus vor Pilatus. Christus ist als Jude dargestellt, mit dem ganzen Realismus der neuen Schule.«
Und nun begann Golenischtschew, der durch die Frage nach dem Gegenstand des Gemäldes auf eines seiner Lieblingsgebiete gebracht war, seine Ansicht darzulegen.
»Ich begreife gar nicht, wie die Leute einen so groben Mißgriff begehen können. Christus hat doch bereits seine ein für allemal feststehende Verkörperung in den Kunstwerken der großen alten Meister gefunden. Folglich, wenn diese Leute nicht einen Gott, sondern einen Revolutionär oder einen Weisen darstellen wollen, so mögen sie sich doch aus der Geschichte Sokrates oder Franklin oder Charlotte Corday auswählen, aber nur nicht Christus. Sie wählen gerade die Persönlichkeit, die sie bei ihrer [289] Richtung im Interesse der Kunst nicht wählen dürften, und dann ...«
»Ist denn das wahr, daß dieser Michailow in solcher Armut lebt?« fragte Wronski, der sich sagte, daß er als russischer Mäzen den Künstler unterstützen müsse, ob nun das Bild gut oder schlecht sei.
»Ich kann es mir kaum denken. Er ist ein vorzüglicher Bildnismaler. Haben Sie sein Bildnis der Frau Wasiltschikowa gesehen? Aber er mag, wie es scheint, keine Bildnisse mehr malen, und daher könnte es schon möglich sein, daß er sich wirklich in Not befindet. Ich wollte also sagen ...«
»Könnte man ihn nicht bitten, Anna Arkadjewnas Bildnis zu malen?« fragte Wronski.
»Warum denn gerade mein Bildnis?« fragte Anna. »Nach dem, das du malst, mag ich kein anderes Bildnis mehr haben. Laß ihn doch lieber Anny malen« (so nannte sie ihr Töchterchen). »Da ist sie gerade«, fügte sie hinzu, als sie bei einem Blick durch das Fenster die schöne italienische Amme gewahr wurde, die das Kind in den Garten trug, und blickte sofort verstohlen auf Wronski. Diese schöne Amme, deren Kopf Wronski für ein Bild benutzte, an dem er malte, war der einzige geheime Kummer in Annas Dasein. Wronski betrachtete, während er sie malte, voll Bewunderung ihre Schönheit und ihre mittelalterliche Erscheinung, und Anna mochte sich nicht eingestehen, daß sie nahe daran war, auf diese Amme eifersüchtig zu werden; sie behandelte sie daher mit besonderer Freundlichkeit und verwöhnte sowohl sie wie deren Söhnchen.
Wronski warf gleichfalls einen Blick durch das Fenster und sah dann Anna in die Augen; sofort aber wandte er sich wieder zu Golenischtschew und sagte:
»Kennst du diesen Michailow?«
»Ich bin einige Male mit ihm zusammengetroffen. Aber er ist ein wunderlicher Kauz und ohne alle Erziehung. Weißt du, einer von diesen kulturlosen modernen Menschen, wie man ihnen jetzt häufig begegnet; weißt du, einer von jenen Freidenkern, die von klein auf in den Begriffen des Unglaubens, der Verneinung und des Materialismus erzogen sind. Die Freidenker der früheren Zeit«, redete Golenischtschew weiter, ohne zu bemerken oder ohne bemerken zu wollen, daß sowohl Anna wie auch Wronski etwas zu sagen wünschten, »das waren Leute, die in den Begriffen der Religion, des Gesetzes der Moral aufgewachsen und erst durch eigenes Ringen und eigene Arbeit zur Freidenkerei gelangt waren; heute aber erscheint ein neuer Typ von Freidenkern, solche, die es gleich von Geburt an sind, die [290] aufwachsen, ohne auch nur jemals etwas davon gehört zu haben, daß es Gesetze der Moral und Religion und so etwas wie Autorität gegeben hat, sondern ohne weiteres in der Idee von der Verneinung aller Ordnung heranwachsen, das heißt wie Wilde. Von der Sorte ist er. Ich glaube er ist der Sohn eines Moskauer Oberkellners und hat gar keine Erziehung genossen. Als er auf die Akademie gekommen war und sich schon einigen Ruf erworben hatte, wollte er, wie er denn kein dummer Mensch ist, sich auch eine gewisse Bildung aneignen. Und so wandte er sich denn zu dem, was er für den Quell der Bildung hielt, zu den Zeitschriften. Bitte zu beachten, in älterer Zeit hätte jemand, der etwas für seine Bildung tun wollte, sagen wir einmal ein Franzose, sich an das Studium der hervorragenden Schriftsteller gemacht: der Theologen, der Tragiker, der Historiker, der Philosophen, und, bitte zu beachten, er hätte dabei ein tüchtiges Maß geistiger Arbeit zu leisten gehabt. Aber jetzt bei uns in Rußland stürzte er sich ohne weiteres in die alles verneinende Literatur hinein, machte sich mit großer Leichtigkeit den Gesamtextrakt der alles verneinenden Wissenschaft zu eigen und war nun fertig. Und damit nicht genug: vor zwanzig Jahren hätte er in dieser Literatur die Anzeichen eines Kampfes mit den Autoritäten, mit den jahrhundertealten Anschauungen gefunden; er hätte aus diesem Kampfe ersehen, daß vorher etwas anderes vorhanden war, jetzt aber geriet er geradeswegs in eine Literatur hinein, in der die alten Anschauungen nicht einmal der Bekämpfung gewürdigt werden, sondern einfach erklärt wird: keine Voraussetzungen gelten; Evolution, Auslese, Kampf ums Dasein, damit fertig! Ich habe in meiner Abhandlung ...«
»Wissen Sie was?« sagte Anna, die schon lange verstohlen mit Wronski Blicke gewechselt hatte und wußte, daß er sich für den Bildungsgang dieses Künstlers gar nicht interessierte, sondern daß ihn nur der Gedanke beschäftigte, ihm zu helfen und ein Bildnis bei ihm zu bestellen. »Wissen Sie was?« unterbrach sie entschlossen den Schriftsteller, der in seinem Eifer kein Ende finden konnte. »Wir wollen ihm einen Besuch machen!«
Golenischtschew merkte, daß er zu eifrig geworden war, brach ab und erklärte sich gern einverstanden. Da der Künstler in einem entfernten Stadtteil wohnte, so entschieden sie sich dafür, einen Wagen zu nehmen.
Eine Stunde darauf fuhren sie, Anna neben Golenischtschew, Wronski auf dem Vordersitze des Wagens, bei einem neuen, unschönen Hause in jenem entlegenen Stadtteil vor. Von der Frau des Hauswartes, die herauskam, erfuhren sie, Michailow pflege den Besuch seines Ateliers zu gestatten, befinde sich aber augenblicklich [291] gerade in seiner nur ein paar Schritte davon gelegenen Wohnung; sie schickten sie daher mit ihren Besuchskarten zu ihm und ließen um die Erlaubnis bitten, seine Bilder betrachten zu dürfen.
Der Maler Michailow war wie immer bei der Arbeit, als ihm die Karten des Grafen Wronski und Golenischtschews überbracht wurden. Den Vormittag über hatte er in seinem Atelier an seinem großen Gemälde gearbeitet. Nach Hause zurückgekehrt, hatte er sich über seine Frau geärgert, weil sie nicht verstanden hatte, die Hauswirtin, die durchaus Geld hatte haben wollen, richtig zu behandeln.
»Zwanzigmal habe ich dir schon gesagt: laß dich auf keine Auseinandersetzungen ein. Du bist so schon dumm genug; aber wenn du nun gar anfängst, auf italienisch zu debattieren, so nimmst du dich noch dreimal dümmer aus«, sagte er nach einem längeren Gezänk zu ihr.
»Dann sorge du dafür, daß in unserer Kasse nicht immer Ebbe ist; ich bin nicht schuld. Wenn ich Geld hätte ...«
»Um Gottes willen, laß mich in Ruhe!« schrie Michailow; es war seiner Stimme anzuhören, daß ihm die Tränen ganz nahe waren. Sich die Ohren zuhaltend, lief er in sein Arbeitszimmer, das vom Wohnzimmer nur durch eine dünne Zwischenwand getrennt war, und machte die Tür hinter sich zu. »So ein einfältiges Frauenzimmer!« murmelte er vor sich hin, setzte sich an den Tisch, schlug eine Mappe auf und begann sofort mit ganz besonderem Eifer an einer angefangenen Zeichnung weiterzuarbeiten.
Niemals arbeitete er mit größerem Eifer und Erfolg, als wenn es ihm in materieller Hinsicht schlecht ging und namentlich, wenn er sich mit seiner Frau gezankt hatte: ›Ach, man möchte am liebsten davonlaufen!‹ dachte er, während er weiterarbeitete. Er zeichnete eine Skizze für die Gestalt eines Mannes, der einen Wutanfall hat. Eine solche Skizze hatte er schon früher hergestellt gehabt, war aber mit ihr nicht zufrieden gewesen. ›Nein, die erste war doch besser ... Wo mag sie nur geblieben sein?‹ Er ging wieder in das Zimmer, in dem seine Frau war, und fragte, ohne sie anzusehen, mit finsterem Gesicht sein ältestes Töchterchen, wo das Blatt Papier sei, das er ihnen gegeben habe. Das Blatt mit der verworfenen Skizze fand sich wirklich noch vor, war aber beschmutzt und mit Stearin betröpfelt. Trotzdem nahm er die Skizze mit in sein Arbeitszimmer, legte sie vor sich auf den Tisch und betrachtete sie, indem er sich etwas davon entfernte [292] und die Augen zusammenkniff. Auf einmal lächelte er und schwenkte vergnügt die Arme.
›So muß es sein, so ist es richtig!‹ sprach er vor sich hin, ergriff sofort einen Bleistift und begann hastig zu zeichnen. Der Stearinfleck hatte dem Mann eine neue Pose gegeben.
Er zeichnete diese neue Pose, und auf einmal fiel ihm das energische, durch das vorstehende Kinn besonders auffällige Gesicht des Händlers ein, von dem er seine Zigarren kaufte, und eben dieses Gesicht und Kinn gab er nun seinem Manne auf der Zeichnung. Er lachte vor Freude laut auf. Der Kopf war plötzlich von einem toten, gekünstelten zu einem lebendigen geworden, der so gut gelungen war, daß nichts mehr daran geändert zu werden brauchte. Dieser Kopf hatte Leben und war in klarer, zweifelloser Weise charakterisiert. Man konnte ja die übrige Figur noch den Anforderungen dieses Kopfes entsprechend verbessern; man konnte und mußte sogar die Beine anders auseinanderrücken, die Haltung des linken Armes völlig verändern, das Haar nach hinten zurückwerfen. Aber wenn er diese Verbesserungen vornahm, so änderte er dadurch die Gestalt nicht, sondern er beseitigte nur das, wodurch sie verborgen wurde. Er nahm gleichsam Hüllen von ihr herunter, die ihre volle Sichtbarkeit beeinträchtigt hatten. Jeder neue Bleistiftstrich ließ die ganze Gestalt nur noch mehr in ihrer vollen, energischen Kraft hervortreten, so, wie sie ihm plötzlich durch den Stearinfleck erschienen war. Er war eben dabei, die Zeichnung vorsichtig zu beenden, als ihm die Besuchskarten überbracht wurden. »Ich komme sofort!«
Er ging ins andere Zimmer zu seiner Frau.
»Nun, laß es gut sein, Sascha, sei nicht mehr böse!« sagte er zu ihr mit einem schüchternen, zärtlichen Lächeln. »Du hattest schuld, ich hatte schuld. Ich werde alles in Ordnung bringen.« Und nachdem er sich so mit seiner Frau versöhnt hatte, zog er seinen olivenfarbenen Überzieher mit dem Samtkragen an, setzte den Hut auf und ging nach seinem Atelier. Daß ihm die Zeichnung so gut gelungen war, hatte er schon wieder vergessen. Jetzt freute und erregte ihn nur der Besuch seines Ateliers durch diese vornehmen Russen, die in einem Wagen angefahren gekommen waren.
Über sein großes Gemälde, das auf seiner Staffelei stand, hatte er in der Tiefe seiner Seele sein bestimmtes Urteil fertig: daß ein solches Bild noch nie jemand gemalt habe. Er glaubte gerade nicht, daß sein Bild besser sei als alle Raffaelschen; aber er war überzeugt, daß das, was er in seinem Bilde hatte zum Ausdruck bringen wollen, noch nie von einem andern ausgedrückt [293] worden war. Das war seine feste Überzeugung, und diese Überzeugung hatte er schon längst gehabt, schon seit der Zeit, wo er sein Bild angefangen hatte zu malen; aber die Urteile der Leute, von welcher Art auch immer diese Leute waren, hatten für ihn trotzdem eine gewaltige Wichtigkeit und erregten ihn bis auf den tiefsten Grund seiner Seele. Jede Bemerkung, selbst die unbedeutendste, die zeigte, daß die Beurteiler auch nur einen kleinen Teil von dem sahen, was er selbst in diesem Bilde sah, machte auf ihn den allerstärksten Eindruck. Er schrieb seinen Beurteilern immer ein weit tieferes Verständnis zu, als er es selbst besaß, und erwartete stets von ihnen etwas zu erfahren, was er selbst an seinem Bilde noch nicht gesehen hatte. Und oft meinte er wirklich in den Kritiken der Beschauer derartiges zu finden.
Mit schnellen Schritten näherte er sich dem Hause, in dem sich sein Atelier befand, und war trotz seiner Aufregung überrascht von der weichen Beleuchtung der Gestalt Annas, die im Schatten an der Haustür stand, auf Golenischtschew hinhörte, der ihr eifrig etwas auseinandersetzte, und gleichzeitig offenbar wünschte, sich den herankommenden Maler anzusehen. Er wurde sich selbst dessen gar nicht bewußt, daß er bei der Annäherung an die Besucher diesen Eindruck erfaßte und gleichsam verschluckt hatte, ebenso wie den vom Kinn des Zigarrenhändlers, und ihn da irgendwo verborgen hatte, um ihn, sobald es nötig sein würde, wieder hervorzuholen. Die Besucher, die schon im voraus durch Golenischtschews Mitteilungen über den Maler enttäuscht worden waren, sahen sich durch sein Äußeres noch mehr enttäuscht. Von mittlerer Größe, stämmig, mit seinem gezierten Gang, in seinem braunen Hut, dem olivenfarbenen Überzieher und den engen Beinkleidern, während schon längst weite getragen wurden, namentlich aber durch sein sehr gewöhnliches, breites Gesicht, auf dem sich der Ausdruck von Schüchternheit mit dem gespreizter Würde verband, brachte bei Michailow einen unangenehmen Eindruck hervor.
»Bitte ergebenst«, sagte er, indem er sich bemühte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, trat in den Hausflur, holte einen Schlüssel aus der Tasche und schloß die Tür auf.
Beim Eintritt in das Atelier richtete Michailow noch einmal seinen Blick auf seine Gäste und notierte sich in seinem Gedächtnis noch den Ausdruck des Wronskischen Gesichtes, besonders [294] den der Backenknochen. Obgleich sein Künstlersinn unablässig weiterarbeitete und neues Material sammelte und obgleich seine Aufregung sich immer mehr steigerte, je näher der Augenblick der Kritik über seine Arbeit heranrückte, bildete er sich dennoch aus kaum wahrnehmbaren Merkmalen schnell und scharfsinnig ein Urteil über diese drei Persönlichkeiten. Jener da, Golenischtschew, war ein hier ansässiger Russe. Michailow erinnerte sich nicht, wie der Mann hieß, auch nicht, wo er ihn schon getroffen und worüber er mit ihm gesprochen hatte. Er erinnerte sich nur seines Gesichtes, wie er sich aller Gesichter erinnerte, die er jemals gesehen hatte; aber er erinnerte sich auch, daß er dieses Gesicht in seinem Gedächtnis in die gewaltig große Abteilung der Gesichter gelegt hatte, die eine gewisse Bedeutung vortäuschen, in Wahrheit aber ausdrucksleer sind. Das lange Haar und die sehr offene Stirn verliehen äußerlich diesem Gesicht etwas Bedeutsames, und doch lag in ihm eigentlich weiter nichts als ein kleinlicher, kindhafter, unruhiger Ausdruck, der sich über dem schmalen Nasensattel verdichtete. Wronski und Frau Karenina mußten nach Michailows Schlußfolgerungen vornehme, reiche Russen sein, die, wie alle diese reichen Russen, von Kunst nichts verstanden, sich aber als Liebhaber und Kritiker aufspielten. ›Sicherlich haben sie sich schon alle alten Bilder angesehen und fahren jetzt bei den Ateliers der neuzeitlichen Maler umher, bei den großmäuligen Deutschen und den verrückten präraffaelitischen Engländern, und zu mir sind sie nur um der Vollständigkeit der Besichtigung willen gekommen‹, dachte er. Er kannte sehr genau jene Art der Kunstliebhaber (je klüger sie waren, um so schlimmer), die Ateliers zeitgenössischer Künstler nur deshalb zu besichtigen, um ein Recht zu haben zu der Behauptung, die Kunst sei heruntergekommen, und je mehr man die Leistungen der modernen Maler betrachte, um so mehr komme man zu der Erkenntnis, daß doch die alten großen Meister schlechterdings unerreicht geblieben seien. Auf alles dies war er auch bei diesen beiden Besuchern gefaßt; alles dies las er auf ihren Gesichtern, ersah es aus der geringschätzigen Gleichgültigkeit, mit der sie untereinander sprachen und die Gliederpuppen und Büsten beschauten und zwanglos umhergingen, während sie darauf warteten, daß er das Gemälde enthülle. Trotzdem empfand er, während er seine Studien umdrehte, die Vorhänge aufzog und das Laken abnahm, eine starke Erregung, um so mehr, da, obgleich nach seiner Vorstellung alle vornehmen, reichen Russen Esel und Dummköpfe sein mußten, doch Wronski und namentlich Anna ihm gefielen.
»Hier, ist es gefällig?« sagte er, indem er mit seinem gezierten [295] Gang zur Seite trat und auf das Gemälde wies. »Es ist das Verhör durch Pilatus. Matthäus, Kapitel siebenundzwanzig«, bemerkte er erläuternd und fühlte, daß ihm die Lippen vor Aufregung zu zittern begannen. Er trat beiseite und stellte sich hinter die Beschauer.
Die kurze Zeit über, während die Besucher das Gemälde schweigend betrachteten, sah auch Michailow es an, und zwar mit gleichmütigem Blick, als ob er ein Fremder wäre. Während dieser wenigen Augenblicke war er im voraus des Glaubens, daß sie das maßgebendste, gerechteste Urteil abgeben würden, gerade sie, diese Besucher, die er noch eine Minute vorher so sehr verachtet hatte. Vergessen hatte er alles, was er früher über sein Bild gedacht hatte, die drei Jahre über, in denen er daran gemalt hatte, vergessen all seine Vorzüge, die ihm als ganz zweifellos erschienen waren: er betrachtete das Bild jetzt mit ebenso gleichgültigen, fremden Blicken wie seine Besucher und fand an ihm nichts Gutes mehr. Er sah im Vordergrund das ärgerliche Gesicht des Pilatus und das ruhige Antlitz Christi und im Hintergrund die Gestalten der Untergebenen des Pilatus und das Gesicht des Johannes, der aufmerksam verfolgte, was da vorging. Jede einzelne Gestalt, die nach so langem Suchen, nach so vielen Irrtümern und Verbesserungen sich mit ihrer besonderen Charakterisierung in seinem Geiste herausgebildet hatte, jede einzelne Gestalt, die ihm soviel Pein und soviel Freude bereitet hatte, und alle diese Gestalten zusammen, die er so oft um des Gesamteindrucks willen ihren Platz hatte wechseln lassen, alle mit so vieler Mühe erzielten Schattierungen der Farben und der Töne: alles dies zusammen erschien ihm jetzt, wo er es mit den Augen seiner Besucher sah, als eine schon tausendmal wiederholte Alltäglichkeit. Die Figur, die ihm die liebste und teuerste war, die Christusfigur, der Mittelpunkt des Gemäldes, über die er, als sie sich ihm einst offenbart hatte, in höchste Begeisterung geraten war, sie hatte für ihn allen Reiz verloren, nun er das Gemälde mit den Augen Fremder beschaute. Er sah eine gut gemalte (eigentlich nicht einmal gut gemalte, da er jetzt deutlich eine ganze Menge von Mängeln wahrnahm) Wiederholung jener zahllosen Christusse von Tizian, Raffael und Rubens, eine Wiederholung der nämlichen Kriegsknechte und des nämlichen Pilatus. All das war so alltäglich, armselig und veraltet, und es war sogar schlecht gemalt: bunt und schwächlich. ›Diese drei Besucher‹, sagte er sich, ›werden ganz recht haben, wenn sie in Gegenwart des Künstlers ein paar heuchlerisch höfliche Phrasen hinreden und, sobald sie unter sich allein sind, ihn bedauern und sich über ihn lustig machen.‹
[296] Dieses Schweigen, obwohl es nicht länger als eine Minute gedauert hatte, wurde ihm gar zu drückend. Um es zu unterbrechen und zu zeigen, daß er nicht aufgeregt sei, tat er sich Gewalt an und wandte sich zu Golenischtschew:
»Ich habe wohl schon einmal das Vergnügen gehabt, mit Ihnen zusammenzutreffen«, sagte er, blickte aber dabei unruhig bald zu Anna, bald zu Wronski hin, um sich keine Veränderung ihres Gesichtsausdruckes entgehen zu lassen.
»Gewiß! Wir haben uns bei Rossi getroffen; Sie besinnen sich: bei der Abendgesellschaft, wo dieses italienische Fräulein, die neue Rachel, vortrug«, antwortete Golenischtschew in munterem Ton; er wandte seine Augen ohne das geringste Bedauern von dem Gemälde weg und blickte den Maler an.
Als er jedoch bemerkte, daß Michailow ein Urteil über sein Bild erwartete, sagte er:
»Ihr Bild ist sehr fortgeschritten, seit ich es zum letzten Male gesehen habe. Und wie damals, so hat auch jetzt die Figur des Pilatus für mich etwas außerordentlich Überraschendes. So gewinnt man Verständnis für diesen Menschen, einen ganz braven, wackeren Gesellen, aber eingefleischten Beamten, der nicht weiß, was er tut. Aber mir scheint ...«
Michailows ganzes bewegliches Gesicht strahlte plötzlich auf; seine Augen leuchteten. Er wollte etwas sagen; aber er konnte vor Aufregung nicht reden und stellte sich, als ob er husten müsse. Wie gering er auch Golenischtschews Kunstverständnis einschätzte, wie unbedeutend auch dessen richtige Bemerkung über den wohlgetroffenen Beamtencharakter im Gesicht des Pilatus an sich war, wie verletzend es ihm auch sein konnte, daß jener zuerst eine so geringfügige Bemerkung aussprach und von wichtigeren Dingen nichts sagte: trotzdem war Michailow von dieser Bemerkung ganz entzückt. Er selbst dachte über die Figur des Pilatus genau dasselbe, was Golenischtschew soeben gesagt hatte. Und der Umstand, daß diese Beobachtung nur eine einzige unter vielen anderen Beobachtungen war, die, wie Michailow fest überzeugt war, alle ebenso zutreffend sein würden, dieser Umstand verringerte in seinen Augen den Wert der Bemerkung Golenischtschews in keiner Weise. Er faßte um dieser Bemerkung willen eine Neigung für Golenischtschew und ging aus seinem Zustande der Niedergeschlagenheit unvermittelt in den der Glückseligkeit über. Sogleich gewann sein ganzes Bild in seinen Augen Leben und ließ die ganze, unsagbar kunstvolle Organisation erkennen, wie sie allem Lebendigen eigen ist. Michailow setzte wieder dazu an, zu sagen, daß er den Pilatus ganz ebenso aufgefaßt habe; aber seine zitternden Lippen versagten ihm den[297] Dienst, und er vermochte es nicht auszusprechen. Wronski und Anna sagten ebenfalls etwas in jenem gedämpften Ton, in dem man gewöhnlich vor ausgestellten Bildern zu sprechen pflegt, teils um den Künstler nicht zu verletzen, teils um nicht laut eine Dummheit zu sagen, die einem ja bei Gesprächen über Kunst so leicht über die Lippen kommen kann. Michailow hatte die Empfindung, daß sein Bild auch auf sie Eindruck gemacht habe. Er trat zu ihnen.
»Wie wundervoll der Ausdruck des Christuskopfes ist!« sagte Anna. Von allem, was sie sah, gefiel ihr dieser Ausdruck am meisten; sie fühlte, daß dies der eigentliche Mittelpunkt des Gemäldes sei und dieses Lob daher dem Künstler besonders angenehm sein müsse. »Man sieht, daß ihm Pilatus leid tut.«
Dies war wieder eine von jenen unzähligen zutreffenden Beobachtungen, die man an seinem Gemälde und besonders an der Figur Christi machen konnte. Die Dame hatte gesagt, Pilatus tue Christus leid. In dem Gesichtsausdruck Christi muß ja auch der Ausdruck des Mitleids liegen, weil in ihm der Ausdruck der Liebe liegt und der Ausdruck einer himmlischen Ruhe und der Bereitschaft zum Tode und des Bewußtseins, daß weiteres Reden nutzlos ist. Natürlich muß in dem Gesicht des Pilatus der Ausdruck der Denkweise eines Beamten liegen und in dem Gesicht Christi der Ausdruck des Mitleides, da eben der eine die Verkörperung des fleischlichen Lebens ist, der andere die Verkörperung des geistigen Lebens. All diese und viele andere Gedanken huschten Michailow durch den Kopf. Und wieder erstrahlte sein Gesicht vor Entzücken.
»Ja, und wie diese Gestalt ausgeführt ist, wieviel Luft zwischen ihr und den anderen Figuren ist! Als könnte man um sie herumgehen«, sagte Golenischtschew, der durch diese Bemerkung offenbar zeigen wollte, daß er mit dem geistigen Gehalt und der Idee dieser Figur nicht sonderlich zufrieden sei.
»Ja, eine erstaunliche Meisterschaft!« bemerkte Wronski. »Wie sich diese Gestalten vom Hintergrunde abheben! Das nennt man Technik!« fügte er, zu Golenischtschew gewendet, hinzu und spielte damit auf ein früheres Gespräch zwischen ihnen beiden an, bei dem Wronski geäußert hatte, er verzweifle daran, sich eine gute Technik zu eigen zu machen.
»Ja gewiß, erstaunlich!« stimmten Golenischtschew und Anna bei.
Trotz der gehobenen Stimmung, in der sich Michailow befand, ließ diese Bemerkung über die Technik sein Herz schmerzlich zusammenzucken; ärgerlich blickte er Wronski an und machte plötzlich ein sehr finsteres Gesicht. Er hatte dieses Wort Technik [298] oft gehört und schlechterdings nicht verstanden, was die Leute eigentlich damit sagen wollten. Er wußte, daß sie unter diesem Wort eine mechanische Fähigkeit zu malen und zu zeichnen verstanden, die von dem Gegenstand des Bildes ganz unabhängig ist. Oft hatte er, wie auch bei dem jetzigen Lob, gemerkt, daß die Leute die Technik dem inneren Wert gegenüberstellten, als ob es möglich wäre, etwas an sich Schlechtes gut zu malen. Er wußte, daß viel Aufmerksamkeit und Vorsicht vonnöten war, um, wenn man von dem vorschwebenden Idealbilde die Hüllen abnahm, das Kunstwerk selbst nicht zu beschädigen, und um auch wirklich alle Hüllen herunterzubekommen; aber das war eben die Kunst des Malens – von Technik war dabei gar nicht die Rede. Wenn das, was er mit dem geistigen Auge sah, sich ebenso einem kleinen Kinde oder seiner Köchin offenbarte, so würden auch sie verstehen, was sie gesehen hatten, herauszuschälen. Aber anderseits würde der erfahrenste, geschickteste Techniker der Malerei durch die bloße mechanische Fähigkeit nicht imstande sein, etwas zu malen, wenn sich ihm nicht vorher der Inhalt in klarer Umgrenzung geoffenbart hätte. Außerdem war Michailow sich bewußt, daß, wenn man nun einmal von Technik reden wolle, man gerade ihn in dieser Hinsicht nicht loben könne. In allem, was er malte und gemalt hatte, erkannte er Mängel, die ihm in den Augen weh taten, Mängel, die von der Unachtsamkeit herrührten, mit der er die Hüllen abgenommen hatte, und die er jetzt nicht mehr verbessern konnte, ohne das ganze Kunstwerk zu verderben. Und auch bei diesem Bilde sah er an fast allen Gestalten und Gesichtern Reste nicht vollständig abgenommener Hüllen, die den Wert des Bildes minderten.
»In einem Punkte könnte man anderer Ansicht sein, wenn Sie mir eine solche Bemerkung gestatten wollen ...«, begann Golenischtschew.
»Aber es freut mich sehr, und ich bitte Sie herzlich«, erwiderte Michailow, gezwungen lächelnd.
»Ich meine: daß Christus bei Ihnen ein Menschgott ist, und nicht ein Gottmensch. Übrigens weiß ich recht wohl, daß Sie das gerade beabsichtigt haben.«
»Ich kann keinen Christus malen, der nicht in meiner Seele vorhanden ist«, versetzte Michailow mit finsterem Gesichte.
»Ja, aber in diesem Falle ... wenn Sie mir gestatten, meinen Gedanken auszusprechen ... Ihr Bild ist ja so vortrefflich, daß meine Bemerkung ihm keinen Abbruch tun kann, und dann ist das ja auch nur meine persönliche Meinung. Bei Ihnen ist der ganze Vorgang ein anderer geworden; das Motiv selbst ist ein[299] anderes. Aber nehmen wir meinetwegen Iwanow als Beispiel. Ich meine, statt Christus auf die Stufe einer bloßen historischen Persönlichkeit zu stellen, hätte Iwanow besser getan, sich ein anderes historisches Thema, ein frisches, unangerührtes, auszusuchen.«
»Aber wenn dies doch das erhabenste Thema ist, das sich der Kunst darbietet?«
»Wenn man nur suchen will, finden sich schon noch andere. Aber die Sache ist die, daß ein Kunstwerk keinen Streit und keine Auseinandersetzungen vertragen kann. Und bei Iwanows Bild entsteht für den Gläubigen und für den Ungläubigen die Frage: ist das ein Gott oder kein Gott? Und dieser Zweifel zerstört die Einheitlichkeit der Wirkung.«
»Wieso?« erwiderte Michailow. »Mir scheint, daß für gebildete Leute darüber kein Streit mehr möglich ist.«
Golenischtschew stimmte diesem Satze nicht zu, und indem er an dem vorher von ihm ausgesprochenen Gedanken von der für ein Kunstwerk erforderlichen Einheitlichkeit der Wirkung festhielt, schlug er Michailow aus dem Felde.
Michailow geriet zwar in große Erregung, wußte aber zur Verteidigung seiner Anschauung nichts vorzubringen.
Anna und Wronski, die die kluge Gesprächigkeit ihres Freundes bedauerten, hatten schon lange miteinander Blicke gewechselt; endlich ging Wronski, ohne eine Aufforderung des Hausherrn abzuwarten, zu einem andern, kleinen Bilde hinüber.
»Ach, wie reizend, wie reizend! Wunderhübsch! Wie reizend!« riefen sie beide wie aus einem Munde.
›Was hat ihnen denn da so gefallen?‹ dachte Michailow. Er hatte dieses Bild, das er vor drei Jahren gemalt hatte, ganz vergessen. Vergessen hatte er all die Leiden und Freuden, die er mit diesem Bilde durchgekostet hatte, als es einige Monate lang ihn Tag und Nacht ausschließlich und unaufhörlich beschäftigt hatte, vergessen, wie er stets seine Bilder vergaß, wenn sie fertig waren. Er mochte es nicht einmal mehr ansehen und hatte es nur ausgestellt, weil er auf einen Engländer wartete, der Lust bekäme, es zu kaufen.
»Das ist weiter nichts Besonderes, eine ältere Studie«, sagte er.
»Wie schön!« rief, offenbar aufrichtig, Golenischtschew, der sich gleichfalls dem Reiz dieses Bildes nicht entziehen konnte.
[300] Zwei Knaben angelten im Schatten einer Weide. Der eine, ältere, hatte gerade die Angel ausgeworfen und führte den Schwimmer behutsam aus dem Gebüsch heraus, eine Beschäftigung, die alle seine Gedanken in Anspruch nahm; der andere, jüngere, lag im Grase, stützte sich auf die Ellbogen, hielt den Kopf mit dem wirren, blonden Haar in beiden Händen und blickte mit den träumerischen blauen Augen auf das Wasser. Woran mochte er denken?
Das Entzücken der Besucher über dieses Bild ließ in Michailows Seele die ehemalige Erregung wieder aufleben; aber er hatte eine Art von Furcht und Widerwillen gegen solche zwecklosen Gefühle, die sich auf Vergangenes bezogen, und suchte daher, so angenehm ihm auch diese Lobeserhebungen waren, seine Besucher davon abzulenken und zu einem dritten Bilde zu führen.
Aber Wronski fragte ihn, ob das Bild nicht verkäuflich sei. Für Michailow, der durch die Gespräche mit seinen Besuchern erregt war, hatte es jetzt etwas sehr Peinliches, über ein Geldgeschäft zu reden.
»Es ist zum Verkauf ausgestellt«, erwiderte er mit mürrischer, verdrossener Miene.
Sobald die Besucher sich entfernt hatten, setzte Michailow sich vor sein Bild »Pilatus und Christus« hin und wiederholte in seinem Geiste, was diese Besucher gesagt und, ohne es auszusprechen, mit hinzugedacht hatten. Und merkwürdig: das, was ihm so gewichtig erschienen war, solange sie anwesend waren und er sich in Gedanken auf ihren Standpunkt versetzte, das hatte jetzt auf einmal für ihn alle Bedeutung verloren. Er prüfte nun sein Gemälde mit seiner ganzen, vollen künstlerischen Urteilskraft und gelangte zu jener Überzeugung von der Vollkommenheit und somit auch Bedeutsamkeit seines Bildes, deren er für die alle anderen Gedanken ausschließende geistige Spannung bedurfte, die bei ihm eine unerläßliche Voraussetzung erfolgreichen Arbeitens war.
Der eine Fuß Christi, der in Verkürzung gezeichnet war, wollte ihm immer noch nicht richtig erscheinen. Er griff zur Palette und machte sich an die Arbeit. Während er den Fuß verbesserte, betrachtete er unaufhörlich die Figur des Johannes im Hintergrunde, die die Besucher gar nicht beachtet hatten und die doch nach seiner Überzeugung den Gipfel der Vollkommenheit darstellte. Nachdem er mit dem Fuße fertig war, wollte er auch diese Figur noch vornehmen; aber er fühlte sich doch zu aufgeregt dazu. Er war gleichermaßen unfähig zu arbeiten, wenn er sich in kühler Stimmung befand und wenn er gar zu [301] weich war und alles, was er sah, ihn zu sehr ergriff. Auf dieser Stufenleiter zwischen Kälte und Ekstase gab es nur eine einzige Stufe, auf der ihm das Arbeiten möglich war. Augenblicklich aber war er zu aufgeregt. Er wollte das Bild wieder verhüllen, hielt aber inne und betrachtete, das Laken in der Hand haltend, mit glückseligem Lächeln lange die Figur des Johannes. Endlich riß er sich, wie mit einem Gefühl der Trauer, von ihr los, ließ das Laken darüberfallen und ging müde, aber glücklich nach seiner Wohnung.
Wronski, Anna und Golenischtschew waren auf dem Heimweg besonders lebhaft und heiter. Sie sprachen von Michailow und seinen Bildern. Das Wort Talent, unter dem sie eine angeborene, beinahe körperliche, von Verstand und Herz unabhängige Fähigkeit verstanden und mit dem sie alles das bezeichnen wollten, was das geistige Leben eines Künstlers ausmacht, kam in ihrem Gespräch besonders häufig vor, da es ihnen unentbehrlich war zur Bezeichnung von etwas, wovon sie keinen Begriff hatten und doch reden wollten. Sie sagten, Talent lasse sich ihm nicht absprechen, aber sein Talent habe sich infolge des Mangels an Bildung nicht recht entwickeln können – das gemeinsame Unglück unserer russischen Künstler. Aber das Bild mit den Knaben war in ihrem Gedächtnis haftengeblieben, und immer wieder kamen sie im Gespräch darauf zurück. »Wie reizend! Wie gut ihm das gelungen ist, und wie schlicht und natürlich! Er hat selbst gar kein Verständnis dafür, wie schön es ist! Ja, das dürfen wir uns nicht entgehen lassen; das müssen wir kaufen«, sagte Wronski.
Michailow hatte sein Bild an Wronski verkauft und sich bereit erklärt, Annas Bildnis zu malen. Am festgesetzten Tage kam er und begann mit der Arbeit.
Das Bildnis überraschte von der fünften Sitzung an alle und namentlich Wronski nicht nur durch seine Ähnlichkeit, sondern auch durch die eigenartige Schönheit. Es war merkwürdig, wie Michailow jene eigenartige Schönheit Annas hatte herausfinden können. ›Eigentlich muß man sie so kennen und lieben, wie ich sie geliebt habe, um diesen so liebreizenden, seelischen Ausdruck an ihr zu entdecken‹, dachte Wronski, obgleich er erst aus diesem Bildnis diesen ihren liebreizenden, seelischen Ausdruck kennengelernt hatte. Aber dieser Ausdruck war so lebenswahr, daß Wronski und andere die Empfindung hatten, als hätten sie ihn schon längst an Anna selbst gekannt.
[302] »Wie lange mühe ich mich schon ab und habe nichts zustande gebracht«, sagte er mit Bezug auf das von ihm selbst gemalte Bildnis, »und dieser Mensch sieht sie an und malt sie hin. Da sieht man den Wert der Technik!«
»Das kommt schon noch«, tröstete ihn Golenischtschew, nach dessen Vorstellung Wronski Talent und als besonders wichtiges Erfordernis den Bildungsgrad besaß, der allein eine Kunstanschauung von höherem Standpunkte aus ermöglicht. Golenischtschews Überzeugung von Wronskis Talent wurde dadurch noch verstärkt, daß er für seine Abhandlungen und Ideen Wronskis Anteilnahme und Lob nötig hatte und fühlte, daß Lob und Unterstützung gegenseitig sein müßten.
In einem fremden Hause und besonders in dem Palazzo bei Wronski war Michailow ein ganz anderer Mensch als bei sich in seinem Atelier. Er benahm sich mit einer Art von feindseliger Ehrerbietung, als fürchte er eine Annäherung an Leute, die er nicht achten könne. Er redete Wronski immer Euer Erlaucht an, blieb trotz aller Einladungen Annas und Wronskis nie zum Mittagessen da und kam nie außerhalb der Sitzungen zu ihnen. Anna zeigte sich ihm gegenüber noch freundlicher als gegen andere und war ihm für ihr Bildnis aufrichtig dankbar. Wronski behandelte ihn mit außerordentlicher Höflichkeit und hätte offenbar gern den Künstler dazu veranlaßt, über seine Dilettantenleistungen ein Urteil abzugeben. Golenischtschew ließ keine Gelegenheit vorübergehen, um Michailow zu richtigeren Anschauungen über die Kunst hinzuleiten. Aber Michailow blieb gegen alle drei gleich kühl. Anna fühlte an seinem Blick, daß er sie gern ansah; aber er vermied es, sich mit ihr in ein Gespräch einzulassen. Wenn Wronski von seinen Malversuchen zu reden anfing, so schwieg er hartnäckig, und ebenso hartnäckig schwieg er, wenn ihm ein von Wronski gemaltes Bild gezeigt wurde; Golenischtschews Auseinandersetzungen waren ihm offenbar lästig, und er erwiderte ihm nichts darauf.
Überhaupt mißfiel ihnen Michailow, als sie ihn näher kennenlernten, mit seinem zurückhaltenden, unfreundlichen, beinahe feindlichen Wesen recht sehr, und sie waren froh, als die Sitzungen zu Ende waren, das schöne Bildnis in ihren Händen blieb und er nicht mehr zu ihnen kam.
Golenischtschew war der erste, der einen Gedanken aussprach, der ihnen schon allen durch den Kopf gegangen war: nämlich, daß Michailow einfach auf Wronski neidisch sei.
»Und gesetzt auch, daß er dich nicht beneidet, da es ihm ja an Talent nicht mangelt, so ärgert er sich doch jedenfalls darüber, daß ein reicher, hoffähiger Mann, noch dazu ein Graf (auf die [303] höheren Stände haben diese Leute ja alle einen Ingrimm), ohne besondere Mühe dasselbe, wenn nicht Besseres leiste wie er, der dieser Tätigkeit sein ganzes Leben gewidmet hat. Aber die Hauptsache bleibt doch immer die Bildung, und daran fehlt es ihm.«
Wronski nahm Michailow in Schutz; aber im Grunde seines Herzens glaubte er es selbst, weil nach seiner Anschauung jemand, der einer anderen, niedrigeren Schicht angehörte, notwendigerweise neidisch sein mußte.
Die beiden Bildnisse von Anna hätten, da es sich um ein und denselben Gegenstand handelte und dieser sowohl von ihm wie von Michailow nach der Natur gemalt war, ihm den Unterschied zeigen müssen, der zwischen seiner und Michailows Kunst bestand; aber er sah diesen Unterschied nicht. Nur nachdem Michailow Anna gemalt hatte, hörte er auf, an seinem eigenen Bildnis von Anna zu malen, indem er erklärte, das sei nun nicht mehr nötig. Aber an seinem Bilde aus dem mittelalterlichen Leben arbeitete er weiter. Und er selbst, auch Golenischtschew, namentlich aber Anna fanden, daß dieses Bild sehr gut wurde, weil es mit berühmten Kunstwerken weit mehr Ähnlichkeit hatte als jenes große Gemälde Michailows.
Inzwischen war Michailow, obwohl es ihm eine überaus reizvolle Aufgabe gewesen war, Anna zu malen, noch froher als seine Gönner, als die Sitzungen aufhörten und er Golenischtschews Gerede über Kunst nicht mehr anzuhören und an Wronskis Malerei nicht mehr zu denken brauchte. Er wußte, daß man Wronski nicht verbieten könne, zu seinem Vergnügen zu malen; er wußte, daß dieser und alle Kunstliebhaber berechtigt waren zu malen, was ihnen nur beliebte; aber trotzdem hatte er eine unangenehme Empfindung dabei. Man kann jemandem nicht verbieten, sich eine große Wachspuppe zu machen und sie zu küssen. Aber wenn dieser Mensch mit seiner Puppe ankäme und sich vor einen Verliebten hinsetzte und nun anfinge, seine Puppe so zu liebkosen, wie der Verliebte sein geliebtes Mädchen liebkost, so würde das dem Verliebten widerwärtig sein. Dieselbe unangenehme Empfindung hatte Michailow beim Anblick von Wronskis Malerei: es war ihm lächerlich, und er ärgerte sich, und er hatte Mitleid, und er fühlte sich verletzt.
Wronskis Begeisterung für die Malerei und das Mittelalter dauerte nicht lange. Er besaß doch so viel Geschmack für Malerei, daß er es nicht über sich brachte, sein Bild fertigzumalen. Es blieb unvollendet stehen. Er hatte die dunkle Empfindung, daß seine Mängel, die jetzt beim Anfang der Arbeit sich nur wenig spürbar machten, immer stärker hervortreten würden, wenn er [304] in der Arbeit fortführe. Es ging ihm ähnlich wie Golenischtschew, der auch fühlte, daß er der Welt nichts Bedeutendes mitzuteilen habe, und sich beständig selbst vorredete, seine Idee sei noch nicht ausgereift, er müsse sie noch austragen, müsse Material sammeln. Aber während Golenischtschew im Gefühl seiner geringen Leistungsfähigkeit sich abquälte und verbittert wurde, war es bei Wronski nach seinem ganzen Wesen unmöglich, daß er sich selbst zu täuschen gesucht oder sich abgequält hätte oder gar verbittert worden wäre. Mit der ihm eigenen Entschiedenheit des Charakters hörte er ohne ein Wort der Erklärung oder der Rechtfertigung auf, sich mit der Malerei zu beschäftigen.
Aber ohne diese Beschäftigung erschien sowohl ihm wie auch Anna, die über seinen Verzicht erstaunt war, das Leben in dieser italienischen Stadt so langweilig, der Palazzo war auf einmal so augenfällig alt und schmutzig geworden, die Flecken auf den Gardinen, die Spalten in den Fußböden, die abgestoßenen Stellen im Stuck der Karniese sahen so widerwärtig aus, dieser ewige Golenischtschew, dieser ewige italienische Professor und diese ewigen deutschen Reisenden waren ihnen so langweilig geworden, daß eine Änderung ihrer Lebensweise ein Ding der Notwendigkeit wurde. Sie beschlossen nach Rußland zu fahren, aufs Land. In Petersburg beabsichtigte Wronski, die Erbteilung mit seinem Bruder vorzunehmen, und Anna, ihren Sohn wiederzusehen. Den Sommer aber wollten sie auf Wronskis großem Familiengut verleben.
Ljewin war nun fast drei Monate verheiratet. Er war glücklich, aber in ganz anderer Weise, als er es erwartet hatte. Auf Schritt und Tritt begegnete ihm bald eine Enttäuschung gegenüber seinen früheren Träumereien, bald ein neues, unerwartetes Entzücken. Er war glücklich; aber nachdem er jetzt in das Eheleben eingetreten war, sah er in all und jeder Hinsicht, wie ganz anders es beschaffen war, als er es sich vorgestellt hatte. Er hatte fortwährend die Empfindung wie jemand, der sich von weitem an dem Anblick eines sanft und glücklich dahinfahrenden Kahnes ergötzt hat, nun selbst in diesen Kahn eingestiegen ist. Da sieht er denn, daß es keineswegs genügt, still und ohne zu schaukeln dazusitzen, sondern daß er auch den Umständen gemäß selbst handeln muß, daß er keinen Augenblick des Zieles seiner Fahrt uneingedenk sein darf, und daß sich unter seinen Füßen Wasser befindet, und daß er rudern muß, und daß das ungewohnten Händen weh tut, und daß das zwar sehr leicht [305] anzusehen, aber, wenn es auch sehr viel Freude macht, doch recht schwer zu tun ist.
Oft, wenn er als Junggeselle auf das Eheleben anderer Leute hingeblickt hatte, auf die kleinlichen Sorgen, die Streitigkeiten, die Eifersüchteleien, dann hatte er im stillen nur geringschätzig gelächelt. In seinem eigenen künftigen Eheleben konnte seiner festen Überzeugung nach nichts Derartiges vorkommen; ja er war der Meinung gewesen, auch die gesamten äußeren Formen des Ehelebens würden bei ihm mit Notwendigkeit in allen Stücken ganz anders sein. Und statt dessen gestaltete sich nun sein eigenes Zusammenleben mit seiner Frau zu seiner Überraschung ganz und gar nicht in irgendwelcher besonderen Weise; im Gegenteil, sein ganzes Eheleben setzte sich aus denselben nichtigen Kleinigkeiten zusammen, die er früher so geringgeschätzt hatte, die aber jetzt, ganz gegen seinen Willen, eine außerordentliche, unbestreitbare Bedeutung erlangt hatten. Und Ljewin sah, daß die richtige Erledigung aller dieser Kleinigkeiten durchaus nicht so leicht war, wie er sich das gedacht hatte. Obgleich er gemeint hatte, die zutreffendsten Begriffe vom Eheleben zu haben, hatte er sich, wie alle Männer, die Vorstellung gemacht, dieses bestehe lediglich darin, daß man sich dem Genusse seiner Liebe hingebe, den nichts beeinträchtigen dürfe und von dem man sich durch kleinliche Sorgen nicht dürfe ablenken lassen. Er würde, so hatte er sich das ausgemalt, zuerst seine Arbeit verrichten und sich dann in den Armen der Liebe davon erholen. Seine Gattin aber würde nur die eine Aufgabe haben, sich lieben zu lassen. Aber wie alle Männer hatte er vergessen, daß auch sie werde arbeiten müssen. Und er war ganz erstaunt, daß sie, diese poetische, reizende Kitty, gleich in den ersten Wochen, ja gleich in den ersten Tagen ihres Ehelebens es fertigbrachte, an Tischtücher, an Möbel, an Matratzen für die Fremdenstuben, an ein Präsentierbrett, an den Koch, an das Mittagessen und ähnliche Dinge zu denken und all so etwas zu überlegen und zu besorgen. Schon als er noch Bräutigam war, hatte ihn die Bestimmtheit überrascht, mit der sie eine Reise ins Ausland ablehnte und sich dafür aussprach, gleich nach dem Gute überzusiedeln, als wüßte sie schon Bescheid, was nötig sei; wie hatte sie nur außer an ihre Liebe auch noch an andere Dinge denken können! Das hatte ihn damals gekränkt, und auch jetzt verletzte sie ihn manchmal durch ihre kleinlichen Sorgen und Geschäfte. Aber er sah, daß ihr das ein Herzensbedürfnis war. Und obwohl er nicht recht verstand, wozu diese eifrige Tätigkeit nötig und nütze sei, und sich darüber lustig machte, so konnte er doch, da er seine Frau liebte, nicht umhin, auf ihre Tätigkeit [306] mit Freude und Bewunderung zu blicken. Er machte sich darüber lustig, wie eifrig sie die aus Moskau mitgebrachten Möbel aufstellte, wie sie ihr Zimmer und das seinige neu einrichtete, wie sie die Gardinen aufhängte, wie sie die künftigen Fremdenzimmer und das Zimmer für Dolly zurechtmachte, wie sie für ihre Kammerjungfer eine Stube ausstattete, wie sie dem alten Koch Anweisungen für das Mittagessen gab und wie sie sich in längere Auseinandersetzungen mit Agafja Michailowna einließ, der sie die Verwaltung der Vorratskammer abnehmen wollte. Er sah, daß der alte Koch lächelte und sie mit Wohlgefallen betrachtete, während er ihre ungeschickten, unmöglichen Befehle anhörte; er sah, daß Agafja Michailowna über die neuen Anordnungen der jungen Herrin wegen der Vorratskammer bedenklich und freundlich den Kopf schüttelte; er sah, daß Kitty ganz allerliebst war, wenn sie lachend und weinend zu ihm kam, um sich darüber zu beklagen, daß die Kammerjungfer Mascha immer noch gewohnt sei, sie als das junge Fräulein zu betrachten, und ihr daher niemand recht folgen wolle. All das schien ihm so lieb und nett, aber doch wunderlich, und er meinte, daß es ohne diese materiellen Dinge schöner sein würde.
Er konnte ihr nicht recht nachfühlen, was sie bei dieser Veränderung ihrer Lebensstellung empfand: daß sie früher zu Hause manchmal Appetit auf Kohl mit Kwaß oder auf Konfekt gehabt hatte und sich weder das eine noch das andere hatte beschaffen können, jetzt aber in der Lage war, sich Konfekt haufenweise zu kaufen und Geld auszugeben, soviel sie wollte, und sich Pasteten, und was sie sonst nur von Speisen wünschte, machen zu lassen.
Sie dachte jetzt mit lebhafter Freude an die bevor stehende Ankunft Dollys mit den Kindern, namentlich weil sie jedem der Kinder seine Lieblingssorte Kuchen backen lassen wollte und weil sie hoffte, Dolly würde ihre ganze neue Hauseinrichtung bewundern. Sie wußte selbst nicht, woher es kam und wozu es nötig war, aber die Hauswirtschaft hatte für sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Da sie instinktiv das Herannahen des Frühlings fühlte und wußte, daß auch garstige Regentage nicht ausbleiben würden, so baute sie ihr Nest, so gut sie es verstand, und hatte es eilig, gleichzeitig zu bauen und zu lernen, wie sie es machen müßte.
Kittys Geschäftigkeit um solche kleinlichen Dinge, die zu Ljewins idealer Vorstellung von dem überirdischen Glück der ersten Ehezeit in so starkem Gegensatze stand, war eine der Enttäuschungen, die er erlebte; und zugleich gewährte ihm diese allerliebste Geschäftigkeit, deren Sinn und Zweck er nicht begriff,[307] die er aber nicht umhinkonnte, mit herzlichem Vergnügen zu beobachten, eine neue entzückende Freude.
Eine andere Enttäuschung und Freude waren die Streitigkeiten. Ljewin hatte sich nie vorstellen können, daß zwischen ihm und seiner Frau ein anderer Ton des Verkehrs als ein durchaus zärtlicher, achtungsvoller, liebevoller möglich sei, und nun hatten sie sich gleich in den ersten Tagen so arg gezankt, daß sie ihm gesagt hatte, er liebe sie nicht, er liebe nur sich allein, und unter verzweifeltem Händeringen in Tränen ausgebrochen war.
Dieser erste Streit war daher entstanden, daß Ljewin nach dem neuen Vorwerk geritten und eine halbe Stunde länger vom Hause weggeblieben war; er hatte heimwärts einen näheren Weg reiten wollen und sich dabei verirrt. Auf dem Heimwege dachte er nur an sie, an ihre Liebe, an sein Glück, und je näher er seinem Hause kam, um so heißer wurde seine zärtliche Sehnsucht nach ihr. Er stürmte zu ihr ins Zimmer mit ebenso feuriger, ja mit noch feurigerer Empfindung als damals, da er in das Schtscherbazkische Haus gekommen war, um ihr einen Antrag zu machen. Und ganz unerwartet begegnete er einer finsteren Miene, wie er sie noch nie an ihr gesehen hatte. Er wollte sie küssen; aber sie stieß ihn zurück.
»Was hast du?«
»Du bist ja sehr vergnügt ...«, begann sie, indem sie sich Mühe gab, in ruhigem, bitterem Tone zu sprechen.
Aber kaum hatte sie den Mund geöffnet, als auch die Worte wie ein gehemmter Strom hervorbrachen: Vorwürfe sinnloser Eifersucht und all die törichten Gedanken, von denen sie diese halbe Stunde lang gepeinigt worden war, während sie ohne sich zu rühren am Fenster gesessen hatte. Erst jetzt verstand er zum ersten Male klar, was er damals noch nicht verstanden hatte, als er sie nach der Trauung aus der Kirche führte. Er verstand, daß sie ihm nicht nur nahestand, sondern daß er jetzt nicht mehr wußte, wo sie aufhörte und er anfing. Er erkannte dies an dem schmerzlichen Gefühl, das er in diesem Augenblick empfand, einem Gefühl, als ob er in zwei Teile geteilt würde. Im ersten Augenblick fühlte er sich gekränkt; aber in der gleichen Sekunde fühlte er auch, daß sie ihn gar nicht kränken könne, daß sie und er dieselbe Person seien. Er hatte im ersten Augenblick eine Empfindung, wie wenn jemand plötzlich von hinten einen heftigen Stoß erhält, sich zornig und rachbegierig umdreht, um den Schuldigen zu entdecken, und sich nun überzeugt, daß er sich selbst unversehens gestoßen hat, daß er auf niemand zornig zu sein Anlaß hat und den Schmerz eben ertragen und nach Möglichkeit lindern muß.
[308] In späteren Jahren empfand er all das nie wieder mit solcher Stärke; aber dieses erstemal war der Schmerz so heftig, daß Ljewin lange Zeit seine Fassung nicht wiedergewinnen konnte. Ein natürliches Gefühl verlangte von ihm, daß er sich rechtfertige und ihr ihr Unrecht nachweise; aber er sagte sich, wenn er das täte, so würde er sie dadurch nur noch mehr reizen und den Riß, der die Ursache des ganzen Kummers war, nur noch vergrößern. Ein Gefühl, das ihm durch die Gewohnheit geläufig war, trieb ihn, die Schuld von sich abzuweisen und ihr zuzuschieben; aber ein anderes Gefühl, stärker als jenes, riet ihm, den eingetretenen Riß schnell, so schnell wie nur möglich, wieder auszubessern und ihm keine Zeit zu lassen, sich noch zu erweitern. Eine so ungerechte Beschuldigung auf sich sitzen zu lassen war ja schmerzlich; aber Kitty durch eine Rechtfertigung weh zu tun, das war noch schlimmer. Wie jemand, der im Halbschlaf einen quälenden Schmerz fühlt, so wollte er das, was den Schmerz verursachte, von sich losreißen und wegschleudern und merkte, zur Besinnung kommend, daß das, was den Schmerz verursachte, ein Teil seines eigenen Selbst war. Die Aufgabe konnte nur darin bestehen, dem kranken Teile beim Überstehen des Schmerzes behilflich zu sein, und er bemühte sich, dies zu tun.
Sie versöhnten sich. Kitty, die ihre Schuld eingesehen hatte, wenn sie sie auch nicht zugestand, wurde noch zärtlicher gegen ihn, und beide empfanden ihr Liebesglück doppelt. Aber das verhinderte nicht, daß sich derartige Zusammenstöße wiederholten, und sogar recht oft und bei den unerwartetsten und nichtigsten Anlässen. Diese Zusammenstöße kamen oft daher, daß sie beiderseits noch nicht wußten, was dem andern Herzenssache war, oft aber auch daher, daß sie beide in dieser ersten Zeit häufig schlechter Laune waren. War der eine von ihnen gut gelaunt und der andere schlecht gelaunt, so wurde der Friede nicht gestört; aber wenn zufällig beide mißgestimmt waren, so gingen Zusammenstöße aus so unbegreiflich nichtigen Ursachen hervor, daß sie sich nachher gar nicht mehr erinnern konnten, warum sie eigentlich miteinander gestritten hatten. Freilich war anderseits, wenn sich beide in guter Stimmung befanden, ihre Freude am Leben auch wieder doppelt. Aber doch war diese erste Zeit für sie beide recht schwer.
Während der ganzen ersten Zeit machte sich eine Art von Spannung lebhaft fühlbar, als ob die Kette, durch die sie verknüpft waren, bald nach der einen, bald nach der andern Seite gezogen würde. Überhaupt war dieser Honigmond, das heißt der erste Monat nach der Hochzeit, von dem auf Grund der überlieferten [309] Anschauung Ljewin soviel erwartet hatte, keineswegs honigsüß, sondern er blieb in der Erinnerung der beiden Gatten als die schwerste, beschämendste Zeit ihres Lebens haften. Beide bemühten sich in gleicher Weise im späteren Leben, all die häßlichen, beschämenden Vorfälle dieser krankhaften Zeitspanne, in der sie beide sich selten in normaler Stimmung befunden hatten und selten sie selbst gewesen waren, aus ihrem Gedächtnisse auszulöschen.
Erst im dritten Monat ihrer Ehe, nach ihrer Rückkehr aus Moskau, wohin sie zu einmonatigem Aufenthalt gereist waren, gestaltete sich ihr Leben gleichmäßiger.
Sie waren eben erst aus Moskau zurückgekommen und freuten sich der Stille und Einsamkeit auf dem Gute. Er saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und schrieb. Sie ihrerseits saß in jenem dunkellila Kleid, das sie in den ersten Tagen der Ehe getragen und nun einmal wieder angezogen hatte und das ihm besonders denkwürdig und teuer war, auf dem Sofa, jenem altmodischen Ledersofa, das immer, schon zur Zeit von Ljewins Großvater und Vater, in diesem Zimmer gestanden hatte, und stickte an einer Handarbeit. Er überlegte und schrieb und blieb sich dabei unaufhörlich mit innigem Vergnügen ihrer Gegenwart bewußt. Seine Beschäftigung mit der Gutswirtschaft und mit dem Buche, in dem er die Grundlagen eines neuen Systems der Landwirtschaft vortragen wollte, hatte er nicht aufgegeben; aber wie ihm früher diese Tätigkeit und diese Ideen kleinlich und nichtig erschienen waren im Vergleich mit der Finsternis, die sich über das ganze Leben ausbreitet, ebenso unwichtig und kleinlich kamen sie ihm jetzt vor gegenüber dem hellen Glanze des Glücks, der über das ganze ihm noch bevorstehende Leben ausgegossen lag. Er setzte seine Beschäftigungen fort; aber er fühlte jetzt, daß der Schwerpunkt seiner Neigung nun an einer an deren Stelle lag und daß er infolgedessen für die Sache eine ganz andere, klarere Anschauung gewonnen hatte. Früher hatte er sich gleichsam aus dem Leben in diese Tätigkeit hineingerettet. Früher hatte er die Empfindung gehabt, ohne diese Tätigkeit würde sein Leben gar zu trübe und düster sein. Jetzt dagegen war ihm diese Tätigkeit notwendig, damit sein Leben nicht allzu gleichmäßig hell und glanzvoll sei. Als er wieder zu seinen Papieren gegriffen und das Geschriebene noch einmal durchgelesen hatte, da hatte er zu seiner Freude gefunden, daß [310] die Sache es wert sei, daß er sich weiter mit ihr beschäftige. Viele seiner früheren Ideen erschienen ihm als überflüssig und zu weitgehend; aber anderseits bemerkte er auch, während er die ganze Sache in seinem Gedächtnis wieder auffrischte, mancherlei Lücken und wurde sich darüber klar, wie diese auszufüllen seien. Er schrieb jetzt ein neues Kapitel: über die Ursachen der ungünstigen Lage der Landwirtschaft in Rußland. Er wies nach, daß die Armut in Rußland nicht nur von der ungerechten Verteilung des Grundbesitzes und dem falschen Verwaltungssystem herrühre, sondern daß dazu in letzter Zeit auch die dem Lande in naturwidriger Weise aufgepfropfte äußerliche Zivilisation beigetragen habe, namentlich die Verkehrswege, die Eisenbahnen, die eine Zentralisation in den Städten zur Folge hätten, das Steigen des Luxus und infolgedessen zum Schaden der Landwirtschaft die Entwicklung des Fabrikwesens, des Kreditwesens und in notwendigem Zusammenhange damit des Börsenspiels. Er war der Ansicht, daß, wenn sich in einem Lande der nationale Wohlstand in normaler Weise entwickele, alle diese neuen Erscheinungen erst dann einträten, wenn auf die Landwirtschaft bereits ein erheblicher Teil von Arbeit verwandt sei und die Landwirtschaft in wohlgeordnete oder wenigstens geregelte Verhältnisse gelangt sei; daß der Reichtum eines Landes gleichmäßig anwachsen müsse und namentlich so, daß andere Erwerbszweige die Landwirtschaft nicht überflügelten; daß die Verkehrswege mit dem jeweiligen Zustand der Landwirtschaft in Übereinstimmung gehalten werden müßten und daß bei unserer nicht normalen Ausnutzung des Bodens die nicht durch ein ökonomisches, sondern durch das politische Bedürfnis hervorgerufenen Eisenbahnen verfrüht seien und statt, wie man es erwartet habe, die Landwirtschaft zu heben, sie überflügelt und durch Förderung der Entwicklung des Fabrik- und Kreditwesens zum Stillstand gebracht hätten, und daß, ebenso wie die einseitige und vorzeitige Entwicklung eines Organs bei einem lebenden Wesen der allgemeinen Entwicklung hinderlich sein würde, so auch bei der allgemeinen Entwicklung des Wohlstandes in Rußland das Kreditwesen, die Verkehrswege, die Steigerung der Fabriktätigkeit (Dinge, die in Europa, weil dort zeitgemäß, unzweifelhaft notwendig seien) bei uns nur Schaden angerichtet hätten, da dadurch die wichtigste Tagesfrage, die Reform der Landwirtschaft, in den Hintergrund gedrängt worden sei.
Während er an seinem Buche schrieb, dachte sie daran, mit welch einer gezwungenen Höflichkeit sich ihr Mann gegen den jungen Fürsten Tscharski benommen habe, der ihr am Tage vor der Abreise in recht taktloser Weise den Hof gemacht hatte. ›Er [311] ist ja eifersüchtig!‹ dachte sie. ›Mein Gott, wie allerliebst und wie dumm er ist! Eifersüchtig um meinetwillen! Wenn er wüßte, daß mir alle diese Leute genauso gleichgültig sind wie unser Koch Peter‹, dachte sie, indem sie mit einem ihr selbst seltsam vorkommenden Eigentumsgefühl nach seinem Hinterkopf und seinem roten Halse blickte. ›Obwohl es mir leid tut, ihn von seiner Tätigkeit abzulenken (aber mit der hat es ja auch keine Eile!), so möchte ich doch gar zu gern sein Gesicht sehen. Ob er es wohl fühlt, daß ich zu ihm hinschaue? Ich will, daß er sich umdreht ... Ich will es, nun also!‹ Und sie öffnete die Augen recht weit, in dem Wunsche, dadurch die Wirkung ihres Blickes zu verstärken.
»Ja, diese Erwerbszweige ziehen alle Säfte und Kräfte an sich und verleihen dem nationalen Leben einen trügerischen Glanz«, murmelte er vor sich hin, indem er einen Augenblick aufhörte zu schreiben. Dann merkte er, daß Kitty ihn ansah und dabei lächelte; er sah sich um.
»Was gibt es?« fragte er, gleichfalls lächelnd, und stand auf.
›Er hat sich wirklich umgesehen!‹ dachte sie.
»Nichts, ich wollte nur, daß du dich umsehen möchtest«, antwortete sie. Sie blickte ihn dabei an und suchte zu erkennen, ob er darüber ärgerlich sei oder nicht, daß sie ihn gestört hatte.
»Ach, wie wohl wir uns doch fühlen, nun wir beide wieder allein sind! Das heißt, ich meine, ich fühle mich wohl«, sagte er und trat zu ihr; sein ganzes Gesicht strahlte von einem glückseligen Lächeln.
»Ich fühle mich auch so wohl! Ich fahre nirgends mehr hin, am wenigsten nach Moskau.«
»Woran hast du denn eben gedacht?«
»Ich? Ich dachte ... Nein, nein, geh nur und schreib weiter; laß dich nicht stören!« sagte sie, indem sie die Lippen streng zusammenzog. »Ich habe jetzt auch zu tun; ich muß diese Löchelchen ausschneiden, siehst du wohl?«
Sie nahm die Schere und fing an auszuschneiden.
»Nein, sag mir doch, woran du gedacht hast«, bat er, setzte sich zu ihr und verfolgte die kreisförmige Bewegung der kleinen Schere.
»Ach, woran ich gedacht habe? Ich habe an Moskau gedacht, und an deinen Nacken habe ich gedacht.«
»Wodurch habe ich es verdient, daß gerade mir ein solches Glück zugefallen ist? Es ist doch ordentlich unnatürlich. Es ist gar zu schön!« sagte er und küßte ihr die Hand.
»Ich finde im Gegenteil, je schöner es ist, um so natürlicher ist es.«
[312] »Aber da hast du ja ein Zottelchen!« sagte er, behutsam ihren Kopf herumdrehend. »Ein Zottelchen! Sieh mal, hier! Aber nein, nein, wir wollen uns wieder an unsere Arbeit machen.«
Aber die Arbeit wurde trotzdem nicht mehr fortgesetzt, und sie fuhren wie ertappte Sünder auseinander, als Kusma hereinkam, um zu melden, daß der Tee aufgetragen sei.
»Ist der Bote schon aus der Stadt zurück?« fragte ihn Ljewin.
»Diesen Augenblick ist er gekommen; er packt gerade die Sachen aus.«
»Nun, dann komm nur recht bald«, sagte Kitty zu Ljewin, indem sie aus dem Zimmer ging. »Sonst lese ich die Briefe ohne dich. Und dann wollen wir vierhändig spielen.«
Als er allein geblieben war, legte er seine Hefte in die neue Mappe, die Kitty für ihn gekauft hatte, und wusch sich die Hände in dem neuen Waschbecken mit dem neuen eleganten Zubehör; es waren das lauter Dinge, die mit ihr zusammen hier ihren Einzug gehalten hatten. Ljewin lächelte über die vergnügliche Empfindung, die er dabei hatte, und schüttelte mißbilligend über sie den Kopf; es quälte ihn ein Gefühl, das mit Reue einige Ähnlichkeit hatte. Seine jetzige Lebensweise wies eine Art von beschämender Verweichlichung auf, so etwas Kapaunisches, wie er selbst es zu nennen pflegte. ›Das ist nicht die richtige Lebensweise‹, dachte er. ›Es sind nun schon fast drei Monate vergangen, und ich habe so gut wie nichts getan. Heute ist es beinahe das erstemal gewesen, daß ich mich ernsthaft an die Arbeit gemacht habe, und was habe ich geschafft? Kaum daß ich angefangen hatte, habe ich die Arbeit auch schon wieder liegenlassen. Selbst meine gewohnte Tätigkeit – auch die habe ich fast ganz aufgegeben. In der Wirtschaft gehe und reite ich fast gar nicht mehr umher, bald weil es mir zu schwer wird, Kitty zu verlassen, bald weil ich sehe, daß es ihr ohne mich langweilig ist. Und ich hatte mir gedacht, das Leben vor der Verheiratung, das wäre nur so ein halbes Leben, kaum zu rechnen, und nach der Verheiratung, da finge erst das wahre Leben an. Und nun bin ich fast drei Monate verheiratet und habe noch nie die Zeit so müßig und nutzlos verbracht wie jetzt. Nein, so geht das nicht; ich muß wieder anfangen. Selbstverständlich, sie ist nicht schuld daran. Ihr kann ich keinen Vorwurf machen. Ich hätte selbst fester sein müssen, hätte meine Unabhängigkeit als Mann besser wahren sollen. So aber kann es leicht dahin kommen, daß ich sowohl mich selbst wie auch sie an dieses Leben gewöhne. Selbstverständlich, sie ist nicht schuld daran‹, sagte er zu sich selbst.
Aber nur sehr schwer wird sich ein Unzufriedener enthalten, das, womit er unzufrieden ist, einem andern und namentlich dem, [313] der ihm am nächsten steht, zum Vorwurf zu machen. Und auch bei Ljewin bildete sich die unklare Vorstellung, daß zwar nicht eigentlich Kitty selbst daran schuld sei (schuld sein konnte sie überhaupt an nichts), wohl aber ihre allzu oberflächliche, leichtfertige Erziehung. (›Dieser dumme Laffe, der Tscharski! Sie wollte ihn abweisen, das weiß ich sicher, verstand es aber nicht zu machen.‹) ›Ja, außer für den Haushalt (dieses Interesse besitzt sie wirklich) und für ihre Kleidung und für Handarbeiten hat sie keine ernsthaften Interessen. Sie hat kein Interesse für das, was jetzt doch auch ihre eigene Angelegenheit ist, für die Landwirtschaft und die Bauern, kein Interesse für die Musik, in der sie doch Tüchtiges leistet, kein Interesse für Bücher. Sie tut nichts und fühlt sich dabei vollkommen befriedigt.‹ Ljewin mißbilligte in seinem Innern dieses Verhalten und hatte noch kein Verständnis dafür, daß sie sich so auf die Zeit gewaltiger Tätigkeit vorbereitete, die für sie eintreten mußte, wenn es ihr obliegen würde, zu gleicher Zeit die Frau ihres Mannes zu sein, das Hauswesen zu leiten und Kinder zu gebären, zu säugen und zu erziehen. Er begriff nicht, daß sie das instinktiv vorher wußte und sich in der Zeit der Vorbereitung auf diese furchtbare Arbeitsleistung keinen Vorwurf wegen der wenigen Augenblicke der Sorglosigkeit und des Liebesglückes zu machen brauchte, die sie jetzt genoß, während sie sich fröhlich ihr Nest für die Zukunft baute.
Als Ljewin hinaufkam, saß seine Frau am Teetisch mit dem neuen silbernen Samowar und dem neuen Teegeschirr und las einen Brief von Dolly, mit der sie in beständigem regem Briefwechsel stand. Der alten Agafja Michailowna hatte sie eine Tasse Tee eingegossen und sie an einem kleinen Tischchen Platz nehmen lassen.
»Sehen Sie nur, hier hat mich die gnädige Frau hergesetzt; sie hat mir befohlen, hier bei ihr im Zimmer zu bleiben«, sagte Agafja Michailowna und blickte freundlich lächelnd nach Kitty hin.
Aus diesen Worten der Alten zog Ljewin einen Schluß auf die Lösung des dramatischen Streites, der sich in der letzten Zeit zwischen Agafja Michailowna und Kitty abgespielt hatte. Er sah daraus, daß Kitty trotz der Kränkung, die die alte Haushälterin dadurch erlitten hatte, daß ihr von der jungen Hausfrau die Zügel der Regierung aus der Hand genommen waren, doch den Sieg über Agafja Michailowna davongetragen und sich deren Liebe errungen hatte.
[314] »Da habe ich auch einen an dich gerichteten Brief geöffnet«, sagte Kitty und reichte ihm einen fehlerhaft geschriebenen Brief hin. »Ich glaube, er ist von der Frau, die bei deinem Bruder ist ...«, sagte sie. »Ich habe ihn nicht durchgelesen. Und da ist einer von meinen Eltern und einer von Dolly. Denke dir nur, Dolly ist mit Grigori und Tanja auf einem Kinderball bei Sarmazkis gewesen; Tanja als Marquise.«
Aber Ljewin hörte nicht zu; er griff errötend nach dem Brief von Marja Nikolajewna, der früheren Geliebten seines Bruders Nikolai, und begann ihn zu lesen. Das war schon der zweite Brief, den er von Marja Nikolajewna empfing. Das erstemal hatte sie geschrieben, sein Bruder habe sie ohne ihr Verschulden weggejagt, und mit rührender Schlichtheit hinzugefügt, sie sei zwar jetzt bettelarm, bäte aber um nichts für sich und wünsche für sich nichts; es quäle sie nur der Gedanke, daß Nikolai Dmitrijewitsch bei seiner schwachen Gesundheit ohne sie zugrunde gehen müsse, und daher bäte sie Ljewin, ihn im Auge zu behalten. Jetzt aber teilte sie etwas anderes mit. Sie hatte Nikolai Dmitrijewitsch wiedergefunden, war in Moskau wieder mit ihm zusammengezogen und mit ihm nach der Gouvernementsstadt gereist, wo er eine Anstellung im Staatsdienst erhalten hatte. Aber dort, schrieb sie, hätte er mit seinem Vorgesetzten einen argen Streit gehabt und die Rückfahrt nach Moskau angetreten; unterwegs jedoch sei er so krank geworden, daß er wohl kaum wieder aufkommen werde. »Er spricht immer von Ihnen, und es ist auch kein Geld mehr da.«
»Lies doch einmal; Dolly schreibt auch etwas über dich ...«, begann Kitty lächelnd, hielt aber plötzlich inne, da sie die Veränderung in dem Gesichtsausdrucke ihres Mannes bemerkte. »Was hast du? Was gibt es?«
»Sie schreibt mir, daß mein Bruder Nikolai im Sterben liegt. Ich muß hinfahren.«
Kittys Gesicht änderte sich plötzlich. Der Gedanke an Tanja als Marquise und an Dolly, alles das war mit einem Male verschwunden.
»Wann fährst du?« fragte sie.
»Morgen.«
»Ich möchte auch mitfahren; darf ich?« bat sie.
»Kitty! Aber was soll das heißen!« erwiderte er in vorwurfsvollem Tone.
»Was das heißen soll?« versetzte sie, gekränkt darüber, daß er ihren Wunsch anscheinend mit Abneigung und Mißfallen aufnahm. »Warum sollte ich denn nicht mitfahren? Ich werde dir dabei nicht lästig sein. Ich ...«
[315] »Ich fahre, weil mein Bruder im Sterben liegt«, antwortete Ljewin. »Was hat es für Zweck, daß du ...«
»Was es für Zweck hat? Denselben wie dein Hinfahren.«
›Auch in einem für mich so ernsten Augenblick denkt sie nur daran, daß sie sich hier allein langweilen würde‹, dachte Ljewin. Und dieser Winkelzug in einer so ernsten Angelegenheit ärgerte ihn.
»Es geht nicht«, antwortete er in scharfem Tone.
Agafja Michailowna, die sah, daß es zu einem Streit kommen werde, stellte ihre Tasse leise hin und ging hinaus. Kitty bemerkte das gar nicht. Der Ton, in dem ihr Mann die letzten Worte gesprochen hatte, verletzte sie besonders deswegen, weil aus ihm deutlich hervorging, daß Ljewin ihr das, was sie gesagt hatte, nicht glaubte.
»Und ich sage dir, wenn du fährst, fahre ich mit; unter allen Umständen fahre ich mit«, versetzte sie hastig und zornig. »Warum soll es nicht gehen? Warum sagst du: es geht nicht?«
»Weil ich Gott weiß wohin fahren muß, vielleicht auf sehr schlechten Wegen, und dann die Gasthäuser ... Du würdest mir hinderlich sein«, antwortete Ljewin, der sich bemühte, ruhig zu bleiben.
»Nicht im geringsten. Ich mache keine Ansprüche. Wo du sein kannst, da kann ich auch sein ...«
»Nun, es geht schon deswegen nicht, weil da diese Frauensperson ist, mit der du nicht in Berührung kommen kannst.«
»Ich weiß von nichts und will gar nicht wissen, wer und was da ist. Ich weiß nur, daß der Bruder meines Mannes im Sterben liegt und mein Mann zu ihm hinfährt, und da fahre ich mit meinem Manne, um ...«
»Kitty, ereifere dich nicht! Aber bedenke nur, die Sache ist so ernst, daß es mir schmerzlich sein muß zu denken, daß du dabei eine solche Schwäche von dir mit ins Spiel bringst, wie es die Abneigung gegen das Alleinbleiben ist. Nun, wenn es dir hier allein zu langweilig ist, so fahre doch nach Moskau.«
»Ja, siehst du, so schiebst du mir immer schlechte, gemeine Gedanken unter; immer machst du es so!« rief sie, indem ihr im Gefühl der erlittenen Kränkung und vor Zorn die Tränen in die Augen traten. »Ich habe keinen andern Grund, ich habe keine solche Schwäche, gar nichts habe ich ... Ich fühle einfach, daß es meine Pflicht ist, mit meinem Manne zusammenzubleiben, wenn er Kummer hat; aber du willst mir absichtlich wehe tun, du willst absichtlich nicht verstehen, daß ...«
»Nein, das ist unerträglich! Da ist man ja geradezu ein Sklave!« rief Ljewin, nicht mehr imstande, seinen Ärger zurückzuhalten, [316] und stand auf. Aber im selben Augenblick fühlte er auch schon, daß er sich selbst schlug.
»Warum hast du denn dann geheiratet? Du hättest ja ein freier Mann bleiben können. Warum hast du geheiratet, wenn du es jetzt bereust?« rief sie, sprang auf und lief in das Wohnzimmer.
Als er ihr dorthin folgte, schluchzte sie herzzerbrechend.
Er begann zu ihr zu reden und bemühte sich, die richtigen Worte zu finden, nicht um sie zu überreden, nur um sie zu beruhigen. Aber sie hörte nicht auf ihn und wollte von nichts wissen. Er beugte sich zu ihr herab und ergriff ihre widerstrebende Hand. Er küßte ihre Hand, küßte ihr Haar und dann wieder ihre Hand – sie schwieg immer noch. Aber als er sie mit beiden Händen um das Gesicht faßte und sagte: »Kitty!«, da kam sie auf einmal zur Besinnung, weinte noch ein Weilchen und versöhnte sich dann wieder mit ihm.
Es wurde beschlossen, daß sie am folgenden Tage beide zusammen fahren sollten. Ljewin hatte zu seiner Frau gesagt, er sei überzeugt, daß sie nur deshalb mitzufahren wünsche, um sich nützlich zu erweisen; er hatte zugegeben, daß die Anwesenheit Marja Nikolajewnas bei seinem Bruder nicht als unanständig zu betrachten sei; aber im Grunde des Herzens war er bei dieser Reise mit Kitty und mit sich selbst unzufrieden. Mit ihr war er deshalb unzufrieden, weil sie sich nicht hatte entschließen können, ihn allein wegzulassen, wo es doch nötig war (und wie sonderbar war es ihm zu denken, daß er vor noch ganz kurzer Zeit nicht gewagt hatte, an das Glück zu glauben, daß sie ihn lieben könne, und sich jetzt unglücklich fühlte, weil sie ihn zu sehr liebte!). Und mit sich selbst war er unzufrieden, weil er keine Charakterfestigkeit bewiesen hatte. Noch weniger war er im Grunde seines Herzens mit seiner Frau darin einverstanden, daß die Anwesenheit jener Frauensperson, die bei seinem Bruder war, sie ja gar nichts angehe, und er dachte mit Schrecken an alle die Zwischenfälle, die dadurch veranlaßt werden konnten. Schon allein der Gedanke, daß seine Frau, seine Kitty, in ein und demselben Zimmer mit einer ehemaligen Dirne sein solle, ließ ihn vor Widerwillen und Entsetzen zusammenzucken.
Das Gasthaus der Gouvernementsstadt, in dem Nikolai Ljewin krank lag, war eines jener Provinzhotels, die ursprünglich nach dem modernen, vervollkommneten Zuschnitt mit den besten Absichten [317] in bezug auf Reinlichkeit, Bequemlichkeit und sogar Vornehmheit eingerichtet worden sind, sich aber dann durch das Publikum, das sie besucht, außerordentlich schnell in schmutzige Herbergen, immer noch mit dem trügerischen Firnis moderner Vervollkommnungen, verwandeln und eben durch diesen trügerischen Firnis sich noch übler ausnehmen als die altmodischen Gasthäuser, die einfach schmutzig sind. Dieses Gasthaus war bereits bei diesem Entwicklungszustande angelangt; der alte, verabschiedete Soldat in seiner schmutzigen Uniform, der an der Haustür eine Zigarette rauchte und einen Pförtner vorstellen sollte, und die gußeiserne, durchbrochene, düstere, unerfreuliche Treppe, und der Kellner in schmutzigem Frack mit seinem ungehobelten Wesen, und der Speisesaal mit dem verstaubten Strauß aus Wachsblumen als Tischschmuck, und der Schmutz, der Staub und die überall sichtbare Nachlässigkeit, und dazu noch eine gewisse neumodische, eisenbahnmäßige, selbstzufriedene Geschäftigkeit in diesem Gasthause; all das wirkte auf Ljewin und seine Frau nach dieser ersten Zeit ihres Ehelebens überaus abstoßend, namentlich auch, weil der trügerische Eindruck, den das Gasthaus zunächst machte, ganz und gar nicht zu der Wirklichkeit stimmte, die sie dann vorfanden.
Wie immer, stellte sich nach der Frage, zu welchem Preise sie ein Zimmer wünschten, heraus, daß überhaupt kein einziges ordentliches Zimmer frei war: ein gutes Zimmer hatte ein Eisenbahnrevisor inne, ein anderes ein Rechtsanwalt aus Moskau, ein drittes die Fürstin Astafjewa, die von ihrem Landgut in die Stadt gekommen war. Verfügbar war augenblicklich nur ein einziges, schmutziges Zimmer; man stellte in Aussicht, daß das daneben gelegene zum Abend frei werden würde. Ljewin war recht ärgerlich auf seine Frau, weil eingetroffen war, was er erwartet hatte, nämlich daß er im Augenblick der Ankunft, wo er in höchster Angst und Aufregung um das Befinden seines Bruders war, für Kittys Unterkunft sorgen mußte, statt unverzüglich zu Nikolai hinzueilen; in solcher Stimmung führte er sie in das ihnen angewiesene Zimmer.
»Geh nur, geh nur!« sagte sie und sah ihn mit einem schüchternen, schuldbewußten Blick an.
Er ging schweigend aus der Tür und stieß draußen sofort auf Marja Nikolajewna, die von seiner Ankunft gehört, aber nicht gewagt hatte, zu ihm ins Zimmer hineinzugehen. Sie sah noch ganz ebenso aus, wie er sie in Moskau gesehen hatte: dasselbe wollene Kleid und die nackten Arme und der nackte Hals und dasselbe gutmütig stumpfe, etwas voller gewordene, pockennarbige Gesicht.
[318] »Nun, wie steht es? Wie geht es ihm?«
»Sehr schlecht. Er wird nicht durchkommen. Er hat immer auf Sie gewartet Er ... Sie sind mit Ihrer Frau Gemahlin hier?«
Ljewin begriff im ersten Augenblicke nicht, was sie in solche Verlegenheit versetzte; aber sie klärte ihn sofort darüber auf.
»Ich will fortgehen, ich gehe in die Küche«, sagte sie. »Er wird sich sehr freuen. Er hat viel von ihr gehört und kennt sie und erinnert sich ihrer vom Auslande her.«
Ljewin verstand nun, daß sie sich über seine Frau beunruhigte, und wußte nicht, was er ihr antworten sollte.
»Kommen Sie, wir wollen zu ihm gehen!« sagte er.
Aber kaum hatte er sich in Bewegung gesetzt, als sich die Tür seines Zimmers öffnete und Kitty herausblickte. Ljewin errötete vor Scham und vor Ärger über seine Frau, die sich und ihn in eine so peinliche Lage brachte; aber Marja Nikolajewna errötete noch mehr, so sehr, daß ihr beinahe die Tränen kamen. Sie krümmte sich ganz zusammen, faßte mit beiden Händen die Zipfel ihres Tuches und wickelte sie mit ihren roten Fingern hin und her; sie wußte nicht, was sie sagen und was sie tun sollte.
Im ersten Augenblick sah Ljewin den Ausdruck lebhafter Neugier in dem Blick, mit dem Kitty diese ihr unbegreifliche, furchtbare Frauensperson betrachtete; aber das dauerte nur einen Augenblick.
»Nun, wie steht es? Wie befindet er sich?« wandte sie sich an ihren Mann und dann auch an Marja Nikolajewna.
»Hier auf dem Flur können wir doch nicht darüber reden!« sagte Ljewin und blickte ärgerlich zu einem Herrn hin, der gerade im Schlenderschritt, anscheinend nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, den Flur entlangging.
»Nun, dann kommen Sie herein«, sagte Kitty, zu Marja Nikolajewna gewendet, die ihre Fassung wiedergewonnen hatte; aber als sie das betroffene Gesicht ihres Mannes bemerkte, fügte sie hinzu: »Oder geht nur hin und laßt mich dann rufen.« Damit kehrte sie in das Zimmer zurück; Ljewin aber ging zu seinem Bruder.
Was er dort sah und auch was er dort empfand, entsprach in keiner Weise seiner Erwartung. Er hatte erwartet, wieder denselben Zustand der Selbsttäuschung vorzufinden, der, wie er gehört hatte, bei Schwindsüchtigen so oft vorkommt und der sich im Herbste, als sein Bruder ihn besuchte, in so auffälligem Grade gezeigt hatte. Er hatte erwartet, die körperlichen Anzeichen des nahenden Todes zwar noch schärfer ausgeprägt zu finden als damals, eine noch größere Schwäche, eine noch größere Magerkeit, aber doch im ganzen denselben Zustand. Er hatte erwartet, [319] daß er selbst dasselbe Gefühl des Schmerzes über den bevorstehenden Verlust des geliebten Bruders und dasselbe Gefühl des Schreckens vor dem Tode empfinden werde, das er damals empfunden hatte, nur in noch höherem Grade. Darauf hatte er sich gefaßt gemacht; aber er fand etwas ganz anderes.
In einem kleinen, schmutzigen Zimmer, dessen angestrichenes Wandgetäfel arg vollgespuckt war und durch dessen dünne Wand man ein nebenan geführtes Gespräch hören konnte, in einer von dem erstickenden Geruch unsauberer Dinge erfüllten Luft, lag auf einem von der Wand abgerückten Bett ein in eine Decke eingehüllter Körper. Der eine Arm dieses Körpers befand sich oberhalb der Decke, und die gewaltig große, einer Harke ähnliche Hand war in unbegreiflicher Weise an einen dünnen, vom Anfang bis zur Mitte gleich starken, langen Stock befestigt. Der Kopf lag mit der Seite auf dem Kissen. Dem eintretenden Konstantin Ljewin waren die von Schweiß durchtränkten spärlichen Haare an der Schläfe und die von beinah durchsichtiger Haut straff überzogene Stirn sichtbar.
›Es ist unmöglich, daß dieser entsetzliche Körper mein Bruder Nikolai sein soll‹, dachte er. Aber er trat näher heran und erblickte das Gesicht, und nun war kein Zweifel mehr möglich. Trotz der furchtbaren Veränderung, die mit diesem Gesicht vorgegangen war, brauchte Konstantin nur diese lebhaften, zu dem Eintretenden aufschauenden Augen zu sehen und die schwache Bewegung des Mundes unter dem zusammenklebenden Schnurrbart wahrzunehmen, um sich von der entsetzlichen Tatsache zu überzeugen, daß dieser Leichnam sein noch lebender Bruder war.
Die glänzenden Augen blickten den eintretenden Bruder ernst und vorwurfsvoll an. Und durch diesen Blick wurde sofort festgestellt, was jeder der beiden dem andern gegenüber empfand. Konstantin las sofort den Vorwurf in diesem starr auf ihn gerichteten Blick und fühlte eine Art von Beschämung über sein eigenes Glück.
Als Konstantin seine Hand ergriff, lächelte Nikolai. Es war nur ein ganz leises, kaum wahrnehmbares Lächeln, und trotz des Lächelns trat in dem strengen Ausdruck der Augen keine Veränderung ein.
»Du hast wohl nicht erwartet, mich so zu finden«, brachte er mit Anstrengung hervor.
»Ja ... nein«, antwortete Konstantin, der sich in den Worten verwirrte. »Warum hast du mir nur nicht früher Nachricht zukommen lassen, ich meine um die Zeit, wo ich mich verheiratete? Ich habe überall Nachforschungen nach dir angestellt.«
[320] Er mußte reden, nur um nicht zu schweigen; aber er wußte nicht, was er sagen sollte, um so weniger, da sein Bruder nicht antwortete, sondern ihn immer nur mit unverwandten Augen anblickte und offenbar den wahren Sinn eines jeden Wortes zu ergründen suchte. Konstantin teilte ihm mit, daß seine Frau mitgekommen sei. Nikolai drückte seine Freude darüber aus, fügte aber hinzu, er fürchte, sie durch seinen Zustand zu erschrecken. Es trat ein Stillschweigen ein. Auf einmal geriet Nikolai in Bewegung und begann zu sprechen. Nach dem Ausdruck seines Gesichtes hatte Konstantin etwas besonders Bedeutsames, Wichtiges erwartet; aber Nikolai redete nur von seiner Gesundheit. Er schalt auf den Arzt, bedauerte, daß eine gewisse Moskauer Berühmtheit nicht da sei, und Konstantin merkte, daß er immer noch hoffte, wieder gesund zu werden.
Den ersten Augenblick, da Nikolai wieder schwieg, benutzte Konstantin, um aufzustehen; er wollte wenigstens für einen Augenblick diese qualvollen Empfindungen loswerden. Er sagte, er wolle gehen und seine Frau holen.
»Nun schön, und ich will hier erst noch rein machen lassen. Es ist hier schmutzig und schlechte Luft, glaube ich. Marja, räume hier auf«, sagte der Kranke mit Anstrengung. »Und wenn du aufgeräumt hast, dann geh hinaus«, fügte er mit einem fragenden Blick nach seinem Bruder hinzu.
Konstantin antwortete nicht. Als er auf den Flur hinausgetreten war, blieb er stehen. Er hatte gesagt, er wolle seine Frau holen; aber jetzt, wo er sich Rechenschaft gab über die Empfindung, die ihn erfüllte, entschied er sich dafür, ihr im Gegenteil zuzureden, daß sie von einem Besuch bei dem Kranken Abstand nehmen möchte. ›Wozu soll sie dieselbe Qual ausstehen wie ich?‹ dachte er.
»Nun, wie steht es? Wie ist es mit ihm?« fragte Kitty mit ängstlichem Gesichte.
»Ach, es ist furchtbar, ganz furchtbar! Warum bist du nur mit hergekommen?« antwortete Konstantin.
Kitty schwieg einige Sekunden und blickte ihren Mann schüchtern und mitleidig an; dann trat sie zu ihm und faßte mit beiden Händen seinen Ellbogen.
»Konstantin, führe mich zu ihm; zu zweien werden wir es leichter tragen. Führe du mich nur zu ihm hin; bitte, führe mich zu ihm hin, und dann kannst du ja selbst hinausgehen«, bat sie. »Du mußt doch einsehen, daß ich weit schwerer leide, wenn ich nur dich sehe und nicht ihn. Dort werde ich vielleicht dir und ihm nützlich sein können. Bitte, bitte, erlaube es!« flehte sie ihren Mann an, als ob das Glück ihres Lebens davon abhinge.
[321] Konstantin mußte ihr nachgeben; sobald er seine Fassung wiedergewonnen hatte, ging er mit Kitty zu seinem Bruder; Marja Nikolajewna hatte er nun vollständig vergessen.
Leicht auftretend, ihren Mann beständig anblickend und ihm ein tapferes, teilnahmsvolles Gesicht zeigend, ging Kitty in das Zimmer des Kranken und schloß, indem sie sich ohne Hast umwandte, geräuschlos die Tür. Mit unhörbaren Schritten trat sie schnell an das Lager des Kranken heran, und nachdem sie so herumgegangen war, daß er den Kopf nicht zu wenden brauchte, nahm sie sofort seine große, skelettartige Hand in ihre frische, jugendliche, drückte sie und begann mit jener nur den Frauen eigenen teilnahmsvollen, stillen Lebhaftigkeit, die nichts Verletzendes hat, mit ihm zu sprechen.
»Wir sind uns schon in Soden begegnet, aber ohne miteinander bekannt zu werden«, sagte sie. »Das haben Sie wohl nicht gedacht, daß ich Ihre Schwägerin werden würde?«
»Sie hätten mich wohl nicht wiedererkannt?« fragte er mit einem hellen Lächeln, das bei ihrem Kommen sein Gesicht überzogen hatte.
»O doch, doch, ich hätte Sie erkannt. Wie lieb von Ihnen, daß Sie uns benachrichtigt haben! Es ging kein Tag vorüber, ohne daß Konstantin an Sie gedacht und sich um Sie beunruhigt hätte.«
Aber die freudige Erregung hielt bei dem Kranken nicht lange an.
Sie hatte noch nicht ausgeredet, da trat auf sein Gesicht wieder der strenge, vorwurfsvolle Ausdruck des Neides, den der Sterbende gegen den Lebenden empfindet.
»Ich fürchte, Sie sind hier nicht gerade sehr gut aufgehoben«, sagte sie, indem sie sich von seinem unverwandten starren Blicke abwandte und sich im Zimmer umsah. »Wir sollten den Wirt um ein anderes Zimmer ersuchen«, sagte sie zu ihrem Mann, »auch schon, um einander näher zu sein.«
Konstantin konnte seinen Bruder nicht ruhig ansehen; er brachte es nicht fertig, sich in dessen Gegenwart natürlich und ruhig zu benehmen. Sobald er in das Zimmer des Kranken trat, überzog, ohne daß er es selbst recht merkte, eine Art von Nebel seine Augen und sein Wahrnehmungsvermögen, so daß er die Einzelheiten in dem Zustande seines Bruders nicht bemerkte und nicht erkannte. Er empfand den furchtbaren Geruch und [322] sah den Schmutz und die Unordnung und Nikolais qualvolle Lage und hörte sein Stöhnen und sagte sich, daß es hier keine Hilfe mehr gebe. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, alle Einzelheiten in dem Zustand des Kranken festzustellen, darüber nachzudenken, wie dieser Körper dort unter der Decke lag, in welcher gekrümmten Haltung diese ausgemergelten Unterschenkel und Hüften und dieser magere Rücken gelagert seien und ob es nicht irgendwie möglich sei, sie besser zu lagern, etwas zu tun, damit der Kranke, wenn es ihm dadurch auch nicht eigentlich besser ginge, es doch nicht ganz so schlimm habe. Es lief ihm kalt über den Rücken, sobald er an all diese Einzelheiten zu denken anfing. Er war, ohne mehr irgendwie zu zweifeln, davon überzeugt, daß sich weder für die Verlängerung von Nikolais Leben noch für die Linderung seiner Leiden etwas tun lasse. Aber der Kranke spürte es heraus, daß sein Bruder jede Hilfe für unmöglich erachtete, und das machte ihn gereizt. Und Konstantin fühlte, wie der Druck, der auf seinem Herzen lag, dadurch noch schwerer wurde. Es war für ihn eine Qual, in dem Zimmer des Kranken zu sein, und nicht da zu sein eine noch größere. Unter allerlei Vorwänden ging er beständig hinaus und kam dann wieder herein, da er nicht imstande war, allein zu bleiben.
Kitty dagegen dachte, fühlte und handelte ganz anders. Beim Anblick des Kranken hatte sie ein herzliches Mitleid empfunden. Und dieses Mitleid hatte in ihrer Frauenseele durchaus nicht ein Gefühl des Entsetzens und des Ekels hervorgerufen wie bei ihrem Manne, sondern vielmehr ein Bedürfnis zu handeln, sich über alle Einzelheiten seines Zustandes zu unterrichten und ihm zu helfen. Und da sie nun an ihrer Pflicht, zu helfen, nicht den geringsten Zweifel hatte, so zweifelte sie auch nicht an der Möglichkeit der Hilfe und machte sich ungesäumt ans Werk. Dieselben Einzelheiten, die ihren Mann in Schrecken versetzten, wenn er auch nur an sie dachte, wurden sofort ein Gegenstand ihrer eifrigen Aufmerksamkeit. Sie ließ einen Arzt holen, schickte nach der Apotheke, ordnete an, daß das Mädchen, das sie vom Gute mitgebracht hatte, mit Marja Nikolajewna zusammen das Zimmer ausfegen, Staub wischen, die Wäsche waschen sollte; einzelnes wusch und spülte sie auch selbst und legte ihm eine Bettflasche unter die Bettdecke. Auf ihre Anordnung wurde ein anderes Gerät in das Krankenzimmer hereingebracht und wieder entfernt. Sie selbst ging mehrmals nach ihrem Zimmer und holte, ohne sich um die begegnenden Herren zu kümmern, Laken, Bezüge, Handtücher und Hemden.
Der Kellner, der im Speisesaal einigen Ingenieuren das Mittagessen auftrug, kam mehrere Male auf Kittys Klingeln mit ärgerlichem [323] Gesicht herbeigelaufen, konnte aber doch nicht umhin, ihre Weisungen auszuführen, da sie sie mit einer solchen freundlichen Eindringlichkeit erteilte, daß es einfach unmöglich war, anders von ihr loszukommen. Konstantin war mit alledem nicht einverstanden; er glaubte nicht, daß der Kranke davon irgendwelchen Nutzen habe. Am meisten aber fürchtete er, der Kranke könnte ärgerlich werden. Indes war der Arme zwar anscheinend dagegen gleichgültig, ärgerlich jedoch wurde er nicht, sondern er schämte sich nur; und im Grunde hatte er doch ein gewisses Gefühl für das, was Kitty an ihm tat. Als Konstantin vom Arzt zurückkehrte, zu dem Kitty ihn geschickt hatte, und die Tür öffnete, fand er den Kranken gerade in dem Augenblick, wo ihm auf Kittys Anordnung die Wäsche gewechselt wurde. Der lange, weiße, skelettartige Rücken mit den großen, herausragenden Schulterknochen und den hervorstehenden Rippen und Wirbeln war entblößt, und Marja Nikolajewna und der Kellner hatten den Ärmel des Hemdes in falsche Lage gebracht und konnten den langen herabhängenden Arm nicht hineinbekommen. Kitty, die hinter Konstantin eilig die Tür wieder geschlossen hatte, sah nicht hin; aber der Kranke stöhnte auf, und da ging sie rasch zu ihm.
»Ihr müßt schneller machen«, sagte sie.
»Kommen Sie nicht her«, sagte der Kranke ärgerlich, »ich werde schon selbst ...«
»Was sagen Sie?« fragte ihn Marja Nikolajewna.
Aber Kitty hatte ihn verstanden und begriffen, daß er sich schäme und es ihm unangenehm sei, in ihrer Gegenwart nackt zu sein.
»Ich sehe gar nicht hin, ich sehe gar nicht hin!« sagte sie, während sie den Arm, wie es sich gehörte, in den Ärmel hineinbrachte. »Und Sie, Marja Nikolajewna, Sie können nach der anderen Seite herumgehen und es da in Ordnung bringen«, fügte sie hinzu.
»Bitte«, wandte sie sich an ihren Mann, »geh doch einmal nach unserm Zimmer; da steckt in meinem kleinen Reisesack ein Fläschchen, du weißt schon, in der Seitentasche; das bring doch her, bitte; unterdessen soll hier vollends aufgeräumt werden.«
Als Konstantin mit dem Fläschchen zurückkam, fand er den Kranken schon wieder gelagert und alles um ihn herum völlig verändert. An die Stelle des beklemmenden üblen Geruches war der Geruch eines mit Parfüm versetzten Essigs getreten, den Kitty, die Lippen vorstreckend und die roten Backen aufblasend, durch ein Röhrchen im Zimmer umhersprühte. Staub war nirgends mehr sichtbar; unter dem Bett lag ein Teppich. Auf einem [324] Tische standen in guter Ordnung mehrere Fläschchen, eine Wasserkaraffe und Gläser; auch lag dort, zu einem Päckchen zusammengelegt, die nötige reine Wäsche und ferner Kittys Handarbeit. Auf einem andern Tisch am Bett des Kranken stand sein Getränk und eine Kerze, dort lagen auch seine Pulver. Der Kranke selbst, gewaschen und gekämmt, lag auf den rein überzogenen, in die Höhe gestellten Kopfkissen, in einem reinen Hemde mit einem weißen Kragen um den unnatürlich dünnen Hals, und blickte mit einem neuen Ausdruck von Lebenshoffnung zu Kitty hin.
Der Arzt, den Konstantin holen gegangen war, im Klub gefunden und zu kommen veranlaßt hatte, war nicht derselbe, der Nikolai bisher behandelt hatte und mit dem dieser so unzufrieden gewesen war. Der neue Arzt holte sein Röhrchen hervor, behorchte den Kranken, schüttelte mit dem Kopfe und verschrieb eine Arznei; dann setzte er in sehr ausführlicher Weise zuerst auseinander, wie diese einzunehmen sei, und dann, welche Diät beobachtet werden müsse. Er empfahl rohe oder nur ganz wenig gekochte Eier und Selterswasser mit frischer Milch von bestimmter Temperatur. Als der Arzt wieder weggegangen war, sagte der Kranke etwas zu seinem Bruder; aber Konstantin verstand nur die letzten Worte: »deine Katja«; jedoch aus dem Blick, mit dem Nikolai nach ihr hinsah, entnahm Konstantin, daß er sie lobte. Dann rief er auch Katja, wie er sie nannte, zu sich heran.
»Mir ist jetzt schon viel besser«, sagte er. »Ja, wenn Sie mich gepflegt hätten, wäre ich schon längst wieder gesund geworden. Wie gut, daß Sie sich meiner annehmen!« Er ergriff ihre Hand und wollte sie an seine Lippen ziehen. Aber wie wenn er fürchtete, dies könne ihr unangenehm sein, brach er diese Bewegung ab, ließ ihre Hand wieder sinken und streichelte sie nur. Kitty nahm seine Hand in ihre beiden Hände und drückte sie.
»Legt mich jetzt auf die linke Seite herum, und dann geht schlafen«, sagte er.
Niemand hatte deutlich gehört, was er gesagt hatte, nur Kitty hatte erfaßt, was er meinte. Sie hatte es verstanden, weil ihre Gedanken fortwährend darauf gerichtet waren, was er wohl gerade nötig haben möge.
»Er möchte auf die andere Seite gelegt werden«, sagte sie zu ihrem Manne. »Er schläft immer auf der andern Seite. Lege du ihn herum; es ist unangenehm, die Dienerschaft dazu zu rufen. Ich bin dazu nicht stark genug. Können Sie es?« wandte sie sich an Marja Nikolajewna.
»Ich fürchte mich«, antwortete diese.
[325] Eine wie entsetzliche Empfindung es auch für Konstantin war, diesen furchtbaren Körper mit den Armen zu umfassen, unter der Bettdecke die entsetzlich entstellten Körperteile zu berühren, von denen er nichts wissen mochte, so machte er doch, sich der Einwirkung seiner Frau fügend, die entschlossene Miene, die sie an ihm kannte, schob die Arme darunter und faßte zu; aber trotz seiner Körperkraft war er von der Schwere dieser ausgemergelten Glieder überrascht. Während er den Kranken herumdrehte und dabei seinen Hals von dessen gewaltig großer, magerer Hand umfaßt fühlte, wendete Kitty schnell und unhörbar das Kopfkissen um, schüttelte es auf, legte den Kopf des Kranken zurecht und strich ihm die spärlichen Haare in Ordnung, die ihm wieder an der Schläfe festklebten.
Der Kranke hielt die Hand des Bruders in seiner Hand fest. Konstantin merkte, daß Nikolai etwas mit dieser Hand tun wollte und sie irgendwohin zog. Beklommenen Herzens gab er nach. Ja, er zog sie an seinen Mund und küßte sie. Konstantin brach in ein solches Schluchzen aus, daß sein ganzer Leib zuckte, und stürzte, nicht imstande, ein Wort zu sagen, aus dem Zimmer.
›Er hat es den Weisen verborgen und den Kindern und Unmündigen geoffenbart‹, dachte Konstantin Ljewin mit Bezug auf seine Frau, als er an diesem Abend mit ihr sprach.
Er dachte an diesen Spruch im Evangelium nicht etwa, weil er sich für einen Weisen gehalten hätte. Für einen Weisen hielt er sich zwar nicht; aber er war doch der bestimmten Überzeugung, daß er klüger sei als seine Frau und als Agafja Michailowna, und er war sich auch bewußt, daß er, sooft er über den Tod nachdachte, dies mit aller Kraft seines Geistes tat. Er wußte auch, daß viele Männer von scharfem Verstande, deren Gedanken über den Tod er gelesen hatte, viel über diesen nachgedacht und dennoch über ihn nicht den hundertsten Teil von dem gewußt hatten, was seine Frau und Agafja Michailowna über ihn wußten. So verschieden auch diese beiden Frauen voneinander waren, Agafja Michailowna und Katja, wie sein Bruder Nikolai sie zu nennen pflegte und wie auch Konstantin sie jetzt besonders gern nannte: in diesem Punkte waren sie einander völlig ähnlich. Beide wußten sie unzweifelhaft, was das Leben war und was der Tod war, und obgleich sie die Fragen, die sich ihm, Konstantin Ljewin, aufdrängten, nicht hätte beantworten können, ja überhaupt nicht verstanden hätten, so hatten sie doch beide [326] keinen Zweifel über das Wesen dieser Erscheinung, des Todes, und hatten über ihn völlig die gleiche Anschauung, nicht nur untereinander, sondern sie teilten diese Auffassung auch mit Millionen von Menschen. Ein Beweis dafür, daß sie mit Bestimmtheit wußten, was der Tod sei, lag darin, daß sie, ohne auch nur eine Sekunde lang im unsichern zu sein, wußten, wie man Sterbende zu behandeln habe, und sich vor ihnen nicht fürchteten. Konstantin Ljewin aber und andere Leute konnten zwar vieles vom Tode sagen, kannten ihn aber offenbar nicht, da sie ihn fürchteten und schlechterdings nicht wußten, wie sie sich Sterbenden gegenüber zu verhalten hätten. Wäre Konstantin jetzt allein bei seinem Bruder Nikolai gewesen, so würde er ihn nur mit Entsetzen angesehen und mit noch größerem Entsetzen auf den Tod gewartet haben; weiter aber hätte er nichts zu tun gewußt.
Ja noch mehr: er wußte nicht einmal, was er sagen, wie er den Sterbenden ansehen, wie er im Zimmer gehen sollte. Von Gegenständen, die dem andern fern lagen, zu reden, das erschien ihm verletzend, das ging unmöglich; und vom Tode und solchen düsteren Dingen zu sprechen, das ging ebensowenig. Zu schweigen war gleichfalls unmöglich. ›Sehe ich ihn an, so wird er, fürchte ich, denken, daß ich sein Aussehen studieren will; sehe ich ihn nicht an, so wird er denken, daß ich andere Gedanken im Kopfe habe; gehe ich auf den Fußspitzen, so wird ihm das nicht recht sein; und mit dem ganzen Fuße aufzutreten scheue ich mich auch.‹ Kitty dagegen dachte offenbar gar nicht an sich selbst und hatte auch keine Zeit dazu; sie dachte an den Kranken, weil sie eben etwas wußte, was Konstantin nicht wußte. Und alles ging ihr gut vonstatten: sie erzählte ihm von sich selbst und von ihrer Hochzeit und lächelte ihm zu und bedauerte ihn und streichelte ihn, sprach von Fällen der Genesung bei der gleichen Krankheit – das ging ihr alles gut vonstatten; folglich wußte sie, was der Tod war. Ein Beweis dafür, daß ihre und Agafja Michailownas Tätigkeit nicht rein triebhaft, vernunftlos war, mußte darin gesehen werden, daß außer der körperlichen Pflege, der Erleichterung der Leiden sowohl Agafja Michailowna wie auch Kitty für einen Sterbenden noch etwas anderes für nötig hielten, etwas Wichtigeres als die körperliche Pflege, etwas, was mit dem ganzen Gebiete des Leiblichen nichts gemein hatte. So hatte Agafja, als sie von jenem verstorbenen alten Knecht sprach, gesagt: »Nun, Gott sei Dank, er hatte das Abendmahl genommen und die Letzte Ölung erhalten; gebe Gott einem jeden einen solchen Tod!« Ganz ebenso hatte Kitty, neben all ihren Sorgen um die Wäsche, um die durchgelegenen Stellen und [327] um das Getränk, gleich an diesem ersten Tage Zeit gefunden, den Kranken von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß er das Abendmahl nehme und die Letzte Ölung empfange.
Als sie von dem Kranken für die Nacht in ihre beiden Zimmer zurückgekehrt waren, saß Konstantin mit gesenktem Kopfe da, ohne zu wissen, was er nun tun sollte. Er dachte nicht an das Abendessen, er dachte nicht daran, sich zum Schlafengehen zurechtzumachen, er überlegte nicht, was sie nun weiter tun müßten; ja er war nicht einmal imstande, mit seiner Frau zu reden; er schämte sich. Kitty hingegen war noch geschäftiger und sogar noch lebhafter als sonst gewöhnlich. Sie ließ Abendessen bringen, packte selbst die Sachen aus, half selbst die Betten zurechtmachen, und vergaß nicht, sie mit Insektenpulver zu bestreuen. Es war an ihr jene Erregung und jene Schnelligkeit des Denkens wahrnehmbar, wie sie sich bei Männern vor einer Schlacht, vor einem Kampfe, in gefährlichen, entscheidenden Augenblicken des Lebens einstellen, in jenen Augenblicken, wo der Mann in unzweifelhafter Weise zeigt, daß er etwas wert ist und daß seine ganze Vergangenheit nicht eine nutzlos verbrachte Zeit, sondern eine Vorbereitung auf diese Augenblicke gewesen ist.
Alles ging ihr rasch von der Hand, und es war noch nicht zwölf Uhr, als alle Sachen bereits ausgepackt und sauber und ordentlich zurechtgelegt waren, und zwar in so eigenartiger Weise, daß diese Hotelzimmer mit ihrer eigenen Häuslichkeit, mit den Zimmern, in denen sie sonst waltete, eine gewisse Ähnlichkeit erhalten hatten: die Betten waren bereit, die Bürsten, Kämme und Spiegel zur Hand gelegt, Tücher über die Waschtische gebreitet.
Konstantin hatte die Vorstellung, daß es unverzeihlich sei, jetzt zu essen, schlafen zu gehen, ja selbst zu reden, und fand, daß jede seiner Bewegungen unpassend herauskam. Sie dagegen legte ihre Bürstchen zurecht, machte das aber so, daß für niemand etwas Verletzendes darin liegen konnte.
Zu essen jedoch waren sie beide nicht imstande und konnten, obwohl sie das Schlafengehen noch lange hinausgeschoben hatten, auch dann lange Zeit nicht einschlafen.
»Ich freue mich sehr, daß ich ihn überredet habe, morgen die Letzte Ölung zu empfangen«, sagte sie, während sie in der Nachtjacke vor ihrem zusammenlegbaren Spiegel saß und mit einem dichten Kamm ihr weiches, duftiges Haar auskämmte. »Ich habe das noch nie mit angesehen; aber ich weiß, daß dabei Gebete für die Genesung gesprochen werden; Mama hat es mir gesagt.«
[328] »Meinst du denn wirklich, daß er wieder gesund werden kann?« fragte Konstantin und blickte auf den schmalen Scheitel hinten an ihrem rundlichen Köpfchen, der beständig verschwand, sobald sie den Kamm nach vorn führte.
»Ich habe den Arzt gefragt. Er sagte, er könne höchstens noch drei Tage leben. Aber können denn die Ärzte so etwas wissen? Jedenfalls freue ich mich sehr, daß ich ihn dazu überredet habe«, sagte sie, indem sie unter ihrem Haar hervor mit einem schrägen Blick nach ihrem Manne hinsah. »Möglich ist alles«, fügte sie mit jenem besonderen, ein wenig listigen Ausdruck hinzu, der immer auf ihrem Gesicht erschien, sobald sie von religiösen Dingen sprach.
Nach ihrem Gespräch über Religion, damals als sie noch Braut und Bräutigam waren, hatten weder er noch sie jemals wieder ein Gespräch über diesen Gegenstand herbeigeführt; aber sie erfüllte ihre religiöse Pflicht des Kirchenbesuches und des Betens immer mit dem gleichen ruhigen Bewußtsein, daß dies so sein müsse. Trotz seiner Versicherung des Gegenteils war sie fest davon überzeugt, daß er ein ebenso guter und sogar noch besserer Christ sei als sie selbst und daß alles, was er darüber sage, nur zu den komischen Späßen gehöre, die er und andere Männer so gern machten, gerade wie wenn er zu ihrer Handarbeit bemerkte, vernünftige Leute stopften die Löcher und sie schnitte absichtlich welche hinein, und so weiter.
»Ja, diese Frauensperson, diese Marja Nikolajewna, hat es nicht verstanden, alles ordentlich einzurichten«, sagte Konstantin. »Und ... ich muß gestehen, ich freue mich sehr, sehr freue ich mich, daß du mitgekommen bist. Du bist ein solcher Inbegriff von Reinheit, daß ...« Er ergriff ihre Hand, küßte sie aber nicht (ihre Hand zu küssen bei solcher Nähe des Todes schien ihm unschicklich), sondern drückte sie ihr nur, wobei er ihr mit schuldbewußter Miene in die aufleuchtenden Augen blickte.
»Du hättest gar zuviel Qual ausgestanden, wenn du allein hier gewesen wärest«, sagte sie, hob die Arme, die ihre vor Freude errötenden Wangen verdeckten, wickelte am Hinterkopfe ihre Zöpfe zusammen und steckte sie mit Haarnadeln fest. »Nein«, fuhr sie fort, »das hat sie nicht verstanden ... Ich habe zum Glück viel davon in Soden gelernt.«
»Waren denn da so schwer Kranke?«
»Noch schlimmere.«
»Für mich ist es eine schreckliche Empfindung, daß er mir immer so vor Augen steht, wie er in seiner Jugend war. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein prächtiger junger Mensch er war; aber ich hatte damals für ihn kein Verständnis.«
[329] »Doch, ich kann es mir vorstellen, gewiß kann ich es mir vorstellen. Ich bin überzeugt, er und ich, wir wären gute Freunde geworden«, antwortete sie und blickte, erschrocken über das, was sie gesagt hatte, ihren Mann an, und die Tränen traten ihr in die Augen.
»Ja, es ist anders gekommen«, erwiderte er traurig. »Er ist eben einer von den Menschen, von denen man sagt: sie taugen nicht für diese Welt.«
»Aber es stehen uns noch viele schwere Tage bevor; wir müssen uns schlafen legen«, sagte Kitty nach einem Blick auf ihre winzige Uhr.
Am andern Tage nahm der Kranke das Abendmahl und empfing die Letzte Ölung. Während der heiligen Handlung betete Nikolai Ljewin heiß und inbrünstig. Er richtete seine großen Augen unverwandt auf das Heiligenbild, das auf einem mit einem geblümten Tuch bedeckten Spieltische stand, und es lag in ihnen ein so leidenschaftlicher Ausdruck des Flehens und der Hoffnung, daß es für Konstantin schrecklich war, hinzusehen. Er fühlte, daß dieses leidenschaftliche Flehen und Hoffen seinem Bruder den Abschied von diesem Leben, das er so sehr liebte, nur noch schwerer machte. Konstantin kannte seinen Bruder und dessen geistigen Entwicklungsgang; er wußte, daß Nikolais Unglaube nicht daher rührte, daß er es leichter gefunden hätte, ohne Glauben zu leben, sondern daher, daß sein Glaube Schritt für Schritt von den Erklärungen, die die moderne Wissenschaft von den irdischen Erscheinungen gibt, zurückgedrängt worden war, und daher wußte er, daß seine jetzige Rückkehr zum Glauben keine normale war, sich nicht auf dem Wege derselben Denkarbeit vollzog, sondern daß sie nur der Not des Augenblicks, dem Selbsterhaltungstrieb und einer sinnlosen Hoffnung auf Genesung entsprang. Auch wußte Konstantin, daß Kitty durch ihre Erzählungen von Fällen überraschender Genesung, von denen sie gehört habe, diese Hoffnung noch gesteigert hatte. Alles das wußte Konstantin, und es war ihm eine entsetzliche Pein, diesen flehenden, hoffnungsvollen Blick und diese abgemagerte Hand zu sehen, die sich nur mit Anstrengung hob, um auf dieser straff umspannten Stirn, auf diesen vorstehenden Schultern und der hohlen, röchelnden Brust das Zeichen des Kreuzes zu machen, während doch der arme Leib das Leben, um das der Kranke bat, nicht mehr in sich beherbergen konnte. Während der heiligen Handlung tat Konstantin das, was er, der Ungläubige, [330] schon tausendmal getan hatte. Er wandte sich zu Gott und sprach: »Wenn Du lebst und bist, so mache, daß dieser Mensch wieder gesund werde« (diese letzteren Gebetsworte wiederholten sich ja im Laufe der heiligen Handlung oftmals), »und Du wirst ihn und mich retten.«
Nach der Ölung wurde dem Kranken auf einmal viel besser. Er hustete im Laufe einer Stunde kein einziges Mal, lächelte, küßte Kitty die Hand, dankte ihr unter Tränen und sagte, er fühle sich wohl, habe nirgends Schmerzen und verspüre wieder Appetit und neue Kraft. Er richtete sich sogar ohne Beihilfe auf, als ihm seine Suppe gebracht wurde, und bat noch um ein Kotelett. Obgleich sein Zustand völlig hoffnungslos war und man, wenn man den Kranken ansah, nicht zweifeln konnte, daß eine Genesung ausgeschlossen sei, so befanden sich Konstantin und Kitty doch diese Stunde hindurch in einer glücklichen Erregung und zugleich in einer ängstlichen Besorgnis, ob sie sich auch nicht täuschten.
»Geht es ihm besser?« – »Ja, bedeutend besser.« – »Wunderbar!« – »Dabei ist nichts Wunderbares.« – »Nun, jedenfalls geht es ihm besser«, sprachen sie flüsternd untereinander und lächelten einer dem andern zu.
Diese Selbsttäuschung war jedoch nicht von langer Dauer. Der Kranke war ruhig eingeschlafen; aber nach einer halben Stunde weckte ihn ein Hustenanfall auf. Und auf einmal waren alle Hoffnungen wieder verschwunden, sowohl bei seiner Umgebung wie auch bei ihm selbst. Die Schwere des tatsächlichen Leidens vernichtete bei Konstantin und bei Kitty und bei dem Kranken selbst alle bisherigen Hoffnungen, ohne daß auch nur eine Erinnerung daran oder irgendwelcher Zweifel übriggeblieben wäre.
Ohne von der religiösen Tröstung, an die er noch vor einer halben Stunde geglaubt hatte, ein Wort zu sagen, wie wenn er sich schämte, auch nur daran zu denken, verlangte er, es solle ihm Jod zum Einatmen in einem Fläschchen gegeben werden, das mit einem durchlöcherten Papier bedeckt war. Konstantin reichte ihm das Gefäß, und derselbe Blick leidenschaftlicher Hoffnung, mit dem der Kranke die Letzte Ölung empfangen hatte, richtete sich jetzt auf den Bruder und verlangte von ihm eine Wiederholung der Äußerung des Arztes, daß das Einatmen von Jod manchmal geradezu Wunder wirke.
»Ist Kitty nicht hier?« sagte er heiser, nachdem ihm Konstantin mit Widerstreben die Worte des Arztes wiederholt hatte, und sah sich um. »Nein, nun, dann kann ich es ja sagen ... Ich habe die ganze Komödie nur um ihretwillen durchgeführt. Sie ist so lieb [331] und gut; aber du und ich, wir dürfen einander nichts vormachen. Hier, an das hier glaube ich«, sagte er und begann, seine knochige Hand fest um das Fläschchen pressend, aus ihm zu atmen.
Zwischen sieben und acht Uhr abends tranken Konstantin und seine Frau in ihrem Zimmer Tee, als Marja Nikolajewna atemlos zu ihnen hereingestürzt kam. Sie war blaß, und ihre Lippen zitterten. »Er liegt im Sterben!« flüsterte sie. »Ich fürchte, er wird gleich sterben.«
Beide eilten zu ihm. Er hatte sich im Bette etwas aufgerichtet und saß, auf einen Ellbogen gestützt, da; der lange Rücken war zusammengekrümmt, der Kopf hing tief herab.
»Wie fühlst du dich?« fragte Konstantin flüsternd nach kurzem Schweigen.
»Ich fühle, daß ich davon muß«, sagte Nikolai mit Anstrengung, aber ungewöhnlich deutlich, indem er die Worte langsam herauspreßte. Er hob den Kopf nicht in die Höhe, sondern richtete nur die Augen nach oben, ohne aber mit ihnen das Gesicht des Bruders zu erreichen. »Katja, geh hinaus!« fügte er dann noch hinzu.
Konstantin sprang auf und veranlaßte sie, indem er ihr in gebieterischem Ton etwas zuflüsterte, hinauszugehen.
»Ich muß davon«, wiederholte Nikolai.
»Warum meinst du das?« fragte Konstantin, um überhaupt etwas zu sagen.
»Weil ich davon muß«, sagte er noch einmal, wie wenn ihm dieser Ausdruck besonders gefiele. »Es ist zu Ende.«
Marja Nikolajewna trat zu ihm heran.
»Sie sollten sich hinlegen; es ist Ihnen dann leichter«, sagte sie.
»Bald werde ich liegen«, antwortete er leise; »als Leiche«, fügte er spöttisch und ingrimmig hinzu. »Na, dann legt mich hin, wenn ihr das wollt.«
Konstantin legte den Bruder auf den Rücken, setzte sich neben ihn und blickte ihm, kaum zu atmen wagend, ins Gesicht. Der Sterbende lag mit geschlossenen Augen da; aber auf seiner Stirn bewegten sich ab und zu die Muskeln, wie bei jemand, der tief und angestrengt nachdenkt. Unwillkürlich überlegte Konstantin, was wohl jetzt in der Seele des Sterbenden vorgehen möge; aber wie sehr er auch seine Denkkraft anstrengte, um dem Gedankengang seines Bruders zu folgen, so sah er doch am Ausdruck dieses ruhigen, ernsten Gesichtes und am Spiel der Muskeln oberhalb der Brauen, daß dem Sterbenden immer klarer und klarer wurde, was für ihn, Konstantin, noch immer gleich dunkel blieb.
»Ja, ja, so ist es«, sagte der Sterbende langsam und in Absätzen. »Warte einmal.« Wieder schwieg er eine Weile. »So ist [332] es!« fügte er dann in gedehntem Ton, wie beruhigt, hinzu, als ob er nun über alles ins reine gekommen wäre. »O Gott!« sagte er hierauf und seufzte schwer.
Marja Nikolajewna befühlte seine Füße. »Sie werden kalt«, flüsterte sie.
Lange, sehr lange, wie es Konstantin vorkam, lag der Kranke da, ohne sich zu rühren. Aber er lebte immer noch und seufzte von Zeit zu Zeit. Konstantin war von dem angestrengten Denken schon ganz müde. Er fühlte, daß er trotz aller Anspannung seiner Denkkraft nicht imstande war, zu begreifen, was »so« war. Er fühlte, daß er in dieser Gedankenarbeit schon längst hinter dem Sterbenden zurückgeblieben war. Er war jetzt nicht mehr imstande, an die eigentliche Frage nach dem Wesen des Todes zu denken, sondern unwillkürlich kamen ihm Gedanken darüber, was er jetzt, sofort, werde tun müssen: dem Toten die Augen zudrücken, ihn ankleiden, einen Sarg bestellen. Und seltsam: er fühlte sich vollständig kalt und empfand weder Kummer noch das Gefühl eines Verlustes und noch weniger Mitleid mit dem Bruder. Wenn jetzt in seiner Seele ein Gefühl seinem Bruder gegenüber rege war, so war es eher das Gefühl des Neides wegen der Erkenntnis, zu der der Sterbende jetzt gelangt war, während sie ihm selbst noch unzugänglich blieb.
Noch lange saß er so an seinem Bett und wartete immer auf das Ende. Aber das Ende kam noch nicht. Die Tür öffnete sich, und Kitty erschien. Konstantin stand auf, um sie zurückzuhalten. Aber in dem Augenblick, als er aufstand, hörte er, daß der Sterbende sich regte.
»Geh nicht fort«, sagte Nikolai und streckte die Hand aus. Konstantin gab ihm die seinige und winkte seiner Frau ärgerlich zu, sie möchte hinausgehen.
Die Hand des Sterbenden in der seinen haltend, saß er eine halbe Stunde da, eine ganze Stunde, und noch eine Stunde. An den Tod dachte er jetzt überhaupt nicht mehr. Er dachte, was wohl jetzt Kitty tue, wer in dem anstoßenden Zimmer wohne, ob der Arzt ein eigenes Haus habe. Er bekam Lust, etwas zu essen, auch regte sich der Wunsch zu schlafen. Vorsichtig machte er seine Hand frei und befühlte die Füße. Sie waren kalt; aber der Kranke atmete immer noch. Konstantin versuchte wieder, auf den Fußspitzen hinauszugehen; aber der Kranke rührte sich wieder und sagte: »Geh nicht fort.«
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Die Morgendämmerung kam; der Zustand des Kranken war immer noch der gleiche. Konstantin machte ganz leise, ohne den Sterbenden anzublicken, seine Hand frei, ging nach seinem [333] Zimmer und legte sich schlafen. Als er wieder erwachte, erfuhr er, statt der Nachricht vom Tode seines Bruders, die er erwartet hatte, daß der Kranke wieder in den früheren Zustand zurückgekehrt sei. Er setzte sich wieder ab und zu hin, hustete, aß und redete; und er redete nicht mehr vom Tode, sondern sprach wieder die Hoffnung auf Genesung aus und war noch reizbarer und finsterer geworden als vorher. Niemand, weder sein Bruder noch Kitty, vermochte ihn zu beruhigen. Er war auf alle ärgerlich und sagte allen Unangenehmes; allen machte er seine Leiden zum Vorwurf und verlangte, man solle ihm den berühmten Arzt aus Moskau kommen lassen. Auf alle an ihn gerichteten Fragen, wie er sich fühle, antwortete er gleichmäßig mit einem Ausdrucke des Ingrimms und des Vorwurfs: »Ich leide furchtbar, unerträglich!«
Die Leiden des Kranken wurden immer schlimmer, namentlich auch wegen der durchgelegenen Stellen, die nicht mehr geheilt werden konnten; er ärgerte sich immer mehr über alle, die um ihn waren, machte ihnen alles mögliche zum Vorwurf und schalt sie besonders deswegen, weil sie ihm nicht den Arzt aus Moskau kommen ließen. Kitty bemühte sich auf jede Weise, ihm zu helfen und ihn zu beruhigen; aber es war alles vergeblich, und Konstantin sah, daß sie selbst körperlich und seelisch erschöpft war, obwohl sie es nicht zugeben wollte. Das erste feierliche Gefühl der Nähe des Todes, das in aller Herzen durch Nikolais Abschied vom Leben in jener Nacht hervorgerufen war, wo er den Bruder hatte rufen lassen, dieses Gefühl war zerstört. Alle wußten, daß er mit Notwendigkeit und in Bälde sterben werde, daß er bereits halb eine Leiche sei; alle hatten nur den einen Wunsch, daß er recht bald sterben möge. Aber alle verheimlichten diese Erkenntnis und diesen Wunsch, reichten ihm aus dem Fläschchen seine Arznei, ließen andere Arzneien und andere Ärzte holen und suchten den Kranken zu täuschen und jeder sich selbst und einer den andern. All das war Lüge, häßliche, beleidigende, frevelhafte Lüge. Und diese Lüge empfand Konstantin Ljewin von allen am schmerzlichsten, sowohl infolge seiner Charakterbeschaffenheit, wie auch weil er den Sterbenden am meisten liebte.
Konstantin, den schon lange der Gedanke beschäftigte, die Brüder wenigstens vor dem Tode noch miteinander zu versöhnen, hatte an den Bruder Sergei Iwanowitsch geschrieben, und als er seine Antwort erhalten hatte, las er dem Kranken den Brief vor. Sergei Iwanowitsch schrieb, es sei ihm nicht möglich, selbst zu kommen, bat aber in rührenden Ausdrücken den Bruder um Verzeihung.
[334] Der Kranke äußerte nichts dazu.
»Was soll ich ihm zurückschreiben?« fragte Konstantin. »Ich hoffe, du bist nicht mehr zornig auf ihn?«
»Nein, gar nicht!« antwortete Nikolai ärgerlich auf diese Frage. »Schreib ihm, er soll mir den Arzt herschicken.«
Es vergingen noch drei qualvolle Tage; der Kranke verblieb immer im gleichen Zustand. Den Wunsch, daß er bald sterben möge, teilten jetzt alle, die ihn sahen oder von seinem Zustand wußten: die Dienerschaft des Hotels, und der Wirt, und sämtliche Gäste, und der Arzt, und Marja Nikolajewna, und Konstantin Ljewin, und Kitty. Einzig und allein der Kranke sprach keinen derartigen Wunsch aus, sondern war im Gegenteil darüber aufgebracht, daß man nicht den Moskauer Arzt kommen lasse, und fuhr fort, seine Arzneien zu nehmen und vom Leben zu sprechen. Nur in den seltenen Augenblicken, wo das Opium ihn auf kurze Zeit seine ununterbrochenen Leiden vergessen ließ, sprach er mitunter im Halbschlummer den Gedanken aus, der im Grunde stärker als bei allen anderen in seiner Seele rege war: »Ach, wenn es doch erst zu Ende wäre!« oder: »Wann wird das zu Ende sein?«
Die stetig sich steigernden Schmerzen taten ihr Werk und bereiteten ihn zum Tode vor. Es gab schon keine Körperlage mehr, in der er nicht gelitten hätte, keinen Augenblick, wo er sich seiner Schmerzen nicht bewußt gewesen wäre, an seinem ganzen Leibe keinen Fleck, keinen Teil, der ihm nicht weh getan, ihn nicht gepeinigt hätte. Sogar die Erinnerungen, die seelischen Empfindungen, die Gedanken, die in diesem Körper noch vorhanden waren, riefen bei dem Kranken jetzt schon denselben Widerwillen hervor wie der Körper selbst. Der Anblick anderer Menschen, ihre Reden, seine eigenen Erinnerungen, alles dies bereitete ihm lediglich Schmerz und Pein. Seine Umgebung fühlte das, und unwillkürlich vermied es jeder, im Zimmer des Kranken sich frei zu bewegen, ein Gespräch zu führen oder einen Wunsch auszusprechen. Sein gesamter Rest von Lebenstätigkeit beschränkte sich ausschließlich auf das Empfinden seines Leidens und auf den Wunsch, davon erlöst zu werden.
Es vollzog sich in seinem Innern offenbar jener Umschwung, der ihn dahin bringen mußte, im Tod die Erfüllung seiner Wünsche, sein Glück zu sehen. Früher war jeder besondere, durch das Leiden oder durch irgendeinen Mangel hervorgerufene Wunsch, wie Hunger, Müdigkeit, Durst, durch eine Tätigkeit des Körpers befriedigt worden, die ihm Genuß gewährte; jetzt aber war bei seinem Leiden und allem, was er entbehrte, eine Befriedigung seiner Wünsche unmöglich geworden, und jeder Versuch [335] einer Befriedigung verursachte nur neues Leiden. Und daher fanden sich alle seine Wünsche in dem einen Wunsche zusammen, von allen seinen Leiden und von deren Quelle, dem Körper, befreit zu werden. Aber er fand keine Worte, um diesen Wunsch nach Befriedigung auszudrücken, und daher sprach er von diesem Wunsche gar nicht, sondern forderte aus alter Gewohnheit die Erfüllung solcher Wünsche, die doch nicht mehr zu seiner Befriedigung erfüllt werden konnten. »Legt mich auf die andere Seite«, sagte er und forderte gleich darauf, man solle ihn wieder wie vorher lagern. – »Gebt mir Fleischbrühe!« – »Nehmt die Fleischbrühe weg.« – »Erzählt doch etwas; warum schweigt ihr denn immer?« Und sobald sie zu reden anfingen, schloß er die Augen und bekundete Müdigkeit, Gleichgültigkeit und Widerwillen.
Am zehnten Tage nach der Ankunft in der Stadt wurde Kitty krank. Sie hatte Kopfschmerzen und Erbrechen und mußte den ganzen Vormittag über im Bett bleiben.
Der Arzt äußerte, die Krankheit komme von Übermüdung und Aufregung, und verordnete ihr seelische Ruhe.
Am Nachmittag stand Kitty aber doch auf und ging wie immer mit ihrer Handarbeit zu dem Kranken. Er sah sie bei ihrem Eintritt mit einem strengen Blick an und lächelte geringschätzig, als sie sagte, sie sei krank gewesen. An diesem Tage mußte er sich beständig die Nase schnauben und stöhnte kläglich.
»Wie fühlen Sie sich?« fragte sie ihn.
»Schlechter«, brachte er mühsam heraus. »Ich habe Schmerzen.«
»Wo haben Sie denn Schmerzen?«
»Überall.«
»Heute geht es mit ihm zu Ende; Sie werden sehen«, sagte Marja Nikolajewna, zwar flüsternd, aber doch so laut, daß der Kranke, der, wie Konstantin gemerkt hatte, sehr feinhörig war, es gehört haben mußte. Konstantin bedeutete ihr durch Zischen, sie solle still sein, und sah nach dem Kranken hin. Nikolai hatte es gehört; aber diese Worte hatten auf ihn gar keinen Eindruck gemacht. Sein Blick war immer gleich vorwurfsvoll und gespannt.
»Warum denken Sie das?« fragte Konstantin sie, als sie ihm auf den Flur hinaus gefolgt war.
»Er hat angefangen, sich sauber zu machen«, antwortete Marja Nikolajewna.
»Was heißt das: sich sauber zu machen?«
»Sehen Sie: so!« erwiderte sie, indem sie an den Falten ihres wollenen Kleides herumzupfte. Und in der Tat hatte Konstantin bemerkt, daß der Kranke diesen ganzen Tag über an sich herumgegriffen hatte, wie wenn er etwas abzupfen wollte.
[336] Marja Nikolajewnas Voraussage erwies sich als richtig. Der Kranke war zur Nacht nicht mehr imstande, die Arme zu heben, und sah nur vor sich hin, ohne daß sich jemals der aufmerksam gespannte Ausdruck seines Blickes geändert hätte. Selbst wenn sein Bruder oder Kitty sich über ihn beugten, so daß er sie sehen konnte, behielt er dieselbe Art zu blicken bei. Kitty ließ einen Geistlichen holen, der das Sterbegebet lesen sollte.
Während der Geistliche das Gebet las, gab der Sterbende keinerlei Lebenszeichen von sich; seine Augen waren geschlossen. Konstantin, Kitty und Marja Nikolajewna standen neben dem Bett. Der Geistliche hatte das Gebet noch nicht bis zu Ende gelesen, als der Sterbende sich ausstreckte, seufzte und die Augen öffnete. Als der Geistliche das Gebet beendet hatte, legte er ihm das Kreuz an die kalte Stirn und wickelte es dann langsam in sein Schultertuch ein; nachdem er noch etwa zwei Minuten schweigend dagestanden hatte, berührte er die erkaltete blutleere große Hand.
»Er ist verschieden«, sagte der Geistliche und wollte zurücktreten; aber plötzlich bewegte sich der zusammengeklebte Schnurrbart des Daliegenden, und in der Stille wurden die aus tiefer Brust scharf und bestimmt herauskommenden Worte deutlich vernehmbar:
»Noch nicht ganz ... aber bald.«
Eine Minute später hellte sich sein Gesicht auf, unter seinem Schnurrbart zeigte sich ein Lächeln, und die Leichenfrauen, die sich schon versammelt hatten, gingen geschäftig daran, den Toten zurechtzumachen.
Der Anblick des Bruders und die Nähe des Todes hatten in Konstantin Ljewins Seele jenes Gefühl des Grausens vor der Rätselhaftigkeit des Todes und zugleich vor seiner Nähe und Unvermeidlichkeit wieder von neuem wachgerufen, das an dem Herbstabend, wo sein Bruder zu ihm auf Besuch gekommen war, sich seiner bemächtigt hatte. Dieses Gefühl war jetzt in ihm noch stärker als vorher; er fühlte sich jetzt noch weniger fähig als früher, das eigentliche Wesen des Todes zu verstehen, und seine Unvermeidlichkeit erschien ihm noch furchtbarer. Aber jetzt brachte ihn dieses Gefühl, dank der Gegenwart seiner Frau, nicht zur Verzweiflung; denn trotz der Gegenwart des Todes fühlte er die Notwendigkeit, zu leben und zu lieben. Er fühlte, daß die Liebe ihn vor der Verzweiflung rettete und daß diese Liebe infolge der drohenden Verzweiflung noch stärker und reiner wurde.
Kaum hatte sich vor seinen Augen das ungelöst gebliebene Geheimnis des Todes vollzogen, als ein anderes, ebenso rätselhaftes [337] Geheimnis vor ihm erstand, das zur Liebe und zum Leben aufforderte.
Der Arzt stellte die Richtigkeit der Vermutung fest, die er im stillen über Kitty gehabt hatte: ihr Unwohlsein rührte von Schwangerschaft her.
Von dem Augenblick an, wo Alexei Alexandrowitsch aus den Unterredungen mit Betsy und mit Stepan Arkadjewitsch ersehen hatte, daß man weiter nichts von ihm verlange, als daß er seine Frau in Ruhe lassen und sie nicht mit seiner Gegenwart belästigen möge und daß seine Frau dies selbst wünsche, seitdem fühlte er sich so rat- und fassungslos, daß er zu keinem eigenen Entschluß fähig war und selbst nicht wußte, was er nun eigentlich wollte. So überließ er sich denn ganz der Leitung der Personen, die sich seiner Angelegenheit mit so großem Vergnügen annahmen, und gab zu allem seine Zustimmung. Erst als Anna bereits sein Haus verlassen hatte und die Engländerin ihn fragen ließ, ob sie mit ihm zusammen oder allein speisen solle, kam er zum ersten Male zu einem klaren Verständnis seiner Lage und geriet über sie in Entsetzen.
Was in dieser Lage am schwersten auf ihm lastete, das war, daß er schlechterdings nicht imstande war, seine Vergangenheit mit dem jetzigen Zustand zu vereinigen, zwischen beiden einen inneren Zusammenhang zu finden. Was ihn so in Verwirrung setzte, war nicht etwa jener Abschnitt der Vergangenheit, wo er mit seiner Frau ein glückliches Leben geführt hatte. Den Übergang von diesem Abschnitt der Vergangenheit zur Erkenntnis, daß ihm seine Frau untreu war, hatte er bereits wie ein Märtyrer verwunden; dieser zweite Zustand war schwer zu ertragen gewesen, aber es hatte darin für ihn nichts Unverständliches gelegen. Wäre seine Frau damals, nach dem Eingeständnis ihrer Untreue, von ihm gegangen, so würde ihn das geschmerzt haben, und er würde unglücklich darüber gewesen sein; aber er hätte sich nicht in einer solchen Lage wie jetzt befunden, in einer Lage, die er geradezu nicht verstand und aus der er für sich keinen Ausweg sah. Es war ihm jetzt ganz und gar unmöglich, die kürzlich von ihm so selbstlos gewährte Verzeihung, seine Rührung, seine Liebe zu der kranken Gattin und zu dem fremden Kinde in einen inneren Zusammenhang mit seiner jetzigen Lage zu bringen, das heißt damit, daß er jetzt gleichsam zum Lohne für alle seine Güte vereinsamt, beschimpft und verspottet dastand, von niemand gesucht und von allen verachtet.
[338] An den beiden ersten Tagen nach der Abreise seiner Frau empfing Alexei Alexandrowitsch wie gewöhnlich die Bittsteller und seinen Subdirektor, fuhr ins Komitee und ging zum Mittagessen in das Speisezimmer. Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, zu welchem Zweck er das eigentlich tue, spannte er während dieser zwei Tage alle seine Geisteskräfte an, um eine ruhige, sogar gleichmütige Miene zur Schau zu tragen. Bei der Beantwortung der Fragen nach dem, was mit Anna Arkadjewnas Sachen und Zimmern geschehen solle, zwang er sich mit der größten Anstrengung, eine Miene zu machen, als ob für ihn das Vorgefallene nichts Unvorhergesehenes sei und nichts enthalte, was aus dem Rahmen des Gewöhnlichen heraustrete; und er erreichte seinen Zweck: niemand konnte an ihm eine Spur von seiner Verzweiflung gewahren. Aber als am zweiten Tage nach Annas Abreise Kornei ihm die Rechnung eines Modegeschäfts überreichte, die Anna zu bezahlen vergessen hatte, und ihm meldete, ein Angestellter des Geschäfts sei selbst da, ließ Alexei Alexandrowitsch ihn hereinrufen.
»Verzeihen Euer Exzellenz, daß ich Sie zu belästigen wage. Aber wenn Sie befehlen, daß wir uns an Ihre Exzellenz wenden, so haben Sie vielleicht die Gnade, uns deren Adresse mitzuteilen.«
Alexei Alexandrowitsch versank, wie es dem Angestellten vorkam, in Nachdenken; dann wandte er sich plötzlich um, setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. In dieser Haltung blieb er lange sitzen, versuchte einige Male zu sprechen, hielt aber jedesmal wieder inne.
Kornei, der die Empfindungen seines Herrn verstand, ersuchte den Angestellten, ein andermal wiederzukommen. Sobald Alexei Alexandrowitsch wieder allein geblieben war, sagte er sich, daß er nicht imstande sei, die Rolle des festen, ruhigen Mannes länger durchzuführen. Er ließ den Wagen, der schon auf ihn wartete, wieder ausspannen, ordnete an, es solle niemand vorgelassen werden, und kam zum Mittagessen nicht aus seinem Zimmer.
Er fühlte, daß er diese von allen Seiten ihm entgegentretende Geringschätzung und Abneigung nicht ertragen könne, die er auch auf dem Gesicht dieses Angestellten so deutlich ausgeprägt sah und auf dem Gesicht Korneis und auf den Gesichtern aller ohne Ausnahme, mit denen er in diesen zwei Tagen zusammengekommen war. Er fühlte, daß er den Haß der Menschen nicht von sich abwenden konnte, weil dieser Haß nicht etwa davon herrührte, daß er ein schlechter Mensch gewesen wäre (dann hätte er sich ja bemühen können, besser zu werden), sondern [339] davon, daß er durch ein schmähliches, garstiges Ereignis ein unglücklicher Mensch geworden war. Er wußte, daß sie deswegen, gerade deswegen, weil sein Herz auf das schmerzlichste zerrissen war, gegen ihn erbarmungslos sein würden. Er fühlte, daß die Menschen ihn vernichten würden, so wie Hunde einen andern, von Wunden zerfleischten, vor Schmerz heulenden Hund erwürgen. Er wußte, daß er sich vor den Menschen nur dadurch retten konnte, daß er seine Wunden vor ihnen verbarg, und er hatte das in diesen zwei Tagen unwillkürlich zu tun versucht; aber jetzt fühlte er sich nicht mehr imstande, diesen Kampf fortzusetzen.
Seine Verzweiflung wurde noch durch das Bewußtsein gesteigert, daß er mit seinem Gram vollständig allein dastand. Er hatte in Petersburg keinen Menschen, demgegenüber er von allen seinen Empfindungen hätte sprechen können, keinen Menschen, der in ihm nicht den hohen Beamten und ein Mitglied der vornehmen Gesellschaft, sondern einfach einen leidenden Menschen gesehen und Mitleid mit ihm gehabt hätte. Und auch sonst kannte er nirgends einen solchen Menschen.
Alexei Alexandrowitsch war als Waise aufgewachsen. Sie waren zwei Brüder. Des Vaters erinnerten sich beide nicht; die Mutter starb, als Alexei Alexandrowitsch zehn Jahre alt war. Vermögen war nur wenig vorhanden. Der Onkel Karenin, ein hoher Beamter und ehedem ein Günstling des verstorbenen Kaisers, sorgte für die Erziehung der beiden Knaben.
Nachdem Alexei Alexandrowitsch das Gymnasium und die Universität mit Auszeichnungen besucht hatte, durchmaß er mit Beihilfe seines Onkels die ersten Strecken der Beamtenlaufbahn in glänzender Weise und kannte seitdem kein anderes Streben als den dienstlichen Ehrgeiz. Weder auf dem Gymnasium noch auf der Universität noch später während seiner Amtszeit knüpfte Alexei Alexandrowitsch mit irgend jemandem freundschaftliche Beziehungen an. Sein Bruder stand ihm seelisch noch am nächsten; aber dieser gehörte zum Stab des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten und lebte dauernd im Auslande, wo er bald nach Alexei Alexandrowitschs Verheiratung starb.
Zur Zeit, als Alexei Alexandrowitsch das Amt eines Gouverneurs inne hatte, brachte Annas Tante, eine reiche, in der Gouvernementsstadt wohnhafte Dame, ihn, der damals zwar kein junger Mann mehr, aber für einen Gouverneur doch recht jung war, mit ihrer Nichte zusammen und versetzte ihn in eine solche Lage, daß er entweder dem jungen Mädchen einen Antrag machen oder die Stadt verlassen mußte. Alexei Alexandrowitsch schwankte lange. Es sprachen damals ebenso viele Gründe für [340] diesen Schritt wie dagegen, und es lag eigentlich gar kein entscheidender Grund vor, der ihn hätte veranlassen können, von seinem Grundsatz: »Im Zweifelsfalle Zurückhaltung!« abzugehen; aber Annas Tante ließ ihm durch einen Bekannten eindringlich vorstellen, daß er das junge Mädchen bereits bloßgestellt habe und daß er nach dem Gebot der Ehre verpflichtet sei, ihr seine Hand anzubieten. So machte er ihr denn einen Antrag und widmete seiner Braut und künftigen Frau die gesamte Menge von Gefühl, deren er fähig war.
Die Zuneigung zu Anna ließ jedes in seiner Seele noch übrige Verlangen nach einem herzlichen Verhältnisse zu anderen Menschen ersterben. Und jetzt stand ihm von allen seinen Bekannten kein einziger wirklich nahe. Er hatte viele sogenannte Verbindungen, aber keine freundschaftlichen Beziehungen. Alexei Alexandrowitsch kannte viele Leute, die er zu sich zum Mittagessen einladen, die er um ihre Mitwirkung bei einer ihn interessierenden Angelegenheit, um ihre Fürsprache für irgendeinen Bewerber bitten, mit denen er über die Handlungen anderer Personen und der höchsten Regierungsbehörden ohne Hemmung reden konnte; aber die Beziehungen zu diesen Leuten beschränkten sich auf ein durch Brauch und Gewohnheit fest begrenztes Gebiet, das zu überschreiten unmöglich war. Er hatte ja einen Universitätskameraden, dem er nachher etwas nähergetreten war und mit dem er allenfalls über seinen persönlichen Kummer hätte reden können; aber dieser Kamerad war Kurator in einem weit entfernten Bezirk der Unterrichtsverwaltung. Von seinen Petersburger Bekannten standen ihm verhältnismäßig noch am nächsten sein Subdirektor und sein Hausarzt.
Michail Wasiljewitsch Sljudin, sein Subdirektor, war ein schlichter, verständiger, guter, braver Mann, und Alexei Alexandrowitsch hatte die Empfindung, daß er ihm persönlich zugetan sei. Aber ihr fünfjähriges amtliches Verhältnis hatte zwischen ihnen eine Schranke für Herzensergüsse errichtet.
Alexei Alexandrowitsch blickte, nachdem er mit dem Unterschreiben der Papiere fertig war, seinen Untergebenen lange schweigend an und setzte mehrmals zum Reden an, konnte aber kein Wort hervorbringen. Er hatte sich schon den Satz zurechtgelegt: ›Haben Sie von meinem Kummer gehört?‹ Aber schließlich sagte er doch nur wie gewöhnlich: »Also bereiten Sie mir dies vor«, und entließ ihn damit.
Der zweite derartige Bekannte war sein Arzt, der gleichfalls eine freundliche Gesinnung gegen ihn hegte; aber zwischen ihnen beiden bestand schon seit langer Zeit ein stillschweigendes [341] Übereinkommen, einander nicht unnötig lange in Anspruch zu nehmen, da sie beide mit Arbeit überhäuft waren und es immer sehr eilig hatten.
An seine Freundinnen und an die allererste unter ihnen, die Gräfin Lydia Iwanowna, dachte Alexei Alexandrowitsch überhaupt gar nicht. Alle Frauen waren ihm, einfach schon als Frauen, entsetzlich und widerwärtig.
Alexei Alexandrowitsch hatte die Gräfin Lydia Iwanowna vergessen, aber sie ihn nicht. In diesem schwersten Augenblick seiner einsamen Verzweiflung besuchte sie ihn und trat unangemeldet in sein Arbeitszimmer. Sie traf ihn am Tische sitzend, den Kopf auf beide Hände gestützt.
»J'ai forcé la consigne« 1, sagte sie, indem sie schnellen Schrittes auf ihn zutrat; die Erregung und die rasche Bewegung benahmen ihr beinahe den Atem. »Ich habe alles gehört, Alexei Alexandrowitsch, mein Freund«, fuhr sie fort, drückte ihm mit ihren beiden Händen die Hand und blickte ihm mit ihren schönen, schwärmerischen Augen ins Gesicht.
Alexei Alexandrowitsch stand mit finsterer Miene auf und rückte ihr, nachdem er seine Hand frei gemacht hatte, einen Stuhl heran.
»Ist es Ihnen nicht gefällig, Gräfin? Ich empfange nicht, weil ich krank bin«, sagte er; seine Lippen bebten.
»Mein Freund«, sagte die Gräfin Iwanowna noch einmal, ohne die Augen von ihm wegzuwenden, und plötzlich zogen sich ihre Brauen auf den inneren Seiten in die Höhe, so daß sie auf der Stirn ein Dreieck bildeten, wodurch ihr unschönes gelbes Gesicht noch häßlicher wurde. Aber Alexei Alexandrowitsch fühlte, daß sie mit ihm Mitleid habe und nahe daran sei, zu weinen. Und da überkam ihn die Rührung; er ergriff ihre weiche Hand und küßte sie wiederholt.
»Mein Freund«, sagte sie; aber die Stimme wollte ihr vor Erregung nicht gehorchen. »Sie dürfen sich nicht Ihrem Kummer so ganz überlassen. Ihr Leid ist groß; aber Sie müssen Trost finden.«
»Ich fühle mich wie niedergeschmettert, wie zermalmt; ich bin gar kein Mensch mehr«, sagte Alexei Alexandrowitsch; er ließ ihre Hand los, sah ihr aber weiter in die tränenerfüllten Augen. »Meine Lage ist deshalb so furchtbar, weil ich nirgends, auch in mir selbst nicht, einen Stützpunkt finde.«
[342] »Sie werden eine Stütze finden; aber suchen Sie sie nicht in mir, wiewohl ich Sie bitte, an meine Freundschaft zu glauben«, erwiderte sie mit einem Seufzer. »Unsere Stütze ist die Liebe, jene Liebe, die Er uns hinterlassen hat. Seine Last ist leicht«, sagte sie mit jenem verzückten Blick, den Alexei Alexandrowitsch an ihr so gut kannte. »Er wird Ihr Halt und Ihre Hilfe sein.«
Es klang aus diesen Worten die Rührung über die eigenen erhabenen Gefühle heraus; auch spürte man darin die neue, verzückte, erst unlängst in Petersburg Mode gewordene mystische Richtung. Aber obwohl Alexei Alexandrowitsch dergleichen sonst als Überschwenglichkeit verwarf, so hörte er diese Worte jetzt doch nicht ungern.
»Ich bin ganz schwach. Ich bin wie vernichtet. Ich hatte nichts Derartiges vorausgesehen und begreife auch jetzt nichts davon.«
»Mein Freund!« wiederholte Lydia Iwanowna.
»Es handelt sich nicht um den Verlust dessen, was dahin ist; nein, darum handelt es sich nicht!« fuhr Alexei Alexandrowitsch fort. »Darüber klage ich nicht. Aber ich kann mir nicht helfen: ich schäme mich vor den Menschen wegen der Lage, in der ich mich befinde. Das ist schlecht von mir; aber ich kann nicht anders, kann nicht anders.«
»Nicht Sie haben jene erhabene Tat der Vergebung vollbracht, die mich und alle entzückt, sondern Er, der in Ihrem Herzen wohnt«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna und richtete schwärmerisch die Augen empor, »und darum dürfen Sie sich Ihrer Tat nicht schämen.«
Alexei Alexandrowitsch machte ein finsteres Gesicht, legte die Hände zusammen und knackte mit den Fingern.
»Man muß alle Einzelheiten kennen, um ein Urteil über meinen Zustand zu haben«, sagte er mit seiner hohen Stimme. »Die Kräfte des Menschen haben ihre Grenzen, Gräfin, und ich bin an der Grenze der meinigen angelangt. Den ganzen Tag über habe ich heute Anordnungen treffen müssen, häusliche Anordnungen, die durch meine neue einsame Situation veranlaßt waren« (er legte einen besonderen Ton auf das Wort »veranlaßt«). »Die Dienerschaft, die Erzieherin, Rechnungen ... Ich wurde sozusagen auf gelinder Glut geröstet und war nicht imstande, es länger zu ertragen. Beim Mittagessen ... ich wäre gestern beinahe während der Mahlzeit vom Tisch weggegangen. Ich konnte es nicht ertragen, wie mein Sohn mich ansah. Er fragte mich nicht, was das alles zu bedeuten habe; aber er wollte fragen, und ich konnte seinen Blick nicht aushalten. Er fürchtete sich, mich anzusehen. Und damit noch nicht genug ...« Alexei Alexandrowitsch wollte von der Rechnung reden, die ihm zugestellt war; [343] aber die Stimme begann ihm zu zittern, und er hielt inne. An diese auf bläuliches Papier geschriebene Rechnung über einen Hut und Bänder konnte er nicht denken, ohne sich selbst auf das tiefste zu bemitleiden.
»Ich verstehe Sie, mein Freund!« erwiderte die Gräfin Lydia Iwanowna. »Ich verstehe alles. Die wahre Hilfe und den wahren Trost werden Sie allerdings bei mir nicht finden; aber doch bin ich nur zu dem Zwecke gekommen, Ihnen zu helfen, wenn ich es vermag. Wenn ich Ihnen doch all diese kleinlichen, erniedrigenden Sorgen abnehmen könnte ... Es ist mir klar, daß hier eine Frau schalten und walten muß. Wollen Sie mich damit beauftragen?«
Alexei Alexandrowitsch drückte ihr schweigend und dankbar die Hand.
»Wir wollen beide gemeinsam für Ihren kleinen Sergei sorgen. Ich habe zwar in praktischen Dingen nicht viel Erfahrung; aber ich werde es übernehmen, ich werde Ihre Haushälterin sein. Danken Sie mir nicht; ich tue das nicht selbst ...«
»Ich muß Ihnen von ganzem Herzen danken.«
»Aber, mein Freund, überlassen Sie sich nicht jenem Gefühl, von dem Sie sprachen: sich dessen zu schämen, was doch die höchste Vollendung des Christen darstellt; denn ›wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöhet werden‹. Und danken dürfen Sie mir nicht. Ihm müssen Sie danken und Ihn um Hilfe anflehen. In Ihm allein finden wir Ruhe und Trost und Rettung und Liebe«, sagte sie und begann, die Augen zum Himmel richtend, zu beten, wie Alexei Alexandrowitsch aus ihrem Schweigen schloß.
Alexei Alexandrowitsch hatte ihr zugehört, und die Ausdrücke, die ihm früher wenn auch nicht gerade widerwärtig gewesen, so doch überschwenglich vorgekommen waren, erschienen ihm jetzt so natürlich und tröstlich. Er war kein Freund dieses neumodischen, schwärmerischen Wesens. Er war ein gläubiger Christ, der sich zur Religion vorwiegend vom politischen Standpunkte aus hielt, und die moderne Richtung, die sich mehrere neue Auslegungen gestattete, war ihm namentlich deshalb grundsätzlich zuwider, weil sie dem Streit der Meinungen und einer zersetzenden Kritik Tür und Tor öffnete. Er hatte früher dieser neuen Richtung kühl, ja feindselig gegenübergestanden, sich indessen mit der Gräfin Lydia Iwanowna, die dafür begeistert war, niemals in einen Streit darüber eingelassen, sondern ihre herausfordernden Bemerkungen immer absichtlich mit Stillschweigen übergangen. Jetzt aber hatte er ihre Redewendungen zum erstenmal mit Vergnügen angehört und innerlich ihnen nicht widersprochen.
[344] »Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar für das, was Sie mir Gutes tun und sagen«, äußerte er, nachdem sie aufgehört hatte zu beten.
Die Gräfin Lydia Iwanowna drückte ihrem Freunde noch einmal beide Hände.
»Jetzt will ich mich ans Werk machen«, sagte sie nach einer kurzen Pause des Schweigens lächelnd und wischte sich die Tränenspuren vom Gesicht. »Ich gehe zu Sergei. Nur im äußersten Notfall werde ich mich an Sie wenden.« Sie stand auf und ging hinaus.
Die Gräfin Lydia Iwanowna ging in Sergeis Zimmer und sagte dem Knaben, indem sie die Wangen des Erschrockenen mit ihren Tränen benetzte, sein Vater sei ein Heiliger und seine Mutter sei gestorben.
Die Gräfin Lydia Iwanowna erfüllte ihr Versprechen. Sie nahm wirklich alle Sorgen für die Neuordnung und Leitung von Alexei Alexandrowitschs Haushalt auf sich. Aber sie hatte nicht übertrieben, als sie sagte, sie habe in praktischen Dingen nicht viel Erfahrung. Alle ihre Anordnungen mußten abgeändert werden, da sie einfach unausführbar waren, und zwar wurden sie abgeändert von Alexei Alexandrowitschs Kammerdiener Kornei, der, ohne daß sich jemand dessen recht bewußt geworden wäre, jetzt Karenins ganzen Haushalt leitete und ruhig und vorsichtig seinem Herrn während des Ankleidens alles Erforderliche meldete. Aber dennoch war auch Lydia Iwanownas Hilfe im höchsten Grade wirksam: sie hatte dem Traurigen eine Art von seelischer Stütze verliehen, sowohl dadurch, daß sie ihn hatte erkennen lassen, wie sehr er von ihr geliebt und geschätzt wurde, wie auch namentlich insofern, als sie (und es war ihr ein besonderer Trost, dies zu glauben) ihn schon beinah ganz zum Christentum bekehrt hatte, das heißt ihn aus einem nur lässigen, lauen Gläubigen in einen warmen, eifrigen Anhänger jener neuen Auffassung des Christentums verwandelt hatte, die in letzter Zeit in Petersburg soviel Verbreitung gefunden hatte. Alexei Alexandrowitsch fand keine große Mühe dabei, sich von der Richtigkeit dieser Auffassung zu überzeugen. Ihm sowie der Gräfin Lydia Iwanowna und anderen Leuten, die diese Anschauungen teilten, fehlte es vollständig an Tiefe der Einbildungskraft, an jener geistigen Fähigkeit, die durch die Einbildungskraft hervorgerufenen Vorstellungen in dem Maße wirklich werden zu lassen, daß sie mit anderen Vorstellungen und mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung gebracht zu werden verlangen. Er sah nichts Unmögliches und Widerspruchsvolles in der Vorstellung, daß der für die Ungläubigen bestehende Tod für ihn selbst nicht da sei und daß, da er nach seinem eigenen richterlichen Ermessen [345] den vollsten Glauben besitze, auch keine Sünde mehr in seiner Seele vorhanden sei und er schon hier auf Erden der völligen Erlösung teilhaftig werde.
Allerdings hatte auch Alexei Alexandrowitsch selbst ein dunkles Gefühl von der Leichtfertigkeit und Fehlerhaftigkeit dieser Vorstellung über seinen Glauben und wußte, daß er damals, wo er noch gar nicht daran gedacht hatte, sein Verzeihen als die Wirkung einer höheren Macht aufzufassen, sondern sich einfach diesem unmittelbaren Gefühle überlassen hatte, daß er damals ein größeres Glück empfunden hatte als jetzt, wo er sich jeden Augenblick sagte, daß Christus in seiner Seele lebe und daß er, wenn er Papiere unterschrieb, lediglich seinen Willen zur Ausführung bringe. Aber es war ihm ein Bedürfnis geworden, so zu denken; es war ihm in dem Maße Bedürfnis geworden, in seiner Erniedrigung auf dieser wenn auch nur eingebildeten Höhe zu stehen, von der aus er, von allen verachtet, die anderen verachten konnte, daß er sich, wie an einen Rettungsanker, an seine vermeintliche Erlösung anklammerte.
1 (frz.) Ich bin gewaltsam eingedrungen.
Die Gräfin Lydia Iwanowna war als sehr junges, schwärmerisches Mädchen an einen reichen, vornehmen, gutmütigen, liederlichen Lebemann verheiratet worden. Schon im zweiten Monat der Ehe vernachlässigte er sie und beantwortete ihre begeisterten Liebesbeteuerungen nur mit Spott und sogar mit einer Feindseligkeit, die die Leute, die einerseits das gute Herz des Grafen kannten und anderseits an der schwärmerischen Lydia keine Mängel sahen, sich schlechterdings nicht erklären konnten. Seitdem lebten sie, wenn sie sich auch nicht hatten scheiden lassen, doch getrennt voneinander, und wenn der Mann mit seiner Frau zusammentraf, so behandelte er sie stets und unveränderlich mit jenem giftigen Spott, dessen Ursache allen unverständlich war.
Die Gräfin Lydia Iwanowna war in ihren Mann schon längst nicht mehr verliebt; aber es hatte seit jener Zeit keinen Augenblick gegeben, wo sie nicht in irgend jemand verliebt gewesen wäre. Manchmal war sie in mehrere Menschen zugleich verliebt, sowohl in Männer wie in Frauen; sie verliebte sich fast in alle Menschen, die sich durch irgend etwas auszeichneten. Sie verliebte sich in alle neuen Prinzen und Prinzessinnen, die mit der kaiserlichen Familie durch Heirat in Verwandtschaft traten; sie verliebte sich in einen Metropoliten, in einen Vikar und in einen [346] Pfarrer; sie verliebte sich in einen Journalisten, in drei Panslawisten, in Komisarow; in einen Minister, in einen Arzt, in einen englischen Missionar und in Karenin. Alle diese zärtlichen Gefühle, die bald schwächer, bald stärker auftraten, hinderten sie nicht, die ausgedehntesten und verwickeltsten Beziehungen mit dem Hofe und der vornehmen Gesellschaft zu unterhalten. Aber seit sie nach dem Unglück, von dem Karenin betroffen worden war, diesen unter ihren ganz besonderen Schutz genommen hatte, sich in Karenins Haushalt abarbeitete und für sein persönliches Wohlbefinden sorgte, seitdem fühlte sie, daß alle ihre früheren Liebesgefühle nicht wahr und echt gewesen seien, daß sie aber jetzt in Karenin allein wirklich verliebt sei. Das Gefühl, das sie jetzt für ihn empfand, erschien ihr stärker als alle früheren. Wenn sie dieses Gefühl prüfte und mit ihren früheren verglich, so erkannte sie deutlich, daß sie sich in Komisarow nicht verliebt hätte, wenn er nicht dem Kaiser das Leben gerettet, sich nicht in Ristitsch-Kudschizki verliebt hätte, wenn er nicht so eifrig für den Panslawismus gewirkt hätte, daß sie aber Karenin um seiner selbst willen liebte, wegen seiner hohen, unverstandenen Seele, und wegen des ihr so angenehmen hohen Klanges seiner Stimme mit ihrem langgezogenen Tonfall, und wegen seines müden Blickes, und wegen seines Charakters und seiner weichen, weißen Hände mit den hervortretenden Adern. Sie freute sich nicht nur über jede Begegnung mit ihm, sondern sie suchte auch auf seinem Gesicht nach Merkmalen des Eindrucks, den sie auf ihn gemacht habe. Sie wünschte ihm nicht nur durch ihre Reden, sondern auch durch ihre gesamte Persönlichkeit zu gefallen. Sie beschäftigte sich um seinetwillen mit ihrem Äußeren jetzt mehr als je vorher. Sie ertappte sich bei Träumereien, was wohl geschehen könnte, wenn sie nicht verheiratet und auch er frei wäre. Sie errötete vor Erregung, sobald er ins Zimmer trat; sie konnte ein Lächeln des Entzückens nicht zurückhalten, wenn er ihr etwas Angenehmes sagte.
Schon seit mehreren Tagen befand sich die Gräfin Lydia Iwanowna in der heftigsten Aufregung; sie hatte erfahren, daß Anna und Wronski sich in Petersburg befänden. Sie mußte Alexei Alexandrowitsch vor einer Begegnung mit Anna bewahren; sie mußte ihn sogar vor der schmerzlichen Kenntnis der Tatsache bewahren, daß dieses entsetzliche Weib sich mit ihm in ein und derselben Stadt aufhielt und er jeden Augenblick mit ihr zusammentreffen konnte.
Lydia Iwanowna zog durch ihre Bekannten Erkundigungen darüber ein, was diese »schrecklichen Menschen«, wie sie Anna und Wronski nannte, vorhätten, und bemühte sich, in diesen [347] Tagen alle Schritte ihres Freundes so zu leiten, daß er ihnen nicht begegnen konnte. Ein junger, mit Wronski befreundeter Adjutant, durch den sie Nachrichten erhielt und der durch Vermittlung der Gräfin Lydia Iwanowna eine Vergünstigung zu erlangen hoffte, teilte ihr mit, daß die beiden ihre geschäftlichen Angelegenheiten erledigt hätten und am folgenden Tage abreisen würden. Lydia Iwanowna fing schon an, sich zu beruhigen, da wurde ihr am nächsten Vormittag ein Brief überbracht, dessen Handschrift sie mit Schrecken erkannte. Es war Anna Kareninas Handschrift. Der längliche gelbe Umschlag bestand aus einem Papier, so dick wie Bast, und trug ein sehr großes Monogramm; der Brief duftete sehr angenehm.
»Wer hat das gebracht?«
»Ein Hoteldiener.«
Die Gräfin Lydia Iwanowna konnte sich lange nicht hinsetzen, um den Brief zu lesen. Vor Aufregung bekam sie einen Anfall von Atemnot, an der sie mitunter litt. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, las sie die folgenden in französischer Sprache geschriebenen Zeilen:
»Madame la Comtesse, die christlichen Gefühle, von denen Ihr Herz erfüllt ist, geben mir die, wie ich selbst fühle, unverzeihliche Kühnheit ein, an Sie zu schreiben. Die Trennung von meinem Sohne macht mich unglücklich. Ich flehe sie inständigst um die Erlaubnis an, ihn vor meiner Abreise nur ein einziges Mal sehen zu dürfen. Verzeihen Sie mir, daß ich mich Ihnen in Erinnerung bringe. Ich wende mich nur deshalb an Sie und nicht an Alexei Alexandrowitsch, weil ich diesem großmütigen Manne nicht durch die Erinnerung an mich Schmerz bereiten möchte. Da ich weiß, welche freundschaftliche Gesinnung Sie gegen ihn hegen, so darf ich hoffen, daß Sie mir dies nachfühlen. Wollen Sie Sergei zu mir schicken? Oder darf ich zu einer von Ihnen zu bestimmenden Zeit ins Haus kommen? Oder wollen Sie mich wissen lassen, wann und wo ich ihn außerhalb des Hauses sehen kann? Ich befürchte keine Ablehnung meiner Bitte, da ich die Großmut dessen kenne, von dem dies abhängt. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich danach sehne, ihn wiederzusehen, und daher können Sie sich auch nicht vorstellen, wie dankbar ich Ihnen für Ihre Beihilfe sein werde.
Anna.«
Alles an diesem Briefe brachte die Gräfin Lydia Iwanowna auf: sein Inhalt und der Hinweis auf Karenins Großmut und namentlich der, wie es ihr vorkam, zu ungezwungene Ton.
»Sage dem Boten, daß keine Antwort erfolgt«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna. Dann öffnete sie sofort ihre Schreibmappe und schrieb an Alexei Alexandrowitsch, sie hoffe, ihn [348] zwischen zwölf und ein Uhr bei der Gratulationscour im Palais zu sehen.
»Ich muß notwendig mit Ihnen über eine ebenso wichtige wie traurige Angelegenheit reden. Dort wollen wir einen Ort für die Besprechung verabreden. Am besten wäre es bei mir zu Hause, wo ich Ihren Tee zubereiten lassen werde. Die Sache ist unumgänglich notwendig. Aber Er, der uns das Kreuz auflegt, Er verleiht uns auch die Kraft, es zu tragen«, fügte sie hinzu, um ihn wenigstens einigermaßen vorzubereiten.
Die Gräfin Lydia Iwanowna schrieb gewöhnlich im Laufe jedes Tages zwei bis drei Briefchen an Alexei Alexandrowitsch. Sie liebte diese Art des Verkehrs mit ihm, weil sie etwas Elegantes und Geheimnisvolles an sich hatte, zwei Dinge, die bei dem persönlichen Verkehr der Gräfin mit Alexei Alexandrowitsch mangelten.
Die Gratulationscour war beendet. Beim Fortgehen unterhielten sich Bekannte, die einander begegneten, über die letzten Neuigkeiten des Tages: die neu verliehenen Auszeichnungen und die Veränderungen in den höchsten Beamtenstellen.
»Man sollte die Gräfin Marja Borisowna zum Kriegsminister und die Fürstin Watkowskaja zum Chef des Generalstabes machen«, sagte ein grauhaariger, kleiner alter Herr in goldgestickter Uniform zu einem hochgewachsenen, sehr schönen Hoffräulein, das sich bei ihm nach den Beförderungen erkundigt hatte.
»Und mich zum Adjutanten«, antwortete das Hoffräulein lächelnd.
»Sie haben bereits eine andere Bestimmung. Sie bekommen das Ministerium der geistlichen Angelegenheiten; und Ihr Unterstaatssekretär wird Herr Karenin.«
»Guten Tag, Fürst!« sagte der kleine alte Herr und drückte einem Herantretenden die Hand.
»Was sagten Sie da von Karenin?« fragte der Fürst.
»Er und Putjatow haben den Alexander-Newski-Orden erhalten.«
»Ich dachte, den hätte er schon.«
»Nein. Sehen Sie ihn einmal an«, sagte der kleine alte Herr und deutete mit seinem goldgestickten Hute auf Karenin, der, in Hofuniform und mit dem neuen roten Ordensband um die Schulter, mit einem der einflußreichsten Mitglieder des Reichsrates in der Saaltür stand. »Er ist glücklich und zufrieden wie [349] ein Kupferdreier«, fügte er hinzu und hielt dann inne, um einem herkulisch gebauten schönen Kammerherrn die Hand zu drücken.
»Nein, er ist doch recht gealtert«, meinte der Kammerherr.
»Von Sorgen. Er tut jetzt weiter nichts als Projekte ausarbeiten. Den Unglücklichen, den er da gefaßt hat, wird er nicht loslassen, ehe er ihm nicht alles Punkt für Punkt auseinandergesetzt hat.«
»Der soll gealtert sein? Il fait des passions. 1 Ich glaube, die Gräfin Lydia Iwanowna ist jetzt eifersüchtig auf seine Frau.«
»Oh, oh! bitte, reden Sie nichts Schlechtes von der Gräfin Lydia Iwanowna.«
»Ist denn das etwas Schlechtes, daß sie in Karenin verliebt ist?«
»Ist es richtig, daß Frau Karenina hier ist?«
»Das heißt, hier im Palais ist sie nicht; aber in Petersburg ist sie. Ich habe sie gestern mit Alexei Wronski, bras dessus, bras dessous, in der Morskaja-Straße getroffen.«
»C'est un homme qui n'a pas ...« 2, begann der Kammerherr, hielt aber inne, um einem vorbeikommenden Mitgliede der kaiserlichen Familie Platz zu machen und sich zu verbeugen.
So sprach man unaufhörlich über Alexei Alexandrowitsch, bekrittelte ihn und machte sich über ihn lustig, während er selbst jenem Mitglied des Reichsrates, dessen er sich bemächtigt hatte, den Weg versperrte und ihm, ohne auch nur für einen Augenblick eine Unterbrechung in seiner Darlegung eintreten zu lassen, so daß der Ärmste hätte entschlüpfen können, Punkt für Punkt einen Finanzplan auseinandersetzte.
Fast zur selben Zeit, wo ihn seine Frau verließ, hatte Alexei Alexandrowitsch das Bitterste durchmachen müssen, was es für einen Beamten gibt: das Aufhören der aufsteigenden Bewegung in seiner Laufbahn. Dieser Stillstand war zweifellos eingetreten, und alle sahen es deutlich; aber Alexei Alexandrowitsch selbst war noch nicht zu der Erkenntnis gelangt, daß seine Laufbahn endgültig abgeschlossen sei. Ob nun der Zusammenprall mit Stremow den Grund bildete oder das Unglück, das er mit seiner Frau gehabt hatte, oder einfach der Umstand, daß Alexei Alexandrowitsch an die ihm vom Schicksal vorherbestimmte Grenze gelangt war, jedenfalls wurde es für alle in diesem Jahre augenfällig, daß es mit seiner Laufbahn ein Ende hatte. Er bekleidete zwar noch ein hohes Amt, er war Mitglied vieler Kommissionen und Komitees, aber er war nun schon ein Mann, den man für völlig verbraucht ansah und von dem man nichts mehr erwartete. Er mochte reden und vorschlagen, was er [350] wollte, man hörte ihm mit einer Miene zu, als sei das, was er vorschlug, schon längst bekannt und gerade das Allerunbrauchbarste. Aber Alexei Alexandrowitsch merkte das nicht; im Gegenteil, jetzt, wo er von der eigentlichen Mitarbeiterschaft bei der Regierungstätigkeit ausgeschlossen war, erkannte er noch deutlicher als früher die Mängel und Fehler in der Tätigkeit anderer und hielt es demgemäß für seine Pflicht, auf die Mittel zu ihrer Verbesserung hinzuweisen. Bald nach der Trennung von seiner Frau begann er eine Denkschrift über die Notwendigkeit der Einrichtung eines neuen Gerichtshofes zu schreiben, die erste in der langen Reihe jener Denkschriften aus allen Verwaltungsgebieten, die ihm zu verfassen noch beschieden war und von denen niemand etwas wissen wollte.
Aber da Alexei Alexandrowitsch die Hoffnungslosigkeit seiner amtlichen Stellung gar nicht bemerkte, so kam es ihm auch nicht in den Sinn, sich gekränkt zu fühlen; vielmehr war er mit seiner Tätigkeit mehr als je zufrieden.
»Wer da freiet, der sorget, was der Welt angehöret, wie er dem Weibe gefalle; wer aber ledig ist, der sorget, was dem Herrn angehöret, wie er dem Herrn gefalle«, sagte der Apostel Paulus, und Alexei Alexandrowitsch, der sich jetzt in allen Stücken von der Heiligen Schrift leiten ließ, dachte häufig an diesen Spruch. Es schien ihm, daß er, seitdem er ohne Frau lebte, durch diese seine Entwürfe dem Herrn mehr diente als früher.
Durch die sichtliche Ungeduld des Reichsratsmitgliedes, das von ihm loszukommen wünschte, ließ Alexei Alexandrowitsch sich nicht stören; er hörte mit seinen Auseinandersetzungen erst dann auf, als jener Herr sich das Vorbeigehen eines Mitgliedes der Zarenfamilie zunutze machte und ihm entschlüpfte.
Als Alexei Alexandrowitsch allein geblieben war, suchte er, den Kopf senkend, seine Gedanken zu sammeln; dann blickte er zerstreut um sich und ging nach der Tür zu, wo er die Gräfin Lydia Iwanowna zu treffen hoffte.
›Wie kräftig und gesund diese Leute alle in körperlicher Hinsicht sind‹, dachte Alexei Alexandrowitsch beim Anblick des mächtig großen Kammerherrn mit dem auseinandergekämmten parfümierten Backenbarte und des in seine Uniform eingezwängten Fürsten mit dem roten Halse, an denen er vorbeigehen mußte.›Es ist ein wahres Wort, daß die ganze Welt im argen liegt‹, dachte er, da er den Gesprächsstoff der Herren ahnte, und richtete auch nach den Waden des Kammerherrn noch einen schielenden Blick.
Langsam dahinschreitend, grüßte Alexei Alexandrowitsch mit seiner gewohnten müden, würdevollen Miene diese Herren, die [351] sich über ihn unterhielten, und blickte dann nach der Tür und suchte mit den Augen die Gräfin Lydia Iwanowna.
»Ah, Alexei Alexandrowitsch!« sagte der kleine alte Herr, in dessen Augen es boshaft aufleuchtete, als Karenin in seine Nähe gekommen war und mit kühler Höflichkeit den Kopf neigte. »Ich habe Sie noch nicht beglückwünscht«, fuhr er fort, auf das neu erhaltene Ordensband deutend.
»Ich danke Ihnen«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch. »Welch ein schöner Tag heute«, fügte er hinzu, wobei er nach seiner Gewohnheit einen besonderen Ton auf das Wort »schön« legte.
Er wußte, daß sie sich über ihn lustig machten, und erwartete von ihrer Seite auch gar nichts anderes als Feindseligkeiten; daran war er schon gewöhnt.
In diesem Augenblick gewahrte er die aus dem Korsett sich heraushebenden gelben Schultern der Gräfin Lydia Iwanowna, die gerade in die Tür trat, und ihre schönen, schwärmerischen Augen, die ihn zu sich riefen; Alexei Alexandrowitsch lächelte, so daß seine noch tadellosen weißen Zähne sichtbar wurden, und ging auf sie zu.
Auf ihr Äußeres hatte Lydia Iwanowna, wie in der letzten Zeit stets, große Mühe verwendet. Sie bezweckte bei ihrer Kleidung jetzt etwas ganz anderes, als sie dreißig Jahre früher dabei im Auge gehabt hatte. Damals war es ihr eine Lust gewesen, sich mit irgend etwas zu putzen, und je mehr, um so besser. Jetzt dagegen mußte sie nach den Geboten des Hofes und der Mode Kleider tragen, die so wenig zu ihren Jahren und zu ihrer Gestalt paßten, daß ihr Streben nur darauf gerichtet war, den Gegensatz zwischen diesen Kleidern und ihrem Äußeren einigermaßen herabzumildern. Und bei Alexei Alexandrowitsch erreichte sie diesen Zweck, sie erschien ihm anziehend. Für ihn war sie inmitten dieses Meeres von Feindseligkeit und Spott, das ihn umgab, die einzige Insel des Wohlwollens, ja mehr noch, der Liebe.
Während er zwischen den spöttischen Blicken, die sich auf ihn richteten, wie durch eine Spießrutengasse dahinschritt, strebte er naturgemäß ihrem verliebten Blick entgegen wie die Pflanze dem Licht.
»Ich gratuliere Ihnen«, sagte sie zu ihm, mit den Augen auf das Ordensband hinweisend.
Ein Lächeln der Befriedigung unterdrückend, zuckte er mit den Achseln und schloß die Augen, als wollte er sagen, so etwas könne ihm keine Freude machen. Aber die Gräfin Lydia Iwanowna wußte ganz genau, daß dergleichen eine außerordentlich große Freude für ihn war, wenn er es auch niemals eingestand.
[352] »Was macht unser Engel?« fragte die Gräfin Lydia Iwanowna; mit dieser Bezeichnung meinte sie den kleinen Sergei.
»Ich kann nicht sagen, daß ich völlig mit ihm zufrieden wäre«, versetzte Alexei Alexandrowitsch, indem er die Brauen in die Höhe zog und die Augen weit öffnete. »Auch Sitnikow ist mit ihm unzufrieden.« (Sitnikow war der Erzieher, der Sergeis Ausbildung mit Ausnahme des Religionsunterrichtes zu leiten hatte.) »Wie ich Ihnen schon neulich sagte, zeigt er eine gewisse Gleichgültigkeit gerade den wichtigsten Fragen gegenüber, die die Seele eines jeden Menschen und auch eines jeden Kindes beschäftigen müssen«, begann Alexei Alexandrowitsch seine Gedanken über den einzigen Gegenstand, der ihn, abgesehen von der amtlichen Tätigkeit, jetzt noch interessierte, darzulegen.
Nachdem Alexei Alexandrowitsch sich mit Lydia Iwanownas Beihilfe dem Leben und der Tätigkeit von neuem zugewandt hatte, hatte er es als seine Pflicht empfunden, sich mit der Erziehung des in seinen Händen zurückgebliebenen Sohnes zu beschäftigen. Da er sich früher niemals mit Erziehungsfragen abgegeben hatte, so hatte er nun zunächst dem theoretischen Studium des Gegenstandes einen Teil seiner Zeit gewidmet und mehrere Bücher über Anthropologie, Pädagogik und Didaktik durchgearbeitet. Dann hatte er einen Erziehungsplan aufgestellt, dem besten Pädagogen Petersburgs die Leitung der Erziehung des Knaben übertragen und die Aufgabe in Angriff genommen. Und diese Aufgabe beschäftigte ihn nun beständig.
»Ja, aber das Herz? Ich erkenne bei ihm das Herz des Vaters, und mit einem solchen Herzen kann das Kind nicht schlecht sein«, erwiderte Lydia Iwanowna schwärmerisch.
»Mag sein ... Was mich betrifft, so erfülle ich eben meine Pflicht. Das ist alles, was ich tun kann.«
»Kommen Sie heute zu mir«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna nach einem kurzen Stillschweigen, »wir müssen über eine für Sie sehr traurige Angelegenheit sprechen. Ich würde alles darum geben, wenn ich Sie vor gewissen Erinnerungen bewahren könnte; aber andere Leute denken nicht so. Ich habe einen Brief von ihr erhalten. Sie ist hier, in Petersburg.«
Alexei Alexandrowitsch zuckte bei der Erwähnung seiner Frau zusammen; aber im nächsten Augenblick zeigte sich auf seinem Gesicht jener Ausdruck einer leichenhaften Starrheit, der seine völlige Hilflosigkeit in dieser Angelegenheit erkennen ließ.
»Ich habe das erwartet«, sagte er.
Die Gräfin Lydia Iwanowna blickte ihn schwärmerisch an, und Tränen des Entzückens über seine Seelengröße traten ihr in die Augen.
Als Alexei Alexandrowitsch das kleine, mit altem Porzellan und Bildnissen geschmückte, gemütliche Arbeitszimmer der Gräfin Lydia Iwanowna betrat, war die Hausfrau selbst noch nicht anwesend. Sie war dabei, sich umzukleiden.
Über den runden Tisch war ein weißes Tuch gebreitet, und darauf stand ein chinesisches Teegeschirr und eine silberne Teemaschine mit Spirituslampe. Alexei Alexandrowitsch blickte zerstreut umher nach den zahllosen ihm wohlbekannten Bildnissen, die das Zimmer schmückten; dann setzte er sich an den Tisch und schlug das dort liegende Neue Testament auf. Das Rascheln des seidenen Kleides der Gräfin ließ ihn das Buch wieder schließen.
»Sehen Sie wohl, nun wollen wir uns recht gemütlich hinsetzen«, sagte sie und schob sich eilig mit lächelndem, aber aufgeregtem Gesicht zwischen den Tisch und das Sofa, »und uns bei unserem Tee miteinander unterhalten.«
Nach einigen vorbereitenden Worten übergab sie ihm, schwer atmend und errötend, den Brief, den sie erhalten hatte.
Nachdem er den Brief gelesen hatte, schwieg er lange.
»Ich glaube nicht, daß ich ein Recht habe, es ihr abzuschlagen«, sagte er dann in schüchternem Ton und blickte auf.
»Mein Freund, Sie sehen in niemandem etwas Böses!«
»Im Gegenteil, ich sehe, daß alles böse ist. Aber ob es gerecht wäre, wenn ich ...«
Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Unentschlossenheit und die Bitte um Rat, Unterstützung und Leitung in dieser Sache, bei der sein Verständnis versagte.
»Nein«, unterbrach ihn die Gräfin Lydia Iwanowna. »Alles hat seine Grenzen. Ich habe Verständnis für die Sittenlosigkeit« (hierin redete sie nicht ganz aufrichtig, da sie niemals hatte begreifen können, was eigentlich Frauen zur Sittenlosigkeit treibt), »aber ich habe kein Verständnis für die Grausamkeit, und Grausamkeit gegen wen? Gegen Sie! Wie kann sie es wagen, sich in derselben Stadt aufzuhalten, wo Sie sind? Nein, man mag noch solange leben, sagt das Sprichwort, man lernt immer noch etwas Neues; und was ich Neues lerne, das ist, Ihre Seelengröße und die Niedrigkeit dieser Frau zu verstehen.«
»Wer darf einen Stein auf sie werfen?« sagte Alexei Alexandrowitsch, offenbar mit seiner Rolle bei dieser Erörterung zufrieden. »Ich habe ihr alles vergeben, und daher darf ich sie nicht dessen berauben, was für sie ein Bedürfnis der Liebe ist – der Liebe zu ihrem Sohne ...«
[354] »Aber ist das auch wirklich Liebe, mein Freund? Ist das aufrichtig? Allerdings, Sie haben ihr verziehen, Sie verzeihen ihr; ... aber haben wir ein Recht, in dieser Weise auf die Seele dieses Engels einzuwirken? Er hält sie für tot; er betet für sie und bittet Gott, ihr ihre Sünden zu vergeben. Und so ist es auch am besten. Aber was sollte er dann, dann denken?«
»An diese Seite der Frage habe ich nicht gedacht«, antwortete Alexei Alexandrowitsch, der ihr augenscheinlich recht gab.
Die Gräfin Lydia Iwanowna bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schwieg eine Zeitlang. Sie betete.
»Wenn Sie mich um Rat fragen«, sagte sie, nachdem sie ihr Gebet beendet und ihr Gesicht wieder frei gemacht hatte, »so rate ich Ihnen, es nicht zu tun. Ich sehe ja, wie Sie leiden, wie dies alle Ihre Wunden wieder aufgerissen hat; aber freilich, Sie denken, wie immer, nicht an sich selbst. Aber wozu kann denn eine solche Wiederbegegnung führen? Doch nur zu neuen Leiden für Sie und zu Qualen für das Kind. Wenn sie noch eine Spur von menschlichem Empfinden besäße, so dürfte sie selbst einen solchen Wunsch nicht haben. Nein, ich rate Ihnen ohne jedes Schwanken davon ab, und wenn Sie mich dazu ermächtigen, so werde ich es ihr schreiben.«
Alexei Alexandrowitsch gab seine Zustimmung, und die Gräfin Lydia Iwanowna schrieb in französischer Sprache nachstehenden Brief:
»Gnädige Frau! Die Erinnerung an Sie könnte Ihren Sohn zu Fragen veranlassen, die man nicht würde beantworten können, ohne daß die Seele des Kindes in die furchtbare Lage käme, verdammen zu müssen, was ihr ein Heiligtum bleiben soll, und daher bitte ich Sie, die abschlägige Antwort Ihres Gatten im Geiste der christlichen Liebe aufzufassen. Ich bitte den Allmächtigen um Barmherzigkeit für Sie.
Gräfin Lydia.«
Dieser Brief erreichte den geheimen Zweck, den die Gräfin nicht einmal sich selbst eingestehen mochte: er verletzte Anna in tiefster Seele.
Alexei Alexandrowitsch seinerseits war, nachdem er von Lydia Iwanowna nach Hause zurückgekehrt war, nicht imstande, sich an diesem Tage seinen gewohnten Beschäftigungen zu widmen und jenen Seelenfrieden des gläubigen und erlösten Menschen, den er vorher empfunden hatte, wiederzufinden.
Die Erinnerung an seine Frau, die sich so schwer an ihm versündigt hatte, und der er, wie die Gräfin Lydia Iwanowna ihm mit Recht versicherte, als ein Heiliger gegenüberstand, hätte ihn eigentlich nicht aufzuregen brauchen; aber dennoch war er nicht ruhig: er war nicht imstande, das Buch, das er las, zu verstehen, [355] nicht imstande, die quälenden Erinnerungen an sein Verhältnis zu ihr und an die Fehler, die er, wie es ihm jetzt schien, ihr gegenüber begangen hatte, zu verscheuchen. Die Erinnerung daran, wie er bei der Rückkehr vom Wettrennen das Geständnis ihrer Untreue aufgenommen hatte, und namentlich, daß er nur von ihr die Wahrung des äußeren Anstandes verlangt und den Zerstörer seines Familienlebens nicht zum Zweikampf gefordert hatte, marterte ihn mit bitterer Reue. Auch die Erinnerung an den Brief, den er an sie geschrieben hatte, quälte ihn; und ganz besonders erfüllte der Gedanke, daß er eine Verzeihung gewährt hatte, die niemandem Bedürfnis war, und daß er so liebevoll für das fremde Kind gesorgt hatte, sein Herz mit einem brennenden Gefühl von Scham und Reue.
Und das gleiche Gefühl von Scham und Reue empfand er jetzt, wenn er aus seiner ganzen Vergangenheit seine Beziehungen zu Anna vor seinem geistigen Auge vorüberziehen ließ und der ungeschickten Worte gedachte, mit denen er einst nach langem Schwanken ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte.
›Aber inwiefern trage ich eine Schuld?‹ fragte er sich. Und diese Frage rief bei ihm immer noch eine andere Frage hervor, nämlich ob wohl andere Leute, Leute wie dieser Wronski oder wie dieser Oblonski oder wie dieser Kammerherr mit den dicken Waden, in anderer Weise empfänden, in anderer Weise liebten, in anderer Weise heirateten. Er vergegenwärtigte sich eine ganze Reihe solcher gesunder, starker, selbstbewußter Männer, die unwillkürlich schon immer und überall seine neugierige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Er wies diese Gedanken von sich, er gab sich Mühe, in sich die Überzeugung lebendig zu machen, daß er nicht für das irdische, zeitliche Leben, sondern für das ewige Leben lebe und daß in seiner Seele Friede und Liebe wohne. Aber der Gedanke, daß er in diesem zeitlichen, nichtigen Leben, wie ihm schien, einige nichtige Fehler begangen habe, quälte ihn doch so, als wäre jene ewige Erlösung, an die er glaubte, nicht vorhanden. Indessen war diese Anfechtung nicht von langer Dauer, und bald herrschte in Alexei Alexandrowitschs Seele wieder jene edle Ruhe und jene erhabene Anschauungsweise, mit deren Hilfe er das vergessen konnte, woran er sich nicht erinnern mochte.
»Nun, was gibt's, Kapitonütsch?« sagte der kleine Sergei, als er lustig und mit roten Backen am Tage vor seinem Geburtstag vom Spaziergang zurückkam und sich anschickte, seinen faltenreichen [356] Überzieher dem großgewachsenen alten Pförtner einzuhändigen, der von seiner Höhe lächelnd auf den kleinen Mann herabschaute. »Nun, ist heute wieder der Beamte mit dem Arm in der Binde dagewesen? Hat ihn Papa empfangen?«
»Ja, er hat ihn empfangen. Sobald der Subdirektor weggegangen war, habe ich ihn gemeldet«, antwortete der Pförtner mit vergnügtem Augenzwinkern. »Bitte, ich möchte Ihnen beim Ausziehen behilflich sein.«
»Sergei«, sagte der Hofmeister des Knaben – ein Russe, kein Ausländer –, der in der Tür, die nach den inneren Zimmern führte, stehengeblieben war, »ziehen Sie sich den Überzieher selbst aus.«
Sergei hatte zwar den nur mäßig lauten Zuruf des Hofmeisters gehört, achtete aber nicht darauf. Er blieb stehen, faßte mit der Hand den Schultergurt des Pförtners an und sah ihm ins Gesicht.
»Nun, und hat Papa etwas für ihn getan?«
Der Pförtner nickte bejahend mit dem Kopfe.
Der Beamte mit dem Arm in der Binde, der schon siebenmal gekommen war, um Alexei Alexandrowitsch eine Bitte vorzutragen, beschäftigte auch Sergei und den Pförtner. Sergei hatte ihn einmal auf dem Flur getroffen und gehört, wie er den Pförtner kläglich gebeten hatte, ihn zu melden; er müsse sonst mit seinen Kindern elend umkommen.
Seitdem war Sergeis Teilnahme für den Beamten erregt, dem er nachher noch einmal auf dem Flur begegnet war.
»Nun, und hat er sich sehr gefreut?« fragte er.
»Aber selbstverständlich! Als er wegging, hüpfte er ordentlich vor Freuden.«
»Ist etwas für mich gebracht worden?« fragte Sergei nach einer kleinen Pause.
»Ja, junger Herr«, antwortete der Pförtner flüsternd und nickte mit dem Kopfe, »von der Gräfin ist etwas gekommen.«
Sergei wußte sofort, daß das, wovon der Pförtner sprach, ein Geschenk von der Gräfin Lydia Iwanowna zu seinem Geburtstag sei.
»Was du sagst! Wo ist es?«
»Kornei hat es zum Papa getragen. Es ist gewiß etwas sehr Schönes!«
»Wie groß ist es? So groß?«
»Ein bißchen kleiner; aber schön wird es schon sein.«
»Ein Buch?«
»Nein, ein Spielzeug. Aber nun gehen Sie, gehen Sie, Wasili Lukitsch ruft!« sagte der Pförtner, da er die Schritte des sich nähernden Hofmeisters hörte. Er deutete mit dem Kopf nach [357] Wasili Lukitsch Wunitsch hin und machte behutsam das in dem halb ausgezogenen Handschuh steckende Händchen von seinem Gurt los, an dem es ihn festhielt.
»Wasili Lukitsch, ich komme im Augenblick!« antwortete Sergei mit jenem vergnügten, freundlichen Lächeln, das den pünktlichen Wasili Lukitsch immer besiegte.
Aber Sergei war zu vergnügt und glücklich, als daß er es hätte übers Herz bringen können, seinem Freunde, dem Pförtner, gegenüber von der Freude zu schweigen, von der er auf seinem Spaziergang im Sommergarten durch die Nichte der Gräfin Lydia Iwanowna erfahren hatte. Diese Freude erschien ihm noch besonders wichtig durch ihr Zusammenfallen mit der Freude des armen Beamten und mit seiner eigenen Freude darüber, daß Spielzeug für ihn abgegeben war. Sergei hatte die Empfindung, als sei heute ein Tag, an dem alle Menschen froh und vergnügt sein müßten.
»Weißt du schon, daß Papa den Alexander-Newski-Orden bekommen hat?«
»Wie werde ich das nicht wissen! Es sind doch schon Gratulanten gekommen.«
»Nun, und hat er sich darüber gefreut?«
»Wie sollte er sich über eine solche Gnade des Zaren nicht freuen? Ohne Zweifel hat er sie verdient«, sagte der Pförtner ernst und würdevoll.
Sergei wurde nachdenklich und betrachtete das ihm bis auf die geringsten Einzelheiten genau bekannte Gesicht des Pförtners, namentlich das Kinn, das zwischen den beiden Hälften des grauen Backenbartes herunterhing und das außer Sergei, der immer nur von unten zu ihm hinaufsah, noch niemand zu sehen bekommen hatte.
»Nun, deine Tochter hat dich wohl schon lange nicht besucht?« Die Tochter des Pförtners war Ballett-Tänzerin.
»An Wochentagen kann sie ja doch nicht kommen. Die haben auch ihren Unterricht. Und Sie haben auch Ihren Unterricht, junger Herr, gehen Sie jetzt nur!«
Als Sergei in sein Zimmer gekommen war, teilte er, statt sich hinzusetzen und seine Aufgaben zu lernen, dem Hofmeister seine Vermutung mit, daß das, was für ihn gebracht wäre, gewiß eine Maschine sei. »Meinen Sie nicht auch?« fragte er.
Aber Wasili Lukitsch dachte jetzt nur daran, daß Sergei seine Aufgaben aus der Grammatik für den Lehrer lernen müsse, der um zwei Uhr kommen werde.
»Nein, Wasili Lukitsch, sagen Sie mir nur noch«, fragte Sergei plötzlich, als er schon am Arbeitstische saß und das Buch in der [358] Hand hatte, »was ist höher als der Alexander Newski? Sie wissen doch, daß Papa den Alexander Newski bekommen hat?«
Wasili Lukitsch antwortete, höher als der Alexander-Newski- sei der Wladimirorden.
»Und noch höher?«
»Der höchste ist der Andreasorden.«
»Und noch höher als der Andreasorden?«
»Da weiß ich keinen mehr.«
»Ach, da wissen Sie auch keinen mehr?« Sergei stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte den Kopf auf die Hände und vertiefte sich in seine Gedanken.
Diese Gedanken waren sehr wirr und buntscheckig. Er stellte sich vor, wie es sein würde, wenn sein Vater jetzt auch gleich den Wladimir- und den Andreasorden bekäme; dann würde er heute in der Unterrichtsstunde viel freundlicher sein. Und wenn er selbst erst groß sein würde, dann würde er alle Orden bekommen, auch die, die noch über dem Andreasorden erfunden würden. Sobald einer erfunden würde, wollte er ihn sich auch verdienen. Und so würden die Leute immer höhere Orden erfinden, und er würde sie immer gleich verdienen.
Über solchen Gedanken verging die Zeit, und als der Lehrer kam, hatte Sergei seine Aufgaben über die Umstandswörter der Zeit, des Ortes und der Art und Weise noch nicht inne, und der Lehrer war nicht nur unzufrieden, sondern auch betrübt. Die Betrübnis des Lehrers ging dem Knaben zu Herzen; aber daß er die Aufgaben nicht ordentlich konnte, in dieser Hinsicht fühlte er sich nicht eigentlich schuldig. Trotz aller Bemühung brachte er das ganz und gar nicht fertig; solange der Lehrer es ihm erklärte, war ihm alles glaublich und einigermaßen verständlich; aber sobald er dann allein war, konnte er sich schlechterdings nicht erinnern und nicht begreifen, wie das kurze und so verständliche Wort »plötzlich« ein Umstandswort der Art und Weise sein sollte; aber trotzdem tat es ihm leid, daß er den Lehrer betrübt hatte.
Er benutzte einen Augenblick, wo der Lehrer schweigend in das Buch sah.
»Michail Iwanowitsch, wann ist denn Ihr Namenstag?« fragte er unvermittelt.
»Sie sollten lieber an Ihre Arbeit denken. Namenstage haben für vernünftige Menschen gar keine Bedeutung. Ein Namenstag ist ein Tag wie jeder andere, und man muß an ihm ebenso arbeiten wie an anderen Tagen.«
Sergei sah seinen Lehrer aufmerksam an, das dünne Bärtchen, die Brille, die von der Nasenwurzel etwas tiefer herabgerutscht [359] war, und geriet in seine Gedanken hinein, daß er nichts mehr von dem hörte, was ihm der Lehrer erklärte. Er hatte recht wohl gemerkt, daß der Lehrer bei der Antwort auf die Frage nach dem Namenstage nicht so gesprochen hatte, wie er wirklich dachte; er hatte das am Ton gespürt, in dem der Lehrer gesprochen hatte. ›Aber warum haben sie sich nur alle verabredet, immer auf dieselbe Weise zu reden, immer so langweilige Lehren und Ermahnungen, die man nicht hören mag? Warum stößt er mich von sich zurück, warum hat er mich nicht lieb?‹ fragte er sich betrübt und konnte darauf keine Antwort finden.
Nach der Stunde bei dem Lehrer hatte Sergei Unterricht bei seinem Vater. In der Zwischenzeit, bevor dieser kam, setzte sich Sergei an den Tisch, spielte mit seinem Federmesser und hing wieder seinen Gedanken nach. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war, auf dem Spaziergang nach seiner Mutter zu suchen. An den Tod glaubte er überhaupt nicht, und im besonderen nicht an den Tod seiner Mutter, obgleich Lydia Iwanowna es ihm gesagt und der Vater es bestätigt hatte, und daher suchte er, auch nachdem ihm gesagt war, daß sie gestorben sei, nach ihr auf seinen Spaziergängen. In jeder etwas vollen, anmutigen Frau mit dunklem Haar glaubte er sie zu erkennen. Beim Anblick einer solchen Frau schwoll in seiner Seele ein so gewaltiges Gefühl der Zärtlichkeit an, daß ihm beinah der Atem versagte und ihm die Tränen in die Augen traten. Und er erwartete dann, daß sie im nächsten Augenblick zu ihm herantreten und den Schleier in die Höhe heben werde. Dann werde er ihr ganzes Gesicht sehen können, und sie werde lächeln und ihn umarmen, und er werde den Duft ihres Parfüms riechen, ihre zarten weichen Hände fühlen und glückselige Tränen vergießen, so wie er früher einmal eines Abends sich vor ihre Füße hingelegt hatte, und sie hatte ihn gekitzelt, und er hatte gelacht und sie in die weiße, mit Ringen geschmückte Hand gebissen. Später, nachdem er zufällig von der Kinderfrau gehört hatte, daß seine Mutter nicht gestorben sei, und sein Vater und Lydia Iwanowna ihm erklärt hatten, sie sei für ihn tot, weil sie schlecht geworden sei (was er nun schon gar nicht glauben konnte, weil er sie so sehr liebte), da suchte er genau ebenso weiter nach ihr und wartete auf sie. Heute war im Sommergarten eine Dame mit einem lila Schleier gewesen; die hatte er, während sie sich ihnen auf einer Seitenallee näherte, klopfenden Herzens mit den Augen verfolgt, in [360] der Hoffnung, sie sei es. Aber die Dame war gar nicht bis zu ihnen herangekommen, sondern vorher auf einmal abgebogen und verschwunden. Heute empfand Sergei stärker als je einen Anfall von Sehnsucht nach ihr, und jetzt hatte er, während er auf den Vater wartete, alles um sich vergessend, die ganze Tischkante mit dem Federmesser zerschnitten, blickte mit glänzenden Augen vor sich hin und dachte an sie.
»Der Papa kommt«, sagte Wasili Lukitsch und riß ihn aus seinen Gedanken.
Sergei sprang auf, trat zu seinem Vater und küßte ihm die Hand; darauf blickte er ihn aufmerksam an und suchte in seinem Gesichte nach einem Zeichen von Freude über den Alexander-Newski-Orden.
»War es hübsch auf dem Spaziergange?« fragte Alexei Alexandrowitsch, indem er sich auf seinen Lehnsessel setzte und das Alte Testament zu sich heranzog und aufschlug. Obwohl Alexei Alexandrowitsch wiederholt zu Sergei gesagt hatte, jeder Christ müsse die biblische Geschichte fest innehaben, mußte er selbst, wo es sich um das Alte Testament handelte, häufig im Buche nachsehen, und Sergei hatte das bemerkt.
»Ja, es war sehr lustig, Papa«, antwortete Sergei; er hatte sich auf die Kante des Stuhles gesetzt und schaukelte mit ihm, was verboten war. »Ich habe Nadjenka gesehen.« (Nadjenka war Lydia Iwanownas Nichte und wurde bei ihr erzogen.) »Sie hat mir gesagt, Sie hätten einen neuen Orden bekommen. Freuen Sie sich, Papa?«
»Erstens schaukle, bitte, nicht mit dem Stuhle«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch. »Zweitens sollen wir unsere Freude nicht am Lohne haben, sondern an der Arbeit. Es wäre mir lieb, wenn du das einsähest. Denn wenn du nur deshalb arbeitest und lernst, um eine Belohnung zu erhalten, dann wird dir die Arbeit schwer vorkommen; wenn du aber arbeitest« (dies sagte Alexei Alexandrowitsch in Erinnerung daran, wie er sich durch das Pflichtbewußtsein bei der langweiligen Arbeit des heutigen Vormittags aufrechterhalten hatte; er hatte einhundertundachtzehn Schriftstücke zu unterschreiben gehabt) »aus Liebe zur Arbeit, so wirst du in der Arbeit selbst deinen Lohn finden.«
Sergeis Augen, die soeben noch vor Zärtlichkeit und Heiterkeit gestrahlt hatten, wurden trübe und senkten sich unter dem Blick des Vaters. Das war derselbe ihm schon längst bekannte Ton, in dem der Vater immer mit ihm verkehrte und auf den Sergei bereits einzugehen gelernt hatte. Der Vater redete mit ihm stets (das war Sergeis Empfindung dabei), wie wenn er ein Geschöpf seiner Phantasie vor sich hätte, einen von den Knaben, wie sie [361] in Büchern vorkamen, aber mit ihm, Sergei, gar keine Ähnlichkeit hatten. Und Sergei stellte sich im Verkehr mit dem Vater immer nach Möglichkeit so, als sei er einer dieser in den Büchern vorkommenden Knaben.
»Ich hoffe, du verstehst das!« sagte der Vater.
»Ja, Papa«, antwortete Sergei, indem er sich anstellte, als sei er jenes Phantasiewesen.
Die Aufgabe für diese Stunde bestand im Auswendiglernen einiger Sprüche aus dem Evangelium und in der Wiederholung des Anfangs des Alten Testaments. Die Sprüche aus dem Evangelium hatte Sergei ganz gut gelernt; aber in dem Augenblick, wo er sie aufsagte, zerstreute er sich durch die Betrachtung des Stirnbeins seines Vaters, das an der Schläfe einen scharfen Knick bildete, und verhaspelte sich so, daß er von dem Ende des einen Verses in den Anfang eines mit dem gleichen Worte beginnenden anderen Verses hineingeriet. Alexei Alexandrowitsch betrachtete dies als einen deutlichen Beweis dafür, daß der Knabe das, was er aufsagte, nicht verstand, und das machte ihn verdrießlich.
Er runzelte die Stirn und begann eine Erläuterung, die Sergei schon oft gehört hatte, aber niemals hatte verstehen können, weil er eben den Text selbst ganz klar verstand – gerade wie bei der Belehrung, daß »plötzlich« ein Umstandswort der Art und Weise sei. Sergei blickte erschrocken den Vater an und hatte nur einen Gedanken: ob der Vater ihn das Gesagte würde wiederholen lassen, wie er es öfters getan hatte, oder nicht. Dieser Gedanke ängstigte ihn so, daß er nun gar nichts mehr verstand. Aber der Vater ließ es ihn diesmal nicht wiederholen und ging zu der Aufgabe aus dem Alten Testament über. Die Begebenheiten selbst erzählte Sergei recht befriedigend; aber als er Fragen nach dem vorbedeutenden Sinne einiger dieser Begebenheiten beantworten sollte, da wußte er nichts Rechtes, obgleich er wegen der gleichen Sache schon einmal bestraft worden war. Die Stelle, von der er gar nichts wußte und an der er herumstotterte, während er in den Tisch schnitt und sich auf dem Stuhle schaukelte, das war die, wo er über die vorsintflutlichen Patriarchen Auskunft geben sollte. Von diesen kannte er keinen außer Henoch, der lebend in den Himmel entrückt wurde. Kurz vorher hatte er noch alle Namen gewußt; aber jetzt hatte er sie ganz und gar vergessen, namentlich, weil Henoch seine Lieblingsgestalt aus dem ganzen Alten Testament war und sich in seinem Kopfe an die Entrückung des lebenden Henoch in den Himmel eine ganze lange Gedankenreihe anknüpfte, der er sich auch jetzt überließ, während er seine Augen auf die Uhrkette seines Vaters und auf einen nur halb zugeknöpften Knopf an dessen Weste heftete.
[362] An den Tod, von dem man ihm so oft erzählt hatte, glaubte Sergei nicht recht. Er glaubte nicht, daß die Menschen, die er liebhatte, sterben könnten, und namentlich nicht, daß er selbst einmal sterben werde. Das schien ihm völlig unmöglich und unbegreiflich. Aber man sagte ihm, alle Menschen müßten sterben; er hatte sogar mehrmals Leute, denen er Glauben schenkte, darüber befragt, und auch diese hatten es ihm bestätigt; unter anderen hatte es auch die Kinderfrau gesagt, wiewohl nur mit Widerstreben. Aber Henoch war doch nicht gestorben, folglich starben doch nicht alle Menschen. ›Und warum sollte sich denn nicht jeder Mensch vor Gott ebenso verdient machen können und dann auch lebend in den Himmel aufgenommen werden?‹ dachte Sergei. Die bösen Menschen, das heißt solche Menschen, die Sergei nicht leiden konnte, die konnten sterben; aber die guten konnten alle dasselbe Los haben wie Henoch.
»Nun also, wie heißen die Patriarchen?«
»Henoch, Enos ...«
»Die hattest du ja schon genannt. Schlecht, Sergei, sehr schlecht! Wenn du dir nicht einmal Mühe gibst, das zu lernen, was ein Christ am allernotwendigsten wissen muß«, sagte der Vater, indem er aufstand, »was kann dich dann überhaupt interessieren? Ich bin unzufrieden mit dir, und Peter Ignatjewitsch« (das war der Lehrer, der die oberste Leitung von Sergeis Erziehung hatte) »ist auch mit dir unzufrieden ... Ich muß dich bestrafen.«
Der Vater und der Lehrer waren beide mit Sergei unzufrieden, und er lernte in der Tat sehr schlecht. Aber man konnte durchaus nicht sagen, daß er ein unbefähigter Knabe gewesen wäre. Im Gegenteil, er war weit befähigter als jene Knaben, die der Lehrer ihm als Muster hinstellte. Nach der Ansicht des Vaters wollte er nicht lernen, was man ihn lehrte. In Wirklichkeit aber konnte er es nicht lernen. Er konnte es nicht lernen, weil in seiner Seele Forderungen vorhanden waren, die für ihn mehr Verbindlichkeit hatten als jene, die der Vater und der Erzieher an ihn stellten. Diese beiderseitigen Forderungen standen zueinander in Widerspruch, und so lag er mit seinen Erziehern geradezu im Kampfe.
Er war neun Jahre alt, er war ein Kind; aber sein Herz kannte er, es war ihm teuer, und er hütete es, so wie das Lid das Auge hütet, und ohne den Schlüssel der Liebe ließ er niemand in sein Herz hinein. Seine Erzieher klagten über ihn, daß er nicht lernen wolle, und doch war seine Seele von Wissensdurst erfüllt. Er lernte bei Kapitonütsch, bei der Kinderfrau, bei Nadjenka, bei Wasili Lukitsch, aber nicht bei seinen Lehrern. Das Wasser, auf das der Vater und der Lehrer für ihre Mühlräder warteten, war [363] schon längst durchgesickert und arbeitete an einer anderen Stelle.
Der Vater bestrafte Sergei dadurch, daß er ihn nicht zu Lydia Iwanownas Nichte Nadjenka gehen ließ; aber diese Strafe wurde für Sergei zu einem Glück. Wasili Lukitsch war guter Laune und zeigte ihm, wie man Windmühlen baut. Der ganze Abend verging bei dieser Arbeit und bei phantastischen Überlegungen, wie es möglich sei, eine solche Mühle anzufertigen, bei der man sich selbst mit herumdrehen könne; man müßte sich mit den Händen an den Flügeln festhalten oder sich anbinden lassen und sich dann mit herumdrehen. An seine Mutter dachte Sergei den ganzen Abend nicht mehr; aber als er schon zu Bett ging, erinnerte er sich auf einmal wieder an sie und betete leise mit seinen eigenen Worten darum, daß seine Mutter morgen, an seinem Geburtstage, sich nicht länger verbergen, sondern zu ihm kommen möchte.
»Wasili Lukitsch, wissen Sie, worum ich noch besonders gebetet habe?«
»Daß Sie künftig besser lernen möchten?«
»Nein.«
»Um Spielsachen?«
»Nein. Falsch geraten. Es ist etwas sehr Schönes, aber ein Geheimnis! Wenn es in Erfüllung geht, dann werde ich es Ihnen sagen. Haben Sie es noch nicht erraten?«
»Nein, ich kann es nicht raten. Sagen Sie es mir doch«, erwiderte Wasili Lukitsch und lächelte dabei, was bei ihm selten vorkam. »Nun, legen Sie sich nur jetzt hin; ich werde das Licht auslöschen.«
»Ohne Licht sehe ich das, woran ich denke und worum ich gebetet habe, noch deutlicher vor mir. Aber da hätte ich Ihnen beinahe mein Geheimnis verraten!« sagte Sergei vergnügt lachend.
Als das Licht hinausgetragen war, glaubte Sergei zu hören und zu fühlen, daß seine Mutter da sei, an seinem Bette stehe, sich über ihn beuge und ihn zärtlich und liebevoll anblicke. Aber dann erschienen Windmühlen, ein Federmesser; alles verschwamm ineinander, und er schlief ein.
Nach ihrer Ankunft in Petersburg waren Wronski und Anna in einem der besten Hotels abgestiegen. Wronski wohnte für sich in einem unteren Stockwerk, Anna mit dem Kinde, der [364] Amme und dem Kammermädchen oben, in einer größeren Wohnung von vier Zimmern.
Gleich am ersten Tage nach der Ankunft fuhr Wronski zu seinem Bruder; dort traf er außer seiner Schwägerin auch seine Mutter, die in geschäftlichen Angelegenheiten aus Moskau herübergekommen war. Beide begegneten ihm wie gewöhnlich; sie erkundigten sich nach seiner Auslandsreise, sprachen von gemeinsamen Bekannten, erwähnten aber seine Beziehung zu Anna mit keinem Wort. Sein Bruder dagegen, der ihn am nächsten Vormittag besuchte, fragte von selbst nach ihr, und Alexei Wronski sagte ihm geradeheraus, er betrachte seine Verbindung mit Frau Karenina wie eine Ehe; er hoffe, die Scheidung zu bewerkstelligen und sie dann zu heiraten; bis dahin sehe er sie genau ebenso als seine Frau an wie jeder Ehemann seine angetraute Gattin, und er bitte ihn, dies der Mutter und seiner Frau mitzuteilen.
»Wenn die gesellschaftlichen Kreise dies nicht gutheißen, so ist mir das völlig gleichgültig«, sagte Wronski. »Wenn aber meine Angehörigen mit mir in verwandtschaftlichen Beziehungen zu bleiben wünschen, so müssen sie auch zu meiner Frau in denselben Beziehungen stehen.«
Der ältere Bruder, der stets die Meinung des jüngeren achtete, war sich, ehe diese Frage nicht durch die Welt entschieden sei, nicht ganz klar darüber, ob Alexei recht habe oder nicht; er für seine Person hatte nichts dagegen und ging mit ihm zusammen zu Anna hinauf.
Wronski redete in Gegenwart seines Bruders, ebenso wie in Gegenwart aller anderen, Anna mit Sie an und verkehrte mit ihr wie mit einer näheren Bekannten; aber es galt dabei als selbstverständlich, daß der Bruder ihr Verhältnis kenne, und es wurde davon gesprochen, daß Anna mit nach Wronskis Gut übersiedeln werde.
Trotz aller seiner Weltkenntnis befand sich Wronski infolge seiner neuen, eigenartigen Lage in einem seltsamen Irrtum. Er hätte, schien es, nicht darüber in Zweifel sein können, daß die höheren Gesellschaftskreise ihm mit Anna verschlossen waren; aber es waren jetzt in seinem Kopfe allerlei unklare Vorstellungen entstanden, als ob das nur in früherer Zeit so gewesen sei, jetzt aber in einer Zeit des schnellen Fortschritts (ohne es selbst zu merken, war er jetzt auf allen Gebieten ein Anhänger des Fortschritts geworden) die Anschauungen der Gesellschaft sich geändert hätten und die Frage, ob sie Zutritt zur Gesellschaft erhalten würden, noch nicht entschieden sei. ›Natürlich‹, dachte er, ›die Hofgesellschaft wird ihr keine Aufnahme gewähren; [365] aber die Leute, die uns näherstehen, können und müssen die Sache in der richtigen Weise auffassen.‹
Man kann ein paar Stunden lang mit untergeschlagenen Beinen in ein und derselben Stellung dasitzen, wenn man weiß, daß einen nichts hindert, diese Stellung zu ändern; aber wenn der Mensch weiß, daß er so mit untergeschlagenen Beinen dasitzen muß, dann bekommt er einen Krampf, und die Beine zucken und drängen dahin, wohin er sie ausstrecken möchte. Dasselbe Gefühl machte Wronski der Gesellschaft gegenüber durch. Obgleich er in der Tiefe seines Herzens wußte, daß die Gesellschaft für sie beide verschlossen sei, so wollte er doch einen Versuch machen, ob sie sich nicht doch geändert habe und bereit sei, sie zu empfangen. Aber er merkte sehr bald, daß die Gesellschaft zwar ihm persönlich zugänglich, für Anna aber verschlossen war. Wie bei dem Katz-und-Maus-Spiel senkten sich die Arme, die sich für ihn erhoben hatten, sogleich vor Anna nieder.
Unter den Damen der Petersburger Gesellschaft, mit denen Wronski zusammenkam, war eine der ersten seine Base Betsy.
»Endlich!« begrüßte sie ihn erfreut. »Und Anna? Wie ich mich freue! Wo sind Sie denn abgestiegen? Ich kann mir denken, wie schrecklich Ihnen unser Petersburg nach Ihrer entzückenden Reise vorkommt; ich kann mir Ihren Honigmond in Rom vorstellen. Wie steht es denn mit der Scheidung? Ist das alles erledigt?«
Wronski spürte, daß Betsys Entzücken geringer wurde, als sie hörte, daß eine Scheidung noch nicht stattgefunden habe.
»Ich weiß, man wird mich steinigen«, sagte sie, »aber ich werde Anna trotzdem besuchen; jawohl, ich besuche sie unter allen Umständen. Sie beabsichtigen wohl nicht lange hier zu bleiben?«
Wirklich machte sie gleich noch am selben Tage Anna einen Besuch; aber ihr Ton war jetzt ganz anders als früher. Sie war augenscheinlich stolz auf ihre Kühnheit und wünschte, daß Anna die Treue ihrer Freundschaft auch gebührend würdigen möge. Sie blieb nicht länger als zehn Minuten, plauderte von Neuigkeiten aus der Gesellschaft und sagte beim Abschied:
»Sie haben mir noch nicht gesagt, wann die Scheidung stattfinden wird. Freilich, ich für meine Person setze mich über solche Rücksichten hinweg; aber andere, engherzigere Leute werden sich kühl gegen Sie benehmen, solange Sie noch nicht wirklich verheiratet sind. Und so etwas ist ja jetzt so einfach. Ça se fait. 1 Also Sie reisen am Freitag? Schade, daß wir uns nicht mehr sehen.«
[366] Aus Betsys Ton konnte Wronski ersehen, was er von der Gesellschaft zu erwarten habe; aber er wollte noch einen Versuch in seiner eigenen Familie machen. Auf seine Mutter setzte er dabei keine Hoffnung. Er wußte, daß seine Mutter, die bei der ersten Bekanntschaft mit Anna sich so entzückt von ihr gezeigt hatte, jetzt gegen sie unerbittlich war, weil sie ihr die Schuld daran zuschrieb, daß die Laufbahn ihres Sohnes in die Brüche gegangen war. Aber große Hoffnungen setzte er auf Warja, die Frau seines Bruders. Er meinte, diese werde keinen Stein auf Anna werfen, sondern einfach und entschlossen zu ihr kommen und sie auch bei sich empfangen.
Daher fuhr Wronski gleich am folgenden Tage noch einmal zu ihr und sprach, da er sie allein angetroffen hatte, seinen Wunsch ohne Umschweife aus.
»Du weißt, Alexei«, erwiderte sie, nachdem sie ihn hatte ausreden lassen, »wie gern ich dich habe und daß ich bereit bin, alles für dich zu tun; aber ich habe geschwiegen, weil ich wußte, daß ich dir und Anna Arkadjewna nicht von Nutzen sein kann.« Sie bediente sich geflissentlich der vollen Bezeichnung Anna Arkadjewna, um ihre Achtung auszudrücken. »Bitte, glaube nicht, daß ich über sie den Stab breche, durchaus nicht. Vielleicht hätte ich an ihrer Stelle dasselbe getan. Ich möchte nicht auf Einzelheiten eingehen und kann es auch unmöglich«, fuhr sie fort, indem sie ihm zaghaft in das finstere Gesicht blickte. »Aber man muß die Dinge bei ihrem Namen nennen. Du willst, daß ich sie besuche, sie bei mir empfange und sie dadurch in der Gesellschaft rechtfertige; aber du mußt dir doch bei näherer Überlegung selbst sagen, daß ich das schlechterdings nicht tun kann. Ich habe heranwachsende Töchter, und ich muß auch um meines Mannes willen in der Gesellschaft verkehren. Nun, sagen wir einmal, ich mache Anna Arkadjewna einen Besuch; dann wird sie merken, daß ich sie nicht zu mir einladen kann oder es so einrichten muß, daß sie dabei nicht mit Leuten zusammentrifft, die die Sache anders ansehen; und das wird kränkend für sie sein. Ich kann sie nicht hinaufheben ...«
»Meines Erachtens ist sie nicht tiefer gesunken als Hunderte von Frauen, die ihr empfangt!« unterbrach Wronski sie mit noch mehr verfinsterter Miene und stand dann schweigend auf, da er sah, daß der Entschluß seiner Schwägerin unerschütterlich war.
»Alexei! Sei mir nicht böse. Du mußt doch selbst einsehen, daß ich nichts dafür kann«, sagte Warja, ihn mit schüchternem Lächeln anblickend.
»Ich bin dir nicht böse«, versetzte er, ohne daß sich der finstere Ausdruck seines Gesichtes geändert hätte. »Aber von dir tut mir [367] die abschlägige Antwort doppelt weh. Auch das ist mir schmerzlich, daß dadurch unsere Freundschaft zerstört wird, wenn nicht zerstört, so doch jedenfalls abgeschwächt. Du wirst einsehen, daß auch ich darin nicht anders handeln kann.«
Und damit verließ er sie.
Wronski sah ein, daß weitere Versuche zwecklos seien und daß sie genötigt sein würden, diese paar Tage in Petersburg wie in einer fremden Stadt zu verleben und jede Berührung mit ihrer früheren Umwelt zu vermeiden, um sich nicht den peinlichsten Unannehmlichkeiten und Kränkungen auszusetzen. Eine der schlimmsten Unannehmlichkeiten ihrer Lage in Petersburg bestand darin, daß Alexei Alexandrowitsch und sein Name überall zu sein schienen. Man konnte von keinem Gegenstande zu sprechen anfangen, ohne daß sich das Gespräch auf Alexei Alexandrowitsch gewandt hätte; man konnte nirgends hinkommen, ohne ihm zu begegnen. Wenigstens hatte Wronski diese Empfindung, gerade wie es jemandem, der einen kranken Finger hat, scheint, als stoße er überall nur mit diesem kranken Finger an.
Der Aufenthalt in Petersburg wurde für Wronski auch dadurch noch drückender, daß er diese ganze Zeit über bei Anna eine neue, ihm unverständliche Gemütsverfassung wahrnahm. Bald war sie so zärtlich, als ob sie sich soeben in ihn verliebt hätte, bald wieder wurde sie kalt, reizbar und verschlossen. Sie quälte sich mit etwas und verbarg ihm etwas und tat, als bemerkte sie die Kränkungen gar nicht, die ihm das Leben vergifteten und ihr bei der Feinheit ihres Empfindens noch qualvoller sein mußten.
1 (frz.) Das geht schon.
Bei der Rückkehr nach Rußland hatte Anna namentlich den Zweck im Auge gehabt, ihren Sohn wiederzusehen. Seit dem Tage, wo sie aus Italien abgereist war, hatte der Gedanke an dieses Wiedersehen sie fortwährend in Aufregung erhalten. Und je mehr sie sich Petersburg genähert hatte, um so mehr Freude hatte sie von diesem Wiedersehen erhofft, um so größere Bedeutung ihm beigelegt. Wie dieses Wiedersehen bewerkstelligt werden könne, diese Frage hatte sie sich nicht vorgelegt. Es war ihr als eine ganz natürliche, einfache Sache erschienen, daß sie ihren Sohn wiedersehen werde, sobald sie sich mit ihm in ein und derselben Stadt befinde; aber nach der Ankunft in Petersburg kam ihr auf einmal ihre jetzige Stellung in der Gesellschaft deutlich zum Bewußtsein, und sie sah ein, daß [368] es seine Schwierigkeiten haben werde, ein Wiedersehen zu ermöglichen.
Nun war sie schon zwei Tage in Petersburg. Der Gedanke an ihren Sohn verließ sie keinen Augenblick; aber noch hatte sie ihn nicht gesehen. So einfach nach dem Hause hinzufahren, wo sie mit Alexei Alexandrowitsch zusammentreffen konnte, dazu hatte sie nach ihrem Gefühl kein Recht. Sie hätte sich der Möglichkeit ausgesetzt, nicht eingelassen und beleidigt zu werden. An ihren Mann zu schreiben und so wieder mit ihm in Beziehung zu treten – schon der bloße Gedanke war ihr eine Pein; ruhig konnte sie nur dann sein, wenn sie an ihren Mann gar nicht dachte. Ihren Sohn bei seinem Spaziergange wiederzusehen, nachdem sie vorher erfahren hätte, wohin und wann er ausgehen würde, das genügte ihr nicht; sie hatte sich so viel für dieses Wiedersehen vorgenommen, sie hatte ihm so viel zu sagen, sie sehnte sich so sehr danach, ihn zu umarmen und zu küssen. Sergeis alte Kinderfrau hätte ihr helfen und Rat geben können; aber diese war nicht mehr in Alexei Alexandrowitschs Hause. Über diesem Hin- und Herschwanken und den Nachforschungen nach dem Verbleib der Kinderfrau waren zwei Tage vergangen.
Da Anna von Alexei Alexandrowitschs nahen Beziehungen zu der Gräfin Lydia Iwanowna gehört hatte, entschloß sie sich am dritten Tage, obwohl es sie große Überwindung kostete, ihr jenen Brief zu schreiben, in dem sie absichtlich sagte, die Erlaubnis, ihren Sohn wiederzusehen, werde von der Großmut ihres Mannes abhängen müssen. Sie wußte, daß ihr Mann, wenn ihm der Brief gezeigt würde, die Rolle des Großmütigen weiter durchführen und ihr keine abschlägige Antwort erteilen werde.
Der Hoteldiener, der den Brief hingetragen hatte, brachte ihr die grausamste und von ihr am wenigsten erwartete Antwort zurück, nämlich, daß keine Antwort erfolge. Noch nie hatte sie sich so gedemütigt gefühlt wie in dem Augenblick, als sie den Hoteldiener hatte zu sich ins Zimmer kommen lassen und nun dessen eingehenden Bericht anhörte, wie er eine Weile habe warten müssen und ihm dann bestellt worden sei: »Eine Antwort erfolgt nicht.« Anna fühlte sich gedemütigt und beleidigt; aber sie sah ein, daß die Gräfin Lydia Iwanowna von ihrem Standpunkt aus recht habe. Ihr Schmerz war um so größer, da sie ihn allein für sich trug. Sie konnte und wollte ihn nicht mit Wronski teilen. Sie wußte, daß, obwohl er die Hauptursache ihres Unglücks war, ihm die Frage des Wiedersehens mit ihrem Sohne als recht geringfügig erschien. Sie wußte, daß er niemals imstande sein werde, die ganze Tiefe ihres Leidens zu verstehen; [369] sie wußte, daß sie ihn wegen des kalten Tones, dessen er sich beim Gespräche über diesen Gegenstand bedienen würde, hassen müßte. Und das fürchtete sie mehr als alles auf der Welt, und darum verbarg sie vor ihm alles, was ihren Sohn betraf.
Sie blieb den ganzen Tag zu Hause und sann über ein Mittel nach, wie sie ihren Sohn wiedersehen könne; zuletzt blieb sie bei dem Entschlusse stehen, an ihren Mann zu schreiben. Sie hatte diesen Brief bereits abgefaßt, als ihr Lydia Iwanownas Antwort überbracht wurde. Das Schweigen der Gräfin hatte sie gedemütigt und niedergedrückt; aber dieser Brief und alles, was sie zwischen seinen Zeilen las, versetzte sie in solche Empörung und diese Bosheit gegenüber ihrer leidenschaftlichen, berechtigten Liebe zu ihrem Sohne erschien ihr so abscheulich, daß ihr Ingrimm sich gegen die anderen Menschen aufbäumte und sie aufhörte, sich selbst anzuklagen.
›Diese eisige Kälte! Und dabei diese Gefühlsheuchelei!‹ sagte sie zu sich selbst. ›Sie wollen weiter nichts als mich beleidigen und das Kind quälen. Und ich sollte mich ihnen fügen? Nimmermehr! Dieses Weib ist schlechter als ich. Ich lüge wenigstens nicht.‹ Und auf der Stelle faßte sie den Entschluß, gleich morgen, an Sergeis Geburtstage, geradeswegs nach dem Hause ihres Mannes zu fahren, die Dienerschaft zu bestechen oder zu täuschen, aber unter allen Umständen ihren Sohn wiederzusehen und dieses abscheuliche Lügengewebe, mit dem sie das unglückliche Kind umgeben hatten, zu zerreißen.
Sie fuhr nach einem Spielwarengeschäft, kaufte Spielzeug und legte sich einen Plan zurecht. Sie wollte frühmorgens, um acht Uhr, wo Alexei Alexandrowitsch sicherlich noch nicht aufgestanden war, hinkommen, schon mit dem Gelde in der Hand, das sie dem Pförtner und dem Diener geben wollte, damit sie sie hineinließen, und wollte, ohne den Schleier in die Höhe zu nehmen, sagen, sie komme von dem Paten Sergeis, um ihm zu gratulieren, und es sei ihr aufgetragen, die Spielsachen neben das Bett des Knaben zu legen. Nur was sie ihrem Sohn sagen wollte, hatte sie sich nicht zurechtgelegt; soviel sie auch darüber nachdachte, so konnte sie doch nichts aussinnen.
Am andern Morgen fuhr Anna allein in einer Droschke hin; um acht Uhr war sie am Haupteingang ihres früheren Hauses, stieg aus und klingelte.
»Geh mal hin und sieh, wer da ist. Eine fremde Dame«, sagte Kapitonütsch, der, noch nicht angekleidet, im Überzieher und in Gummischuhen, durch das Fenster eine verschleierte Dame gesehen hatte, die dicht an der Tür stand. Der Gehilfe des Pförtners, ein junger Mensch, den Anna nicht kannte, hatte ihr kaum [370] die Tür geöffnet, als sie auch schon eintrat, schnell einen Dreirubelschein aus dem Muff zog und ihm in die Hand schob.
»Zu Sergei ... zu Sergei Alexejewitsch ...«, sagte sie undeutlich und ging weiter vorwärts. Der Gehilfe des Pförtners betrachtete die Banknote, hielt aber Anna bei der zweiten Tür, der Glastür, an.
»Zu wem wollen Sie?« fragte er.
Sie hatte seine Frage gar nicht verstanden und gab keine Antwort.
Kapitonütsch, der die Verlegenheit der Unbekannten bemerkt hatte, kam nun selbst zu ihr heraus, ließ sie durch die Tür hindurch und fragte, was sie wünsche.
»Ich habe vom Fürsten Skorodumow etwas an Sergei Alexejewitsch auszurichten«, erwiderte sie leise.
»Der junge Herr ist noch nicht aufgestanden«, versetzte der Pförtner und blickte sie forschend an.
Anna hatte in keiner Weise erwartet, daß die ganz unverändert gebliebene Einrichtung der Vorhalle dieses Hauses, in dem sie neun Jahre gewohnt hatte, ihr einen so tiefen Eindruck machen werde. Erinnerungen teils freudigen, teils schmerzlichen Charakters wurden eine nach der andern in ihrer Seele rege, und sie vergaß für einen Augenblick ganz, zu welchem Zweck sie da war.
»Möchten Sie vielleicht einen Augenblick warten?« fragte Kapitonütsch, indem er ihr den Pelz abnahm. Hierauf sah er ihr ins Gesicht, erkannte sie und machte ihr schweigend eine tiefe Verbeugung.
»Bitte gehorsamst, Euer Exzellenz«, sagte er.
Sie wollte etwas sagen; aber ihre Stimme weigerte sich, irgendeinen Laut hervorzubringen; sie warf dem alten Manne einen flehenden, schuldbewußten Blick zu und ging dann mit schnellen, leichten Schritten die Treppe hinauf. Ganz vornübergebeugt, mit den Gummischuhen an den Stufen anstoßend, lief Kapitonütsch hinter ihr her, bemüht, ihr zuvorzukommen.
»Der Hofmeister ist bei ihm und ist vielleicht noch nicht angekleidet. Ich werde anmelden.«
Anna eilte die ihr so wohlbekannte Treppe weiter hinauf, ohne zu verstehen, was der Alte sagte.
»Hierher, bitte gehorsamst, nach links. Verzeihen Sie, daß noch nicht rein gemacht ist. Der junge Herr wohnt jetzt in dem früheren Sofazimmer«, sagte der Pförtner, der ganz außer Atem war. »Belieben Euer Exzellenz einen Augenblick zu verziehen; ich werde nachsehen«, fuhr er fort, öffnete, an ihr vorbeieilend, eine hohe Tür und verschwand dahinter. Anna blieb stehen und [371] wartete. »Der junge Herr ist eben aufgewacht«, sagte der Pförtner, der wieder aus der Tür herauskam.
Und in dem Augenblicke, wo der Pförtner das sagte, hörte Anna den Ton eines kindlichen Gähnens. An dem bloßen Klange dieses Gähnens erkannte sie ihren Sohn und glaubte, ihn leibhaftig vor sich zu sehen.
»Laß mich, laß mich, geh nur!« sagte sie und schritt durch die hohe Tür. Rechts von der Tür stand das Bett, und auf dem Bette saß, halb aufgerichtet, der Knabe, im bloßen, aufgeknöpften Hemd; sein Körperchen krümmend und streckend, brachte er gerade sein Gähnen zum Abschluß. In dem Augenblick, wo seine Lippen sich wieder zusammenschlossen, bildete sich auf ihnen ein seliges, schläfriges Lächeln, und mit diesem Lächeln sank er wieder langsam und wonnig auf das Kissen zurück.
»Sergei!« flüsterte sie, indem sie unhörbar an sein Bett herantrat.
Während sie von ihm getrennt gewesen war und namentlich in der letzten Zeit, wo die Sehnsucht nach ihm so mächtig in ihr geworden war, hatte sie ihn sich immer als vierjährigen Knaben vorgestellt, da dies das Alter war, in dem sie ihn am allermeisten geliebt hatte. Jetzt aber war er nicht einmal mehr der, der er gewesen war, als sie ihn verließ; er hatte sich noch weiter von dem Bilde des Vierjährigen entfernt, war seit der Trennung noch mehr gewachsen und magerer geworden. Wie er aussah! Wie mager sein Gesicht, wie kurzgeschnitten sein Haar! Wie lang seine Arme! Wie hatte er sich verändert, seit sie ihn verlassen hatte! Aber doch war er es, mit seiner Kopfform, mit seinen Lippen, mit seinem weichen Hälschen und den breitgebauten Schulterchen.
»Sergei!« sagte sie noch einmal dicht über dem Ohr des Kindes.
Er richtete sich wieder auf den einen Ellbogen auf, drehte den zerzausten Kopf nach beiden Seiten, wie wenn er etwas suchte, und öffnete die Augen. Still und fragend blickte er einige Sekunden lang die regungslos vor ihm stehende Mutter an; dann lächelte er auf einmal glückselig und ließ sich, die schlaftrunkenen Augen wieder schließend, hinsinken, aber nicht rückwärts, sondern zu ihr hin, in ihre Arme.
»Sergei! Mein lieber Junge!« flüsterte sie, mühsam atmend, und schlang ihre Arme um seinen weichen Körper.
»Mama!« sagte er leise und bewegte sich unter ihren Händen, um mit recht vielen Teilen seines Körpers ihre Arme zu berühren.
Schlaftrunken lächelnd, immer noch mit geschlossenen Augen, hob er sich mit seinen weichen Händen an der Kopfwand des Bettes in die Höhe, griff dann von da nach den Schultern seiner [372] Mutter, lehnte sich an sie, indem er sie mit jenem angenehmen, warmen Dufte umgab, wie er nur bei schlafenden Kindern vorkommt, und begann sich mit dem Gesichte an ihrem Halse und an ihren Schultern zu reiben.
»Ich habe es gewußt«, sagte er und öffnete die Augen. »Heute ist mein Geburtstag. Ich habe es gewußt, daß du kommen würdest. Nun will ich gleich aufstehen.«
Aber während er das sagte, schlief er wieder ein.
Anna verschlang seine Gestalt mit den Augen; sie sah, wie er in ihrer Abwesenheit gewachsen war und sich verändert hatte. Sie erkannte, und erkannte auch nicht, seine nackten, jetzt so großen Füße, die unter der Bettdecke hervorschauten; sie erkannte diese mager gewordenen Backen, diese abgeschnittenen, kurzen Haarlöckchen im Nacken, auf den sie ihn so oft geküßt hatte. Sie betastete das alles und vermochte nichts zu sagen: die Tränen erstickten sie.
»Worüber weinst du denn, Mama?« fragte er, nun völlig wach geworden. »Mama, worüber weinst du?« rief er mit weinerlicher Stimme.
»Ich will nicht mehr weinen ... Ich weine vor Freude. Ich habe dich so lange nicht gesehen. Ich will nicht mehr weinen, nein, nein«, sagte sie, verschluckte ihre Tränen und wandte sich ab. »Aber nun wird es Zeit, daß du dich anziehst«, fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu, als sie sich wieder gefaßt hatte, und setzte sich, ohne seine Hand loszulassen, neben seinem Bett auf den Stuhl, auf dem seine Kleider lagen.
»Wie machst du es nur, dich ohne mich anzuziehen? Wie ...« Sie wollte in unbefangenem, munterem Tone reden, aber sie brachte es nicht fertig und wandte sich wieder weg.
»Ich wasche mich nicht mehr mit kaltem Wasser; Papa hat es verboten. Aber hast du Wasili Lukitsch noch nicht gesehen? Er wird gleich kommen. Aber du hast dich ja auf meine Kleider gesetzt!«
Sergei lachte laut auf. Sie sah ihn an und lächelte.
»Mama, liebe, einzige Mama!« rief er, warf sich von neuem gegen sie und umarmte sie, als wenn er erst jetzt beim Anblick ihres Lächelns klar begriffen hätte, was geschehen war. »Den brauchst du hier doch nicht«, sagte sie, indem er ihr den Hut abnahm. Und als ob er sie nun, wo sie keinen Hut aufhatte, eben erst erblickte, begann er wieder, sie stürmisch zu küssen.
»Aber was hast du denn über mich gedacht? Du hast doch nicht gedacht, daß ich gestorben wäre?«
»Nein, das habe ich nicht gedacht.«
»Das hast du nicht geglaubt, mein Junge?«
[373] »Ich habe es gewußt, ich habe es gewußt!« wiederholte er seinen Lieblingsausdruck. Er fing ihre Hand, die sein Haar streichelte, drückte deren Innenseite gegen seinen Mund und küßte und küßte sie.
Unterdessen hatte Wasili Lukitsch, der anfangs gar nicht gewußt hatte, wer diese Dame war, aus dem Gespräch entnommen, daß es die Mutter des Knaben war, die ihren Mann verlassen hatte und die er nicht kannte, da er erst nach ihrer Zeit in das Haus gekommen war; er war nun in Zweifel, ob er hineingehen sollte oder nicht oder ob er Alexei Alexandrowitsch Mitteilung machen sollte. Schließlich sagte er sich, seine Pflicht fordere nur, daß er Sergei zu einer bestimmten Stunde wecke; er habe daher nicht zu prüfen, wer bei dem Knaben sitze, die Mutter oder sonst jemand; aber seine Pflicht müsse er erfüllen. So kleidete er sich denn an, ging zur Tür und öffnete sie.
Aber die Liebkosungen, die Mutter und Sohn austauschten, und der Klang ihrer Stimmen, und das, was sie sprachen, alles dies veranlaßte ihn, seinen Entschluß zu ändern. Er schüttelte den Kopf und machte die Tür seufzend wieder zu. ›Ich will noch zehn Minuten warten‹, sagte er zu sich, räusperte sich und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Inzwischen war die Dienerschaft des Hauses in größter Aufregung. Alle hatten erfahren, daß die gnädige Frau gekommen sei und daß Kapitonütsch sie hereingelassen habe und daß sie jetzt im Kinderzimmer sei; und dabei ging doch der Herr immer zwischen acht und neun Uhr ins Kinderzimmer! Alle waren sich darüber klar, daß ein Zusammentreffen der beiden Gatten nicht stattfinden dürfe und verhindert werden müsse. Der Kammerdiener Kornei ging hinunter ins Pförtnerzimmer und erkundigte sich, wer sie hereingelassen habe und wie das zugegangen sei; und als er hörte, daß Kapitonütsch sie empfangen und heraufbegleitet habe, machte er dem Alten Vorwürfe. Der Pförtner beharrte in hartnäckigem Schweigen; aber als Kornei zu ihm sagte, er verdiene dafür weggejagt zu werden, da trat Kapitonütsch entschlossen auf ihn zu und sagte, indem er mit den Händen dicht vor Korneis Gesicht herumfuchtelte:
»Ja, du, du hättest sie nicht hereingelassen! Zehn Jahre habe ich hier gedient und nichts als Gutes von ihr erfahren. Dann geh du doch jetzt hin und sage zu ihr: ›Bitte, machen Sie, daß Sie hinauskommen!‹ Du verstehst dich ja darauf, den Mantel nach dem Winde zu hängen! Jawohl! Denk du lieber an dich [374] selbst, wie du den Herrn bestiehlst und ihm seine Schuppenpelze wegnimmst!«
»Ungebildeter Kommißsoldat!« sagte Kornei verächtlich und wandte sich zu der gerade ins Haus tretenden Kinderfrau: »Was sagen Sie dazu, Marja Jefimowna? Er hat die gnädige Frau hereingelassen, ohne jemandem ein Wort davon zu sagen. Alexei Alexandrowitsch kann jeden Augenblick aus seinem Zimmer kommen und ins Kinderzimmer gehen.«
»Böse Geschichten, böse Geschichten!« erwiderte die Kinderfrau. »Halten Sie, Kornei Wasiljewitsch, den Herrn irgendwie auf, und ich will hinlaufen und sehen, daß ich sie wegbringe. Böse Geschichten, böse Geschichten!«
Als die Kinderfrau ins Kinderzimmer trat, war Sergei gerade dabei, seiner Mutter zu erzählen, wie er und Nadjenka im Schlitten von einem Eisberg heruntergefahren und umgestürzt seien und sich dreimal überkugelt hätten. Sie hörte den Ton seiner Stimme, sah sein Gesicht und den lebhaft wechselnden Ausdruck darin und fühlte seine Hand in der ihrigen; aber sie verstand nicht, was er sagte. Daß sie fortgehen und ihn verlassen müsse, das war das einzige, was sie dachte und dessen sie sich bewußt war. Sie hörte auch Wasili Lukitschs Schritte, der an die Tür trat und hustete; sie hörte auch die Schritte der sich nähernden Kinderfrau; aber sie saß wie versteinert da und war weder imstande zu sprechen noch sich zu erheben.
»Gnädige Frau, liebe gnädige Frau!« begann die Kinderfrau, indem sie zu Anna herantrat und ihr die Hände und die Schultern küßte. »Ei, da hat Gott unserm Geburtstagskinde eine Freude beschert! Sie haben sich auch gar nicht verändert.«
»Ach, Sie gute Seele, ich wußte gar nicht, daß Sie noch hier im Hause sind«, sagte Anna, die einigermaßen wieder zur Besinnung kam.
»Ich wohne nicht hier; ich wohne bei meiner Tochter; ich bin nur gratulieren gekommen, Anna Arkadjewna, liebe gnädige Frau!«
Die Kinderfrau begann auf einmal zu weinen und ihr wieder die Hand zu küssen.
Lächelnd und mit strahlenden Augen hielt Sergei mit der einen Hand seine Mutter, mit der anderen die Kinderfrau gefaßt und trampelte mit seinen kräftigen nackten Beinen auf dem Teppich umher. Daß seine liebe Kinderfrau gegen seine Mutter so zärtlich war, versetzte ihn in Entzücken.
»Mama! Sie kommt oft zu mir, und jedesmal, wenn sie kommt ...« begann er, hielt aber inne, da er bemerkte, daß die Kinderfrau der Mutter etwas zuflüsterte und auf dem Gesicht [375] der Mutter ein Ausdruck des Erschreckens und etwas wie Scham sichtbar wurde, was ihr gar nicht gut stand.
Sie trat zu ihm heran.
»Mein lieber Junge!« sagte sie.
Sie war nicht imstande, Lebewohl zu sagen; aber der Ausdruck ihres Gesichtes sagte dies, und er verstand es. »Mein liebes, liebes Moppelchen!« sagte sie; mit diesem Kosenamen hatte sie ihn genannt, als er noch ein ganz kleines Kind war. »Du wirst mich nicht vergessen? Du ...« Aber sie vermochte nicht weiterzureden.
Wie viele Worte und Wendungen fielen ihr später ein, in denen sie hätte zu ihm reden können! Aber im Augenblick fand sie keine geeigneten Ausdrücke und war nicht imstande, etwas zu sagen. Aber Sergei verstand alles, was sie ihm zu sagen beabsichtigte. Er verstand, daß sie unglücklich war und ihn liebhatte. Er hatte sogar verstanden, was die Kinderfrau geflüstert hatte. Er hatte die Worte gehört: »Immer zwischen acht und neun Uhr«, und er hatte verstanden, daß dabei vom Vater die Rede war und daß die Mutter mit dem Vater nicht zusammentreffen durfte. Das hatte er verstanden; aber eines konnte er nicht verstehen: warum hatte sich auf ihrem Gesichte ein Ausdruck des Erschreckens und der Scham gezeigt? ... Sie hatte nichts Schlechtes getan, und doch fürchtete sie sich vor ihm und schämte sich über etwas. Gern hätte er eine Frage gestellt, um eine Aufklärung über diesen Zweifel zu erhalten; aber er wagte es nicht; er sah, daß sie litt, und sie jammerte ihn. Schweigend schmiegte er sich an sie und flüsterte ihr dann zu:
»Geh noch nicht weg. Er kommt noch nicht so bald.«
Die Mutter schob ihn ein wenig von sich zurück, um darüber ins klare zu kommen, ob er das, was er gesagt hatte, mit Verständnis gesagt habe, und erkannte an seinem ängstlichen Gesichtsausdrucke, daß er nicht nur vom Vater sprach, sondern sie auch gewissermaßen fragte, was er von seinem Vater denken solle.
»Sergei, mein lieber Junge«, sagte sie, »habe ihn lieb; er ist besser und braver als ich, und ich habe unrecht gegen ihn gehandelt. Wenn du erst groß geworden sein wirst, dann wirst du das verstehen.«
»Besser als du ist niemand! ...« rief er in voller Verzweiflung und unter strömenden Tränen, faßte sie an den Schultern und preßte sie mit seinen vor Anstrengung zitternden Armen aus Leibeskräften an sich.
»Mein Herzchen, mein lieber Kleiner!« murmelte Anna und begann ebenso hilflos und kindlich zu weinen wie er.
[376] In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Wasili Lukitsch trat ein. Auch bei der andern Tür wurden Schritte hörbar, und die Kinderfrau flüsterte erschrocken: »Er kommt!« und reichte Anna ihren Hut.
Sergei ließ sich aufs Bett zurückfallen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte. Anna zog ihm die Hände fort, küßte noch einmal sein tränenfeuchtes Gesicht und ging mit schnellen Schritten zur Tür. Dort traf sie mit Alexei Alexandrowitsch zusammen. Als er sie erblickte, blieb er stehen und senkte den Kopf.
Sie hatte zwar eben erst gesagt, er sei besser und braver als sie; aber bei dem schnellen Blick, den sie auf ihn richtete und mit dem sie seine ganze Gestalt mit allen Einzelheiten umfaßte, bemächtigte sich ihrer dennoch ein Gefühl des Widerwillens und des Ingrimms gegen ihn und ein Gefühl des Neides wegen des ihm verbleibenden Sohnes. Mit einer schnellen Bewegung zog sie den Schleier herunter, beschleunigte ihren Schritt und verließ fast laufend das Zimmer.
Sie war nicht einmal dazu gekommen, die Spielsachen, die sie tags zuvor im Laden mit so viel Liebe und Leid ausgesucht hatte, hervorzuholen, und brachte sie so, wie sie waren, wieder nach Hause zurück.
Wie lebhaft auch Anna das Wiedersehen mit ihrem Sohne gewünscht, wie lange sie auch daran gedacht und sich darauf vorbereitet hatte, so hätte sie doch nicht erwartet, daß dieses Wiedersehen einen so heftigen Eindruck auf sie machen werde. Als sie in ihr einsames Zimmer im Gasthofe zurückgekehrt war, konnte sie lange nicht begreifen, warum sie eigentlich dort sei. ›Ja, nun ist alles aus, und ich bin wieder allein‹, sagte sie zu sich und setzte sich, ohne den Hut abzunehmen, auf einen am Kamin stehenden Sessel. Regungslos nach der Bronze-Uhr hinstarrend, die auf einem Tische zwischen den Fenstern stand, überließ sie sich ihren Gedanken.
Die französische Kammerjungfer, die sie aus dem Auslande mitgebracht hatte, kam herein und bot ihre Hilfe beim Umkleiden an. Anna blickte sie erstaunt an und erwiderte: »Später.« Der Kellner fragte an, ob sie jetzt den Kaffee befehle. »Später«, antwortete sie.
Die italienische Amme, die gerade die Kleine angekleidet hatte, kam mit ihr herein und brachte sie der Mutter. Das dicke, wohlgenährte kleine Mädchen drehte, wie immer beim Anblick [377] der Mutter, die nackten, in den Gelenken wie von umgewickelten Fäden tief eingekerbten Ärmchen mit den Handflächen nach unten und begann, mit dem zahnlosen Mündchen lächelnd, mit den Händen zu rudern wie ein Fisch mit den Flossen und mit ihnen auf den gestärkten Falten seines gestickten Kleidchens herumzurascheln. Es war unmöglich, nicht zu lächeln, die Kleine nicht zu küssen; es war unmöglich, ihr nicht einen Finger hinzuhalten, den sie dann, vor Freude aufkreischend und mit dem ganzen Körper aufhüpfend, erfaßte; es war unmöglich, ihr nicht die Lippen hinzuhalten, die sie statt eines Kusses mit ihrem Mündchen umfaßte. Und alles dies tat Anna auch: sie nahm sie auf den Arm und ließ sie springen und küßte sie auf das frische Bäckchen und die nackten Ellbogen; aber beim Anblick dieses Kindes wurde es ihr noch klarer, daß das Gefühl, das sie für die Kleine empfand, im Vergleich mit demjenigen, das sie für Sergei hegte, eigentlich gar nicht Liebe zu nennen war. Alles an diesem kleinen Mädchen war entzückend; aber eigentümlicherweise wirkte alles dies nicht auf ihr Herz. Auf das erste Kind, wenn es auch von einem ungeliebten Vater stammte, hatte sie alle Kraft ihrer anderweitig unbefriedigt gebliebenen Liebe verwandt; das kleine Mädchen aber war unter den schrecklichsten Umständen geboren, und es war ihm nicht der hundertste Teil der Sorgfalt zuteil geworden, die dem ersten Kinde gewidmet worden war. Außerdem war bei dem kleinen Mädchen alles erst noch von der Zukunft zu er warten; Sergei dagegen war schon beinahe ein richtiger Mensch, und ein geliebter Mensch; in ihm kämpften schon Gedanken und Empfindungen; er verstand seine Mutter, er liebte sie, er hatte ein Urteil über sie; davon war sie, wenn sie sich seine Worte und Blicke vergegenwärtigte, überzeugt. Und nun war sie von ihm für immer nicht nur körperlich, sondern auch geistig getrennt, und es gab kein Mittel, dies zu ändern.
Sie gab das kleine Mädchen der Amme zurück, entließ sie und öffnete eine Bildkapsel, in dem sich ein Bild Sergeis aus der Zeit befand, wo er ungefähr ebenso alt gewesen war wie jetzt die Kleine. Sie stand auf, legte den Hut ab und nahm von einem Tischchen ein Album, das Aufnahmen ihres Sohnes aus verschiedenen Lebensaltern enthielt. Sie wollte die Bilder miteinander vergleichen und machte sich deshalb daran, sie aus dem Album herauszunehmen. Sie hatte schon fast alle herausgenommen, und nur eines, das letzte und beste Bild, steckte noch darin. Er saß darauf in einer weißen Hemdbluse rittlings auf einem Stuhle, kniff die Augen finster zusammen und lächelte mit dem Munde. Das war eine ihm ganz besonders eigene Miene, bei der [378] er am allerbesten aussah. Mit ihren kleinen, geschickten Händen, deren weiße, schlanke Finger sich jetzt besonders eifrig bewegten, erfaßte sie mehrmals ein Eckchen des Bildes; aber das Bild entschlüpfte ihr immer wieder, und sie konnte es nicht herausbekommen. Ein Papiermesser lag nicht auf dem Tische, und so zog sie denn das danebensteckende Bild aus der Einfassung (es war ein in Rom aufgenommenes Bild von Wronski, mit rundem Hut und mit langem Haar) und stieß damit das Bild ihres Sohnes heraus. ›Das ist ja sein Bild!‹ dachte sie, indem sie einen Blick auf das Bild Wronskis warf, und auf einmal erinnerte sie sich, wer die eigentliche Ursache ihres jetzigen Kummers war. Sie hatte diesen ganzen Morgen über auch nicht ein einziges Mal an ihn gedacht. Aber jetzt, da sie sein männliches, edles, ihr so wohlvertrautes und liebes Gesicht betrachtete, fühlte sie ein unerwartetes Aufwallen der Liebe in ihrem Herzen.
›Aber wo ist er denn? Wie kann er mich nur in meinem Leide allein lassen?‹ dachte sie plötzlich mit einem Gefühl des Vorwurfs und vergaß dabei, daß sie selbst ihm alles, was ihren Sohn betraf, verheimlicht hatte. Sie schickte zu ihm hinunter und ließ ihn bitten, sogleich zu ihr zu kommen; mit heftig klopfendem Herzen wartete sie auf ihn und sann im voraus darüber nach, mit welchen Worten sie ihm alles erzählen und mit welchen Versicherungen seiner Liebe er sie dann trösten werde. Der Bote kehrte mit der Antwort zurück, er habe Besuch von einem Herrn, werde aber gleich heraufkommen und lasse fragen, ob sie ihn mit seinem Gaste, dem Fürsten Jaschwin, der soeben in Petersburg angekommen sei, empfangen könne. ›Er legt keinen Wert darauf, allein zu kommen, und hat mich doch seit gestern mittag nicht gesehen‹, dachte sie. ›Nun kommt er nicht so, daß ich ihm alles offen mitteilen könnte, sondern bringt diesen Jaschwin mit.‹ Und plötzlich fuhr ihr der seltsame Gedanke durch den Kopf: ›Wie, wenn er mich nicht mehr liebt?‹
Und indem sie die Ereignisse der letzten Tage vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen ließ, glaubte sie in allem eine Bestätigung dieser schrecklichen Vermutung zu sehen: darin, daß er gestern auswärts zu Mittag gespeist hatte, und darin, daß er darauf bestanden hatte, daß sie in Petersburg getrennt wohnen sollten, und darin, daß er auch jetzt nicht allein zu ihr kam, gerade als wenn er ein Zusammentreffen unter vier Augen vermeiden wollte.
›Aber er muß mir darüber die Wahrheit sagen. Ich muß das wissen. Und wenn ich es wissen werde, dann werde ich auch wissen, was ich zu tun habe‹, sagte sie zu sich selbst, obgleich sie [379] nicht imstande war, sich eine Vorstellung von der Lage zu machen, in die sie kommen würde, wenn sie die Überzeugung von seiner Gleichgültigkeit gegen sie würde erlangt haben. Sie glaubte, daß er sie nicht mehr liebe, und war im höchsten Grade erregt, ja sie fühlte sich der Verzweiflung nahe. Sie klingelte der Kammerjungfer und ging in ihr Ankleidezimmer. Sie widmete heute ihrem Äußeren mehr Sorgfalt als all diese Tage über, als könnte er, wenn er sie nicht mehr liebte, sie um deswillen wieder von neuem liebgewinnen, weil sie das Kleid und die Frisur trug, die ihr am besten standen.
Noch ehe sie fertig war, hörte sie die Türklingel.
Als sie in das Besuchszimmer trat, war nicht Wronski, sondern Jaschwin der erste, der seinen Blick auf sie richtete. Wronski besah die Photographien ihres Sohnes, die sie aus Versehen auf dem Tisch hatte liegenlassen, und beeilte sich nicht, zu ihr aufzublicken.
»Wir kennen uns«, sagte sie, indem sie ihre kleine Hand in die gewaltige Tatze Jaschwins legte, der offenbar sehr verlegen war, was sich bei seiner hünenhaften Gestalt und seinen derben Gesichtszügen wunderlich genug ausnahm. »Wir haben uns im vorigen Jahre bei den Rennen kennengelernt. Bitte, geben Sie her«, sagte sie, indem sie Wronski mit einer raschen Bewegung die Photographien ihres Sohnes, die er besah, wegnahm und ihn mit ihren glänzenden Augen bedeutsam anblickte. »Waren die Rennen in diesem Jahre gut? Ich habe statt der Petersburger Rennen die Rennen auf dem Korso in Rom gesehen. Übrigens weiß ich, daß Sie das Leben im Auslande nicht lieben«, fuhr sie mit freundlichem Lächeln fort. »Ich kenne Sie und Ihren ganzen Geschmack, obgleich ich erst wenig mit Ihnen zusammengekommen bin.«
»Das tut mir sehr leid; denn ich besitze auf den allermeisten Gebieten einen recht schlechten Geschmack«, erwiderte Jaschwin und biß sich auf die linke Schnurrbartspitze.
Als die Unterhaltung noch ein Weilchen gedauert hatte und Jaschwin bemerkte, daß Wronski nach der Uhr sah, fragte er Anna, ob sie noch lange in Petersburg bleiben werde, und griff dabei, seine mächtige Gestalt geradebiegend, nach seinem Käppi.
»Ich glaube, nicht mehr lange«, antwortete sie verlegen und blickte nach Wronski hin.
»Dann sehen wir uns also wohl nicht mehr?« fragte Jaschwin, sich an Wronski wendend, und stand auf. »Wo speisest du heute zu Mittag?«
»Speisen Sie doch bei uns«, sagte Anna in entschlossenem Tone, als ob sie auf sich selbst wegen ihrer Verlegenheit ärgerlich [380] sei; aber sie errötete, wie stets, wenn sie vor einem Fernerstehenden ihre Lage durchblicken ließ. »Das Essen ist hier zwar nicht besonders; aber wenigstens bleiben Sie auf diese Art mit Alexei zusammen. Alexei hat von allen seinen Regimentskameraden zu keinem eine solche Zuneigung wie zu Ihnen.«
»Mit großem Vergnügen«, erwiderte Jaschwin mit einem freundlichen Lächeln, aus dem Wronski erkannte, daß ihm Anna sehr gefiel.
Jaschwin empfahl sich und ging zur Tür; Wronski blieb noch zurück.
»Fährst du auch weg?« fragte sie ihn.
»Ja, ich muß mich beeilen; es ist mir schon etwas spät geworden«, antwortete er. »Geh nur! Ich komme dir sofort nach!« rief er Jaschwin zu.
Sie ergriff ihn bei der Hand, blickte ihn mit unverwandten Augen an und suchte in ihren Gedanken etwas, was sie ihm sagen könnte, um ihn zurückzuhalten.
»Warte einen Augenblick; ich möchte dir noch etwas sagen.« Sie nahm seine breite, kurze Hand und drückte sie gegen ihren Hals. »Ist es dir auch nicht unangenehm, daß ich ihn zum Mittagessen eingeladen habe?«
»Das hast du sehr gut gemacht«, antwortete er mit einem ruhigen Lächeln, das seine vollzähligen Zähne sichtbar werden ließ, und küßte ihr die Hand.
»Alexei, du hast dich doch mir gegenüber nicht verändert?« fragte sie und drückte seine Hand mit ihren beiden Händen. »Alexei, ich habe hier zu viel Qual ausstehen müssen. Wann reisen wir?«
»Bald, bald. Du glaubst nicht, wie schwer es auch mir wird, hier zu leben«, versetzte er und zog seine Hand aus ihren Händen.
»Nun, dann geh nur, geh nur!« sagte sie gekränkt und trat schnell von ihm zurück.
Als Wronski ins Hotel zurückkehrte, war Anna noch nicht dort. Es wurde ihm gesagt, bald nachdem er das Hotel verlassen habe, sei eine Dame gekommen, und Anna sei mit ihr zusammen weggefahren. Daß sie weggefahren war, ohne ihm gesagt zu haben, wohin, und daß sie bis jetzt noch nicht wieder zurückgekehrt war, und daß sie am Morgen irgendwohin gefahren war, ohne ihm ein Wort davon zu sagen, dazu noch ihre seltsam aufgeregte Miene am Vormittag und der, wie er sich [381] erinnerte, geradezu feindselige Ton, mit dem sie ihm in Jaschwins Gegenwart die Photographien ihres Sohnes aus den Händen gerissen hatte, alles dies machte ihn nachdenklich. Er fand, daß es notwendig sei, sich darüber mit ihr auszusprechen, und wartete auf sie im Wohnzimmer. Aber Anna kehrte nicht allein zurück, sondern brachte ihre Tante, ein altes Fräulein, mit, die Prinzessin Oblonskaja. Das war eben die Dame, die am Vormittag zu Anna gekommen war und mit der sie dann ausgefahren war, um Einkäufe zu machen. Anna schien Wronskis sorgenvolle, fragende Miene nicht zu bemerken und erzählte ihm in munterem Tone, was sie heute vormittag alles eingekauft habe. Er sah, daß in ihr etwas Besonderes vorging: in ihren glänzenden Augen lag, wenn sie einen Augenblick auf ihm hafteten, eine gespannte Aufmerksamkeit und in ihren Reden und Bewegungen jene nervöse Raschheit und Anmut, die ihn in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft so entzückt hatte, jetzt aber beunruhigte und erschreckte.
Zum Mittagessen war für vier Personen gedeckt. Alle waren bereits versammelt, um in das kleine Speisezimmer zu gehen, als Tuschkewitsch mit einem Auftrag von der Fürstin Betsy an Anna erschien. Die Fürstin Betsy ließ um Entschuldigung bitten, daß sie nicht gekommen sei, um ihr Lebewohl zu sagen; ihr sei nicht wohl, sie bitte aber Anna, zwischen halb sieben und neun Uhr zu ihr zu kommen. Wronski blickte Anna an; aus dieser Zeitbestimmung ging hervor, daß Maßregeln getroffen waren, damit sie mit niemandem dort zusammenträfe; aber Anna schien dies nicht zu bemerken.
»Es tut mir außerordentlich leid, daß ich gerade zwischen halb sieben und neun nicht kommen kann«, erwiderte sie mit ganz leisem Lächeln.
»Das wird die Fürstin sehr bedauern.«
»Ich bedauere es gleichfalls sehr.«
»Sie wollen gewiß die Patti hören?« fragte Tuschkewitsch.
»Die Patti? Da bringen Sie mich auf einen guten Gedanken. Wenn es möglich wäre, eine Loge zu bekommen, würde ich hinfahren.«
»Eine Loge könnte ich Ihnen verschaffen«, versetzte Tuschkewitsch diensteifrig.
»Ich würde Ihnen sehr, sehr dankbar sein«, erwiderte Anna. »Aber mögen Sie nicht mit uns speisen?«
Wronski zuckte ein ganz klein wenig mit den Achseln. Er konnte Annas Handlungsweise ganz und gar nicht begreifen. Wozu hatte sie diese alte Prinzessin mitgebracht, wozu lud sie Tuschkewitsch ein, zum Essen dazubleiben, und, was das Allererstaunlichste[382] war, wozu beauftragte sie ihn, ihr eine Loge zu besorgen? Konnte sie denn überhaupt daran denken, in ihrer Lage eine Abonnementsvorstellung zu besuchen, in der die Patti sang und bei der also Annas sämtliche Bekannte aus der höheren Gesellschaft anwesend waren? Er sah sie mit ernster Miene an; aber sie antwortete darauf mit einem herausfordernden, halb fröhlichen, halb verzweifelten Blick, dessen Bedeutung er nicht enträtseln konnte. Bei Tisch war Anna von einer kecken Lustigkeit; es machte den Eindruck, als kokettiere sie sowohl mit Tuschkewitsch wie mit Jaschwin. Als sie von Tisch aufgestanden waren und Tuschkewitsch weggefahren war, um die Loge zu besorgen, ging Wronski mit Jaschwin, der gern rauchen wollte, in sein Zimmer hinunter. Nachdem er dort ein Weilchen mit ihm gesessen hatte, eilte er wieder hinauf. Anna hatte sich bereits umgekleidet und trug nun ein tief ausgeschnittenes helles seidenes Kleid mit Samtbesatz, das sie sich in Paris hatte machen lassen, und auf dem Kopfe kostbare weiße Spitzen, die ihr Gesicht umrahmten und ihre blendende Schönheit besonders vorteilhaft hervorhoben.
»Wollen Sie wirklich ins Theater fahren?« fragte er und bemühte sich dabei, sie nicht anzusehen.
»Warum fragen Sie denn danach in so ängstlichem Tone?« erwiderte sie, von neuem dadurch verletzt, daß er sie nicht ansah. »Warum sollte ich nicht hinfahren?«
Sie gab sich den Anschein, als verstehe sie die Bedeutung seiner Frage nicht.
»Selbstverständlich liegt gar kein Grund dagegen vor«, versetzte er mit gerunzelter Stirn.
»Ganz meine Ansicht«, erwiderte sie, indem sie seinen ironischen Ton absichtlich überhörte und ruhig den langen, parfümierten Handschuh auf den Arm streifte.
»Anna, um Gottes willen! Was ist mit Ihnen?« sagte er, um sie zur Besinnung zu bringen, genauso, wie einstmals ihr Mann zu ihr gesprochen hatte.
»Ich verstehe nicht, warum Sie danach fragen.«
»Sie wissen, daß Sie da nicht hinfahren können.«
»Warum sollte ich das nicht können? Ich fahre nicht allein. Die Prinzessin Warwara ist nur weggefahren, um sich umzuziehen; sie fährt mit mir.«
Er zuckte die Achseln mit einer Miene des Staunens und der Verzweiflung.
»Aber wissen Sie denn nicht ...«, begann er.
»Ich will es nicht wissen!« unterbrach sie ihn, beinahe schreiend. »Ich will nicht! Bereue ich denn, was ich getan habe? [383] Nein, nein und nochmals nein! Und wenn ich noch einmal am Anfang stände, so würde doch alles denselben Verlauf nehmen Für uns, für mich und für Sie, ist nur eines wichtig: ob wir einander lieben. Weiter kommt nichts in Betracht. Warum wohnen wir hier getrennt und sehen einander nicht? Warum soll ich nicht in die Oper fahren? Ich liebe dich, und alles übrige ist mir gleichgültig«, sprach sie russisch weiter und blickte ihn mit einem eigentümlichen, ihm rätselhaften Glanze in den Augen an, »wenn du dich nicht verändert hast. Warum siehst du mich denn nicht an?«
Er blickte sie an. Er sah die ganze Schönheit ihres Gesichts und ihrer Gesellschaftstoilette, die ihr stets so vorzüglich stand. Aber jetzt war es gerade ihre Schönheit und Eleganz, was ihn in gereizte Stimmung versetzte.
»Mein Gefühl kann sich nicht ändern, das wissen Sie; aber ich bitte, ich beschwöre Sie, nicht in die Oper zu fahren«, sagte er, beim Französischen verbleibend; seine Stimme klang zärtlich und flehend, aber sein Blick war kalt.
Seine Worte hörte sie nicht; aber sie sah die Kälte seines Blickes und antwortete gereizt:
»Und ich bitte Sie, mir zu erklären, warum ich nicht hinfahren soll.«
»Sie setzen sich der Gefahr aus, daß ...« Er zauderte, weiterzusprechen.
»Ich verstehe nicht, was Sie eigentlich meinen. Jaschwin n'est pas compromettant 1, und die Prinzessin Warwara ist in keiner Hinsicht schlechter als andere Frauen. Und da ist sie auch schon.«
1 (frz.) Mit Jaschwin kompromittiert man sich nicht.
Zum ersten Male empfand Wronski gegen Anna ein Gefühl des Ärgers, ja fast des Ingrimms wegen dieser absichtlichen Verkennung ihrer Lage. Dieses Gefühl wurde noch dadurch gesteigert, daß er ihr den Grund, weshalb er sich ärgerte, nicht wohl mitteilen konnte. Hätte er ihr offen sagen wollen, was er dachte, so hätte er sagen müssen, in dieser Kleidung mit der allgemein bekannten Prinzessin im Theater zu erscheinen, das wäre nicht nur ein Zugeständnis, daß sie eine Gefallene sei, sondern auch eine schroffe Herausforderung an die vornehme Gesellschaft, das heißt ein Bruch mit ihr für immer.
Das konnte er ihr nicht sagen. ›Aber wie ist es nur möglich, daß sie das nicht einsieht? Und was geht in ihr vor?‹ fragte er sich selbst. Er fühlte, wie bei ihm gleichzeitig die Achtung vor [384] ihr sich verminderte und die Bewunderung ihrer Schönheit noch zunahm.
Mit finsterem Gesicht kehrte er wieder in sein Zimmer zurück und setzte sich zu Jaschwin, der seine langen Beine auf einen Stuhl gestreckt hatte und Kognak mit Selterswasser trank. Wronski ließ sich dasselbe Getränk bringen.
»Du sprachst von Lankowskis Hengst Mogutschi. Das ist ein gutes Pferd, und ich kann dir nur raten, es zu kaufen«, sagte Jaschwin, der die finstere Miene seines Kameraden sehr wohl bemerkte. »Das Hinterteil hängt ein wenig; aber Beine und Kopf kann man sich gar nicht besser wünschen.«
»Ich glaube, ich werde ihn nehmen«, antwortete Wronski.
Das Gespräch über Pferde zog ihn ja an; aber er mußte doch fortwährend an Anna denken, horchte unwillkürlich nach dem Geräusch der Schritte auf dem Vorsaal und blickte nach der Uhr auf dem Kamin.
»Anna Arkadjewna läßt sagen, daß sie ins Theater gefahren ist.«
Jaschwin kippte noch ein Glas Kognak in das schäumende Wasser, trank es aus, stand auf und knöpfte seinen Rock zu.
»Nun, wollen wir auch fahren?« fragte er. Er lächelte leise unter seinem Schnurrbart und deutete durch dieses Lächeln an, daß er die Ursache der Mißstimmung Wronskis kenne, ihr aber keine Bedeutung beimesse.
»Ich komme nicht mit«, erwiderte Wronski finster.
»Ich muß aber hin, ich habe es versprochen. Nun, dann also auf Wiedersehen. Sonst komm doch ins Parkett und nimm Krasinskis Platz«, fügte Jaschwin beim Hinausgehen hinzu.
»Nein, ich habe zu tun.«
›Eine Ehefrau macht einem Sorgen, und eine, mit der man nicht verheiratet ist, noch mehr‹, dachte Jaschwin, als er aus dem Hotel hinaustrat.
Als Wronski allein geblieben war, stand er vom Stuhl auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
›Was ist denn heute in der Oper? Die vierte Abonnementsvorstellung ... Jegor und Gemahlin werden da sein und wahrscheinlich auch die Mutter. Das heißt, ganz Petersburg ist da. Jetzt hat sie sich schon in die Loge begeben, hat den Pelz abgelegt und ist nach vorn ins Helle getreten. Tuschkewitsch, Jaschwin, die Prinzessin Warwara sind bei ihr.‹ Alles vergegenwärtigte er sich auf das lebhafteste. ›Nun, und ich? Fürchte ich mich etwa, oder habe ich diesen Tuschkewitsch beauftragt, ihr Beschützer zu sein? Man mag die Geschichte ansehen, wie man will, sie ist zu dumm, zu dumm! ... Und warum bringt sie mich [385] in diese Lage?‹ dachte er und schwenkte dabei ärgerlich mit dem Arm.
Bei dieser Bewegung stieß er an das Tischchen, auf dem das Selterswasser und die Kognakflasche standen, diese drohte herunterzufallen.
Er wollte sie noch greifen, aber sie fiel doch, und ärgerlich stieß er mit dem Fuß den Tisch um und klingelte.
»Wenn du bei mir im Dienst bleiben willst«, sagte er zu dem eintretenden Kammerdiener, »so denke besser an deine Obliegenheiten. Das brauchte hier nicht mehr herumzustehen. Du hättest es abräumen müssen.«
Im Gefühl seiner Schuldlosigkeit wollte sich der Kammerdiener rechtfertigen; aber als er seinen Herrn anblickte, merkte er an dessen Gesicht, daß es ratsam sei zu schweigen. Er kniete auf den Teppich nieder und begann, eilig herumkriechend, die heilen und zerschlagenen Gläser und Flaschen aufzulesen.
»Das ist nicht deine Sache. Schicke den Kellner her, dies wegzubringen, und lege mir meinen Frack zurecht!«
Als Wronski das Theater betrat, war es halb neun Uhr. Die Aufführung war in vollem Gange. Ein alter Türschließer nahm ihm den Pelz ab, betitelte ihn, als er ihn erkannt hatte, »Euer Erlaucht« und bemerkte dienstfertig, er brauche keine Garderobennummer zu nehmen, sondern solle nachher nur einfach »Fjodor!« rufen. In dem hell erleuchteten Gang befand sich niemand außer dem Türschließer und zwei Lakaien mit Pelzen über den Armen, die an der Tür horchten. Durch die nur angelehnte Tür vernahm man die zurückhaltende Stakkato-Begleitung des Orchesters und eine weibliche Stimme, die mit großer Genauigkeit ein Gesangstück vortrug. Die Tür öffnete sich, um einen hindurchschlüpfenden Türschließer herauszulassen, und das Gesangstück, das sich seinem Ende näherte, drang auf einmal laut und deutlich an Wronskis Ohr. Aber die Tür schloß sich sofort wieder, und Wronski konnte den Schlußsatz nicht hören, erkannte aber durch die Tür hindurch an dem donnernden Händeklatschen, daß der Gesang zu Ende war. Als er in den von Kronleuchtern und bronzenen Gasarmen hell erleuchteten Saal trat, dauerte der Lärm noch an. Auf der Bühne stand die Sängerin, mit schimmernden nackten Schultern und blitzenden Brillanten, verbeugte sich lächelnd, sammelte mit Hilfe des Tenors, der sie an der Hand gefaßt hatte, die ungeschickt über die Rampe geworfenen Blumen und trat zu einem Herrn mit wundervollem Mittelscheitel in den pomadeglänzenden Haaren, der sich mit seinen langen Armen über die Rampe herüberreckte und ihr irgendeinen Gegenstand [386] hinhielt; und das gesamte Publikum im Parkett und in den Logen war in Aufregung, beugte sich vor, schrie und klatschte. Der Kapellmeister auf seinem erhöhten Platze war bei der Überreichung des Geschenkes behilflich und rückte dann seine weiße Binde wieder zurecht. Wronski ging bis mitten ins Parkett hinein, blieb dann stehen und blickte um sich. Heute achtete er noch weniger als sonst auf das ihm bekannte, gewohnte Bild, auf die Bühne, auf diesen Lärm, auf dieses ganze bekannte, ihm gleichgültige bunte Gewimmel von Zuschauern in dem gedrängt vollen Theater.
In den Logen befanden sich Damen von der gleichen Art wie immer und im Hintergrunde der Logen irgendwelche Offiziere; überall dieselben buntgeputzten Damen wie sonst, Gott weiß welchen Standes, dieselben Uniformen und Zivilanzüge; derselbe unsaubere Pöbel auf der Galerie; und unter diesem ganzen Schwarm waren in den Logen und in den vordersten Reihen des Parketts etwa vierzig wirkliche Herren und Damen. Auf diese Oasen richtete Wronski sofort seine Aufmerksamkeit und trat mit ihnen unverzüglich in Beziehung.
Als er eintrat, war gerade ein Akt zu Ende; daher ging er, ohne in der Loge seines Bruders vorgesprochen zu haben, nach vorn bis zur ersten Reihe des Parketts und blieb an der Rampe bei Serpuchowskoi stehen, der, das eine Knie krümmend, mit dem Absatz gegen die Rampe klopfte und, sowie er Wronski von weitem gewahr geworden war, ihn durch ein Lächeln zu sich herangerufen hatte.
Wronski hatte Anna noch nicht gesehen; er blickte absichtlich nicht nach ihrer Seite. Aber er merkte an der Richtung der Blicke anderer, wo sie saß. Er sah sich unauffällig um, ohne nach ihr zu suchen; das Schlimmste erwartend, suchte er mit den Augen Alexei Alexandrowitsch. Aber zu Wronskis Glück war er heute nicht im Theater.
»Wie wenig Militärisches du dir doch in deiner Erscheinung bewahrt hast!« sagte Serpuchowskoi zu ihm. »Du siehst aus wie ein Diplomat, ein Künstler oder so etwas.«
»Ja, sowie ich wieder nach Rußland zurückgekehrt bin, habe ich den Frack angezogen«, antwortete Wronski lächelnd und nahm langsam das Opernglas aus dem Behälter.
»Offengestanden, in dieser Hinsicht beneide ich dich. Ich, wenn ich aus dem Auslande zurückkomme und dies hier wieder anlege« (er berührte seine Achselstücke), »bedaure immer, daß es mit meiner Freiheit wieder aus ist.«
Serpuchowskoi hatte schon längst die Hoffnung aufgegeben, daß Wronski je wieder zu seiner militärischen Tätigkeit zurückkehren [387] werde; aber er hatte ihn noch ebenso gern wie früher und war jetzt besonders liebenswürdig zu ihm.
»Schade, daß du den ersten Akt versäumt hast.«
Wronski, der ihm nur mit einem Ohre zuhörte, richtete sein Opernglas auf den ersten Rang und die Parkettlogen und musterte die dort Sitzenden. Neben einer Dame mit einem Turban und einem kahlköpfigen alten Herrn, dessen ärgerlich verlegene Miene er durch sein umherwanderndes Glas wahrnahm, erblickte er auf einmal Annas stolzen, überraschend schönen, lächelnden Kopf in der Spitzenumrahmung. Sie befand sich in der fünften Parkettloge, etwa zwanzig Schritte von ihm entfernt. Sie saß vorn an der Brüstung und sagte, ein wenig zurückgewendet, etwas zu Jaschwin. Die Haltung ihres Kopfes auf den schönen, breiten Schultern und das verhaltene, lebhafte Leuchten ihrer Augen und des ganzen Gesichtes erinnerten ihn durchaus an die Erscheinung, in der sie ihm auf dem Ball in Moskau entgegengetreten war. Aber jetzt war seine Empfindung dieser Schönheit gegenüber ganz anders. In seinem Gefühl für sie lag jetzt nichts Geheimnisvolles mehr, und daher hatte ihre Schönheit, wiewohl sie ihn noch stärker als früher anzog, jetzt zugleich für ihn etwas Verletzendes. Sie blickte nicht nach der Richtung, wo er stand; aber Wronski fühlte, daß sie ihn schon gesehen hatte.
Als er kurze Zeit darauf sein Glas wieder nach jener Seite wandte, bemerkte er, daß die Prinzessin Warwara auffällig rot aussah, in gezwungener Weise lachte und sich fortwährend nach der Nachbarloge umsah, Anna aber, mit dem zusammengeklappten Fächer auf den roten Samt der Brüstung klopfend, starr irgendwohin blickte und nicht sah, und auch augenscheinlich nicht sehen wollte, was in der Nachbarloge vorging. Jaschwins Gesicht zeigte den Ausdruck, den es zu tragen pflegte, wenn er im Spiel verlor. Die Augenbrauen zusammenziehend, steckte er die linke Schnurrbartspitze immer tiefer in den Mund hinein und schielte nach eben jener Nachbarloge hin.
In dieser links gelegenen Loge waren Herr und Frau Kartasow. Wronski kannte sie und wußte, daß Anna mit ihnen bekannt war. Frau Kartasow, eine magere, kleine Dame, stand in ihrer Loge und legte, Anna den Rücken zuwendend, den Umhang um, den ihr Gatte ihr hinhielt. Ihr Gesicht sah blaß und zornig aus, und sie sagte etwas mit allen Zeichen der Erregung. Kartasow, ein dicker, kahlköpfiger Herr, blickte beständig nach Anna und versuchte, seine Frau zu beruhigen. Als seine Frau hinausging, zögerte er noch längere Zeit und suchte mit den Augen einen Blick Annas aufzufangen, offenbar mit dem [388] Wunsche, ihr eine Verbeugung zu machen. Aber Anna beachtete ihn, augenscheinlich mit Absicht, gar nicht und sprach, zurückgewendet, zu Jaschwin, der sich mit seinem kurz geschorenen Kopfe zu ihr herunterbeugte. Kartasow ging, ohne seine Verbeugung angebracht zu haben, hinaus, und die Loge blieb leer.
Was eigentlich zwischen Kartasows und Anna vorgefallen war, wußte Wronski nicht; aber so viel merkte er, daß es etwas für Anna Demütigendes gewesen sein mußte. Das schloß er aus dem, was er gesehen hatte, ganz besonders aus Annas Gesicht, die, das sah er, ihre letzten Kräfte zusammennahm, um die Rolle, die sie übernommen hatte, durchzuführen. Und diese Rolle äußerlicher Ruhe gelang ihr vollkommen. Wer sie und ihren Bekanntenkreis nicht kannte und all die Äußerungen des Bedauerns, der Entrüstung und Verwunderung der Damen nicht hörte, daß sie sich erlaubt hatte, in der Gesellschaft zu erscheinen und mit ihrem Spitzenschmuck und ihrer Schönheit Aufsehen zu erregen, der mußte die Ruhe und Schönheit dieser Frau bewundern und konnte nicht ahnen, daß sie die Empfindungen eines Menschen durchmachte, der an den Schandpfahl gebunden ist.
Wronski, der zwar wußte, daß etwas vorgefallen sei, aber nicht genauer, was, war in peinlicher Unruhe; in der Hoffnung, etwas Näheres zu erfahren, ging er nach der Loge seines Bruders. Absichtlich wählte er einen Ausgang aus dem Parkett, der auf der entgegengesetzten Seite von Annas Loge lag; aber beim Hinausgehen stieß er auf seinen ehemaligen Regimentskommandeur, der mit zwei Bekannten sprach. Wronski hörte, wie der Name Karenin im Gespräch vorkam, und bemerkte, wie der Regimentskommandeur sich beeilte, ihn selbst laut mit seinem Namen anzurufen, und dabei den beiden anderen Herren einen bedeutsamen Blick zuwarf.
»Ah, Wronski! Wann wirst du denn einmal zu uns ins Regimentskasino kommen? Ohne ein Festessen können wir dich nicht abreisen lassen. Du bist ja doch auf das allerengste mit dem Regiment verwachsen«, sagte der Kommandeur.
»Ich bin sehr eilig. Bedaure außerordentlich. Auf ein andermal!« erwiderte Wronski und eilte die Treppe hinauf.
Die alte Gräfin, Wronskis Mutter, mit ihren stahlgrauen Löckchen, war in der Loge des Bruders. Warja und die Prinzessin Sorokina traf er im Vorraum des ersten Ranges.
Nachdem Warja die Prinzessin Sorokina zu der alten Gräfin Wronskaja geleitet hatte, trat sie wieder in den Vorraum hinaus, gab ihrem Schwager die Hand und begann sofort mit ihm [389] von dem zu sprechen, was ihn beschäftigte. Sie war so aufgeregt, wie er sie selten gesehen hatte.
»Ich finde das niedrig und abscheulich, und Madame Kartasowa hatte in keiner Weise ein Recht dazu. Madame Karenina ...«, begann sie.
»Aber was ist denn geschehen? Ich weiß von nichts.«
»Wie? Du hast es noch nicht gehört?«
»Du kannst dir leicht denken, daß ich der letzte bin, der etwas davon zu hören bekommt.«
»Gibt es wohl ein boshafteres Geschöpf als diese Kartasowa?«
»Was hat sie denn also getan?«
»Mein Mann hat es mir erzählt. Sie hat Frau Karenina beleidigt. Ihr Mann knüpfte nach der andern Loge hinüber ein Gespräch mit Frau Karenina an, und da hat seine Frau ihm eine Szene gemacht. Es heißt, sie hat laut einen beleidigenden Ausdruck gebraucht und ist hinausgegangen.«
»Graf, Ihre maman läßt Sie rufen«, sagte die Prinzessin Sorokina, indem sie aus der Logentür herausblickte.
»Ich warte schon lange auf dich«, redete ihn seine Mutter mit spöttischem Lächeln an. »Du läßt dich ja gar nicht blicken.«
Der Sohn sah, daß sie nicht imstande war, ein Lächeln der Schadenfreude zu unterdrücken.
»Guten Abend, maman. Ich war auf dem Wege zu Ihnen«, erwiderte er kühl.
»Warum gehst du denn nicht faire la cour à Madame Karénine 1?« fügte sie hinzu, als die Prinzessin Sorokina zur Seite getreten war. »Elle fait sensation. On oublie la Patti pour elle.« 2
»Maman, ich habe Sie schon früher gebeten, mit mir davon nicht zu sprechen«, antwortete er mit finsterer Miene.
»Ich sage nur, was alle Leute sagen.«
Wronski erwiderte nichts und ging, nachdem er noch ein paar Worte zur Prinzessin Sorokina gesagt hatte, hinaus. In der Tür stieß er auf seinen Bruder.
»Ah, Alexei!« sagte der Bruder. »Welch eine Gemeinheit! Ein dummes Frauenzimmer, weiter nichts ... Ich wollte gerade zu ihr gehen. Gehen wir beide zu sammen!«
Wronski hörte gar nicht, was sein Bruder sagte. Schnellen Schrittes ging er die Treppe hinunter; er fühlte, daß er etwas tun müsse, wußte aber nicht, was. Der Ärger über sie, daß sie sich und ihn in eine so peinliche Lage gebracht hatte, und zugleich das Mitleid mit ihr wegen der Leiden, die sie ausstand, versetzten ihn in die größte Erregung. Er ging ins Parkett hinunter und begab sich geradeswegs nach Annas Loge. Hier stand Stremow und führte mit Anna ein Gespräch.
[390] »Es gibt keine Tenore mehr. Le moule en est brisé. 3«
Wronski verbeugte sich vor ihr, blieb stehen und begrüßte dann Stremow.
»Sie sind wohl zu spät gekommen und haben die schöne Arie nicht gehört«, sagte Anna zu Wronski und blickte ihn, wie es ihm vorkam, dabei spöttisch an.
»Ich besitze nur ein geringes Verständnis dafür«, antwortete er, indem er einen ernsten Blick auf sie richtete.
»Ganz wie Fürst Jaschwin«, bemerkte sie lächelnd. »Der findet, daß die Patti zu laut singt. – Danke«, sagte sie und nahm mit ihrer kleinen Hand in dem langen Handschuh den Theaterzettel, den Wronski ihr aufgehoben hatte. In diesem Augenblick ging ein plötzliches Zucken durch ihr Gesicht; sie stand auf und trat in den Hintergrund der Loge zurück.
Als Wronski bemerkte, daß im nächsten Akt ihre Loge leer blieb, ging er, obgleich er dadurch ein Zischen des Publikums hervorrief, das bei den Tönen der Kavatine lautlos dasaß, aus dem Parkett hinaus und fuhr nach dem Hotel.
Anna war bereits dort. Als Wronski bei ihr eintrat, befand sie sich noch in derselben Kleidung, in der sie im Theater gewesen war. Sie saß an der Wand auf dem ersten Sessel bei der Tür und sah vor sich hin. Sie blickte den Eintretenden einen Augenblick an, nahm aber sofort wieder ihre frühere Haltung ein.
»Anna«, sagte er.
»Du, du bist an allem schuld!« rief sie (vor Tränen der Verzweiflung und des Ingrimms konnte sie kaum sprechen) und stand auf.
»Ich hatte dich gebeten, dich beschworen, nicht hinzufahren; ich wußte, daß dir Unangenehmes widerfahren würde ...«
»Unangenehmes!« rief sie. »Entsetzlich war es! Solange ich lebe, werde ich das nicht vergessen. Sie hat gesagt, es sei eine Schande, neben mir zu sitzen.«
»Das ist eine Äußerung eines dummen Weibes«, erwiderte er. »Aber welchen Zweck hat es, sich einer solchen Gefahr auszusetzen und die Leute herauszufordern ...«
»Ich bin empört, wie ruhig du dabei bist. Du hättest mich nicht soweit bringen dürfen. Wenn du mich liebtest ...«
»Anna! Was hat meine Liebe damit zu schaffen ...«
»Ja, wenn du mich liebtest, wie ich dich liebe, wenn du solche Qualen ausständest wie ich ...«, sagte sie, ihn mit einem Ausdruck von Herzensangst anblickend.
Sie tat ihm leid, aber doch ärgerte er sich über sie. Er beteuerte ihr seine Liebe, weil er sah, daß dies das einzige Mittel war, sie [391] jetzt zu beruhigen, und machte ihr mit Worten keine Vorwürfe; aber im Herzen war er doch unzufrieden mit ihr.
Und diese Liebesbeteuerungen, die ihm jetzt so leer erschienen, daß er sich eigentlich schämte, sie auszusprechen, hörte sie mit einer Art von Gier an und beruhigte sich allmählich. Am Tage darauf reisten sie, völlig miteinander ausgesöhnt, nach dem Gute ab.
Darja Alexandrowna verlebte den Sommer mit ihren Kindern in Pokrowskoje bei ihrer Schwester Kitty Ljewina. Auf ihrem eigenen Gut war das Wohnhaus vollständig verfallen, und Ljewin und seine Frau hatten ihr zugeredet, den Sommer bei ihnen zu verbringen. Stepan Arkadjewitsch war mit dieser Einrichtung höchst einverstanden. Er sagte, es täte ihm außerordentlich leid, daß ihn der Dienst hindere, mit seiner Familie den Sommer auf dem Lande zu verleben, was ihm doch der höchste Genuß sein würde, blieb in Moskau und kam nur ab und zu für einen oder zwei Tage auf das Gut hinaus. Außer Oblonskis mit allen Kindern und der Erzieherin war bei Ljewins in diesem Sommer auch noch die alte Fürstin zu Besuch, die es für ihre Pflicht hielt, auf ihre unerfahrene Tochter, die sich in einem »interessanten« Zustande befand, ein Auge zu haben. Außerdem hatte Warjenka, mit der Kitty im Auslande Freundschaft geschlossen hatte, ihr Versprechen erfüllt, zu ihr zu kommen, sobald Kitty verheiratet sein würde, und war nun bei ihrer Freundin zu Besuch. Alles dies waren Verwandte und Freunde von Ljewins Frau. Und obgleich er sie alle [5] recht gern hatte, so tat es ihm doch auch einigermaßen leid, daß seine, die Ljewinsche Welt und seine ganze Lebensordnung durch diesen Zudrang des Schtscherbazkischen Elementes, wie er es bei sich im stillen nannte, gleichsam erstickt wurden. Von seinen eigenen Verwandten wohnte in diesem Sommer bei ihnen nur Sergei Iwanowitsch; aber auch dieser gehörte eigentlich nicht zum Ljewinschen, sondern zum Kosnüschewschen Schlage, so daß die Ljewinsche Geistesrichtung ganz ins Hintertreffen geriet.
In Ljewins Haus, das so lange still und leer gewesen war, waren jetzt so viele Gäste, daß fast alle Zimmer besetzt waren und die alte Fürstin fast jeden Tag, wenn man zu Tisch ging, alle durchzählen und einen Enkel oder eine Enkelin als dreizehnten an einen besonderen Tisch setzen mußte. Auch Kitty, die ihre Hauswirtschaft mit großem Eifer führte, hatte nicht wenig Sorge, die Hühner, Puten und Enten zu beschaffen, deren bei [5] dem sommerlichen Appetit der Gäste, sowohl der Erwachsenen wie der Kinder, eine erkleckliche Menge nötig war.
Die ganze Familie saß beim Mittagessen. Dollys Kinder mit der Erzieherin und Warjenka entwarfen Pläne, wohin sie zum Pilzesammeln gehen wollten. Sergei Iwanowitsch, der sich bei allen Gästen wegen seines Verstandes und seiner Gelehrsamkeit einer an Ehrfurcht grenzenden Achtung erfreute, setzte alle da durch in Erstaunen, daß er sich auch in das Gespräch über die Pilze mischte.
»Nehmen Sie mich mit. Es macht mir großes Vergnügen, Pilze zu suchen«, sagte er und blickte dabei Warjenka an. »Ich finde, daß das eine sehr hübsche Beschäftigung ist.«
»Schön, es wird uns sehr angenehm sein«, antwortete Warjenka errötend. Kitty warf ihrer Schwester Dolly einen bedeutsamen Blick zu. Das Anerbieten des gelehrten, klugen Sergei Iwanowitsch, mit Warjenka Pilze zu suchen, bildete für Kitty eine Bestätigung gewisser Vermutungen, die sie in der letzten Zeit stark beschäftigt hatten. Sie beeilte sich, etwas zu ihrer Mutter zu sagen, damit ihr Blick nicht bemerkt würde. Nach Tisch nahm Sergei Iwanowitsch mit seiner Tasse Kaffee im Wohnzimmer am Fenster Platz und setzte mit seinem Bruder ein angefangenes Gespräch fort, blickte aber dabei von Zeit zu Zeit nach der Tür, durch die die Kinder, die sich zum Pilzesuchen ausrüsteten, hereinkommen mußten. Ljewin hatte sich neben seinen Bruder aufs Fensterbrett gesetzt.
Kitty stand neben ihrem Manne und wartete augenscheinlich auf das Ende des sie nicht fesselnden Gesprächs, um ihm etwas zu sagen.
»Du hast dich, seit du verheiratet bist, in vieler Hinsicht verändert, und zwar zu deinem Vorteil«, sagte Sergei Iwanowitsch, den das begonnene Gespräch offenbar nur wenig beschäftigte, und lächelte Kitty freundlich zu. »Aber deiner Leidenschaft, die gegensätzlichsten Ansichten zu verteidigen, bist du treu geblieben.«
»Katja, das Stehen ist dir nicht zuträglich«, sagte ihr Mann, rückte ihr einen Stuhl heran und warf ihr einen bedeutsamen Blick zu.
»Aber jetzt habe ich allerdings keine Zeit mehr«, fügte Sergei Iwanowitsch hinzu, da er sah, daß die Kinder hereingelaufen kamen.
Allen voran lief, in seitlicher Haltung galoppierend, in ihren straff anliegenden Strümpfen, ein Körbchen und Sergei Iwanowitschs Hut in der Hand schwenkend, Tanja gerade auf ihn zu.
Dreist kam sie an Sergei Iwanowitsch heran, blitzte ihn mit ihren Augen an, die mit den schönen Augen ihres Vaters so große [6] Ähnlichkeit hatten, hielt ihm seinen Hut hin und schien große Lust zu haben, ihn ihm selbst aufzusetzen, wobei aber der Eindruck ihrer Keckheit durch ein schüchternes, liebliches Lächeln gemildert wurde.
»Warjenka wartet«, sagte sie und setzte ihm vorsichtig den Hut auf, da sie an Sergei Iwanowitschs Lächeln gemerkt hatte, daß sie es wagen dürfe.
Warjenka stand in der Tür; sie trug jetzt ein gelbes Kattunkleid, um den Kopf hatte sie ein weißes Tuch gebunden.
»Ich komme, ich komme, Warwara Andrejewna«, sagte Sergei Iwanowitsch, trank den Rest seines Kaffees aus und brachte Taschentuch und Zigarrenbehälter in seinen Taschen unter.
»Was für ein reizendes Mädchen doch meine Warjenka ist! Nicht wahr?« sagte Kitty zu ihrem Manne, sobald Sergei Iwanowitsch aufgestanden war. Sie sagte das so, daß es Sergei Iwanowitsch noch hören konnte, was sie offenbar auch beabsichtigte. »Und wie schön ist sie! So eine vornehme Schönheit! Warjenka!« rief Kitty. »Ihr werdet wohl im Mühlenwald sein? Wir kommen im Wagen nach.«
»Du denkst aber auch gar nicht an deinen Zustand, Kitty«, sagte die alte Fürstin, die eilig durch die Tür trat. »Du darfst nicht so schreien.«
Warjenka, die Kittys Zuruf und den Verweis von ihrer Mutter gehört hatte, trat rasch mit leichten Schritten zu Kitty heran. Die Schnelligkeit ihrer Bewegungen, die Röte, die ihr lebhaft erregtes Gesicht bedeckte, alles wies darauf hin, daß in ihrem Innern etwas Besonderes vorging. Kitty wußte, was das für ein besonderer Vorgang war, und beobachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit. Sie hatte jetzt Warjenka nur in der Absicht angerufen, sie in Gedanken für das wichtige Begebnis zu segnen, das nach Kittys Überzeugung sich heute nachmittag im Walde zutragen mußte.
»Warjenka, ich werde sehr glücklich sein, wenn sich ein Ereignis zuträgt«, flüsterte sie ihr zu und küßte sie.
»Kommen Sie auch mit?« fragte Warjenka verlegen den dabeistehenden Ljewin, indem sie tat, als hätte sie das, was Kitty zu ihr gesagt hatte, nicht gehört.
»Ja, ich komme mit, aber nur bis zur Tenne; da bleibe ich dann.«
»Was hast du denn da vor?« fragte Kitty.
»Ich muß mir die neuen Getreidewagen ansehen und feststellen, ob sie etwas taugen«, erwiderte Ljewin. »Und du, wo wirst du bleiben?«
»Auf der Terrasse.«
Auf der Terrasse hatte sich die ganze weibliche Gesellschaft versammelt. Die Damen saßen überhaupt gern dort nach dem Mittagessen; heute aber war dort auch noch eine hauswirtschaftliche Arbeit zu verrichten. Außer dem Nähen von Kinderhemdchen und dem Stricken von Wickelbändern, womit alle beschäftigt waren, wurde dort heute Obst eingekocht, und zwar nach einer Methode, die für Agafja Michailowna etwas Neues war, nämlich ohne Zusatz von Wasser. Kitty hatte diese neue Methode, die in ihrem Elternhause üblich war, einführen wollen, und Agafja Michailowna hatte daher vor einiger Zeit Auftrag erhalten, in dieser Weise zu verfahren. Aber da sie der Ansicht war, das Verfahren, das von jeher im Ljewinschen Hause befolgt werde, könne unmöglich schlecht sein, so hatte sie doch sowohl an die Wald-wie an die Gartenerdbeeren Wasser gegossen und hartnäckig behauptet, es ginge überhaupt nicht anders; sie war dabei ertappt worden, und nun wurden die Himbeeren in Gegenwart aller eingekocht, und Agafja Michailowna sollte zu der Einsicht gebracht werden, daß das Eingemachte auch ohne Wasserzusatz gut geraten könne.
Mit erhitztem Gesicht und gekränkter Miene, mit wirrem Haar, die mageren Arme bis zu den Ellbogen entblößt, schaukelte Agafja Michailowna mit kreisförmiger Bewegung den Kessel über der Kohlenpfanne, blickte finster auf die Himbeeren und wünschte von ganzem Herzen, daß sie zu steif werden und nicht ordentlich kochen möchten. Die Fürstin, die sich sagte, Agafja Michailownas Zorn richte sich gewiß ganz besonders gegen sie als die Hauptanstifterin bei dieser Himbeerkocherei, suchte den Anschein zu erwecken, als sei sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt und denke gar nicht an die Himbeeren; sie sprach von anderem, schielte aber ab und zu nach der Kohlenpfanne.
»Ich kaufe immer für die Dienstmädchen Kleider auf Ausverkäufen«, sagte die Fürstin in Fortsetzung eines begonnenen Gespräches. »Ob es jetzt nicht Zeit wäre, den Schaum abzunehmen, liebe Agafja?« fügte sie, zu dieser gewendet, hinzu. »Du brauchst das gar nicht selbst zu tun, Kitty; es ist zu heiß für dich«, fuhr sie, ihre Tochter zurückhaltend, fort.
»Ich will es machen«, sagte Dolly, stand auf und begann mit einem Löffel vorsichtig durch den schäumenden Zuckersaft zu fahren; ab und zu klopfte sie, um das, was am Löffel haftengeblieben war, loszubekommen, mit ihm gegen einen Teller, der bereits von verschiedenfarbigem, gelbrosigem Schaum und blutfarbenem, [8] sich nach unten ziehendem Sirup bedeckt war. ›Wie er ihnen zum Tee schmecken wird!‹ dachte sie in Gedanken an ihre Kinder und erinnerte sich, wie sie selbst sich als Kind darüber gewundert hatte, daß die Großen gerade das Beste, den Schaum, nicht äßen.
»Stiwa meint, es sei viel zweckmäßiger, Geld zu geben«, setzte Dolly unterdessen das begonnene Gespräch über die beste Art, die Dienstmädchen zu beschenken, fort. »Aber ...«
»Wie kann man nur Geld schenken!« riefen die Fürstin und Kitty wie aus einem Munde. »Das wissen die Mädchen gar nicht zu schätzen.«
»Da habe ich zum Beispiel im vorigen Jahr für unsere Matrona Semjonowna einen Stoff gekauft, nicht Popeline, aber etwas ganz Ähnliches«, sagte die Fürstin.
»Ich erinnere mich; sie hatte das Kleid an Ihrem Namenstage an.«
»Es war ein allerliebstes Muster, so einfach und vornehm. Ich hätte mir am liebsten selbst ein solches Kleid machen lassen, wenn ich nicht schon eins gehabt hätte. Es war so in der Art wie Warjenkas Kleid. So hübsch und so billig.«
»Nun, jetzt, glaub ich, ist er fertig«, sagte Dolly und ließ zur Probe den dicken Saft vom Löffel herunterlaufen.
»Wenn er Kringel bildet, dann ist er gut. Lassen Sie ihn noch ein bißchen kochen, Agafja Michailowna.«
»Nein, diese Fliegen!« schalt Agafja Michailowna ärgerlich. »Der Saft wird jetzt nicht mehr anders«, fügte sie hinzu.
»Ach, wie niedlich! Jagt ihn nicht weg!« sagte auf einmal Kitty und blickte nach einem Sperling, der auf dem Geländer saß, das Zäpfchen von einer Himbeere hin und her drehte und daran pickte.
»Ja, aber du solltest etwas weiter von der Kohlenpfanne weggehen«, ermahnte die Mutter.
»A propos de Warjenka«, sagte Kitty auf französisch, wie sie denn die ganze Zeit über französisch gesprochen hatten, damit Agafja Michailowna sie nicht verstehen sollte. »Sie wissen, maman, daß ich heute glaube, die Entscheidung erwarten zu müssen. Sie verstehen, welche Entscheidung. Wie schön das wäre!«
»Aber was hat sie für eine meisterhafte Geschicklichkeit im Ehestiften!« sagte Dolly. »Wie behutsam und schlau sie die beiden zusammenbringt ...«
»Nun, sagen Sie doch, maman, wie denken Sie darüber?«
»Ja, was soll ich darüber denken? Er« (mit ›er‹ meinte sie Sergei Iwanowitsch) »konnte früher zu jeder Zeit die beste Partie [9] in ganz Rußland machen; jetzt ist er ja gerade nicht mehr jung; aber trotzdem würde ihn auch jetzt noch manches Mädchen nehmen, das weiß ich sicher ... Sie ist ein sehr gutes Mädchen; aber er könnte ...«
»Nein, bitte, hören Sie nur einmal zu, Mama, warum sowohl für ihn wie für sie dies das Beste ist, was man überhaupt ausdenken könnte. Erstens: sie ist allerliebst!« sagte Kitty, indem sie einen Finger einbog.
»Sie gefällt ihm sehr, das ist sicher«, bemerkte Dolly zustimmend.
»Zweitens: er nimmt in der Welt eine solche Stellung ein, daß er bei der Wahl seiner Frau weder auf Vermögen noch auf gesellschaftlichen Rang irgendwelchen Wert zu legen braucht. Was er nötig hat, ist nur eines: eine gute, liebe Frau, eine Frau von ruhigem Charakter.«
»Ja, mit ihr hat ein Mann ein ruhiges Leben«, meinte auch Dolly.
»Drittens: sie muß ihn lieben. Und auch das ist der Fall ... ich wollte sagen: es wäre prächtig, wenn auch das der Fall wäre! ... Ich erwarte, daß, wenn sie wieder aus dem Walde herauskommen, alles entschieden ist. Ich werde es ihnen gleich an den Augen ansehen. Ich würde mich so sehr darüber freuen! Wie denkst du darüber, Dolly?«
»Rege dich nur nicht so auf«, sagte die Mutter. »Aufregung ist dir ganz und gar nicht zuträglich.«
»Ich rege mich ja auch gar nicht auf, Mama. Ich denke mir nur, er macht ihr heute einen Antrag.«
»Ach ja, es ist doch etwas recht Sonderbares, wenn einem ein Mann einen Antrag macht ... Zuerst ist da so eine Art Scheidewand gewesen, und nun wird die auf einmal niedergerissen«, sagte Dolly träumerisch lächelnd und dachte an ihr einstiges Erlebnis mit Stepan Arkadjewitsch.
»Mama, wie hat Ihnen denn Papa einen Antrag gemacht?« fragte Kitty auf einmal.
»Es war nichts Ungewöhnliches dabei; es machte sich ganz einfach«, antwortete die Fürstin; aber ein heller Schein zog bei dieser Erinnerung über ihr Gesicht.
»Aber sagen Sie doch, wie es dabei zuging. Sie haben ihn doch gewiß schon geliebt, ehe Sie es sagen durften?«
Kitty fand einen ganz besonderen Reiz darin, daß sie jetzt mit ihrer Mutter wie mit einer Gleichgestellten über diese wichtigsten Fragen im Frauenleben reden konnte.
»Natürlich liebte er mich; er kam häufig zu uns aufs Gut.«
»Aber wie kam es denn zum Ausdruck, Mama?«
[10] »Du denkst wohl, daß ihr etwas Neues erfunden habt? Das ist immer dieselbe Sache: durch die Augen kam es zum Ausdruck und durch die lächelnden Mienen ...«
»Wie hübsch Sie das gesagt haben, Mama! Ganz richtig: durch die Augen und durch die lächelnden Mienen«, stimmte Dolly bei.
»Aber mit welchen Worten hat er es Ihnen denn gesagt?«
»Mit welchen Worten hat es dir denn dein Konstantin gesagt?«
»Er hat es mit Kreide aufgeschrieben. Das war etwas ganz Wunderbares ... Wie weit das schon hinter mir liegt!« fügte sie hinzu.
Und die drei Frauen hingen ihren Gedanken über ein und denselben Gegenstand nach. Kitty war die erste, die das Stillschweigen unterbrach. Es war ihr die Erinnerung an den ganzen letzten Winter vor ihrer Verheiratung und an ihre Schwärmerei für Wronski gekommen.
»Eines ist unangenehm ... das ist Warjenkas frühere Liebschaft«, sagte sie; ein natürlicher Gedankengang hatte sie hierauf geführt. »Ich möchte gern zu Sergei Iwanowitsch ein Wort davon sagen, ihn vorbereiten. Sie, ich meine alle Männer«, fügte sie hinzu, »sind doch furchtbar eifersüchtig auf unsere Vergangenheit.«
»Nicht alle«, versetzte Dolly. »Du urteilst so nach deinem Manne. Der quält sich noch bis auf den heutigen Tag mit der Erinnerung an Wronski herum. Ja? Habe ich recht?«
»Freilich«, antwortete Kitty mit wehmütigem Lächeln.
»Ich verstehe nur nicht«, sagte die Fürstin, um die Art, wie sie als Mutter ihre Tochter beaufsichtigt hatte, zu verteidigen, »was ihn eigentlich an deiner Vergangenheit beunruhigen könnte. Daß Wronski dir den Hof gemacht hat? Dergleichen kommt bei jedem jungen Mädchen vor.«
»Wir wollen nicht davon sprechen«, erwiderte Kitty errötend.
»Nein, erlaube«, fuhr die Mutter fort, »und dann hast du selbst mir nicht gestatten wollen, mit Wronski zu sprechen. Weißt du das wohl noch?«
»Ach, Mama!« sagte Kitty mit einem Ausdruck seelischen Leidens.
»Ja, die jungen Mädchen lassen sich heutzutage nicht zurückhalten ... Übrigens war es ausgeschlossen, daß deine Beziehungen zu ihm sich weiter entwickelt hätten, als sie durften; ich selbst würde ihn veranlaßt haben, mit der Sprache herauszugehen. Aber es tut dir nicht gut, liebes Kind, daß du dich aufregst. Bitte, denke daran und beruhige dich.«
»Ich bin ganz ruhig, maman.«
[11] »Welch ein Glück war es damals für Kitty, daß Anna zu uns kam«, sagte Dolly, »und welch ein Unglück ist nachher für sie selbst daraus entstanden! Es ist alles gerade umgekehrt gekommen«, fügte sie, von ihrem eigenen Gedanken überrascht, hinzu. »Damals war Anna so glücklich, und Kitty hielt sich für unglücklich. Wie hat sich das doch ins Gegenteil verkehrt. Ich muß oft an sie denken!«
»Das verdient sie auch gerade, daß du an sie denkst! So ein garstiges, abscheuliches, herzloses Frauenzimmer!« schalt die Mutter, die es nicht vergessen konnte, daß um ihretwillen Kitty nicht Wronski, sondern Ljewin geheiratet hatte.
»Was kann das nur für einen Reiz haben, davon zu reden!« sagte Kitty ärgerlich. »Ich denke an die Geschichte nicht mehr und will nicht mehr daran denken ... Ich will nicht mehr daran denken ...«, sagte sie und hörte in diesem Augenblick die ihr wohlbekannten Schritte ihres Mannes auf der zur Terrasse heraufführenden Treppe.
»Nun, woran willst du denn nicht denken?« fragte Ljewin, auf die Terrasse tretend.
Aber niemand antwortete ihm, und er wiederholte seine Frage nicht.
»Es tut mir leid, daß ich euer Frauengespräch gestört habe«, sagte er, indem er unzufrieden von einer zur andern blickte; er merkte, daß sie von etwas gesprochen hatten, das sie in seiner Gegenwart nicht erwähnen mochten.
Eine Sekunde lang war es ihm, als teile er Agafja Michailownas Gefühl, nämlich die Unzufriedenheit über das Einkochen der Himbeeren ohne Wasser und überhaupt über den fremden Schtscherbazkischen Einfluß. Indessen lächelte er doch und trat zu Kitty.
»Nun, wie geht es dir?« fragte er sie und sah sie dabei mit dem gleichen Ausdruck an, den jetzt alle im Verkehr mit ihr zeigten.
»Oh, sehr gut«, versetzte Kitty lächelnd. »Und wie steht es bei dir?«
»Auf so einen neuen Getreidewagen kann dreimal soviel aufgeladen werden wie auf einen gewöhnlichen Bauernwagen. Wollen wir nun hinfahren und die Kinder zurückholen? Ich habe anspannen lassen.«
»Du willst doch nicht Kitty in dem Break fahren lassen?« fragte die Mutter vorwurfsvoll.
»Wir fahren ja Schritt, Fürstin.«
Ljewin nannte die Fürstin nie maman, wie es andere Schwiegersöhne tun, und das war der Fürstin unangenehm. Aber obwohl Ljewin die Fürstin sehr gern hatte und hochschätzte, so [12] konnte er sie doch nicht so nennen, ohne seine Empfindung gegen seine verstorbene Mutter zu verletzen.
»Fahren Sie doch mit uns, maman«, sagte Kitty.
»Solche Unvernunft mag ich nicht mit ansehen.«
»Nun, dann gehe ich zu Fuß. Das ist mir ja gesund.« Kitty stand auf, trat zu ihrem Manne hin und faßte ihn bei der Hand.
»Gesund ist es schon; aber alles mit Maß und Vernunft«, versetzte die Fürstin.
»Nun, wie steht's, Agafja Michailowna, ist das Eingemachte fertig?« fragte Ljewin und lächelte der Alten zu, um sie aufzuheitern. »Ist es auf die neue Art gut geworden?«
»Es wird ja wohl gut sein. Nach unserer Auffassung ist es zu sehr eingekocht.«
»Es ist sogar besser so, Agafja Michailowna. Es wird auf diese Art nicht sauer, und unser Eis ist uns doch jetzt schon geschmolzen, so daß wir das Eingemachte nirgends sicher aufbewahren können«, sagte Kitty, die die Absicht ihres Mannes sofort verstanden hatte und sich aus derselben Empfindung heraus an die alte Frau wandte. »Aber dafür ist auch alles, was Sie eingepökelt haben, so wunderschön, daß Mama sagt, so etwas Schönes hätte sie noch nirgends gegessen«, fügte sie lächelnd hinzu und brachte ihr das Halstuch in Ordnung.
Agafja Michailowna warf der jungen Frau einen zornigen Blick zu.
»Zu trösten brauchen Sie mich nicht, gnädige Frau. Aber wenn ich Sie und ihn ansehe, dann wird mir gleich wieder wohl ums Herz«, sagte sie, und dieser naturwüchsige Ausdruck »und ihn« statt »und Konstantin Dmitrijewitsch« hatte für Kitty etwas Rührendes.
»Fahren Sie mit uns Pilze suchen. Sie können uns die guten Stellen zeigen.«
Agafja Michailowna lächelte und schüttelte den Kopf, als wenn sie sagen wollte: ›Ich möchte Ihnen gern böse sein, aber ich bekomme es nicht fertig.‹
»Bitte, folgen Sie nur meinem Rat«, sagte die alte Fürstin; »legen Sie über das Eingemachte ein Blatt Papier und feuchten Sie es mit Rum an, dann wird es auch ohne Eis nie schimmelig werden.«
Kitty freute sich besonders über die Gelegenheit, mit ihrem Manne unter vier Augen zu sein; denn es war ihr nicht entgangen, daß über sein Gesicht, das immer alle seine Empfindungen [13] so lebendig widerspiegelte, ein Schatten des Verdrusses gelaufen war, als er vorhin auf die Terrasse gekommen war und gefragt hatte, wovon sie sprächen, und keine Antwort erhalten hatte.
Sie gingen den andern, die den Wagen benutzen wollten, zu Fuß voraus, und als sie nun aus der Sehweite des Hauses heraus auf die glattgefahrene, staubige, mit Roggenähren und Körnern bestreute Straße gelangt waren, da stützte sie sich fester auf seinen Arm und schmiegte sich an ihn. Den augenblicklichen unangenehmen Eindruck hatte er schon wieder vergessen, und allein mit ihr, empfand er jetzt, wo der Gedanke an ihre Schwangerschaft ihn auch nicht einen Augenblick verließ, jenes ihm noch neue, freudige, von aller Sinnlichkeit reine Wonnegefühl über die Nähe des geliebten Weibes. Zu sagen hatte er ihr nichts; aber er wollte gern den Ton ihrer Stimme hören, der sich ebenso wie ihr Blick jetzt bei der Schwangerschaft verändert hatte. In ihrer Stimme und in ihrem Blick lag jene Weichheit und jener Ernst, wie sie Menschen eigen sind, deren Denken sich beständig auf ein und denselben geliebten Gegenstand richtet.
»Wirst du auch nicht müde werden? Stütze dich nur recht fest auf mich«, sagte er.
»Nein, ich freue mich so, daß ich einmal ein Weilchen mit dir allein bin, und ich muß gestehen, so angenehm mir auch das Zusammensein mit ihnen allen ist, so denke ich doch mit Sehnsucht an unsere Winterabende, wo wir beide still zusammensaßen.«
»Damals war es schön, und jetzt ist es noch besser. Beides ist wunderschön«, sagte er und drückte ihren Arm an sich.
»Weißt du, wovon wir sprachen, als du vorhin auf die Terrasse kamst?«
»Vom Obsteinkochen?«
»Ja, davon auch; aber dann sprachen wir von der Art, wie Heiratsanträge gemacht werden.«
»Ah so!« erwiderte Ljewin, der mehr auf den Klang ihrer Stimme als auf den Inhalt ihrer Worte hörte und die ganze Zeit über auf den jetzt durch Wald führenden Weg achtete und die Stellen mied, wo sie einen unrichtigen Tritt hätte tun können.
»Und dann sprachen wir auch von Sergei Iwanowitsch und Warjenka. Hast du wohl etwas gemerkt? ... Ich würde sehr wünschen, daß etwas daraus würde«, fuhr sie fort. »Wie denkst du darüber?« Sie blickte ihm ins Gesicht.
»Ich weiß nicht, wie ich darüber denken soll«, antwortete Ljewin lächelnd. »Sergei ist mir in dieser Hinsicht nicht recht verständlich. Ich habe dir ja erzählt ...«
[14] »Ja, daß er sich in ein Mädchen verliebt hatte, das dann starb ...«
»Das fiel in die Zeit, als ich noch ein Kind war; ich weiß davon nur durch Mitteilungen anderer. Aber auf sein Wesen in jener Zeit kann ich mich noch ganz gut besinnen; er war damals außerordentlich lieb und nett. Aber seit jener Zeit beobachte ich ihn in seinen Beziehungen zu den Frauen: er benimmt sich liebenswürdig, und manche gefallen ihm; aber man merkt, daß sie für ihn nur Menschen sind und nicht Frauen.«
»Ja, aber jetzt mit Warjenka ... Es scheint doch, daß er da ...«
»Es kann sein ... Aber man muß ihn näher kennen ... Er ist ein eigenartiger, wunderbarer Mensch. Er führt ein ausschließlich geistiges Leben. Er ist ein zu reiner, hochsinniger Mensch.«
»Wie? Würde er sich etwa dadurch erniedrigen?«
»Nein, das nicht; aber er hat sich dermaßen an ein ausschließlich geistiges Leben gewöhnt, daß er nicht imstande ist, sich mit der Wirklichkeit friedlich auseinanderzusetzen, und Warjenka gehört doch zur Wirklichkeit.«
Ljewin hatte es sich jetzt schon vollständig angewöhnt, das, was er dachte, dreist auszusprechen, ohne sich die Mühe zu geben, es in genau zutreffende Worte zu kleiden; er wußte, daß seine Frau in solchen liebevollen Augenblicken wie jetzt schon aus einer bloßen Andeutung verstand, was er sagen wollte. Und sie hatte ihn auch wirklich verstanden.
»Ja, aber es liegt in ihr nicht eine solche Wirklichkeit wie in mir. Daß er sich in mich nie verlieben könnte, das ist mir begreiflich. Aber sie hat durch und durch etwas Geistiges.«
»Aber nicht doch, er hat dich wirklich sehr lieb, und es ist mir immer eine Freude, daß meine Angehörigen dich liebhaben ...«
»Ja, er ist sehr gut zu mir, aber ...«
»Aber doch nicht so wie der verstorbene Nikolai«, beendete Ljewin den von ihr begonnenen Satz. »Ihr hattet euch richtig ineinander verliebt. Warum sollte ich das nicht sagen?« fügte er hinzu. »Ich mache mir manchmal Vorwürfe, daß ich so wenig an ihn denke, und das Ende wird doch schließlich sein, daß man ihn vergißt. Ach, was für ein schrecklicher und dabei doch so prächtiger Mensch war er! ... Ja, worüber sprachen wir doch nur?« sagte er nach einer kurzen Pause.
»Du meinst, er ist nicht imstande, sich zu verlieben?« fragte Kitty, indem sie das, was ihr Mann gesagt hatte, in ihre Sprache übersetzte.
»Nicht eigentlich, daß er nicht imstande sein sollte, sich zu verlieben«, antwortete Ljewin lächelnd. »Aber er besitzt nicht die [15] Schwäche, die dazu erforderlich ist ... Ich habe ihn immer beneidet, und sogar jetzt, wo ich so glücklich bin, beneide ich ihn.«
»Du beneidest ihn darum, daß er nicht imstande ist, sich zu verlieben?«
»Ich beneide ihn darum, daß er besser ist als ich«, versetzte Ljewin wieder lächelnd. »Er lebt nicht für sich selbst. Sein ganzes Leben hat er in den Dienst der Pflicht gestellt. Und darum kann er ruhig und zufrieden sein.«
»Und du?« fragte Kitty mit einem spöttischen, liebevollen Lächeln.
Sie vermochte schlechterdings nicht, dem Gedankengang, der sie zum Lächeln gebracht hatte, mit Worten Ausdruck zu geben; aber das Ergebnis dieses Gedankenganges war, daß ihr Mann, wenn er von dem Bruder so entzückt rede und sich selbst so tief unter ihn stelle, dabei nicht ganz aufrichtig sei. Kitty wußte, daß diese seine Unaufrichtigkeit aus seiner Liebe zu seinem Bruder hervorging, aus einem Gefühl der Beschämung darüber, daß er unverdientermaßen gar zu glücklich sei, und besonders aus seinem unablässigen Streben, besser zu werden; sie liebte das an ihm, und darum lächelte sie.
»Und du? Womit bist du denn unzufrieden?« fragte sie noch einmal mit demselben Lächeln.
Daß sie an seine Unzufriedenheit mit sich selbst nicht recht glauben wollte, freute ihn, und ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, forderte er sie dazu heraus, die Ursachen ihres Unglaubens auszusprechen.
»Ich bin glücklich, aber ich bin mit mir selbst unzufrieden ...«, erwiderte er.
»Wie kannst du denn aber unzufrieden sein, wenn du doch glücklich bist?«
»Ja, wie soll ich mich da ausdrücken? ... Ich habe augenblicklich in meinem Herzen nur den einen Wunsch, daß du nicht straucheln möchtest. Ach, aber du darfst doch nicht so springen!« unterbrach er seine Auseinandersetzung durch einen Vorwurf für eine zu schnelle Bewegung, die sie bei einem großen Schritt über einen auf dem Fußwege liegenden Ast gemacht hatte. »Aber wenn ich mich selbst beurteile und mich mit anderen, namentlich mit meinem Bruder, vergleiche, dann fühle ich, daß ich nur geringwertig bin.«
»Aber wieso denn?« fuhr Kitty mit demselben Lächeln fort. »Bist du nicht ebenfalls im Interesse anderer tätig? Und deine Vorwerke, und deine Landwirtschaft, und dein Buch? ...«
»Nein, ich fühle es, und besonders jetzt: du bist schuld daran«, versetzte er und drückte ihren Arm an sich, »daß meine Tätigkeit [16] nicht so ist, wie sie sein sollte. Wenn ich diese ganze Tätigkeit so lieben könnte, wie ich dich liebe ... so aber erledige ich in letzter Zeit das alles wie eine aufgegebene Arbeit.«
»Nun, und was sagst du dann von Papa?« fragte Kitty. »Ist er denn nun auch geringwertig, weil er nichts für das Gemeinwohl getan hat?«
»Der? O nein! Aber dann muß man auch so ein natürliches Wesen, eine solche Klarheit des Urteils, eine solche Herzensgüte besitzen wie dein Vater; und habe ich die etwa? Ich wirke nicht, und das peinigt mich. Alles das hast du angerichtet. Als du noch nicht da warst und das noch nicht da war«, sagte er mit einem Blick auf ihren Leib, den sie verstand, »da verwandte ich alle meine Kräfte auf die Arbeit; aber jetzt vermag ich das nicht, und darüber schäme ich mich; ich arbeite genauso, wie wenn ich ein aufgegebenes Pensum absolvieren müßte; ich verstelle mich ...«
»Nun, und würdest du Lust haben, auf dem Fleck mit Sergei Iwanowitsch zu tauschen?« fragte Kitty. »Möchtest du wie er für das Gemeinwohl tätig sein und dieses aufgegebene Pensum dir zur Herzenssache machen, und damit abgetan?«
»Selbstverständlich nicht«, antwortete Ljewin. »Übrigens bin ich so glücklich, daß meine Denkkraft versagt. Und du glaubst wirklich, daß er ihr heute einen Antrag machen wird?« fügte er nach kurzem Stillschweigen hinzu.
»Ich glaube es und glaube es auch wieder nicht. Aber ich wünsche es von ganzem Herzen. Da, warte mal.« Sie bückte sich und pflückte am Rande des Weges eine wilde Kamille. »Nun zähle mal, ob er einen Antrag macht oder nicht, ja, nein«, sagte sie und reichte ihm die Blume hin.
»Ja, nein, ja, nein«, sagte Ljewin, indem er die schmalen, ausgekehlten, weißen Blättchen abriß.
»Halt, halt!« unterbrach ihn Kitty, die in großer Erregung seine Finger beobachtete, und hielt ihm die Hand fest. »Du hast zwei mit einem Male abgerissen.«
»Na, dafür soll dann dieses kleine hier nicht mitzählen«, erwiderte Ljewin und riß ein kurzes, nicht ausgewachsenes Blättchen ab. »Da hat uns auch der Break schon eingeholt.«
»Bist du nicht müde, Kitty?« rief die Fürstin.
»Nicht im geringsten.«
»Sonst steig doch ein, wenn die Pferde folgsam sind und Schritt gehen können.«
Aber es lohnte nicht mehr einzusteigen, da das Ziel schon ganz nahe war; so gingen sie denn den Rest des Weges alle zu Fuß.
Warjenka, mit dem weißen Tuch auf dem schwarzen Haar, umringt von den Kindern, mit denen sie sich harmlos und heiter unterhielt, und augenscheinlich erregt durch die Möglichkeit, daß der Mann, der ihr gefiel, ihr einen Antrag mache, bot einen allerliebsten Anblick dar. Sergei Iwanowitsch ging neben ihr und wandte seine bewundernden, warmen Blicke nicht von ihr. Während er sie ansah, erinnerte er sich an all die lieben Reden, die er aus ihrem Munde gehört hatte, und alles, was er Gutes über sie wußte, und kam immer mehr und mehr zu der Erkenntnis, daß das Gefühl, das er für sie empfand, ein ganz besonderes sei, eben jenes, das er vor langer, langer Zeit und nur ein einziges Mal, in der Zeit seiner ersten Jugend, kennengelernt hatte. Das Gefühl der Freude über ihre Nähe wuchs immer mehr und wurde so stark, daß, als er ihr einen von ihm gefundenen gewaltigen Birkenpilz mit dünnem Stiel und umgebogenem Rand in ihr Körbchen legte und ihr in die Augen blickte und auf ihrem Gesicht die Röte einer freudigen, bangen Erregung bemerkte, er selbst in Verwirrung geriet und ihr schweigend mit einem Lächeln zulächelte, das nur zu vielsagend war.
›Wenn es so steht‹, sagte er zu sich selbst, ›so muß ich zuerst sorgsam überlegen und dann meine Entscheidung treffen, darf mich aber nicht wie ein Knabe vom Empfinden des Augenblicks hinreißen lassen.‹
»Ich will jetzt hingehen und getrennt von den andern für mich allein Pilze sammeln; denn sonst weiß niemand genau, wie groß eigentlich meine eigene Beute ist«, sagte er und begab sich vom Waldsaum, wo sie in dem seidigen, niedrigen Grase zwischen vereinzelten alten Birken umhergingen, mehr nach der Mitte des Waldes, wo zwischen den weißen Birkenstämmen auch graustämmige Espen und dunkle Haselnußsträucher wuchsen. Nachdem er etwa vierzig Schritt weit weggegangen war, bog er um einen Pfaffenhütchenstrauch, der mit seinen rosaroten Kätzchen in voller Blüte stand, und da er wußte, daß er hier nicht mehr zu sehen war, blieb er stehen. Um ihn herum war es völlig still. Nur oben in den Birken, unter denen er stand, summten wie ein Bienenschwarm unaufhörlich die Fliegen, und ab und zu schallten die Stimmen der Kinder herüber. Plötzlich ertönte in nicht allzu weiter Entfernung vom Waldsaume her die Altstimme Warjenkas, die den kleinen Grigori rief, und ein freudiges Lächeln trat auf Sergei Iwanowitschs Gesicht. Er wurde sich dieses Lächelns bewußt und schüttelte mißbilligend den Kopf [18] über seinen Zustand; dann holte er eine Zigarre hervor und wollte sie anstecken. Aber lange Zeit brachte er es nicht fertig, ein Schwefelholz am Stamme einer Birke in Brand zu setzen. Das zarte Häutchen der weißen Rinde klebte sich um den Phosphor, so daß die Flamme erstickte. Endlich fing ein Schwefelhölzchen Feuer, und der duftige Rauch der Zigarre zog sich wie ein wallendes, breites Tuch mit bestimmten Umrissen vorwärts und aufwärts über dem Strauche unter den herabhängenden Zweigen der Birke hin. Mit den Augen den Rauchstreifen verfolgend, wanderte Sergei Iwanowitsch langsamen Schrittes dahin und dachte über seinen Zustand nach.
›Warum denn auch nicht?‹ dachte er. ›Wenn dies nur so ein plötzliches Aufflackern oder eine leidenschaftliche Anwandlung wäre, wenn ich lediglich diese Neigung wahrnähme, diese wechselseitige Neigung (jawohl, ich kann sagen: diese wechselseitige Neigung), dabei aber die Empfindung hätte, daß sie mit der gesamten harmonischen Gestaltung meines Lebens in Mißklang stände, wenn ich fühlte, daß ich, mich dieser Neigung hingebend, meinem Berufe und meiner Pflicht untreu würde ... aber all das trifft nicht zu. Das einzige, was ich dagegen sagen kann, ist dies, daß ich, als ich Marie verlor, mir das Wort gab, ihrem Andenken treu zu bleiben. Das ist das einzige, was ich gegen mein Gefühl einwenden kann ... Das ist ja allerdings ein wichtiger Punkt‹, sagte Sergei Iwanowitsch zu sich selbst und fühlte gleichzeitig, daß die ser Gegenstand für ihn persönlich keinerlei Wichtigkeit haben konnte, sondern daß nur in den Augen anderer Leute die poetische Rolle, die er bisher gespielt hatte, zerstört wurde. ›Aber davon abgesehen kann ich, soviel ich auch suchen mag, nichts finden, was sich gegen mein Gefühl einwenden ließe. Wollte ich lediglich nach Vernunftgründen wählen, so könnte ich nichts finden, was besser wäre.‹
Wie viele Frauen und Mädchen, mit denen er bekannt geworden war, er sich auch ins Gedächtnis zurückrief, so konnte er sich unter ihnen doch auf kein einziges weibliches Wesen besinnen, das in solchem Maße alle, geradezu alle Eigenschaften vereinigt hätte, die er auf Grund kühler Überlegung an seiner Frau zu finden wünschte. Sie besaß den ganzen Reiz und die Frische der Jugend, war aber dabei doch kein Kind mehr, und wenn sie ihn liebte, so liebte sie ihn mit vollem Bewußtsein, wie eben ein Weib lieben muß; das war das eine. Zweitens: sie stand nicht nur dem weltlichen Treiben fern, sondern hatte augenscheinlich sogar eine Abneigung dagegen; dabei aber kannte sie doch die Welt und beherrschte alle die Umgangsformen, die einer Dame der guten Gesellschaft geläufig sein müssen und ohne die [19] für Sergei Iwanowitsch eine Lebensgefährtin undenkbar war. Drittens: sie war religiös, und zwar nicht in der Art eines Kindes ohne viel Nachdenken religiös und gut, wie es zum Beispiel Kitty war, sondern ihr gesamtes Handeln gründete sich auf religiöse Überzeugungen. Selbst in minder wichtigen Punkten fand Sergei Iwanowitsch bei ihr alles so, wie er es sich bei seiner Frau wünschte: sie war arm und stand allein, so daß sie nicht einen Haufen von Verwandten und deren unerwünschten Einfluß in das Haus ihres Mannes mitbringen konnte, wie er das bei Kitty sah, sondern sie würde in allen Stücken auf ihren Mann angewiesen sein, was er sich gleichfalls immer für sein künftiges Familienleben gewünscht hatte. Und dieses Mädchen, das alle diese Eigenschaften in sich vereinigte, liebte ihn. Er war bescheiden, aber das konnte er trotzdem nicht übersehen. Und er liebte sie. Nur eine Erwägung sprach dagegen: das waren seine Jahre. Aber seine ganze Familie war langlebig; er hatte noch kein einziges graues Haar; niemand hätte ihn auf vierzig Jahre geschätzt, und er erinnerte sich, daß Warjenka gesagt hatte, nur in Rußland hielten sich Leute von fünfzig Jahren schon für alt; in Frankreich dagegen meine ein Fünfzigjähriger in der Vollkraft seines Lebens zu stehen, und ein Vierzigjähriger betrachte sich als un jeune homme 1. Und was wollte überhaupt die Zahl der Jahre bedeuten, da er sich doch geistig so jung fühlte, wie er vor zwanzig Jahren gewesen war! War es denn nicht ein jugendliches Gefühl, das er jetzt empfand, als er, aus dem Walde an einer anderen Stelle wieder an den Rand heraustretend, in dem hellen Lichte der schrägen Sonnenstrahlen Warjenkas anmutige Gestalt in dem gelben Kleide und mit dem Körbchen erblickte, wie sie leichten Schrittes an dem Stamm einer alten Birke vorüberging, und als dieser Eindruck von Warjenkas Erscheinung bei ihm in eins zusammenfloß mit dem des gelben Haferfeldes, das, von den schrägen Strahlen übergössen, ihn durch seine Schönheit überraschte, und hinter dem Felde mit dem des alten Waldes, der, mit gelben Flecken gesprenkelt, sich in der blauen Ferne verlor? Sein Herz empfand eine freudige Beklemmung. Ein Gefühl der Rührung ergriff ihn. Er fühlte, daß sein Entschluß gefaßt war. Warjenka, die sich soeben niedergekauert hatte, um einen Pilz aufzuheben, richtete sich mit einer geschmeidigen Bewegung wieder in die Höhe und blickte um sich. Sergei Iwanowitsch warf die Zigarre fort und ging entschlossenen Schrittes zu ihr hin.
1 (frz.) ein junger Mann.
›Warwara Andrejewna, als ich noch sehr jung war, schuf ich mir ein Idealbild der Frau, die ich einst lieben würde und die ich mich glücklich schätzen würde, meine Gattin zu nennen. Ein langes Leben liegt bereits hinter mir, und jetzt zum ersten Male habe ich in Ihnen das gefunden, was ich suchte. Ich liebe Sie und biete Ihnen meine Hand an.‹
So sprach Sergei Iwanowitsch bei sich selbst, als er nur noch zehn Schritte von Warjenka entfernt war. Sie hatte sich auf die Knie niedergelassen, verteidigte mit vorgehaltenen Armen einen Pilz gegen Grigori und rief die kleine Mascha herbei.
»Hierher, hierher, ihr Kleinen! Hier sind viele!« rief sie mit ihrer angenehmen Altstimme.
Als sie Sergei Iwanowitsch herankommen sah, stand sie nicht auf und änderte auch ihre Haltung nicht; aber alles sagte ihm, daß sie seine Annäherung fühle und sich darüber freue.
»Nun, haben Sie etwas gefunden?« fragte sie, indem sie unter ihrem weißen Tuch hervor ihr hübsches, still lächelndes Gesicht ihm zuwandte.
»Nicht einen einzigen«, antwortete Sergei Iwanowitsch. »Und Sie?« Sie antwortete ihm nicht, da sie mit den Kindern zu tun hatte, die sie umringten.
»Nun noch den da neben dem Ästchen«, sagte sie zur kleinen Mascha und zeigte ihr einen kleinen Täubling, dessen pralles, rotes Hütchen querüber von einem trockenen Grashalm tief eingeschnitten war, unter dem er sich herausgearbeitet hatte. Warjenka stand auf, nachdem Mascha den Täubling aufgehoben hatte, der dabei in zwei auf der Bruchstelle weiße Hälften zerbrochen war. »Dieses Pilzesuchen erinnert mich an meine Kindheit«, sagte sie, während sie an Sergei Iwanowitschs Seite sich von den Kindern entfernte.
Einige Schritte gingen sie schweigend. Warjenka sah, daß er sprechen wollte; sie erriet, was er zu sagen beabsichtigte, und der Atem stockte ihr vor freudiger, bänglicher Erregung. Sie hatten sich schon so weit von den übrigen entfernt, daß niemand sie mehr hören konnte; aber er begann immer noch nicht zu sprechen. Warjenka hielt es für das Richtige, zu schweigen. Nach einem Stillschweigen ließ sich das, was sie sagen wollten, leichter sagen als nach irgendwelchen Bemerkungen über Pilze; aber gegen ihren eigenen Willen, ohne daß sie selbst wußte, wie es zuging, sagte sie:
»Also Sie haben nichts gefunden? Übrigens wachsen immer im Innern des Waldes weniger als am Rande.«
[21] Sergei Iwanowitsch seufzte und gab keine Antwort. Es war ihm ärgerlich, daß sie angefangen hatte, von den Pilzen zu reden. Er wollte nun wieder auf das zurückkommen, was sie kurz vorher von ihrer Kindheit gesagt hatte; aber wie gegen seinen eigenen Willen machte er, nachdem er ein Weilchen geschwiegen hatte, eine Bemerkung, die an ihre letzten Worte anknüpfte:
»Ich habe mir nur über die Steinpilze sagen lassen, daß sie vorzugsweise am Waldsaume wachsen; freilich weiß ich die Steinpilze nicht von anderen zu unterscheiden.«
Es vergingen noch einige Minuten; sie hatten sich von den Kindern noch weiter entfernt und waren nun völlig allein. Warjenkas Herz klopfte so stark, daß sie seine Schläge hörte, und sie fühlte, daß sie rot und blaß und wieder rot wurde.
Die Frau eines solchen Mannes wie Kosnüschew zu werden, das erschien ihr nach ihrer Stellung bei Frau Stahl als der Gipfel des Glückes. Außerdem war sie auch beinah davon überzeugt, daß sie ihn liebe. Und nun sollte es sich im nächsten Augenblick entscheiden. Ihr war bange zumute. Es war ihr bange vor dem, was er sagen werde, und auch bange davor, daß er nichts sagen werde.
Jetzt oder nie mußte er sich erklären; das fühlte auch Sergei Iwanowitsch. Alles an Warjenka ließ erkennen, daß sie in peinlicher Spannung wartete: ihr Blick, ihre Röte, die niedergeschlagenen Augen. Sergei Iwanowitsch blickte sie an, und sie dauerte ihn. Er fühlte sogar, wenn er jetzt nicht spräche, würde es eine Beleidigung für sie sein. Schnell wiederholte er sich im Geiste alle die Gründe, die für seinen Entschluß sprachen. Er wiederholte sich auch die Worte, mit denen er seinen Antrag vorbringen wollte; aber statt sie zu sagen, fragte er nach einer ihm ganz unerwartet im Kopfe auftauchenden Überlegung:
»Was ist eigentlich für ein Unterschied zwischen einem Steinpilz und einem Birkenpilz?«
Warjenkas Lippen bebten vor Erregung, als sie antwortete:
»Am Hute ist fast gar kein Unterschied, wohl aber am Stiel.« Sie zeigte ihm zwei Pilze.
Und sobald diese Worte gesprochen waren, wußten sie beide, sowohl er wie sie, daß die Sache aus war, daß das, was hätte gesagt werden sollen, nun nicht mehr gesagt werden würde, und die Aufregung beider, die vorher den höchsten Grad erreicht hatte, begann sich zu legen.
»Das ist also der Birkenpilz? Sein Stiel erinnert an den zwei Tage alten, unrasierten Bart eines brünetten Mannes«, sagte Sergei Iwanowitsch, nun schon in ruhigem Tone.
»Ja, das ist richtig«, antwortete Warjenka lächelnd, und unwillkürlich [22] änderte sich die Richtung ihres Spazierganges; sie näherten sich wieder mehr den Kindern. Warjenkas Herz zog sich schmerzlich zusammen, und eine gewisse Beschämung überkam sie; aber zugleich empfand sie auch ein Gefühl der Erleichterung.
Als Sergei Iwanowitsch nachher nach Hause zurückgekehrt war und alle Einzelheiten noch einmal erwog, fand er, daß seine Vernunfterwägung unrichtig gewesen war. Er war doch nicht imstande, dem Andenken seiner Marie untreu zu werden.
»Sachte, Kinder, sachte!« rief Ljewin ordentlich ärgerlich den Kindern zu und stellte sich vor seine Frau, um sie zu schützen, als die Kinderschar mit einem Freudengeschrei ihnen entgegenstürmte.
Nach den Kindern kamen auch Sergei Iwanowitsch und Warjenka aus dem Walde heraus. Kitty brauchte keine Frage an Warjenka zu richten; an dem ruhigen, ein wenig beschämten Gesichtsausdruck der beiden erkannte sie, daß die Pläne, die sie entworfen hatte, nicht zur Verwirklichung gelangt waren.
»Nun, wie steht's?« fragte ihr Mann sie, als sie sich wieder auf dem Heimweg befanden.
»Es ist kein Schwung dahinter«, antwortete Kitty. In ihrem Lächeln und in ihrer Ausdrucksweise erinnerte sie dabei an ihren Vater, eine Ähnlichkeit, die Ljewin an ihr oft mit Vergnügen bemerkte.
»Wie meinst du das?«
»Sieh mal, so!« erwiderte sie, ergriff die Hand ihres Mannes, führte sie an ihren Mund und berührte sie mit geschlossenen Lippen. »Geradeso, wie man einem Bischof die Hand küßt.«
»Bei wem ist denn kein Schwung dahinter?« fragte er lachend.
»Bei beiden nicht. Sieh mal, so müßten sie's machen ...«
»Da fahren Bauern ...«
»Ach was, die haben nichts gesehen.«
Während die Kinder drinnen ihren Tee tranken, saßen die Erwachsenen auf dem Balkon und unterhielten sich miteinander, als ob nichts vorgefallen wäre, obwohl doch alle und besonders Sergei Iwanowitsch und Warjenka wußten, daß sich etwas sehr Wichtiges, obgleich nur etwas Negatives, zugetragen hatte. Sie hatten beide die gleiche Empfindung, ungefähr die Empfindung eines Schülers, der bei der Prüfung durchgefallen ist und nun in derselben Klasse sitzenbleibt öder für immer von der Anstalt [23] ausgeschlossen wird. Auch alle anderen Anwesenden hatten das Gefühl, daß etwas geschehen war, und sprachen darum mit besonderer Lebhaftigkeit über andersartige Gegenstände. Ljewin und Kitty waren an diesem Abend ganz besonders glücklich und ineinander verliebt. Und daß sie in ihrer Liebe so glücklich waren, empfanden sie als eine peinliche Hindeutung auf die beiden, die ebendasselbe hatten erreichen wollen und nicht hatten erreichen können; und sie waren wegen ihres Glückes beschämt.
»Denkt an das, was ich sage: Alexander wird nicht kommen«, sagte die alte Fürstin.
Es wurde nämlich an diesem Tage mit dem Abendzug Stepan Arkadjewitsch erwartet, und der alte Fürst hatte geschrieben, er würde vielleicht auch mitkommen.
»Und ich weiß auch den Grund, warum er nicht kommt«, fuhr die Fürstin fort. »Er sagt, junge Eheleute müsse man in der ersten Zeit allein lassen.«
»Ja, diese Regel hat Papa gründlich befolgt; noch nicht ein einziges Mal haben wir ihn hier zu sehen bekommen«, klagte Kitty. »Und sind wir denn etwa junge Eheleute? Wir sind doch schon so alte!«
»Es ist nur dies: wenn er nicht kommt, so werde auch ich Abschied von euch nehmen müssen, Kinder«, sagte die Fürstin traurig mit einem Seufzer.
»Aber Mama, was kommt Ihnen an!« riefen die beiden Töchter gleichzeitig vorwurfsvoll.
»Bedenkt doch nur, wie verlassen er sich vorkommen muß. Es ist ja jetzt ...«
Und ganz unerwartet fing die Stimme der alten Fürstin an zu zittern. Die Töchter schwiegen und warfen einander einen Blick zu. ›Maman macht sich doch immer allerlei traurige Gedanken‹, sagten sie einander mit diesem Blick. Sie wußten nicht, daß, wie wohl sich die Fürstin auch bei ihrer Tochter fühlte und wie notwendig sie sich auch hier vorkam, sie doch für ihre eigene Person und auch um ihres Mannes willen recht traurig war, seit sie ihre letzte, liebe Tochter verheiratet hatten und ihr Haus leer geworden war.
»Was möchten Sie, Agafja Michailowna?« fragte Kitty die alte Haushälterin, die mit geheimnisvoller Miene und vielsagendem Gesicht dastand.
»Wegen des Abendessens.«
»Nun, das ist ja ganz schön«, sagte Dolly. »Dann geh du und triff deine Anordnungen, und ich will gehen und mit Grigori seine Aufgaben wiederholen. Er hat sowieso heute noch nichts getan.«
[24] »Aber das ist doch mein Amt! Nein, Dolly, ich gehe«, rief Ljewin und sprang auf.
Grigori, der schon ins Gymnasium eingetreten war, mußte im Sommer seine Aufgaben wiederholen. Darja Alexandrowna hatte schon in Moskau mit ihrem Sohne zusammen Lateinisch gelernt, und jetzt, wo sie bei Ljewins zu Besuch waren, hatte sie es sich zur Regel gemacht, mit ihm wenigstens einmal am Tage die schwierigsten Teile aus dem Rechenunterricht und aus dem Lateinischen zu wiederholen. Ljewin hatte sich erboten, ihr diese Arbeit abzunehmen; aber als die Mutter einmal bei seinem Unterricht zugehört und bemerkt hatte, daß Ljewin es nicht ganz so machte wie der Lehrer in Moskau, da hatte sie ihm, allerdings sehr verlegen und bemüht, ihn nicht zu kränken, aber doch mit aller Entschiedenheit erklärt, man müsse nach dem Buche gehen, genau wie der Lehrer, und sie wolle es lieber wieder selbst übernehmen. Ljewin hatte sich geärgert, sowohl über Stepan Arkadjewitsch, weil dieser, lässig wie er war, die häuslichen Arbeiten seines Sohnes nicht selbst überwachte, so daß es die Mutter tun mußte, die von den betreffenden Unterrichtsgegenständen nichts verstand, wie auch über die Lehrer, weil sie den Kindern so schlechten Unterricht erteilten; aber er hatte seiner Schwägerin versprochen, beim Unterricht so zu verfahren, wie sie es wünschte. So hatte er denn Grigori seitdem nicht nach seiner eigenen Methode, sondern nach dem Buche unterrichtet, und daher hatte er es ohne rechte Lust getan und die Lehrstunde nicht selten vergessen. So war es auch an diesem Tage gegangen.
»Nein, ich will gehen, Dolly; bleib du nur sitzen«, sagte er. »Wir werden alles ganz ordentlich, streng nach dem Buche, durchnehmen. Aber wenn Stiwa kommt, dann fahren wir allerdings auf die Jagd; dann müssen wir mit dem Unterricht aussetzen.«
Damit ging Ljewin zu Grigori.
In ganz ähnlicher Weise sprach Warjenka zu Kitty. Warjenka hatte es auch in dem glücklichen, wohleingerichteten Ljewinschen Hause verstanden, sich nützlich zu machen.
»Ich werde schon für das Abendessen sorgen; bleiben Sie nur ruhig sitzen«, sagte sie, stand auf und ging zu Agafja Michailowna.
»Ja, ja, gewiß sind keine jungen Hühner zu bekommen gewesen. Dann müssen wir von unseren ...«, sagte Kitty.
»Ich werde das schon mit Agafja Michailowna überlegen« – und Warjenka verschwand mit dieser.
»Welch ein liebes Mädchen!« bemerkte die Fürstin.
[25] »Sie ist nicht nur lieb, maman, sondern geradezu entzückend, wie man nicht leicht eine zweite findet.«
»Also Sie erwarten heute Stepan Arkadjewitsch?« fragte Sergei Iwanowitsch, der augenscheinlich nicht wünschte, daß das Gespräch über Warjenka fortgesetzt werde. »Es dürfte schwer sein, zwei Schwäger aufzutreiben, die weniger Ähnlichkeit miteinander hätten«, fuhr er mit feinem Lächeln fort: »Der eine nur für die Gesellschaft lebend und in ihr munter und lebenslustig, wie ein Fisch im Wasser; der andere, unser Konstantin, auf allen anderen Gebieten lebendig, rasch und eifrig, aber sobald er sich in Gesellschaft befindet, wird er entweder starr wie Holz, oder er schlägt sinnlos um sich wie ein Fisch auf dem Trockenen.«
»Ja, er ist sehr unbedacht«, bemerkte die Fürstin, zu Sergei Iwanowitsch gewendet. »Ich wollte Sie wirklich schon bitten, ihm doch auseinanderzusetzen, daß sie« (sie deutete auf Kitty) »unmöglich hier bleiben kann, sondern unbedingt nach Moskau fahren muß. Er sagt, wir sollten einen Arzt hierherkommen lassen ...«
»Maman, er wird alles tun, er ist mit allem einverstanden«, unterbrach Kitty sie; sie ärgerte sich über ihre Mutter, weil sie in einer solchen Sache Sergei Iwanowitsch als Richter anrief.
Während des Gespräches wurde in der Allee das Schnauben von Pferden und das Knirschen von Rädern auf dem Kies vernehmbar.
Kaum war Dolly aufgestanden, um ihrem Manne entgegenzugehen, als unten aus dem Fenster des Zimmers, in dem Grigori seinen Unterricht erhielt, Ljewin heraussprang und darauf auch seinen Schüler heraushob.
»Das ist Stiwa!« rief Ljewin zum Balkon hinauf. »Wir waren eben fertig, Dolly, sei ganz unbesorgt!« fügte er hinzu und rannte wie ein Junge dem Wagen entgegen.
»Is ea id, ejus 1 ejus ejus!« schrie Grigori, während er in großen Sätzen die Allee entlang lief.
»Es ist noch jemand darin. Gewiß Papa!« rief Ljewin vom Eingang der Allee, wo er stehengeblieben war, zurück. »Kitty, steig nicht die steile Treppe hinunter, geh hintenherum die andere.«
Aber in der Vermutung, daß der zweite Insasse des Wagens der alte Fürst sei, hatte Ljewin sich geirrt. Als er dem Wagen näher gekommen war, erblickte er neben Stepan Arkadjewitsch nicht den Fürsten, sondern einen hübschen, etwas völligen jungen Mann, der auf dem Kopfe eine schottische Mütze mit langen Bändern trug. Dies war Wasenka Weslowski, ein weitläufiger Vetter der Schtscherbazkis, ein glänzender Kavalier in den [26] Petersburger und Moskauer Salons, »ein sehr netter Kerl und leidenschaftlicher Jäger«, wie ihn Stepan Arkadjewitsch vorstellte.
Ohne auch nur im geringsten verlegen zu werden über die Enttäuschung, die er dadurch herbeigeführt hatte, daß er statt des alten Fürsten mitgekommen war, begrüßte Weslowski höchst vergnügt Ljewin unter Berufung auf ihre frühere Bekanntschaft; dann half er dem kleinen Grigori in den Wagen und hob ihn über den Jagdhund weg, den sich Stepan Arkadjewitsch mitgebracht hatte.
Ljewin stieg nicht in den Wagen, sondern ging hinterher. Er war etwas verstimmt darüber, daß der alte Fürst nicht mitgekommen war, den er immer mehr liebgewann, je näher er ihn kennenlernte, sowie darüber, daß sich da dieser Wasenka Weslowski, so ein ganz fremder, überflüssiger Mensch, eingefunden hatte. Noch fremder und überflüssiger erschien er ihm, als sie zur Haustür gelangten, wo sich der ganze Schwarm der Erwachsenen und Kinder in lebhafter Erregung versammelt hatte, und Ljewin sehen mußte, daß Wasenka Weslowski mit besonders freundlicher, galanter Miene Kitty die Hände küßte.
»Ich bin ja ein Vetter Ihrer Frau, und zudem sind wir alte Bekannte«, sagte Wasenka Weslowski und drückte noch einmal Ljewin recht kräftig und herzlich die Hand.
»Nun, wie steht's? Ist Wild da?« wandte sich Stepan Arkadjewitsch an Ljewin, sobald er nur damit fertig geworden war, die einzelnen zu begrüßen. »Ich und der hier, wir haben die allergrausamsten Absichten. Natürlich, maman, in Moskau hat sich das junge Ehepaar wer weiß wie lange nicht wieder blicken lassen. Na, Tanja, es ist auch für dich etwas da; hol dir's mal, im Wagen, hinten«, so redete er nach allen Seiten. »Wie frisch du wieder geworden bist, liebste Dolly«, sagte er zu seiner Frau und küßte ihr noch einmal die Hand, die er in der seinen hielt und mit der andern zärtlich von oben klopfte.
Ljewin, der noch wenige Minuten vorher in fröhlichster Stimmung gewesen war, richtete jetzt finstere Blicke auf alle, und alles mißfiel ihm.
›Wen mag er wohl gestern mit diesen Lippen geküßt haben?‹ dachte er, als er Stepan Arkadjewitschs zärtliches Benehmen gegen seine Frau bemerkte. Er blickte Dolly beobachtend an, und auch diese erregte sein Mißfallen.
›Sie glaubt ja gar nicht an seine Liebe. Also worüber freut sie sich denn so? Widerlich!‹ dachte Ljewin.
Er sah zur Fürstin hin, die ihm noch kurz vorher so liebenswürdig erschienen war, und es mißfiel ihm die Art, wie sie, als [27] wäre sie hier zu Hause, diesen Wasenka mit seinen Bändern willkommen hieß.
Selbst Sergei Iwanowitsch, der gleichfalls vor die Tür getreten war, machte ihm einen unangenehmen Eindruck durch die gekünstelte Herzlichkeit, mit der er Stepan Arkadjewitsch begrüßte, während doch Ljewin wußte, daß sein Bruder ihn weder gern mochte noch achtete.
Auch Warjenka, auch sie war ihm zuwider wegen der scheinheiligen Miene, die sie diesem Herrn gegenüber bei der Vorstellung machte, obwohl sie doch sicherlich nur daran dachte, wie sie einen Mann bekommen könne.
Am allermeisten aber ärgerte er sich über Kitty, weil sie auf den heiteren Ton einging, in dem dieser Herr seine Ankunft auf dem Gute wie einen Festtag für sich und für alle behandelte, und besonders widerwärtig war ihm das eigentümliche Lächeln, mit dem sie sein Lächeln erwiderte.
In lärmendem Gespräche begaben sich alle ins Haus; aber sobald sie nur sämtlich Platz genommen hatten, drehte sich Ljewin um und ging hinaus.
Kitty sah, daß mit ihrem Manne etwas vorgegangen war. Gern hätte sie einen Augenblick erhascht, um mit ihm allein zu sprechen; aber er hatte es eilig, von ihr wegzukommen, indem er sagte, er müsse notwendig ins Kontor. Schon lange waren ihm die Wirtschaftsangelegenheiten nicht so wichtig erschienen wie heute. ›Für diese Leute da‹, dachte er, ›ist immer Feiertag; ich aber habe meine Werktagsarbeit, die keinen Aufschub leidet und von der ich leben muß.‹
1 (lat.) Nominativ und Genitiv Singular von is (dieser).
Ins Haus kam Ljewin erst zurück, als jemand zu ihm geschickt wurde, ihn zum Abendessen zu rufen. Auf der Treppe standen Kitty und Agafja Michailowna und berieten über die Weine, die beim Abendessen auf den Tisch kommen sollten.
»Wozu macht ihr denn soviel Aufhebens? Setzt ihnen doch unseren gewöhnlichen Tischwein vor.«
»Nein, den mag Stiwa nicht ... Warte doch, Konstantin, was hast du denn eigentlich?« rief ihm Kitty zu, während sie ihm nacheilte; aber er ging erbarmungslos, ohne auf sie zu warten, mit großen Schritten in das Speisezimmer und beteiligte sich dort sofort an der lebhaften allgemeinen Unterhaltung, bei der Wasenka Weslowski und Stepan Arkadjewitsch besonders hervortraten.
[28] »Nun, wie ist's? Wollen wir morgen auf die Jagd fahren?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
»Ach ja, tun wir das!« erwiderte Weslowski. Er setzte sich, seinen Platz wechselnd, auf einen andern Stuhl, aber seitwärts und so, daß er das eine seiner fetten Beine unter den Leib schob.
»Es wird mir ein großes Vergnügen sein. Fahren wir also! Haben Sie in diesem Jahre schon gejagt?« sagte Ljewin zu Weslowski, während er dessen Bein aufmerksam betrachtete; er sprach mit jener gemachten Freundlichkeit, die Kitty so genau an ihm kannte und die ihm so schlecht stand. »Ob wir Schnepfen finden werden, weiß ich nicht; aber Bekassinen sind viele da. Nur müssen wir recht früh fahren. Werden Sie auch nicht müde sein? Bist du sehr müde geworden, Stiwa?«
»Ich müde? Ich bin noch niemals müde geworden. Meinetwegen können wir die ganze Nacht aufbleiben! Wollen noch ein bißchen spazierengehen!«
»Im Ernst, bleiben wir die Nacht über auf! Famos!« stimmte ihm Weslowski bei.
»Oh, davon sind wir überzeugt, daß du eine Nacht durchmachen kannst und auch andere Leute dazu verleitest«, sagte Dolly zu ihrem Mann in jenem Tone leisen Spottes, in dem sie jetzt fast immer mit ihm verkehrte. »Aber meiner Ansicht nach ist es jetzt schon Zeit, schlafen zu gehen ... Ich gehe; Abendbrot möchte ich heute nicht essen.«
»Aber nein, bleib doch noch ein Weilchen sitzen, liebste Dolly«, bat Stepan Arkadjewitsch und ging um den großen Tisch, an dem gegessen wurde, herum zu ihr. »Ich möchte dir noch so vieles erzählen.«
»Es wird wohl nichts Besonderes sein.«
»Weißt du denn, daß Weslowski bei Anna gewesen ist? Und er wird bald wieder zu ihnen hinfahren. Sie wohnen ja nur siebzig Werst von euch entfernt. Und ich will unter allen Umständen auch einmal hin. Weslowski, komm doch mal her!«
Wasenka kam zu den Damen heran und setzte sich neben Kitty.
»Ach, bitte, erzählen Sie doch; Sie sind bei ihr gewesen? Wie geht es ihr?« wandte sich Darja Alexandrowna zu ihm.
Ljewin blieb am andern Ende des Tisches und sah, während er sein Gespräch mit der Fürstin und Warjenka ohne Unterbrechung fortsetzte, daß zwischen Stepan Arkadjewitsch, Dolly, Kitty und Weslowski sich ein lebhaftes, geheimnisvolles Gespräch entwickelte. Und nicht genug damit, daß dort ein solches geheimnisvolles Gespräch geführt wurde, er sah auch auf dem Gesicht seiner Frau den Ausdruck einer unverstellten [29] Empfindung, als sie mit unverwandten Augen in das hübsche Gesicht dieses Wasenka blickte, der sehr lebhaft irgend etwas erzählte.
»Es geht sehr nett bei ihnen zu«, berichtete Wasenka über Wronski und Anna. »Ich maße mir selbstverständlich kein Urteil über die beiden an; aber man fühlt sich in ihrem Hause wie in einer Familie.«
»Was beabsichtigen sie denn demnächst zu tun?«
»Es scheint, daß sie für den Winter nach Moskau ziehen wollen.«
»Wie hübsch wäre es, wenn wir alle zusammen zu ihnen führen! Wann willst du denn fahren?« fragte Stepan Arkadjewitsch seinen jungen Freund.
»Ich will den Juli bei ihnen verleben.«
»Nun, und du? Fährst du auch mit?« wandte sich Stepan Arkadjewitsch an seine Frau.
»Ich habe es schon lange tun wollen und werde jedenfalls einmal hinfahren«, antwortete Dolly. »Sie tut mir gar zu leid, und ich kenne sie genau. Sie ist eine ganz prächtige Frau. Ich will allein hinfahren, wenn du wieder weg bist; dann braucht sich niemand um meinetwillen beschämt zu fühlen. Es ist sogar besser, wenn ich ohne dich dort bin.«
»Schön, schön«, versetzte Stepan Arkadjewitsch. »Und du, Kitty?«
»Ich? Weshalb sollte ich hinfahren?« erwiderte Kitty, wurde blutrot und sah sich nach ihrem Mann um.
»Sind Sie auch mit Anna Arkadjewna bekannt?« fragte Weslowski sie. »Sie ist eine höchst anziehende Frau.«
»Ja«, antwortete sie, noch tiefer errötend, stand auf und ging zu ihrem Manne.
»Also du fährst morgen auf die Jagd?« fragte sie ihn.
Seine Eifersucht hatte in diesen wenigen Minuten, namentlich wegen der Röte, die ihre Wangen während ihres Gespräches mit Weslowski überzogen hatte, schon einen hohen Grad erreicht. Als er jetzt ihre Frage hörte, faßte er sie schon auf seine besondere Weise auf. Wie wunderlich es ihm auch später bei der Erinnerung vorkam, aber in diesem Augenblick schien es ihm ganz klar, wenn sie ihn frage, ob er auf die Jagd fahren werde, so beschäftige sie das nur deshalb, weil sie gern wissen möchte, ob er dem netten Wasenka Weslowski, in den sie sich seiner Meinung nach bereits verliebt hatte, dieses Vergnügen bereiten werde.
»Ja, ich fahre auf die Jagd«, antwortete er in einem gezwungenen Ton, der ihm selbst widerwärtig klang.
[30] »Bleibt doch lieber morgen noch hier; sonst hat ja Dolly ihren Mann vorher gar nicht recht zu sehen bekommen. Ihr könnt ja übermorgen fahren«, meinte Kitty.
Ljewin war jetzt schon so weit gekommen, daß er sich Kittys Worte auf folgende Art auslegte: ›Trenne mich nicht von ihm! Ob du fortfährst oder nicht, ist mir gleichgültig; aber gib mir die Möglichkeit, die Gesellschaft dieses reizenden jungen Mannes zu genießen.‹
»Gewiß, gewiß, wenn du es wünschst, bleiben wir morgen hier«, antwortete Ljewin mit besonderer Freundlichkeit.
Unterdessen war Wasenka, ohne das geringste von den Leiden zu ahnen, die seine Anwesenheit verursachte, nach Kitty gleichfalls vom Tische aufgestanden und ging hinter ihr her, wobei er sie mit einem lächelnden, freundlichen Blick betrachtete.
Ljewin sah diesen Blick. Er wurde ganz blaß und konnte eine Weile nicht Atem holen. ›Wie kann dieser Mensch es sich erlauben, meine Frau so anzusehen!‹ dachte er, während es in ihm kochte.
»Also morgen? Ach ja, fahren wir!« sagte Wasenka, setzte sich auf einen Stuhl und schlug nach seiner Gewohnheit wieder das eine Bein unter.
Ljewins Eifersucht wuchs immer mehr. Schon sah er sich als betrogener Ehemann, den die Frau und ihr Liebhaber nur dazu nötig hatten, daß er ihnen die Bequemlichkeiten und Vergnügungen des Lebens beschaffte ... Aber trotzdem befragte er Wasenka in liebenswürdiger, gastfreundlicher Weise nach seinen Jagden, nach seiner Flinte, nach seinen Stiefeln und erklärte sich damit einverstanden, morgen zu fahren.
Zu Ljewins Glück machte die alte Fürstin seinen Leiden dadurch ein Ende, daß sie selbst aufstand und auch ihrer Tochter Kitty riet, nun schlafen zu gehen. Aber auch dabei ging es nicht ohne eine neue Qual für Ljewin ab. Als Wasenka der Hausfrau gute Nacht sagte, wollte er wieder die Hand küssen; aber Kitty zog sie errötend weg und sagte mit naiver Unhöflichkeit, für die sie nachher von der Mutter gescholten wurde:
»Das ist bei uns nicht üblich.«
In Ljewins Augen hatte sie schon einen Fehler begangen, weil sie ein derartiges Benehmen überhaupt hatte aufkommen lassen, und einen noch größeren, weil sie in so ungeschickter Weise zeigte, daß ihr dieses Benehmen nicht gefiel.
»Aber wie kann man überhaupt jetzt schlafen gehen!« meinte Stepan Arkadjewitsch, der beim Abendessen einige Gläser Wein getrunken hatte und dadurch in seine vergnügteste, poetischste Stimmung gelangt war. »Sieh mal, Kitty«, sagte er und wies auf[31] den Mond, der hinter den Linden heraufkam, »wie wunderhübsch! Weslowski, das wäre so die richtige Zeit für eine Serenade. Weißt du, er hat eine prächtige Stimme. Er und ich, wir haben unterwegs in einem fort gesungen. Er hat ein paar sehr schöne, neue Lieder mitgebracht. Die sollte er einmal mit Warwara Andrejewna zusammen singen.«
Nachdem alle sich auf ihr Zimmer zurückgezogen hatten, ging Stepan Arkadjewitsch noch lange mit Weslowski in der Allee auf und ab, und man hörte sie eines der neuen Lieder singen.
Auch Ljewin hörte ihre Stimmen, als er mit gerunzelter Stirn im Schlafzimmer seiner Frau auf einem Sessel saß und auf all ihre Fragen, was denn eigentlich mit ihm sei, hartnäckig schwieg; aber als sie ihn schließlich selbst mit einem zaghaften Lächeln fragte: »Hat dir vielleicht an Weslowski etwas mißfallen?« da brach bei ihm der Damm, und er sagte ihr alles frei heraus; durch die eigenen Ausdrücke, deren er sich bediente, fühlte er sich beleidigt und geriet so in immer größere Wut.
Er stand vor ihr mit finster zusammengezogenen Brauen, unter denen die Augen schrecklich hervorfunkelten, und preßte die starken Hände gegen seine Brust, als müßte er alle seine Kräfte anstrengen, um sich zurückzuhalten. Der Ausdruck seines Gesichtes wäre hart, ja grausam gewesen, wenn er nicht zugleich auch hätte eine innere Qual erkennen lassen, von der sich Kitty gerührt fühlte. Seine Kinnbacken bebten, und die Stimme gehorchte ihm nicht.
»Du kannst dir wohl selbst sagen, daß ich nicht eifersüchtig bin; das ist ein ekelhaftes Wort. Ich kann nicht eifersüchtig sein und glauben, daß ... Ich kann mein Gefühl nicht ausdrücken, aber es ist ein furchtbares Gefühl ... Ich bin nicht eifersüchtig; aber ich fühle mich gekränkt, beleidigt dadurch, daß jemand zu denken wagt ... daß jemand dich mit solchen Blicken anzusehen wagt ...«
»Mit welchen Blicken denn?« fragte Kitty und bemühte sich mit größtmöglicher Gewissenhaftigkeit, sich alle Reden und Gesten des heutigen Abends mit allen ihren Besonderheiten ins Gedächtnis zurückzurufen.
Im Grunde ihres Herzens hatte sie die Empfindung, etwas Auffälliges sei vor allem an der Art zu finden gewesen, wie er ihr nach dem andern Ende des Tisches nachgegangen sei; aber das wagte sie nicht einmal sich selbst einzugestehen, und noch viel weniger hätte sie sich entschließen können, es ihm zu sagen und seine Qualen dadurch zu vergrößern.
»Was kann denn aber an mir Anziehendes sein, so wie ich jetzt aussehe? ...«
[32] »Oh!« rief er und griff sich an den Kopf. »Das hättest du nicht sagen sollen! ... Also wenn du anziehend wärest ...«
»Nein, nein, Konstantin, warte doch, höre doch nur!« sagte sie und sah ihn mit tieftraurigem, mitleidsvollem Ausdruck an. »Wie kannst du denn so etwas denken? Wo doch für mich andere Menschen gar nicht da sind, gar nicht bestehen! ... Willst du, daß ich überhaupt mit keinem Menschen mehr zusammenkommen soll?«
Im ersten Augenblick hatte seine Eifersucht sie gekränkt; sie hatte sich darüber geärgert, daß ihr auch die kleinste, harmloseste Zerstreuung verboten sein sollte. Aber jetzt hätte sie gern nicht nur solche Kleinigkeiten, sondern alles, alles zum Opfer gebracht, um ihn zu beruhigen und von den Qualen, die er litt, zu befreien.
»Stell dir nur einmal vor, wie schrecklich und zugleich wie lächerlich meine Lage ist«, fuhr er verzweifelt mit flüsternder Stimme fort. »Er ist Gast in meinem Hause, und er hat nichts Unanständiges im eigentlichen Sinne des Wortes getan, abgesehen von seinem ganzen freien Benehmen und davon, daß er immer auf dem untergeschlagenen Bein sitzt. Er ist der Ansicht, daß das durchaus guter Ton ist, und darum ist es meine Schuldigkeit, gegen ihn liebenswürdig zu sein.«
»Aber Konstantin, du übertreibst«, erwiderte Kitty, die sich im Grunde ihres Herzens über die Stärke der Liebe freute, die jetzt in seiner Eifersucht zum Ausdruck kam.
»Das Allerschrecklichste ist, daß du die gleiche bist, die du immer warst, und jetzt, wo du für mich ein solches Heiligtum bist, wo wir so glücklich, so ganz besonders glücklich waren, da muß auf einmal dieser elende Patron ... Nein, das will ich nicht sagen; wozu schimpfe ich auf ihn? Ich habe ihm ja eigentlich nichts vorzuwerfen. Aber warum soll mein und dein Glück ...«
»Weißt du, ich glaube zu verstehen, woher das alles gekommen ist«, begann Kitty.
»Nun woher? Woher?«
»Ich sah, wie du auf uns blicktest, als wir beim Abendessen miteinander sprachen.«
»Jawohl, jawohl!« erwiderte Ljewin voller Angst.
Und nun erzählte sie ihm, wovon sie gesprochen hatten. Während sie redete, konnte sie kaum atmen vor Erregung. Ljewin schwieg einen Augenblick; dann blickte er ihr in das blasse, angstvolle Gesicht und griff sich an den Kopf.
»Katja, ich habe dir Qualen bereitet! Liebste, Beste, verzeih mir! Es war Wahnsinn von mir! Katja, ich allein bin der Schuldige. Wie habe ich mich nur um einer solchen Dummheit willen so quälen können!«
[33] »Ach, du tust mir so leid!«
»Ich tue dir leid? Ich? Was habe ich Wahnsinniger getan? ... Wofür bin ich dir böse gewesen? Ein entsetzlicher Gedanke, daß jeder fremde Mensch unser Glück zerstören kann.«
»Gewiß, das ist eben das Schmerzliche ...«
»Aber nun will ich ihn ganz im Gegenteil absichtlich den ganzen Sommer über bei uns behalten und mich ihm gegenüber in Liebenswürdigkeiten überbieten«, sagte Ljewin und küßte Kittys Hände. »Das sollst du sehen. Morgen schon. Ja, richtig, morgen fahren wir ja auf die Jagd.«
Am andern Tage frühmorgens – die Damen waren noch nicht aufgestanden – standen die für die Jagd bestimmten Gefährte, ein leichter Jagdwagen und ein Bauernwagen, vor der Haustür, und Laska, die schon lange vorher gemerkt hatte, daß es auf die Jagd gehen sollte, saß nun, nachdem sie lange gejault hatte und umhergesprungen war, auf dem Jagdwagen neben dem Kutscher und blickte aufgeregt und mit der Verzögerung unzufrieden nach der Tür, aus der die Jäger immer noch nicht herauskommen wollten. Der erste, der erschien, war Wasenka Weslowski in großen, neuen Stiefeln, die bis zur Hälfte seiner dicken Oberschenkel hinaufreichten, in einer grünen Bluse, über der er an einem Gurte eine neue, noch nach Leder riechende Patronentasche trug, seine Bändermütze auf dem Kopf und eine nagelneue englische Flinte ohne Riemenringe und ohne Tragriemen unter dem Arm. Laska sprang zu ihm, begrüßte ihn und fragte ihn umherspringend auf ihre Weise, ob die andern nicht auch bald kämen; aber da sie von ihm keine Antwort erhielt, so kehrte sie auf ihren Warteposten zurück und saß wieder regungslos, den Kopf zur Seite geneigt und das eine Ohr gespitzt. Endlich öffnete sich mit lautem Geräusch die Tür von neuem, und heraus flog, sich kreiselnd und in der Luft herumdrehend, Stepan Arkadjewitschs blaßgelb gescheckter Schweißhund Crack; dann folgte Stepan Arkadjewitsch selbst, die Flinte in der Hand und die Zigarre im Munde. »C'est bien, c'est bien 1, Crack!« rief er dem Hunde freundlich zu, der ihm die Pfoten gegen den Leib und die Brust setzte und sich dabei mit ihnen in der Jagdtasche verfing. Stepan Arkadjewitsch trug Bauernschuhe aus einem einzigen Stück gebogenen Leders, ferner Fußlappen, fadenscheinige Hosen und einen kurzen Mantel. Auf dem Kopfe hatte er eine Ruine von einem Hute; aber seine [34] Flinte, ein neues System, sah wie ein niedliches Spielzeug aus, und die Jagdtasche und die Patronentasche, obwohl schon etwas abgenutzt, waren von allerbester Art.
Wasenka Weslowski hatte bisher von diesem echten Jägerstolz nichts gewußt: in Lumpen gekleidet zu sein, aber Jagdgeräte von bester Beschaffenheit zu führen. Aber jetzt ging ihm das Verständnis dafür auf, als er sah, wie aus dieser schäbigen Kleidung die elegante, wohlgenährte, heitere Herrengestalt Stepan Arkadjewitschs herausstrahlte, und er nahm sich vor, sich zur nächsten Jagd unfehlbar ebenso auszurüsten.
»Nun, und wie ist's mit unserm Wirte?« fragte er.
»Der hat eine junge Frau«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch lächelnd.
»Ja, und eine so reizende.«
»Er war schon angekleidet. Gewiß ist er noch einmal zu ihr gelaufen.«
Stepan Arkadjewitsch hatte richtig geraten. Ljewin war noch einmal schnell zu seiner Frau gegangen, um sie nochmals zu fragen, ob sie ihm seine gestrige Dummheit auch wirklich verziehen habe, und um sie zu bitten, doch um des Himmels willen recht vorsichtig zu sein. Namentlich sollte sie sich von den Kindern fernhalten; von denen sei immer zu befürchten, daß sie sie stießen. Auch mußte er sich noch einmal von ihr versichern lassen, daß sie ihm deswegen, weil er auf zwei Tage wegfahre, nicht böse sei, und mußte sie noch bitten, ihm unter allen Umständen morgen früh durch einen reitenden Boten ein Zettelchen zu schicken und ihm wenigstens zwei Worte zu schreiben, nur damit er wüßte, daß es ihr gut gehe.
Für Kitty war es, wie immer, ein Schmerz, sich auf zwei Tage von ihrem Manne zu trennen; aber als sie seine von frischer Lebenslust erfüllte Gestalt erblickte, die in den Jagdstiefeln und der weißen Hemdbluse besonders groß und stark erschien, und auf seinem Gesicht ein gewisses leuchtendes Glänzen jägerhafter Aufregung wahrnahm, für das sie kein rechtes Verständnis hatte, da vergaß sie um seiner Freude willen ihre eigene Betrübnis und nahm heiter von ihm Abschied.
»Verzeihung, meine Herren!« sagte er, als er eilig vor die Tür trat. »Ist auch das Frühstück eingepackt? Warum ist der Fuchs rechts eingespannt? Na, es kommt nicht drauf an. Laska, laß sein, kusch dich!«
»Nimm sie zu den Zeitschafen in die Herde«, wandte er sich an den Viehwärter, der vor der Tür mit einer Frage wegen der Hammel auf ihn gewartet hatte. »Verzeihung, da kommt noch so ein Bösewicht.«
[35] Ljewin sprang von dem Jagdwagen, auf dem er sich gerade zurechtsetzen wollte, wieder herunter zu einem Zimmermann, der, ein Klaftermaß in der Hand, sich dem Hause näherte.
»Na ja, ins Kontor ist er gestern nicht gekommen, und jetzt hält er mich auf. Nun, was willst du?«
»Gestatten Sie, daß ich noch eine Windung anbringe. Wir brauchen nur drei Stufen hinzuzufügen. Dann treffen wir es ganz genau. Es wird so viel bequemer sein.«
»Du hättest auf mich hören sollen«, erwiderte Ljewin ärgerlich. »Ich habe dir gesagt: ›Stelle zuerst die Treppenwangen auf und dann schneide die Stufen ein.‹ Jetzt ist das nicht mehr in Ordnung zu bringen. Tu, was ich angeordnet habe, und mache eine neue Treppe.«
Die Sache war die, daß bei dem im Bau befindlichen Nebengebäude der Zimmermann die Treppe verpfuscht hatte, weil er sie nicht an Ort und Stelle angefertigt und die Steigung nicht richtig berechnet hatte, so daß nun, als die Treppe an ihrem Platz aufgestellt wurde, alle Stufen abschüssig waren. Jetzt wollte der Zimmermann die gleiche Treppe beibehalten und drei Stufen hinzufügen.
»Es wird so weit besser sein.«
»Aber wo wird denn deine Treppe mit den drei Stufen endigen?«
»Aber ich bitte Sie!« sagte der Zimmermann mit geringschätzigem Lächeln. »Ganz genau wird sie auftreffen. Nämlich wenn sie so von unten anfängt«, fuhr er mit erläuternden Handbewegungen fort, »so geht sie so weiter und dann so und kommt dann oben an.«
»Aber die drei Stufen machen die Treppe doch auch länger ... Wo wird sie denn dann eigentlich auftreffen?«
»Also, wenn sie nämlich von unten so geht, dann kommt sie so an«, sagte der Zimmermann hartnäckig in belehrendem Tone.
»Unter die Decke und gegen die Wand wird sie gehen.«
»Aber ich bitte Sie! So kommt sie von unten; sie geht so und dann so und trifft oben auf.«
Ljewin langte sich seinen Ladestock und zeichnete ihm im Staube die Treppe auf.
»Na, siehst du es nun?«
»Wie Sie befehlen«, versetzte der Zimmermann, dessen Augen auf einmal aufleuchteten; offenbar hatte er die Sache endlich begriffen. »Da werden wir wohl eine neue Treppe machen müssen.«
»Na also, dann mach es, wie ich gesagt habe!« rief Ljewin und stieg auf den Wagen. »Fahr zu! Halte die Hunde fest, Filipp!«
[36] Nachdem Ljewin nun alle Familien- und Wirtschaftsfragen hinter sich gelassen hatte, empfand er ein so starkes Gefühl von Lebensfreude und Erwartung, daß er keine Lust hatte zu reden. Außerdem befand er sich in jenem Zustand aufgeregter Spannung, der bei jedem Jäger eintritt, wenn er sich dem Jagdgebiet nähert. Wenn ihn jetzt etwas beschäftigte, so waren es nur solche Fragen: ob sie im Kolpenskischen Sumpfe etwas finden würden, wie sich Laska im Vergleich zu Crack bewähren und ob er selbst heute gut schießen werde. Wenn er sich nur nicht vor diesem neuen Ankömmling blamierte; wenn nur nicht Oblonski besser schoß als er! – auch diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf.
Oblonski war in ähnlicher Stimmung und gleichfalls nicht zum Reden geneigt. Nur Wasenka Weslowski hörte mit seinem lustigen Geschwätz keinen Augenblick auf. Ljewin, der ihm zuhörte, schämte sich jetzt ordentlich, wenn er daran dachte, wie unrecht er ihm gestern getan hatte. Wasenka war wirklich ein prächtiger junger Mann, von natürlichem Wesen, gutherzig und sehr heiteren Gemütes. Wäre Ljewin noch als Junggeselle mit ihm zusammengetroffen, so würde er seine nähere Bekanntschaft gesucht haben. Seine Art, das Leben wie einen Festtag aufzufassen, und eine gewisse vornehme Ungezwungenheit mißfielen Ljewin einigermaßen. Es schien, als halte sich Weslowski deswegen für einen zweifellos bedeutenden Menschen, weil er lange Nägel trug, diese Mütze aufsetzte und seine sonstige Ausstattung damit übereinstimmte; aber das konnte man wegen seiner Gutherzigkeit und Biederkeit entschuldigen. Er gefiel Ljewin wegen seiner guten Erziehung, seiner vorzüglichen französischen und englischen Aussprache und dann auch, weil er der gleichen gesellschaftlichen Schicht angehörte.
Wasenka fand außerordentliches Gefallen an dem donischen Steppenpferd, das als linkes Seitenpferd ging. Er äußerte fortwährend sein Entzücken über dieses Tier: »Wie schön muß es sein, auf einem solchen Steppenpferde über die Steppe dahinzujagen! Wie? Meinen Sie nicht auch?« sagte er. Er stellte sich unter einem Ritte auf einem Steppenpferde so etwas Wildes, Poetisches vor, so etwas ohne Zweck und Ziel; aber seine Knabenhaftigkeit hatte, namentlich auch im Verein mit seinem hübschen Äußern, seinem liebenswürdigen Lächeln und der Anmut seiner Bewegungen, etwas außerordentlich Anziehendes. Ob nun deswegen, weil sein ganzes Wesen Ljewin gefiel, oder deswegen, weil Ljewin, um seine gestrige Sünde wiedergutzumachen, bestrebt war, an ihm alles gut zu finden: genug, das Zusammensein mit ihm machte Ljewin Vergnügen.
[37] Als sie drei Werst weit gefahren waren, vermißte Weslowski auf einmal seine Zigarren- und seine Brieftasche und wußte nicht, ob er sie verloren oder auf dem Tische hatte liegenlassen. In der Brieftasche befanden sich dreihundertundsiebzig Rubel, und es ging daher nicht an, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
»Wissen Sie was, Ljewin? Ich werde auf diesem donischen Seitenpferde schnell nach Hause reiten. Das wird wunderhübsch sein. Nicht wahr?« sagte er und machte schon Anstalten aufzusteigen.
»Nicht doch, wozu denn?« erwiderte Ljewin, der bedachte, daß Wasenka gewiß nicht unter sechs Pud wog. »Ich werde den Kutscher schicken.«
Der Kutscher ritt auf dem Seitenpferde zurück, und Ljewin lenkte das übriggebliebene Zweigespann selbst.
1 (frz.) Das ist gut, das ist gut.
»Nun, wie wird denn unser Marsch sein? Erkläre ihn mal ein bißchen näher«, sagte Stepan Arkadjewitsch.
»Mein Plan ist dieser: jetzt fahren wir bis Gwosdjewo. Bei Gwosdjewo liegt diesseits ein Schnepfensumpf, und hinter Gwosdjewo kommen wundervolle Bekassinensümpfe, auch Schnepfen sind da zu finden. Jetzt ist es ja sowieso noch zu heiß; wir sind gegen Abend da (es sind zwanzig Werst) und können noch eine Abendjagd abhalten; wir übernachten dort, und morgen geht es dann nach den großen Sümpfen.«
»Und unterwegs ist gar nichts von Sumpf vorhanden?«
»Vorhanden ist schon etwas; aber das hält uns zu sehr auf, und es ist auch noch zu heiß. Es sind zwei hübsche kleine Sumpfstellen da; aber es wird dort kaum etwas zu finden sein.«
Ljewin hatte selbst große Lust, diese Stellen zu besuchen; aber da sie nicht weit von seinem Gut lagen, so hatte er jederzeit die Möglichkeit, sie vorzunehmen, und dann waren diese Stellen auch nur klein, so daß drei Jäger dort nicht recht Platz zum Schießen hatten. Und somit war es eigentlich gewissenlos von ihm, zu sagen, daß dort kaum etwas zu finden sein werde. Als sie in die Nähe des einen dieser beiden kleinen Sümpfe gelangt waren, wollte Ljewin vorüberfahren; aber Stepan Arkadjewitschs geübtes Jägerauge entdeckte sofort den vom Wege aus sichtbaren Moorboden.
»Wollen wir mal hingehn?« sagte er, auf den Sumpf zeigend.
»Ach ja, Ljewin, das ist ja herrlich!« bat Wasenka Weslowski, und Ljewin konnte nichts anderes tun als nachgeben.
[38] Sie hatten noch nicht angehalten, als die Hunde schon um die Wette nach dem Sumpf hinstürmten.
»Crack, Laska!«
Die Hunde kehrten zurück.
»Zu dreien wird es zu eng sein. Ich will hierbleiben«, sagte Ljewin in der Hoffnung, daß sie nichts finden würden außer den Kiebitzen, die, von den Hunden aufgescheucht, sich erhoben hatten und kläglich schreiend in schwankendem Fluge über dem Sumpf flatterten.
»Aber nicht doch! Kommen Sie, Ljewin, kommen Sie mit!« rief Weslowski.
»Nein, wirklich, es ist zu eng. Laska, zurück! Laska! Zwei Hunde werden Sie ja wohl nicht gebrauchen?«
Ljewin blieb bei dem Jagdwagen zurück und blickte voll Neid den Jägern nach. Diese durchwanderten den ganzen Sumpf. Aber außer einem Wasserhuhn und den Kiebitzen, von denen Wasenka einen schoß, war in ihm nichts vorhanden.
»Na, da sehen Sie, meine Herren, daß ich nicht etwa den Sumpf für mich aufsparen wollte«, sagte Ljewin. »Wir haben nur Zeit damit verloren.«
»O nein, es war doch sehr vergnüglich«, meinte Wasenka Weslowski und stieg mit der Flinte und dem Kiebitz in den Händen unbeholfen in den Wagen. »Haben Sie es wohl gesehen? Ganz prächtig habe ich den hier getroffen! Nicht wahr? Na, kommen wir nun bald ins richtige Gelände?«
Auf einmal zogen die Pferde an, Ljewin stieß mit dem Kopf heftig gegen den Lauf einer der Flinten, und es erdröhnte ein Schuß. So erschien der Hergang wenigstens Ljewin; in Wirklichkeit war zuerst der Schuß losgegangen. Die Sache war die, daß Wasenka Weslowski beim Abspannen der Hähne auf den einen Abzug gedrückt, aber den andern Hahn festgehalten hatte. Die Ladung war in die Erde gegangen, ohne jemandem Schaden zu tun. Stepan Arkadjewitsch wiegte den Kopf hin und her und lachte den unvorsichtigen Schützen vorwurfsvoll an. Aber Ljewin mochte diesem keine Vorhaltungen machen. Denn erstens hätte jeder Vorwurf den Anschein erweckt, als sei er durch die vorübergegangene Gefahr und durch die auf Ljewins Stirn hervortretende Beule veranlaßt worden, und zweitens legte Weslowski zuerst eine so aufrichtige Betrübnis an den Tag und lachte dann so gutmütig und allerliebst über ihren gemeinsamen Schreck, daß es unmöglich war, nicht mitzulachen.
Als sie zu dem zweiten Sumpf gelangten, der ziemlich groß war und viel Zeit kosten mußte, redete ihnen Ljewin zu, sie möchten nicht aussteigen. Aber Weslowski bat wieder, und Ljewin [39] gab nach. Da der Sumpf nur schmal war, so blieb Ljewin als höflicher Wirt wieder bei dem Wagen.
Gleich von vornherein stürzte Crack auf einige grasbewachsene Erdhöcker los. Wasenka Weslowski lief als erster hinter dem Hunde her. Stepan Arkadjewitsch war noch nicht herangekommen, als auch schon eine Schnepfe aufflog. Weslowski fehlte sie, und die Schnepfe setzte sich in einiger Entfernung auf eine ungemähte Wiese. Aber diese Schnepfe war nun doch einmal für Weslowski bestimmt. Crack fand sie wieder, jagte sie auf, und Weslowski erlegte sie und kehrte zum Wagen zurück.
»Jetzt, bitte, gehen Sie, und ich werde bei den Pferden bleiben«, sagte er.
Ljewin überkam der Jagdneid; er übergab Weslowski die Zügel und ging in den Sumpf.
Laska, die schon lange kläglich gewinselt und sich über die ungerechte Behandlung beklagt hatte, stürmte voran, gerade auf eine hoffnungerregende, ihrem Herrn schon von früher bekannte, mit kleinen Erdhöckern bedeckte Stelle los, zu der Crack noch nicht gekommen war.
»Warum hältst du den Hund denn nicht zurück?« rief Stepan Arkadjewitsch.
»Er wird keine verscheuchen«, antwortete Ljewin, der sich über seinen Hund freute und ihm nacheilte.
Je näher Laska auf ihrer Suche den wohlbekannten Erdhöckern kam, um so ernster und eifriger wurde sie. Ein kleiner Sumpfvogel lenkte nur für einen kurzen Augenblick ihre Aufmerksamkeit ab. Sie beschrieb einen Kreis vor den Erdhöckern, begann einen zweiten und fuhr plötzlich zusammen und blieb regungslos stehen.
»Komm, Stiwa, komm!« rief Ljewin. Er fühlte, wie sein Herz heftiger zu pochen begann und wie auf einmal, als wäre eine Art von Riegel in seinem stark angestrengten Gehörorgan beiseite geschoben, allerlei Geräusche, für deren Entfernung er jedoch den Maßstab verloren hatte, unklar, aber laut an sein Ohr schlugen. Er hörte Stepan Arkadjewitschs Schritte, hielt sie jedoch für fernes Pferdegetrappel; er hörte das leise, knirschende Geräusch von der Ecke eines grasbewachsenen Erdhöckers, auf die er getreten war und die sich nun mitsamt den Wurzeln loslöste, und nahm dieses Geräusch für den Flügelschlag einer Schnepfe; er hörte auch nicht weit hinter sich im Wasser irgendein Plätschern, über dessen Ursprung er sich keine Rechenschaft geben konnte.
Sorgsam die Stellen aussuchend, wo er die Füße hinsetzen konnte, rückte er dem Hunde näher.
[40] »Faß!«
Es war keine Schnepfe, sondern eine Bekassine, die vor dem Hund aufflog. Ljewin hob das Gewehr in die Höhe; aber gerade in dem Augenblick, wo er zielte, wurde eben jenes plätschernde Geräusch im Wasser stärker und kam näher, und es vereinigte sich damit die Stimme Weslowskis, der irgend etwas auffällig laut rief. Ljewin sah zwar, daß er hinter die Schnepfe zielte, schoß aber dennoch.
Nachdem Ljewin sich überzeugt hatte, daß es ein Fehlschuß gewesen war, schaute er sich um und sah, daß die Pferde mit dem Jagdwagen nicht mehr auf dem Wege, sondern im Sumpf waren.
In dem Wunsche, dem Schießen zuzusehen, war Weslowski so weit in den Sumpf hineingefahren, daß die Pferde darin steckengeblieben waren.
»Hol ihn der Teufel!« murmelte Ljewin vor sich hin, während er zu dem festsitzenden Wagen zurückkehrte. »Warum sind Sie denn hierhergefahren?« sagte er in trockenem Ton zu ihm, rief dann den Kutscher herbei und machte sich daran, die Pferde herauszubringen.
Ljewin ärgerte sich, weil er im Schießen gestört worden war und weil seine Pferde in den Sumpf hineingeführt waren, hauptsächlich aber, weil weder Stepan Arkadjewitsch noch Weslowski ihm und dem Kutscher behilflich waren, die Pferde auszuspannen und herauszubringen, da weder der eine noch der andere den geringsten Begriff davon hatte, wie ein Pferd angeschirrt ist. Ohne dem schuldigen Wasenka auf seine Beteuerung, daß es da ganz trocken gewesen sei, auch nur eine Silbe zu erwidern, arbeitete Ljewin mit dem Kutscher schweigend, um die Pferde herauszubekommen. Aber dann, als er bei der Arbeit warm geworden war und sah, mit welcher Anstrengung und welchem Eifer Weslowski den Wagen an dem einen Kotflügel zog, so daß er ihn sogar abbrach, da machte sich Ljewin Vorwürfe, daß er unter der Nachwirkung seines gestrigen Grolles doch wohl zu kalt gegen Weslowski gewesen sei, und bemühte sich, seine Unfreundlichkeit durch besondere Liebenswürdigkeit wiedergutzumachen. Als alles in Ordnung gebracht und der Wagen wieder auf den Fahrweg geschafft war, ließ Ljewin das Frühstück hervorholen.
»Bon appétit, bonne conscience!« 1 sagte Wasenka, der wieder ganz vergnügt geworden war, mit einem französischen Scherzworte und fügte, da er gerade sein zweites Hühnchen verzehrte, hinzu: »Ce poulet va tomber jusqu'au fond de mes bottes. 2 Na, aber jetzt hat es mit unserem Pech ein Ende; von nun an wird [41] alles glücklich vonstatten gehen. Nur fühle ich mich zur Strafe für das, was ich begangen habe, verpflichtet, auf dem Bock zu sitzen. Einverstanden? Wie? Nein, nein, ich werde Ihr Automedon sein. Passen Sie nur auf, wie ich Sie fahren werde!« entgegnete er, als Ljewin ihn bat, doch den Kutscher fahren zu lassen, und ließ die Zügel nicht los. »Nein, ich muß meine Schuld sühnen, und ich fühle mich auch auf dem Bock sehr wohl.« So kutschierte er denn los.
Ljewin hatte einige Besorgnis, er werde die Pferde zu sehr anstrengen, besonders das rechte Seitenpferd, den Fuchs, den er nicht zurückzuhalten verstand. Aber unwillkürlich ließ er sich von Weslowskis Fröhlichkeit anstecken und hörte zu, wie dieser, auf dem Bocke sitzend, während des ganzen Weges Lieder sang und Anekdoten erzählte und mit Vorführungen auseinandersetzte, wie man auf englische Art, four in hand, fahren müsse. So kamen sie alle nach dem Frühstück in vergnügtester Stimmung bei dem Sumpf von Gwosdjewo an.
Wasenka war so scharf zugefahren, daß sie zu früh, als es noch heiß war, bei dem Sumpf anlangten.
Als sie diesen richtigen, großen Sumpf, das Hauptziel ihrer Fahrt, erreicht hatten, überlegte Ljewin unwillkürlich, wie er es anstellen könne, sich Wasenkas zu entledigen und allein und ungestört zu gehen. Stepan Arkadjewitsch hegte offenbar denselben Wunsch, und Ljewin nahm auf seinem Gesicht jenen Ausdruck von Sorge wahr, der sich bei jedem richtigen Jäger vor dem Beginn einer Jagd zeigt, und dazu noch den Ausdruck einer gewissen, ihm besonders eigenen gutmütigen Schlauheit.
»Wie wollen wir denn nun gehen? Der Sumpf sieht ja vorzüglich aus, und ich sehe, es sind auch Habichte da«, sagte Stepan Arkadjewitsch und zeigte auf zwei große Vögel, die über dem hohen Riedgras kreisten. »Wo Habichte sind, da ist unfehlbar auch Wild.«
»Sehen Sie einmal da, meine Herren«, sagte Ljewin, indem er mit etwas finsterer Miene seine Stiefel hinaufzog und die Zündstifte an seinem Gewehre nachsah. »Sehen Sie wohl das Ried da?« Er zeigte auf ein dunkelgrünes Inselchen inmitten einer gewaltig großen, halb abgemähten, feuchten Wiese, die sich an der rechten Seite des Flusses hinzog. »Der Sumpf beginnt gleich hier, unmittelbar vor Ihnen; sehen Sie wohl, wo es grüner wird. Von da zieht er sich nach rechts, wo die Pferde gehen; da [42] sind Erdhöcker, und da finden sich Schnepfen; auch um dieses Ried herum, da bis an jenes Erlenwäldchen und bis dicht an die Mühle heran. Dort, siehst du, da, wo die Bucht ist. Das ist die beste Stelle. Da habe ich einmal siebzehn Bekassinen geschossen. Wir wollen mit den beiden Hunden nach verschiedenen Richtungen auseinandergehen und dort bei der Mühle wieder zusammentreffen.«
»Na ja, wer soll denn nun rechts gehen und wer links?« fragte Stepan Arkadjewitsch. »Rechts ist der Sumpf breiter; geht ihr beide da, und ich werde links gehen«, sagte er scheinbar so leichthin.
»Vorzüglich! Wir wollen ihn mit unserer Jagdbeute gehörig ausstechen. Na, kommen Sie, kommen Sie, kommen Sie!« stimmte Wasenka seinem Vorschlag bei.
Ljewin konnte nicht nein sagen. Bevor sie sich trennten, mußten sie noch eine kurze Strecke zusammenbleiben.
Kaum hatten sie den Sumpf betreten, als die beiden Hunde gleichzeitig zu suchen anfingen und nach einigen rostbraunen Wasserlachen strebten. Ljewin kannte Laskas vorsichtige, unbestimmte Art zu suchen; er kannte auch die Stelle und machte sich auf einen ganzen Schwarm Bekassinen gefaßt.
»Weslowski, halten Sie sich neben mir, immer neben mir!« flüsterte er seinem Gefährten zu, der hinter ihm her durch das Wasser patschte; denn nach dem unvermuteten Schuß beim Kolpenskischen Sumpfe interessierte sich Ljewin unwillkürlich für die Richtung von Weslowskis Flinte.
»Nein, nein, ich möchte Sie nicht stören; bitte, denken Sie gar nicht an mich.«
Aber unwillkürlich dachte Ljewin doch an ihn und erinnerte sich an das, was ihm Kitty beim Abschied gesagt hatte: ›Nehmt euch nur in acht, daß ihr nicht einer den andern totschießt.‹ Näher und näher kamen die Hunde, einander ausweichend und jeder seinen Strich verfolgend. Die Spannung auf das Erscheinen der Bekassinen war bei Ljewin so stark, daß ihm das Schmatzen seines Stiefelabsatzes, wenn er ihn aus dem Morast herauszog, wie der Schrei einer Bekassine klang und er jedesmal nach dem Kolben seines Gewehres griff und ihn fest in die Hand drückte.
Piff! Paff! ertönte es über seinem Ohr. Wasenka hatte auf einen Schwarm Enten geschossen, der über dem Sumpf kreiste und in diesem Augenblick, aber noch weit außer Schußweite, auf die Jäger zugeflogen kam. Ljewin hatte noch nicht Zeit gehabt, danach zu blicken, als eine Bekassine schmatzte, dann eine zweite, eine dritte; und so flogen noch etwa acht Stück eine nach der anderen auf.
[43] Stepan Arkadjewitsch traf eine gerade in dem Augenblick, als sie sich anschickte, ihre Zickzacklinien zu beginnen, und die Bekassine fiel wie ein Klümpchen in den Morast. Ohne Hast zielte er dann nach einer zweiten, die noch niedrig nach dem hohen Riedgras hin flog, und zugleich mit dem Knall des Schusses fiel auch diese Bekassine herunter, und man konnte sehen, wie sie aus dem gemähten Ried aufhüpfte und mit dem einen unverletzt gebliebenen, auf der Unterseite weißen Flügel um sich schlug.
Ljewin hatte nicht soviel Glück; er schoß auf die erste Bekassine aus zu großer Nähe und fehlte sie; dann legte er auf sie an, als sie bereits anfing aufzusteigen; aber in diesem Augenblick flog noch eine ihm dicht vor den Füßen auf und beirrte ihn, und er tat einen zweiten Fehlschuß.
Während sie die Flinten von neuem luden, flog noch eine Bekassine auf, und Weslowski, der schon mit dem Laden fertig war, schickte noch zwei Ladungen feines Schrot ins Wasser. Stepan Arkadjewitsch suchte seine Bekassinen zusammen und blickte Ljewin mit freudestrahlenden Augen an.
»Nun, dann wollen wir uns jetzt trennen«, sagte Stepan Arkadjewitsch, pfiff seinem Hunde und ging, mit dem linken Bein ein wenig hinkend und das Gewehr bereithaltend, nach der einen Seite. Ljewin und Weslowski gingen nach der andern.
Es ging Ljewin immer so: wenn ihm die ersten Schüsse mißglückt waren, wurde er hitzig, ärgerte sich und schoß den ganzen Tag schlecht. So war es auch an diesem Tage. Bekassinen wurden in großer Menge sichtbar. Vor dem Hunde und vor den Füßen der beiden Jäger flogen sie unaufhörlich auf, und Ljewin hätte die Möglichkeit gehabt, den üblen Anfang wiedergutzumachen; aber je mehr er schoß, um so mehr blamierte er sich vor Weslowski, der in Schußweite und außer Schußweite lustig drauflos feuerte, nichts traf und sich in keiner Weise dadurch in Aufregung versetzen ließ. Ljewin überhastete sich, zielte nicht ordentlich, wurde immer hitziger und kam bald so weit, daß er, wenn er schoß, kaum noch hoffte, daß er etwas treffen werde. Auch Laska schien das zu durchschauen. Sie fing an, lässiger zu suchen und blickte die Jäger wie verwundert und vorwurfsvoll an. Schuß folgte auf Schuß. Der Pulverdampf bildete um die Jäger herum eine Wolke; aber in dem großen, geräumigen Netze der Jagdtasche befanden sich nur drei leichte, kleine Bekassinen. Und von diesen hatte eine Weslowski geschossen, und eine war gemeinsame Beute. Unterdessen erschollen auf der andern Seite des Sumpfes von Stepan Arkadjewitsch zwar nicht allzu häufige, aber, wie es Ljewin vorkam, bedeutungsvolle Schüsse, und [44] dazu ertönte fast nach jedem Schusse der Ruf: »Crack, Crack, apport!«
Dadurch wurde Ljewin immer noch mehr aufgeregt. Die Bekassinen kreisten unaufhörlich in der Luft über dem Ried. Ihr Schmatzen am Boden und ihr Krächzen in der Höhe ließen sich, ohne einen Augenblick zu verstummen, von allen Seiten hören; die Bekassinen, die sich bei Beginn der Jagd erhoben hatten und dann in der Luft umhergeflogen waren, ließen sich wieder vor den Jägern nieder. Statt der zwei Habichte kreisten jetzt Dutzende kreischend über dem Sumpf.
Nachdem Ljewin und Weslowski die größere Hälfte des Sumpfes durchwandert hatten, kamen sie zu der Stelle, wo sich die Wiese in langen Streifen bis an den Sumpf heranzog. Sie war auf Teilung an Bauern verpachtet und teils durch eingetretene Striche, teils durch ausgemähte schmale Bänder abgeteilt. Die Hälfte dieser Streifen war bereits gemäht.
Obgleich wenig Hoffnung war, auf dem gemähten Gebiet so viel zu finden wie auf dem ungemähten, so hatte Ljewin doch Stepan Arkadjewitsch versprochen, mit ihm zusammenzutreffen, und ging daher mit seinem Genossen weiter durch die abgemähten und noch nicht abgemähten Streifen hindurch.
»Heda, ihr Jäger!« rief ihnen einer der Bauern zu, die bei einem ausgespannten Leiterwagen saßen. »Kommt her und vespert mit uns! Trinkt mit uns ein Schnäpschen!«
Ljewin blickte hin.
»Kommt nur ruhig her!« rief ein vergnügter, bärtiger Bauer mit rotem Gesicht und zeigte lachend seine weißen Zähne; er hob eine grünliche, in der Sonne glitzernde Stoffflasche in die Höhe.
»Qu'est ce qu'ils disent?« 1 fragte Weslowski.
»Sie laden uns ein, mit ihnen Schnaps zu trinken. Wahrscheinlich haben sie eben die Wiesen unter sich geteilt. Ich hätte schon Lust, einen Schluck zu nehmen«, sagte Ljewin nicht ohne Hinterlist, da er hoffte, Weslowski werde sich durch den Schnaps verführen lassen und zu ihnen hingehen.
»Warum wollen sie uns denn freihalten?«
»So aus gutem Herzen; sie sind vergnügt. Im Ernst, gehen Sie doch zu ihnen. Sie werden auf Ihre Kosten kommen.«
»Gehen Sie nur, gehen Sie nur! Den Weg nach der Mühle werden Sie schon finden!« rief ihm Ljewin zu und sah, sich umblickend, mit Vergnügen, daß Weslowski, den Oberkörper vornübergebeugt, mit den müden Beinen stolpernd und die Flinte in der ausgestreckten Hand haltend, sich aus dem Sumpf zu den Bauern hin herausarbeitete.
[45] »Komm du doch auch!« rief der Bauer Ljewin zu. »Keine Bange! Sollst ein Stück Pastete kriegen!«
Ljewin hatte die größte Lust, einen Schluck Branntwein zu trinken und einen Bissen Brot zu essen. Er war ganz schwach geworden und fühlte, daß er die Füße, die ihm den Dienst versagten, nur mit Mühe aus dem Moorgrund herausbekam. Einen Augenblick war er unschlüssig. Aber da stand sein Hund vor. Und sofort war alle Müdigkeit verschwunden, und leichten Schrittes ging er durch den Morast zu ihm hin. Unmittelbar vor seinen Füßen flog eine Bekassine auf; er schoß und traf – aber der Hund blieb stehen, ohne sich zu rühren. »Faß!« Dicht vor den Füßen des Hundes erhob sich eine zweite. Ljewin schoß. Aber es war eben ein Unglückstag für ihn; er hatte wieder gefehlt, und als er hinging, um die erlegte Bekassine zu suchen, da fand er auch diese nicht. Er durchstöberte das Riedgras in weiter Ausdehnung; aber Laska glaubte gar nicht, daß er getroffen habe, und als er sie auf die Suche schickte, stellte sie sich nur, als ob sie suchte, ohne es in Wirklichkeit zu tun.
Also auch wenn Wasenka nicht dabei war, dem Ljewin die Schuld an seinem Mißgeschick beigemessen hatte, wollte ihm die Sache nicht gelingen. Bekassinen waren auch hier in Menge vorhanden; aber Ljewin tat einen Fehlschuß nach dem andern.
Die schrägen Strahlen der Sonne waren noch recht heiß; die von Schweiß völlig durchtränkten Kleider klebten ihm am Leibe; der linke Stiefel, der voll Wasser gelaufen war, hatte ein tüchtiges Gewicht bekommen und verursachte ein schmatzendes Geräusch; über sein vom Pulverdampf beschmutzes Gesicht flossen die Schweißtropfen herab; im Munde hatte er einen bitteren Geschmack, in der Nase den Geruch von Schießpulver und von Moorerde, in den Ohren den unaufhörlichen Ton des Schmatzens der Bekassinen; die Flintenläufe waren nicht mehr zum Anrühren, so heiß waren sie geworden; sein Herz klopfte mit schnellen, kurzen Schlägen; die Hände zitterten ihm vor Erregung; die müden Beine stolperten über die Erdhöcker und schleppten sich nur mühsam durch den Schlamm. Aber trotzdem ging er weiter und fuhr fort zu schießen. Endlich, nachdem er wieder einen schmählichen Fehlschuß getan hatte, warf er seine Flinte und seinen Hut auf den Boden.
›Nein, ich muß erst wieder zur Ruhe kommen!‹ sagte er zu sich selbst. Er hob Flinte und Hut auf, rief Laska dicht zu sich heran und ging aus dem Sumpf heraus. Als er aufs Trockene gelangt war, setzte er sich auf eine kleine Erhöhung, zog sich den Stiefel aus und goß das Wasser aus; dann ging er wieder an den Sumpf, trank ein paar Schlucke von dem moorig schmeckenden Wasser, [46] benetzte die heiß gewordenen Läufe seiner Flinte und wusch sich Gesicht und Hände. Nachdem er sich so erfrischt hatte, ging er wieder nach einer Stelle, wo er soeben eine Bekassine sich hatte setzen gesehen, mit der festen Absicht, nicht wieder hitzig zu werden.
Er wollte ruhig sein; aber es war dieselbe Geschichte wie zuvor. Sein Finger drückte auf den Abzug, bevor er noch ordentlich auf den Vogel gezielt hatte. Es ging immer schlechter und schlechter.
Er hatte nur fünf Stück in der Jagdtasche, als er den Sumpf verließ und zu dem Erlenwäldchen ging, wo er mit Stepan Arkadjewitsch wieder zusammentreffen sollte.
Noch ehe er Stepan Arkadjewitsch sah, erblickte er dessen Hund. Unter dem von Erde entblößten Wurzelwerk einer Erle hervor kam Crack angesprungen, ganz schwarz von übelriechendem Sumpfschlamm, und beschnüffelte Laska mit Siegermiene. Hinter Crack zeigte sich im Schatten der Erlen auch Stepan Arkadjewitschs stattliche Gestalt. Mit rotem Gesicht, schweißbedeckt, mit aufgeknöpftem Kragen, immer hinkend, kam er auf Ljewin zu.
»Nun, wie steht's? Ihr habt ja so oft geschossen!« sagte er fröhlich lächelnd.
»Und du?« fragte Ljewin. Aber die Frage war unnötig; denn er sah schon die gefüllte Jagdtasche.
»Nun, es geht an.«
Er hatte vierzehn Stück.
»Ein prächtiger Sumpf! Dir ist gewiß Weslowskis Begleitung hinderlich gewesen. Zwei Jäger mit einem Hunde, das ist immer eine mißliche Sache«, sagte Stepan Arkadjewitsch, um seinen Triumph etwas herabzumindern.
Als Ljewin und Stepan Arkadjewitsch zu dem Häuschen des Bauern kamen, bei dem Ljewin immer zu rasten pflegte, war Weslowski schon dort. Er saß mitten in der Stube, hielt sich mit beiden Händen an einer Bank fest, von der ihn ein Soldat, ein Bruder der Hausfrau, an den schlammbedeckten Stiefeln herunterzuziehen versuchte, und lachte mit seinem fröhlichen Lachen, das für die Hörer immer etwas Ansteckendes hatte.
»Ich bin eben erst gekommen. Ils ont été charmants. 1 Denken Sie sich nur: sie haben mir zu essen und zu trinken gegeben. Und das Brot war geradezu wundervoll! Délicieux! 2 Und ein Schnaps![47] – ich habe in meinem Leben keinen besseren getrunken. Und Geld wollten sie absolut nicht annehmen. Immer sagten sie: ›Nimm fürlieb!‹«
»Wie werden sie denn Geld nehmen? Wo Sie doch ihr Gast waren. Zu verkaufen haben sie doch keinen Branntwein«, sagte der Soldat, der endlich den durchnäßten Stiefel mitsamt dem schwarz gewordenen Strumpf herunterbekommen hatte.
Trotz der Unsauberkeit des Zimmers, das durch die Stiefel der Jäger und durch die schmutzigen, sich beleckenden Hunde verunreinigt war, trotz des Sumpf- und Pulvergeruchs, mit dem es erfüllt war, und trotz des Fehlens von Messern und Gabeln tranken die Jäger ihren Tee und verzehrten ihr Abendbrot mit einem Appetit, wie man ihn nur auf der Jagd kennenlernt. Nachdem sie sich gewaschen und gesäubert hatten, begaben sie sich in die ausgefegte Heuscheune, wo die Kutscher Lagerstätten für die Herren zurechtgemacht hatten.
Obgleich es schon dunkel war, hatte doch noch keiner der Jäger Lust zu schlafen.
Nachdem das Gespräch sich eine Weile in Erinnerungen und Erzählungen über die an diesem Tage abgegebenen Schüsse, über die Hunde und über frühere Jagden bewegt hatte, wendete es sich einem Gegenstand zu, der alle interessierte. Aus Anlaß wiederholter schwärmerischer Ausdrücke Wasenkas über dieses entzückende Nachtlager und den Duft des Heus, über einen entzückenden zerbrochenen Bauernwagen (er hielt ihn für zerbrochen, weil die Vorderräder samt ihrer Achse abgenommen waren), über die Gutherzigkeit der Bauern, die ihn mit Schnaps bewirtet hatten, und über die Hunde, von denen ein jeder zu Füßen seines Herrn lag, erzählte Oblonski von einer wundervollen Jagd bei dem schwerreichen Eisenbahnunternehmer Maltus, die er im vorigen Sommer mitgemacht hatte. Er erzählte, welch großartige Moore dieser Maltus im Gouvernement Twer erworben habe und wie vorzüglich sie in Ordnung gehalten würden und in welch vornehmen Wagen, Dogcarts, die Jäger hinbefördert worden seien und welch verschwenderisches Frühstückszelt am Moore aufgeschlagen gewesen war.
»Es ist mir unverständlich«, sagte Ljewin, indem er sich auf seinem Heulager aufrichtete, »daß dir solche Leute nicht zuwider sind. Ich habe Verständnis dafür, daß ein Frühstück mit Lafitte eine vergnügliche Sache ist; aber ist dir der Luxus nicht gerade bei diesen Leuten zuwider? Alle diese Leute, ganz wie ehemals unsere Branntweinpächter, erwerben ihr Geld auf eine solche Weise, daß sie sich dabei die allgemeine Verachtung zuziehen; aber um diese Verachtung kümmern sie sich herzlich wenig, [48] sondern kaufen sich nachher mit dem ehrlos erworbenen Geld von der früheren Verachtung wieder frei.«
»Vollkommen richtig!« stimmte Wasenka Weslowski bei. »Vollkommen richtig! Oblonski verkehrt ja mit solchen Leuten natürlich nur aus Gutmütigkeit; aber andere sagen: wenn ein Mann wie Oblonski dahin fährt! ...«
»So ist das ganz und gar nicht« (Ljewin glaubte, während er Oblonski das sagen hörte, ordentlich zu sehen, wie dieser lächelte). »Sondern ich halte ihn einfach nicht für ehrloser als irgendwen von unseren reichen Kaufleuten und Adligen. Die einen wie die andern sind in gleicher Weise durch Arbeit und Klugheit reich geworden.«
»Wieso durch Arbeit? Ist denn das eine Arbeit, sich eine Konzession zu verschaffen und sie dann weiterzuverkaufen?«
»Selbstverständlich ist auch das eine Arbeit. Eine Arbeit insofern, als wir, wenn er und seinesgleichen nicht so handelten, keine Eisenbahnen hätten.«
»Aber es ist doch keine solche Arbeit wie die des Bauern oder des Gelehrten.«
»Allerdings nicht; aber es ist Arbeit insofern, als die Tätigkeit dieses Mannes ein Ergebnis hat: die Eisenbahnen. Aber du findest ja, daß die Eisenbahnen wertlos sind.«
»Nein, das ist eine andere Frage; ich bin bereit, zuzugeben, daß sie nützlich sind. Aber jeder Erwerb, der nicht im richtigen Verhältnis zu der darauf verwandten Arbeit steht, ist unehrenhaft.«
»Aber wer soll denn das richtige Verhältnis bestimmen?«
»Ich meine einen Erwerb auf unehrenhaftem Wege, durch Verschlagenheit«, sagte Ljewin, der selbst fühlte, daß er nicht imstande war, die Grenze zwischen ehrenhaft und unehrenhaft festzusetzen. »So der Erwerb bei Bankgeschäften«, fuhr er fort. »Dieses Übel, die Erwerbung gewaltiger Vermögen ohne Arbeit, wie das bei den Branntweinpächtern etwas Gewöhnliches war, hat nur seine Gestalt verändert. Le roi est mort, vive le roi! 3 Kaum hatte man dem Branntwein-Pachtwesen ein Ende gemacht, als auch schon die Eisenbahnen und Banken auf der Bildfläche erschienen: gleichfalls so ein Erwerb ohne Arbeit.«
»Ja, das mag alles ganz richtig und scharfsinnig sein ... Kusch dich, Crack!« rief Stepan Arkadjewitsch seinem Hunde zu, der sich kratzte und das ganze Heu zerwühlte. Er war augenscheinlich von der Richtigkeit seiner Anschauung vollständig überzeugt und sprach daher ruhig und ohne Überstürzung. »Aber du hast die Grenze zwischen ehrenhafter und unehrenhafter Arbeit nicht festgelegt. Wenn ich ein größeres Gehalt beziehe als [49] mein Bürovorsteher, obgleich er von den Geschäften mehr versteht als ich, ist das unehrenhaft?«
»Das weiß ich nicht.«
»Nun, dann will ich dir sagen: wenn du von deiner landwirtschaftlichen Arbeit einen Bargewinn von, sagen wir mal, fünftausend Rubeln hast, während unser bäuerlicher Landwirt, und wenn er noch soviel arbeitet, nicht mehr als fünfzig Rubel verdient, so ist das geradeso unehrenhaft, wie wenn ich mehr einnehme als der Bürovorsteher und Maltus mehr als ein Bahnmeister. Aber trotzdem sehe ich, daß die Gesellschaft diesen Leuten gegenüber eine eigentümliche, durch nichts begründete feindselige Stellung ein nimmt, und es scheint mir, daß da der Neid ...«
»Nein, das ist ungerecht«, meinte Weslowski. »Von Neid kann dabei nicht die Rede sein; etwas Unsauberes haben diese Geschäfte doch an sich.«
»Nein, erlaube«, bemerkte Ljewin gegen Oblonski. »Du sagst, es sei ungerecht, daß ich fünftausend Rubel einnehme und ein Bauer nur fünfzig: da hast du recht. Das ist auch ungerecht, und ich empfinde das, aber ...«
»Wahrhaftig, das ist so. Mit welchem Rechte essen und trinken und jagen und faulenzen wir, und der Bauer kommt sein ganzes Leben lang nicht aus der Arbeit heraus?« sagte Wasenka Weslowski, der offenbar zum erstenmal in seinem Leben über diesen Gegenstand einigermaßen klar nachdachte und darum völlig aufrichtig redete.
»Ja, du empfindest das; aber darum gibst du dein Gut doch noch nicht dem Bauern hin«, sagte Stepan Arkadjewitsch, wie wenn er Ljewin absichtlich reizen wollte.
In der letzten Zeit schien sich zwischen den beiden Schwägern eine geheime Feindseligkeit herausgebildet zu haben; es war, als ob seit der Zeit, seit sie mit zwei Schwestern verheiratet waren, ein Wettstreit darin zwischen ihnen erwachsen wäre, wer sein Leben am besten gestalte, und jetzt kam diese Feindseligkeit darin zum Ausdruck, daß das Gespräch eine persönliche Färbung anzunehmen begann.
»Ich gebe es deswegen nicht hin, weil das niemand von mir verlangt und weil, wenn ich es auch hingeben wollte, ich es doch nicht würde hingeben können«, entgegnete Ljewin, »und weil ich auch niemand weiß, dem ich es hingeben könnte.«
»Gib es hier diesem Bauern; er wird es nicht zurückweisen.«
»Ja, aber wie soll ich es ihm denn geben? Soll ich mit ihm hinfahren und einen Kaufvertrag abschließen?«
[50] »Das weiß ich nicht; aber wenn du überzeugt bist, daß du kein Recht hast ...«
»Davon bin ich ganz und gar nicht überzeugt. Ich fühle im Gegenteil, daß ich kein Recht habe, es wegzugeben, daß ich Pflichten sowohl dem Grund und Boden wie auch meiner Familie gegenüber habe.«
»Nein, erlaube; wenn du der Ansicht bist, daß diese Ungleichheit ungerecht ist, warum handelst du dann nicht so?«
»Ich handle auch so, aber nur negativ, insofern ich nicht bemüht sein werde, den Unterschied der Lage, der zwischen mir und ihm besteht, noch zu vergrößern.«
»Nein, nimm es mir nicht übel, das ist widersinnig.«
»Ja, das ist eine spitzfindige Auslegung«, stimmte ihm Weslowski bei. »Ah, sieh da, unser Wirt!« sagte er zu dem Bauern, der durch das knarrende Tor in die Scheune kam. »Nun, schläfst du noch nicht?«
»Nein, wie werde ich denn schlafen? Ich dachte, die Herren schliefen schon; da hörte ich, wie sie noch miteinander plauderten. Ich möchte mir eine Sense von hier holen. Beißt er auch nicht?« fügte er hinzu, während er vorsichtig mit seinen nackten Füßen an einem der Hunde vorbeiging.
»Wo wirst du denn schlafen?«
»Wir sind auf Nachtwache bei der Pferdeherde.«
»Ach, welch eine wundervolle Nacht!« sagte Weslowski und blickte nach den Umrissen des Bauernhauses und des ausgespannten Jagdwagens, die bei dem schwachen Lichte der Abendröte in dem großen Rahmen des jetzt geöffneten Tores sichtbar waren. »Aber hören Sie nur, da singen ja Frauenstimmen, und wirklich nicht übel. Wer singt denn da, Wirt?«
»Ach, das sind Gutsmägde, da nebenan.«
»Kommen Sie, meine Herren, wir wollen ein bißchen spazierengehen! Schlafen können wir ja doch nicht. Oblonski, komm doch!«
»Wenn man nur zugleich liegenbleiben und spazierengehen könnte«, antwortete Oblonski, sich streckend. »Es liegt sich hier vorzüglich.«
»Nun, dann gehe ich allein«, sagte Weslowski, stand schnell auf und zog sich Strümpfe und Schuhe an. »Auf Wiedersehen, meine Herren. Wenn es vergnüglich sein sollte, so werde ich Sie rufen. Sie haben mich zu Jagdbeute gelangen lassen, und da werde ich auch Sie nicht vergessen.«
»Nicht wahr, ein prächtiger junger Mann?« sagte Oblonski, als Weslowski weggegangen war und der Bauer das Tor hinter ihm geschlossen hatte.
[51] »Ja, das ist er«, antwortete Ljewin, der immer noch an den Gegenstand des vorhergehenden Gespräches dachte. Er glaubte seine Gedanken und Gefühle mit aller ihm nur möglichen Deutlichkeit ausgesprochen zu haben, und doch hatten diese beiden Zuhörer, beides verständige, aufrichtige Männer, einstimmig erklärt, er beruhige sich mit Trugschlüssen. Das machte ihn stutzig.
»Ja, so ist das, mein Freund. Für eines von zwei Dingen muß man sich entscheiden: entweder muß man die bestehende Gesellschaftsordnung für gerecht erklären, und dann muß man seine Rechte verteidigen; oder aber man muß, wie auch ich es tue, zugeben, daß einem eine ungerechte Bevorzugung zuteil wird, und sich diese Bevorzugung mit Vergnügen gefallen lassen.«
»Nein, wenn dabei eine Ungerechtigkeit vorläge, dann könntest du dich dieser Vorteile nicht mit Vergnügen bedienen, wenigstens ich könnte es nicht. Ich habe vor allen Dingen das Bewußtsein nötig, daß ich keine Schuld trage.«
»Nun, wie ist's? Wollen wir nicht auch noch ein bißchen weggehen?« fragte Stepan Arkadjewitsch, der sich offenbar von dieser Anstrengung seiner Denkkraft ermüdet fühlte. »Schlafen können wir ja doch noch nicht. Im Ernst, komm mit!«
Ljewin antwortete nicht. Es beschäftigte ihn noch immer die Äußerung, die er im Gespräche getan hatte, er handle nur in negativem Sinne gerecht. ›Ist es wirklich nur negativ möglich, gerecht zu sein?‹ fragte er sich selbst.
»Aber wie stark doch das frische Heu duftet!« sagte Stepan Arkadjewitsch und richtete sich auf. »Es ist mir schlechterdings nicht möglich zu schlafen. Wasenka hat da angebändelt. Hörst du das Gekicher der Mädchen und seine Stimme? Wollen wir nicht auch hingehen? Komm doch!«
»Nein, ich gehe nicht hin«, erwiderte Ljewin.
»Handelst du darin nun auch wieder nach einem bestimmten Grundsatz?« fragte Stepan Arkadjewitsch, indem er in der Dunkelheit nach seiner Kopfbedeckung suchte.
»Nach einem bestimmten Grundsatz zwar nicht; aber weshalb sollte ich da hingehen?«
»Weißt du, du reitest dich selbst ins Unglück«, sagte Stepan Arkadjewitsch, der nun seinen Hut gefunden hatte und aufstand.
»Wieso?«
»Ich sehe ja doch, wie du dich mit deiner Frau gestellt hast. Ich habe gehört, daß ihr wie über eine Frage von höchster Wichtigkeit darüber verhandeltet, ob du für zwei Tage auf die Jagd fahren solltest oder nicht. Das ist ja wunderhübsch als [52] idyllische Entwicklungsstufe; aber für das ganze Leben kommt man damit nicht aus. Der Mann muß sich unabhängig halten; er hat seine eigenen Mannesangelegenheiten. Der Mann muß mannhaft sein«, sagte Oblonski und öffnete das Tor.
»Das heißt also wohl, er muß hingehen und mit den Gutsmägden schäkern?« fragte Ljewin.
»Warum denn nicht, wenn es vergnüglich ist? Ça ne tire pas à conséquence. 4 Meiner Frau geschieht dadurch kein Schade, und mir macht es Vergnügen. Die Hauptsache ist, daß man die Heiligkeit des eigenen Hauses wahrt. Im Hause darf nichts vorfallen. Aber die Hände muß man sich nicht binden.«
»Mag sein, daß du recht hast«, versetzte Ljewin in trockenem Tone und legte sich auf die Seite. »Morgen heißt es früh aufbrechen; ich wecke niemanden und gehe, sobald es hell wird.«
»Messieurs, venez vite!« 5 hörten sie Weslowski sagen, der zurückgekehrt war. »Charmante! Ich habe da eine Entdeckung gemacht. Charmante, ein richtiges Gretchen, und ich habe schon mit ihr Bekanntschaft angeknüpft. Wirklich, ganz wunderhübsch!« berichtete er in so befriedigtem Tone, als wäre sie ausdrücklich für ihn so geschaffen worden, und als wäre er sehr zufrieden mit dem, der dieses Vergnügen für ihn bereitgestellt habe.
Ljewin stellte sich schlafend, Oblonski aber zog seine Pantoffeln an, zündete sich eine Zigarre an und verließ die Scheune; bald verklangen ihre Stimmen.
Ljewin konnte lange nicht einschlafen. Er hörte, wie seine Pferde das Heu kauten, dann, wie der Hauswirt mit seinem ältesten Knaben sich zurechtmachte und auf die Weide zur Nachtwache fuhr; dann hörte er, wie der Soldat am anderen Ende der Scheune sich mit seinem Neffen, dem kleinen Sohne des Wirtes, schlafen legte; er hörte, wie der Knabe mit seinem hohen Stimmchen dem Onkel seine Empfindungen über die Hunde mitteilte, die dem Kleinen furchtbar und riesig erschienen waren; dann, wie der Knabe sich erkundigte, was für Wild diese Hunde fangen sollten, und wie der Soldat mit heiserer, schläfriger Stimme ihm sagte, morgen würden die Jäger in den Sumpf gehen und mit Flinten schießen, und wie er dann, um vor den Fragen des Knaben Ruhe zu bekommen, zu ihm sagte: »Aber nun schlaf, Wasili, oder es gibt was«, und sehr bald selbst zu schnarchen anfing und alles still wurde; nur das Schnaufen der Pferde war zu hören und das Krächzen der Bekassinen. ›Wirklich nur negativ?‹ fragte er sich noch einmal. ›Nun, und was wäre dabei? Ich bin nicht schuld.‹ Und nun dachte er nur noch an den morgigen Tag.
[53] ›Morgen breche ich recht früh auf und nehme mir fest vor, nicht hitzig zu werden. Bekassinen sind eine Unmenge da. Auch Schnepfen sind vorhanden. Und wenn ich wieder hierher zurückkomme, dann finde ich Nachricht von Kitty vor. Ja, hat Stiwa am Ende wirklich recht? Ich trete ihr gegenüber nicht als Mann auf; ich bin weibisch geworden ... Aber was ist zu tun? Das ist auch wieder etwas Negatives!‹
Im Halbschlaf hörte er das Gelächter und muntere Geplauder Weslowskis und Stepan Arkadjewitschs. Für einen Augenblick öffnete er die Augen: der Mond war aufgegangen, und im offenen Tore standen die beiden, vom Mondlicht hell beschienen, und schwatzten miteinander. Stepan Arkadjewitsch sprach, wie es Ljewin vorkam, von der Frische eines Mädchens, das er mit einer frischen, eben erst aus der Schale herausgeholten Nuß verglich, und Weslowski lachte in seiner herzlichen Weise und wiederholte eine Bemerkung, die wohl einer der Bauern ihm gegenüber gemacht hatte: »Schaff du dir nur eine eigene Frau an, wenn's geht!« Ljewin sagte schlaftrunken: »Meine Herren, morgen, sobald es hell wird!« und schlief wieder ein.
Ljewin erwachte, als es kaum dämmerte, und versuchte, seine Gefährten aufzuwecken. Wasenka lag auf dem Bauche, das eine noch mit dem Strumpfe bekleidete Bein lang ausgestreckt, und schlief so fest, daß von ihm keine Antwort zu erlangen war. Oblonski weigerte sich schlaftrunken, so früh aufzubrechen. Selbst Laska, die ringförmig zusammengerollt am Rande des hingeschütteten Heues geschlafen hatte, stand nur ungern auf und reckte und dehnte träge ihre Hinterbeine eines nach dem andern. Nachdem Ljewin Strümpfe und Stiefel angezogen, seine Flinte genommen und behutsam das knarrende Scheunentor geöffnet hatte, trat er auf die Straße hinaus. Die Kutscher schliefen bei den Wagen, die Pferde standen im Halbschlummer da. Nur eines von ihnen fraß träge seinen Hafer, den es mit der Schnauze in der Stehkrippe hin und her warf. Es sah draußen noch alles grau aus.
»Warum bist du denn schon so früh aufgestanden, lieber Herr?« fragte ihn freundlich wie einen guten alten Bekannten die nicht mehr jugendliche Hausfrau, die soeben aus dem Hause heraustrat.
»Ich will auf die Jagd, Tantchen. Komme ich hier nach dem Sumpfe?«
[54] »Gerade durch den Hinterhof, an unseren Tennen vorbei, lieber Herr, und durch die Hanffelder; es ist ein Fußweg da.«
Vorsichtig mit den nackten, von der Sonne gebräunten Füßen auftretend, führte die Bauersfrau Ljewin und öffnete ihm die Umzäunung bei der Tenne.
»Immer geradeaus, dann kommst du nach dem Sumpfe. Unsere Leute haben gestern abend die Pferde dahin getrieben.«
Laska lief vergnügt auf dem Fußpfade voran; Ljewin folgte ihr raschen, leichten Schrittes und blickte fortwährend nach dem Himmel. Es wäre ihm lieb gewesen, wenn die Sonne nicht früher aufgegangen wäre, als bis er den Sumpf erreicht hätte. Aber die Sonne sputete sich. Der Mond, der noch hell geleuchtet hatte, als Ljewin sein Nachtlager verließ, schimmerte jetzt nur wie eine Quecksilbermasse; die Morgenröte, die vorher unwillkürlich die Blicke auf sich gezogen hatte, mußte man jetzt ordentlich suchen; einige vorher undeutliche Flecke auf dem fernen Felde waren jetzt klar sichtbar. Es waren Roggenschober. Der ohne das Sonnenlicht noch unsichtbare Tau in dem duftenden, hohen Hanffelde, aus dem die männlichen Hanfpflanzen bereits ausgezogen waren, benetzte Ljewins Beine und die Hemdbluse bis über den Gürtel hinauf. In der klaren, stillen Morgenluft war das leiseste Geräusch vernehmbar. Eine Biene flog mit dem pfeifenden Tone einer Flintenkugel an Ljewins Ohr vorbei. Er blickte aufmerksam hin und sah noch eine zweite und eine dritte. Sie kamen alle hinter dem geflochtenen Zaune eines Bienengartens hervorgeflogen und verschwanden über dem Hanffelde in der Richtung nach dem Sumpfe. Der Fußweg führte gerade darauf zu. Die Lage des Sumpfes konnte man an den Dünsten erkennen, die sich an manchen Stellen dichter, an anderen spärlicher aus ihm erhoben, so daß die Riedgrasdickichte und die Weidenbüsche wie kleine Inseln über diesem Dunste hin und her schwankten. Am Rande des Sumpfes und des Weges lagen Bauern und Bauernjungen, die dort Nachtwache gehalten hatten, und schliefen jetzt gegen Morgen alle, mit ihren Röcken zugedeckt. Nicht weit von ihnen gingen drei gefesselte Pferde umher; das eine klirrte mit seinen Fußfesseln. Laska ging neben ihrem Herrn, strebte aber immer voran und sah sich häufig nach ihm um. Als Ljewin an den schlafenden Bauern vorbeigekommen war und die erste sumpfige Stelle erreicht hatte, untersuchte er die Zündstifte und ließ den Hund los. Eines der Pferde, ein wohlgenährter, dreijähriger Brauner, nahm beim Anblick des Hundes Reißaus, hob den Schwanz in die Höhe und schnaubte. Auch die andern Pferde erschraken, schlurften mit den gefesselten Beinen durch das Wasser, wobei sie einen dem Händeklatschen ähnlichen Laut [55] hervorbrachten, wenn sie die Hufe aus dem dicken Schlamm herauszogen, und stiegen aus dem Sumpfe heraus. Laska blieb stehen und warf den Pferden einen spöttischen, ihrem Herrn einen fragenden Blick zu. Ljewin streichelte das Tier und pfiff ein paar Töne, zum Zeichen, daß die Sache nun anfangen könne.
Fröhlich, aber auch mit vorsichtiger Besorgnis, lief Laska über die Moordecke hin, die sich unter ihr bog.
Als Laska in den Sumpf hineingelaufen war, nahm sie sofort unter den ihr wohlbekannten Gerüchen des Wurzelwerks, der Sumpfpflanzen, des Morastes und dem ihr in dieser Umgebung fremden Gerüche des Pferdemistes den über dieses ganze Gebiet verbreiteten Geruch eines Vogels wahr, und zwar eben jenes stark riechenden Vogels, der sie mehr als alle anderen Vögel in Aufregung zu versetzen pflegte. Hier und da im Moose und im Sumpfklee war dieser Geruch sehr stark; aber es ließ sich nicht erkennen, nach welcher Seite hin er stärker oder schwächer wurde. Um die Richtung zu finden, hielt Laska für nötig, weiter weg unter den Wind zu gehen. Ohne sich der Bewegung ihrer Beine bewußt zu sein, jagte sie in scharfem Galopp, aber doch so, daß sie bei jedem Sprung nötigenfalls stehenbleiben konnte, nach rechts, den von Osten wehenden leisen Morgenwind im Rücken, und wandte sich dann gegen den Wind. Sobald sie nun, die Nasenlöcher erweiternd, die Luft einzog, merkte sie sofort, daß nicht nur die Spur der Vögel, sondern die Vögel selbst da waren, vor ihr, nicht etwa nur einer, sondern viele. Laska verringerte die Schnelligkeit ihres Laufes. Sie waren da, aber an welcher Stelle genauer, das konnte sie noch nicht bestimmen. Um die Stelle selbst zu finden, begann sie schon einen Kreis zu beschreiben, als plötzlich die Stimme ihres Herrn sie davon zurückhielt. »Laska! Da!« rief er ihr zu und zeigte nach einer andern Seite. Sie blieb einen Augenblick stehen und schien ihn zu fragen, ob es nicht doch besser sei, so fortzufahren, wie sie angefangen hatte. Aber er wiederholte den Befehl in ärgerlichem Tone und deutete auf eine von kleinen Erdhöckern durchsetzte Lache, wo doch nichts sein konnte. Laska gehorchte, stellte sich, um ihm den Gefallen zu tun, als suche sie, und durchstöberte die Erdhöcker, dann kehrte sie zu ihrer früheren Stelle zurück und witterte sofort wieder die Vögel. Jetzt, wo er ihr nicht mehr in die Quere kam, wußte sie, was sie zu tun habe, und indem sie nicht unter ihre Füße sah und deshalb oft über hohe Höcker stolperte und ins Wasser fiel, stets aber mit ihren geschmeidigen starken Beinen bald wieder zurechtkam, begann sie einen Kreis zu beschreiben, der ihr die ganze Sachlage zur Klarheit bringen mußte. Der Geruch der Vögel traf immer stärker und stärker, [56] immer deutlicher und deutlicher ihre Nase, und auf einmal wurde es ihr völlig klar, daß einer dieser Vögel sich hier, hinter diesem Höcker, fünf Schritt vor ihr, befand; sie blieb stehen, und ihr ganzer Körper verharrte regungslos. Auf ihren niedrigen Beinen vermochte sie nichts vor sich zu sehen, aber sie wußte durch den Geruch, daß der Vogel nicht weiter als fünf Schritte von ihr entfernt saß. Sie stand und stand, spürte den Vogel mehr und mehr und genoß den Zustand der Erwartung. Die steife Rute war lang ausgestreckt und zitterte nur mit dem äußersten Ende. Das Maul hielt sie ein wenig geöffnet, die Ohren aufgerichtet. Das eine Ohr hatte sich beim Laufen umgeklappt, und sie atmete keuchend, aber vorsichtig und sah sich noch vorsichtiger, mehr mit den Augen als mit dem Kopfe, nach ihrem Herrn um. Dieser kam mit seiner gewöhnlichen, ihr vertrauten Miene, aber mit einem ihr immer furchtbar erscheinenden Ausdruck der Augen, über die Erdhöcker strauchelnd, heran, wie es ihr schien, überaus langsam. Aber es schien ihr nur so, daß er langsam ging; in Wirklichkeit lief er.
Als Ljewin jene besondere Art zu suchen bei Laska bemerkt hatte, wobei sie sich ganz an die Erde drückte und mit den Hinterfüßen große, den Bewegungen beim Rudern ähnliche Schritte machte und das Maul ein wenig öffnete, da war es ihm nicht zweifelhaft, daß sie Schnepfen witterte, und im stillen zu Gott betend, daß die Jagd gut vonstatten gehen möge, namentlich gleich beim ersten Vogel, lief er zu ihr. Als er dicht bei ihr war, sah er von seiner Höhe herab vor sich hin und erblickte mit den Augen, was sie mit der Nase wahrgenommen hatte. In einer kleinen Gasse zwischen zwei Erdhöckern, in einer Entfernung von drei bis vier Schritten, saß eine Schnepfe. Sie hatte den Kopf umgedreht und lauschte. Dann streckte sie die Flügel ein ganz klein wenig aus, legte sie aber sofort wieder zusammen und verschwand, ungeschickt mit dem Steiße wackelnd, hinter einer Ecke.
»Faß! Faß!« rief Ljewin und stieß Laska gegen das Hinterteil.
›Aber ich kann doch nicht hingehen‹, dachte Laska. ›Wohin soll ich denn laufen? Von hier aus wittere ich die Schnepfen; aber wenn ich mich vorwärts bewege, so weiß ich nicht mehr, wo sie sind.‹ Aber da stieß Ljewin sie mit dem Knie an und flüsterte ihr in großer Aufregung zu: »Faß, brave Laska, faß!«
›Na, wenn er es denn durchaus will, dann werde ich es tun; aber daß ich etwas erreiche, kann ich nicht versichern‹, dachte sie und rannte, so schnell sie nur konnte, vorwärts zwischen die Erdhöcker hinein. Jetzt witterte sie nichts mehr; sie sah und hörte nur, konnte aber nichts erkennen.
Etwa zehn Schritte von dem ursprünglichen Platze erhob sich [57] die Schnepfe mit kräftigem Murksen und mit dem diesen Vögeln eigenen weich, klingenden Flügelschlage. Und gleich nach dem Schusse klatschte sie schwer mit der weißen Brust auf den nassen Moorgrund hinab. Eine zweite Schnepfe flog hinter Ljewin auf, ohne zu warten, bis der Hund sie auftrieb.
Als Ljewin sich nach ihr umwandte, war sie schon weit weg. Aber der Schuß erreichte sie doch noch. Sie flog noch etwa zwanzig Schritte weiter, hob sich dann senkrecht in die Höhe und fiel kopfüber wie ein hochgeschleuderter Ball schwer auf eine trockene Stelle nieder.
›Auf die Art wird es sich schon machen!‹ dachte Ljewin, während er die warmen, fetten Schnepfen in die Jagdtasche steckte. »Na, meine brave Laska, wird es sich machen?«
Als Ljewin seine Flinte wieder geladen hatte und weiterging, war die Sonne, obgleich sie hinter den Wolken noch nicht sichtbar war, doch bereits aufgegangen. Der Mond, der all seinen Glanz verloren hatte, stand wie ein weißes Wölkchen am Himmel; von den Sternen war auch nicht einer mehr zu sehen. Die mit Moos bedeckten Teile des Sumpfes, die vorher vom Tau wie Silber geschimmert hatten, glänzten jetzt wie Gold. Das Moorwasser hatte ganz die Farbe des Bernsteins angenommen. Der bläuliche Farbenton der Sumpfgräser war in ein gelbliches Grün übergegangen. Kleine Sumpfvögel regten sich auf den Sträuchern am Bache, die von Tau glänzten und langen Schatten warfen. Auch ein Habicht war schon wach, saß auf einem Getreideschober, drehte den Kopf von einer Seite nach der anderen und blickte mißvergnügt nach dem Sumpfe hin. Die Dohlen flogen nach dem Felde, und ein barfüßiger Junge trieb schon ein paar Pferde zu einem alten Bauern, der sich unter seinem Rocke aufgerichtet hatte und sich kratzte. Der Pulverdampf von den Schüssen lagerte sich milchweiß über dem grünen Grase.
Einer von den Jungen kam zu Ljewin herangelaufen.
»Onkelchen, gestern waren hier auch Enten!« rief er ihm zu und ging dann in einiger Entfernung hinter ihm her.
Und für Ljewin war es doppelt vergnüglich, vor den Augen dieses Jungen, der seinen Beifall zum Ausdruck brachte, in derselben Gegend kurz hintereinander noch drei Bekassinen zu erlegen.
Der Jägerglaube, daß die Jagd einen glücklichen Verlauf nimmt, wenn man das erste Stück Haar- oder Federwild nicht verfehlt, erwies sich als richtig.
[58] Müde, hungrig und glückselig kehrte Ljewin zwischen neun und zehn Uhr vormittags nach seinem Quartier zurück. Er hatte etwa dreißig Werst zurückgelegt und brachte neunzehn Stück mit, teils Schnepfen, teils Bekassinen, und außerdem eine Ente; diese hatte er sich an den Gürtel gebunden, da sie in die Jagdtasche nicht mehr hineingegangen war. Seine Gefährten waren schon längst aufgewacht und hatten bereits Hunger bekommen und gefrühstückt.
»Warten Sie nur, meine Herren, warten Sie nur, ich weiß, es müssen neunzehn Stück sein«, sagte Ljewin und zählte die Schnepfen und Bekassinen zum zweitenmal durch; verkrümmt und zusammengetrocknet, mit dem geronnenen Blute und mit den seitwärts verdrehten Köpfchen, hatten sie jetzt nicht mehr ein so stattliches Aussehen wie zuvor, als sie aufflogen.
Die Rechnung stimmte, und Stepan Arkadjewitschs Neid tat Ljewin wohl. Auch das war ihm eine Freude, daß er bei seiner Rückkehr ins Lager schon den Boten von Kitty mit einem Briefchen vorfand.
»Ich bin ganz gesund und munter. Was Deine Besorgnis um mich anlangt, so kannst Du jetzt noch mehr beruhigt sein als vorher. Ich habe nämlich eine neue Leibwächterin bekommen, Jelisaweta Petrowna.« (Das war die Hebamme, eine neue, wichtige Persönlichkeit in Ljewins Familienleben.) »Sie ist gekommen, um mich vorher zu untersuchen. Sie hat mich ganz gesund befunden, und wir behalten sie bis zu Deiner Rückkehr hier. Alle sind vergnügt und gesund; also bitte, eile nicht unnötigerweise, sondern bleibe, wenn die Jagd gut ist, ruhig noch einen Tag länger.«
Diese beiden Freuden, die so glücklich verlaufene Jagd und der Brief von seiner Frau, waren so groß, daß Ljewin über zwei kleine Unannehmlichkeiten, die sich nach der Jagd einstellten, leicht hinwegkam. Die eine bestand darin, daß das eine Seitenpferd, der Fuchs, offenbar tags zuvor überanstrengt war, nicht fraß und den Kopf hängen ließ. Der Kutscher meinte, das Tier sei zu stark angestrengt worden.
»Er ist gestern zu sehr angetrieben worden, Konstantin Dmitrijewitsch«, sagte er. »Na natürlich, zehn Werst weit ist er auf schlechtem Wege scharf gelaufen!«
Die zweite Unannehmlichkeit, die im ersten Augenblick ihm die fröhliche Stimmung verdarb, über die er aber nachher sehr lachte, war die: von all dem Mundvorrat, den ihnen Kitty in so reichlicher Menge mitgegeben hatte, daß man hätte meinen sollen, sie könnten ihn in einer Woche nicht verzehren, war für ihn nichts übriggeblieben. Während Ljewin müde und hungrig[59] von der Jagd zurückwanderte, hatte er sich die Pasteten mit solcher Deutlichkeit vergegenwärtigt, daß er bei der Annäherung an das Haus ihren Geruch und Geschmack in Nase und Mund verspürte, gerade wie Laska das Wild witterte, und sofort Filipp befahl, ihm welche zu bringen. Es stellte sich heraus, daß nicht nur von den Pasteten, sondern auch von den jungen Hühnern nichts mehr vorhanden war.
»Der hat aber auch einen gesegneten Appetit!« sagte Stepan Arkadjewitsch lachend und wies dabei auf Wasenka Weslowski. »Ich leide ja auch nicht an Appetitmangel; aber das war etwas Erstaunliches ...«
»Na, was ist zu machen!« versetzte Ljewin, indem er Weslowski einen finsteren Blick zuwarf. »Filipp, dann gib mir Braten.«
»Der Braten ist aufgegessen, und den Knochen haben die Hunde bekommen«, antwortete Filipp.
Ljewin war über diese Benachteiligung so erbittert, daß er in ärgerlichem Tone sagte: »Wenigstens etwas hätten Sie mir doch übrig lassen können, meine Herren!« Er war nahe daran, loszuweinen.
»Weide doch die Vögel aus«, sagte er mit zitternder Stimme zu Filipp, wobei er sich bemühte, Wasenka nicht anzusehen, »und stopfe Nesseln hinein. Und für mich bitte die Wirtsleute wenigstens um Milch.«
Erst dann, als er sich an Milch satt getrunken hatte, schämte er sich, einem Fremden gegenüber gezeigt zu haben, daß er sich ärgerte, und er lachte und scherzte nun selbst über seinen hungrigen Ingrimm.
Am Abend gingen sie noch einmal auf die Suche, wobei Wasenka ein paar Stück erlegte, und fuhren in der Nacht nach Hause zurück.
Die Rückfahrt gestaltete sich ebenso vergnügt, wie es die Hinfahrt gewesen war. Bald sang Weslowski, bald redete er mit Entzücken von seinen Erlebnissen bei den Bauern, die ihn mit Schnaps bewirtet und gesagt hatten: »Nimm fürlieb!« bald erzählte er von seinen nächtlichen Abenteuern mit den frischen Nüßchen und der Gutsmagd und dem Bauern, der ihn gefragt hatte, ob er verheiratet wäre, und auf die Mitteilung, daß er unverheiratet sei, zu ihm gesagt hatte: »Sei nicht lüstern nach fremden Weibern, sondern sorge vor allen Dingen dafür, daß du eine eigene Frau bekommst.« Diese Worte gaben ihm ganz besonders Anlaß zum Lachen.
»Überhaupt bin ich von unserem Ausflug außerordentlich befriedigt. Wie ist's mit Ihnen, Ljewin?«
[60] »Ich bin gleichfalls sehr befriedigt«, antwortete Ljewin durchaus aufrichtig. Er freute sich ganz besonders darüber, daß nicht nur jene Feindseligkeit geschwunden war, die er zu Hause gegen Wasenka Weslowski empfunden hatte, sondern er jetzt sogar eine sehr freundschaftliche Zuneigung für ihn hegte.
Am andern Tage um zehn Uhr klopfte Ljewin, der schon einen Rundgang durch seine Wirtschaft gemacht hatte, an dem Zimmer an, in dem Wasenka wohnte.
»Entrez!« 1 rief dieser. »Entschuldigen Sie, ich habe mich soeben erst gewaschen«, sagte er lächelnd, weil er im bloßen Unterzeug vor Ljewin stand.
»Bitte, lassen Sie sich nicht stören.« Ljewin setzte sich ans Fenster. »Haben Sie gut geschlafen?«
»Wie ein Toter. Aber welch prächtiger Tag wäre das heute zur Jagd!«
»Was trinken Sie: Tee oder Kaffee?«
»Keins von beiden. Ich frühstücke lieber gleich etwas Festes; ich muß mich wahrhaftig schämen. Die Damen sind wohl schon aufgestanden? Es wäre sehr nett, jetzt ein bißchen umherzugehen. Zeigen Sie mir doch Ihre Pferde.«
Nachdem sie einen kleinen Spaziergang durch den Garten gemacht, den Pferdestall besucht und sogar ein bißchen am Barren geturnt hatten, kehrte Ljewin mit seinem Gast in das Haus zurück und ging mit ihm ins Wohnzimmer.
»Wir haben eine wundervolle Jagd gehabt und soviel Neues kennengelernt!« sagte Weslowski, zu Kitty herantretend, die neben der Teemaschine saß. »Wie schade, daß den Damen diese Genüsse versagt bleiben.«
›Na, was ist dabei? Er muß doch mit der Hausfrau ein paar Worte sprechen‹, sagte Ljewin zu sich selbst. Er fühlte sich wieder unangenehm berührt durch Weslowskis Lächeln und durch die Siegermiene, mit der er sich zu Kitty gewandt hatte ...
Die Fürstin, die mit Jelisaweta Petrowna und Stepan Arkadjewitsch an der andern Seite des Tisches saß, rief Ljewin zu sich und begann mit ihm ein Gespräch darüber, daß Kittys bevorstehende Entbindung eine Übersiedelung nach Moskau notwendig mache und dort eine Wohnung instand gesetzt werden müsse. Wie schon bei der Hochzeit Ljewin von den vielerlei Zurüstungen wenig erbaut gewesen war, weil sie durch ihre Nichtigkeit nach seinem Gefühl nur die hehre Erhabenheit des [61] eigentlichen Begebnisses beeinträchtigten, so erschienen ihm auch, und sogar in noch höherem Grade, die Vorbereitungen zu der bevorstehenden Entbindung widerwärtig, für deren Eintreten die Tage ordentlich an den Fingern abgezählt wurden. Er gab sich stets Mühe, auf diese Gespräche über die Methode, nach der das zu erwartende Kindchen gewickelt werden sollte, nicht hinzuhören; er vermied nach Möglichkeit, indem er sich abwendete, den Anblick gewisser geheimnisvoller, endloser gestrickter Bänder und gewisser dreieckiger Leinwandstücke, denen Dolly eine besondere Wichtigkeit beilegte, und so weiter. Die Geburt eines Kindes (er war überzeugt, daß es ein Sohn sein werde), die ihm in Aussicht gestellt wurde, an die er aber trotzdem nicht glauben konnte, weil es ihm gar zu seltsam vorkam, stellte sich ihm einerseits als ein so gewaltiges und daher unglaubliches Glück und anderseits als ein so geheimnisvoller Vorgang dar, daß diese angebliche Kenntnis dessen, was da kommen werde, und im Zusammenhang damit die Vorbereitung wie auf etwas Gewöhnliches, auf irgendwelches Menschenwerk, ihm empörend und unwürdig erschienen.
Aber die Fürstin hatte kein Verständnis für seine Empfindungen und erklärte sich seine Unlust, über diesen Gegenstand nachzudenken und zu reden, aus seiner Leichtfertigkeit und Gleichgültigkeit und gönnte ihm deshalb keine Ruhe. Sie hatte Stepan Arkadjewitsch damit beauftragt, sich nach einer Wohnung umzusehen, und rief jetzt Ljewin zu sich heran.
»Ich verstehe davon nichts, Fürstin. Verfahren Sie, wie Sie es für gut halten«, sagte er.
»Ihr müßt euch doch schlüssig werden, wann ihr umziehen wollt.«
»Ich verstehe wirklich nichts davon. Ich weiß nur, daß Millionen von Kindern außerhalb Moskaus und ohne Arzt geboren werden ... Und warum auch nicht?«
»Ja, wenn du so denkst ...«
»Aber nein doch. Ganz wie Kitty will.«
»Mit Kitty kann man darüber nicht reden! Oder willst du etwa, daß ich ihr dadurch einen Schreck einjagen soll? Siehst du wohl, in diesem Frühjahr ist Natalja Golizüna gestorben, weil sie einen schlechten Geburtshelfer dabei hatten.«
»Wie Sie es anordnen, werde ich es ausführen«, antwortete er mit finsterer Miene.
Die Fürstin begann, ihm die Sache ausführlich auseinanderzusetzen; aber er hörte ihr nicht zu. Obgleich ihn das Gespräch verstimmte, so rührte doch seine finstere Miene nicht daher, sondern von dem, was er bei dem Samowar sah.
[62] ›Nein, es ist unmöglich‹, dachte er, indem er ab und zu nach Wasenka hinblickte, der sich zu Kitty beugte und mit seinem hübschen Lächeln etwas zu ihr sagte, und auch nach Kitty, die errötet war und erregt aussah.
Es lag etwas Unreines in Wasenkas Körperhaltung, in seinem Blick und in seinem Lächeln. Ljewin fand sogar auch in Kittys Haltung und Blick etwas Unreines. Und wieder wurde die ganze Welt vor seinen Augen dunkel; wieder fühlte er sich wie neulich ohne den geringsten Übergang von der Höhe des Glücks, der Ruhe und Würde in den Abgrund der Verzweiflung, des Grimms und der Entehrung hinabgeschleudert; wieder wurden ihm alle Menschen und alles in der Welt widerwärtig.
»Machen Sie es nur so, wie Sie es für gut halten, Fürstin«, sagte er und sah sich wieder um.
»Ja, ja, man hat es schwer als Ehemann!« bemerkte, zu ihm gewendet, scherzend Stepan Arkadjewitsch; er spielte dabei offenbar nicht nur auf das Gespräch mit der Fürstin, sondern auch auf die eigentliche Ursache von Ljewins Aufregung an, die er recht wohl bemerkt hatte. »Aber wie spät du heute kommst, Dolly!«
Alle standen auf, um Darja Alexandrowna zu begrüßen. Wasenka erhob sich nur für einen Augenblick von seinem Platze, machte mit jenem Mangel an Höflichkeit, wie er neuerdings jungen Männern etwas älteren verheirateten Damen gegenüber eigen zu sein pflegt, eine flüchtige Verbeugung und setzte dann sein Gespräch mit Kitty fort, wobei er über irgend etwas laut lachte.
»Mascha hat mich rein zur Verzweiflung gebracht. Sie hat schlecht geschlafen und ist heute furchtbar unartig«, sagte Dolly.
Das Gespräch, das Wasenka mit Kitty angeknüpft hatte, drehte sich wieder um denselben Gegenstand wie am Abend vor der Jagdpartie, nämlich um Anna und um die Frage, ob man die Liebe über die gesellschaftliche Ordnung stellen dürfe. Kitty war dieses Gespräch unangenehm; es versetzte sie in Unruhe sowohl durch seinen Inhalt an sich wie auch durch den Ton, in dem es geführt wurde, namentlich aber deswegen, weil sie schon wußte, wie das auf ihren Mann wirken werde. Aber einfach und natürlich, wie sie war, verstand sie sich nicht darauf, ein solches Gespräch abzubrechen, ja nicht einmal darauf, die innerliche Befriedigung zu verbergen, die ihr die augenscheinliche Bevorzugung durch diesen jungen Mann gewährte. Sie hatte den Wunsch, das Gespräch zu beendigen, wußte aber nicht, was sie zu diesem Zweck tun sollte. Sie wußte, daß, sie mochte tun was sie wollte, ihr Mann es bemerken und in üblem Sinne auslegen [63] werde. Und wirklich, als sie nun an Dolly die Frage richtete, was denn eigentlich mit Mascha vorgefallen sei, und Wasenka mit gleichgültiger Miene Dolly anblickte und auf die Beendigung dieses für ihn langweiligen Gespräches wartete, da faßte Ljewin diese Frage als eine heuchlerische, abscheuliche List auf.
»Nun, wie ist's? Wollen wir heute ausfahren und Pilze suchen?« fragte Dolly.
»Schön, das wollen wir tun; ich fahre auch mit«, erwiderte Kitty und errötete dabei. Sie wollte höflichkeitshalber Wasenka fragen, ob er auch mitkommen werde, unterdrückte aber die Frage. »Wohin gehst du, Konstantin?« fragte sie mit schuldbewußter Miene ihren Mann, als dieser mit entschlossenem Schritt an ihr vorbeiging. Dieser schuldbewußte Gesichtsausdruck war ihm eine Bestätigung aller seiner Befürchtungen.
»Während ich weg war, ist der Maschinist angekommen, und ich habe ihn noch nicht gesehen«, antwortete er, ohne sie anzublicken.
Er ging hinunter, hatte aber sein Arbeitszimmer, von wo er den dort beschäftigten deutschen Maschinisten abholen wollte, noch nicht verlassen, als er die ihm wohlbekannten Schritte seiner Frau hörte, die mit unvorsichtiger Schnelligkeit zu ihm kam.
»Was willst du?« sagte er trocken zu ihr. »Wir haben zu tun.«
»Entschuldigen Sie«, wandte sie sich an den Maschinisten, »ich möchte gern mit meinem Manne ein paar Worte sprechen.«
Der Deutsche wollte hinausgehen; aber Ljewin sagte zu ihm: »Bleiben Sie nur, lassen Sie sich nicht stören.«
»Der Zug geht um drei?« fragte der Deutsche. »Ich möchte ihn nicht gern verpassen.«
Ljewin gab ihm keine Antwort und ging selbst mit seiner Frau hinaus.
»Nun, was haben Sie mir zu sagen?« fragte er auf französisch.
Er blickte ihr nicht ins Gesicht und wollte nicht sehen, wie sie, bei ihrem Zustande, über das ganze Gesicht zitterte und bebte und ganz jammervoll und unglücklich aussah.
»Ich ... ich wollte sagen, daß wir so nicht weiterleben können, daß das eine Qual ist ...«, murmelte sie.
»Da sind Dienstboten beim Anrichten«, sagte er ärgerlich. »Machen Sie keine Szene.«
»Nun, dann wollen wir dorthin gehen.«
Sie standen in einem Durchgangszimmer. Kitty wollte in das anstoßende Zimmer eintreten; aber dort gab die Engländerin gerade Tanja Unterricht.
»Nun, dann wollen wir in den Garten gehen.«
[64] Im Garten stießen sie auf einen Arbeiter, der den Weg reinigte. Ohne daran zu denken, daß dieser Kittys verweintes und Ljewins aufgeregtes Gesicht bemerken werde, und ohne daran zu denken, daß es aussah, als flüchteten sie von irgendwelchem Unglück fort, gingen sie schnellen Schrittes vorwärts, da sie sich der Notwendigkeit bewußt waren, sich miteinander auszusprechen, einander zu überzeugen, miteinander allein zu sein und sich so von der Qual zu befreien, die sie beide ausstanden.
»So können wir nicht weiterleben! Das ist eine Qual! Ich leide unerträglich und du auch. Und weswegen?« sagte sie, als sie endlich eine einsame Bank an einer Biegung der Lindenallee erreicht hatten.
»Sage mir nur das eine: lag in seinem Ton etwas Unanständiges, etwas Unreines, eine entsetzliche Beleidigung?« fragte er, indem er wieder vor sie in derselben Haltung, mit den Fäusten vor der Brust, hintrat, wie er kürzlich in der Nacht vor ihr gestanden hatte.
»Ja, es lag so etwas darin«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. »Aber, Konstantin, siehst du denn nicht, daß ich keine Schuld trage? Ich wollte heute morgen gleich von Anfang an einen ablehnenden Ton anschlagen, aber solche Menschen ... Warum ist er hergekommen? Wie glücklich waren wir!« sagte sie; ein Schluchzen, das ihren ganzen, voller gewordenen Körper erschütterte, hinderte sie, weiterzusprechen.
Der Gartenarbeiter sah mit Verwunderung, wie sie, obwohl niemand sie verfolgt hatte und nichts dagewesen war, wovor sie hätten zu flüchten brauchen, und obwohl sie auch nichts besonders Erfreuliches auf dem Bänkchen gefunden haben konnten – der Gartenarbeiter sah, wie sie nun an ihm vorüber mit beruhigten, strahlenden Gesichtern zum Hause zurückkehrten.
1 (frz.) Treten Sie ein!
Nachdem Ljewin seine Frau hinaufbegleitet hatte, begab er sich nach den von Dolly bewohnten Räumen. Diese hatte heute einen recht aufregenden Tag. Sie ging im Zimmer auf und ab und sprach zornig zu ihrem Töchterchen Mascha, das in einer Ecke stand und heulte.
»Den ganzen Tag sollst du in der Ecke stehen, und dein Mittagessen sollst du allein essen, und nicht eine einzige Puppe sollst du heute zu sehen bekommen, und ein neues Kleid mache ich dir auch nicht«, sagte sie; sie wußte selbst nicht, womit sie sie noch weiter bestrafen sollte.
[65] »Nein, welch ein garstiges Kind das ist!« wandte sie sich zu Ljewin. »Wo sie nur diese häßlichen Neigungen her hat?«
»Was hat sie denn getan?« fragte in ziemlich gleichgültigem Tone Ljewin, der über seine eigene Angelegenheit mit Dolly hatte sprechen wollen und sich nun darüber ärgerte, daß er so zur Unzeit gekommen war.
»Sie war mit Grigori in die Himbeeren gegangen, und da ... nein, ich kann es gar nicht sagen, was sie da getan hat. Tausendmal habe ich schon bedauert, daß Miß Hull nicht mehr da ist. Diese paßt auf nichts auf, die reine Maschine ... Figurez vous, que la petite ... 1«
Darja Alexandrowna berichtete über Maschas Verbrechen.
»Daraus folgt noch weiter nichts; das sind ganz und gar keine häßlichen Neigungen; das ist einfach Mutwille«, suchte Ljewin sie zu beruhigen.
»Aber auch du bist verstimmt? Was hat dich denn hergeführt?« fragte Dolly. »Ist bei euch im Wohnzimmer etwas los?«
Aus dem Tone dieser Frage schöpfte Ljewin die Überzeugung, daß es ihm nicht schwer werden würde, das zu sagen, was er zu sagen beabsichtigte.
»Ich bin nicht dort gewesen; ich war mit Kitty allein im Garten. Wir waren zum zweiten Male miteinander böse, seit ... seit Stiwa gekommen ist.«
Dolly sah ihn mit klugen, verständnisvollen Augen an.
»Nun sage mir, Hand aufs Herz; hat etwa ... ich meine nicht Kitty ... sondern hat etwa dieser Herr sich eines Tones bedient, in dem man etwas für den Ehemann Unangenehmes ... nein, nicht etwas Unangenehmes, sondern etwas Furchtbares, Beleidigendes finden kann?«
»Ja nun, wie soll ich dir darauf antworten ... Du bleibst in der Ecke stehen, ganz still!« wandte sie sich an Mascha, die, sobald sie auf dem Gesicht ihrer Mutter ein ganz leises Lächeln wahrgenommen hatte, einen Versuch gemacht hatte, sich umzudrehen. »Die Meinung unserer Gesellschaftskreise würde sein, daß er sich benimmt, wie sich alle jungen Männer benehmen. Il fait la cour à une jeune et jolie femme 2, und ein Ehemann, der die Ansicht dieser Gesellschaftskreise teilt, kann sich dadurch nur geschmeichelt fühlen.«
»Ja, ja«, erwiderte Ljewin finster, »aber bemerkt hast du es?«
»Nicht nur ich, sondern auch Stiwa hat es bemerkt. Er hat nach dem Tee geradezu zu mir gesagt: je crois que Weslowski fait un petit brin de cour à Kitty. 3«
»Nun schön, jetzt bin ich beruhigt. Ich werde ihn aus dem Hause werfen«, antwortete Ljewin.
[66] »Was redest du? Bist du von Sinnen?« rief Dolly erschrocken. »Was redest du, Konstantin? So komm doch zur Besinnung!« fügte sie lachend hinzu. »Na, du kannst jetzt zu Fanny gehen«, sagte sie zu Mascha. »Nein, wenn du nun einmal solche Absichten hast, so kann ich es ja Stiwa sagen. Der wird ihn schon fortschaffen. Er kann sagen, du erwartetest noch mehr Gäste. Übrigens paßt er wirklich nicht in dieses Haus hinein.«
»Nein, nein, ich werde es selbst besorgen.«
»Aber du wirst einen argen Streit mit ihm haben ...«
»Keineswegs. Es wird für mich eine sehr vergnügliche Sache sein, wirklich sehr vergnüglich«, versetzte Ljewin mit blitzenden Augen. »Na, nun verzeih ihr nur, Dolly! Sie wird es nicht wieder tun«, sagte er über die kleine Verbrecherin, die noch nicht zu Fanny gegangen war, sondern unschlüssig der Mutter gegenüberstand, mit gesenktem Kopfe zu ihr hinschielte und einen Blick von ihr aufzufangen suchte.
Die Mutter sah sie an. Die Kleine brach in Schluchzen aus, vergrub sich mit dem Gesicht zwischen den Knien der Mutter, und Dolly legte ihr ihre magere, zarte Hand auf den Kopf.
›Was haben wir und er überhaupt miteinander zu schaffen?‹ dachte Ljewin und ging hin, um Weslowski aufzusuchen.
Als er durch das Vorzimmer kam, gab er Befehl, die Kalesche für eine Fahrt nach dem Bahnhof anzuspannen. »Es ist gestern eine Feder daran zerbrochen«, antwortete der Diener.
»Nun, dann das Reisewägelchen, aber schnell. Wo ist der fremde Herr?«
»Der Herr ist in sein Zimmer gegangen.«
Dort traf ihn Ljewin. Wasenka hatte gerade seine Sachen aus dem Koffer gepackt, die neuen Lieder zurechtgelegt und war im Augenblick damit beschäftigt, ein Paar Gamaschen anzuprobieren, um auszureiten.
Ob nun Ljewins Gesicht irgendwelchen besonderen Ausdruck trug oder ob Wasenka selbst das Gefühl hatte, daß ce petit brin de cour 4, den er angefangen hatte, in dieser Familie denn doch nicht recht angebracht sei, jedenfalls geriet er bei Ljewins Eintritt in eine gewisse Verlegenheit, soweit das bei einem gewandten Lebemann eben möglich ist.
»Sie reiten in Gamaschen?«
»Ja, es ist doch weit sauberer«, versetzte Wasenka, stellte sein dickes Bein auf einen Stuhl, machte den untersten Haken zu und lächelte heiter und gutmütig.
Er war zweifellos ein guter Junge, und Ljewin bedauerte ihn und schämte sich als Wirt, da er die Schüchternheit in Wasenkas Blick bemerkte.
[67] Auf dem Tische lag das Bruchstück eines Stockes, den sie an diesem Vormittag gemeinschaftlich beim Turnen zerbrochen hatten, als sie den Versuch machten, die verquollenen Barrenholme zu heben. Ljewin nahm dieses Bruchstück in die Hände und begann von dem zersplitterten Ende die einzelnen Splitter abzureißen, da er nicht wußte, womit er bei dem, was er sagen wollte, den Anfang machen solle.
»Ich wollte ...« Er stockte; aber plötzlich dachte er an Kitty und an alles, was sich begeben hatte, blickte ihm mit festem Entschluß in die Augen und sagte: »Ich habe für Sie einen Wagen anspannen lassen.«
»Wieso?« fragte Wasenka verwundert. »Wohin geht denn die Fahrt?«
»Sie sollen wegfahren, nach der Bahn«, antwortete Ljewin finster und zerzupfte das Ende des Stockes.
»Reisen Sie weg, oder hat sich etwas begeben?«
»Ich habe Nachricht erhalten, daß ich noch mehr Gäste zu erwarten habe«, erwiderte Ljewin und riß immer schneller und schneller mit seinen starken Fingern die Splitter von dem zerfaserten Stock ab. »Oder auch, ich erwarte gar keine Gäste und habe keine Nachricht erhalten; aber ich ersuche Sie abzureisen. Sie mögen sich meine Unhöflichkeit erklären, wie Sie wollen.«
Wasenka richtete sich gerade.
»Ich ersuche vielmehr Sie, mir zu erklären ...«, sagte er mit Würde, nachdem er endlich verstanden hatte.
»Ich kann Ihnen keine Erklärung geben«, versetzte Ljewin leise und langsam, bemüht, das Zittern seiner Kinnbacken zu verbergen. »Und es ist auch besser für Sie, nicht danach zu fragen.«
Und da nun Ljewin die losgesplitterten Stücke des Stockes bereits sämtlich abgebrochen hatte, so faßte er mit den Fingern die beiden dicken Stücke, riß den Stock der Länge nach auseinander und fing das eine Stück, das herunterfiel, sorgsam auf.
Der Anblick dieser angespannten Arme und starken Muskeln, die er am Vormittag beim Turnen befühlt hatte, die blitzenden Augen und bebenden Kinnbacken und der Klang dieser mühsam gedämpften Stimme hatten wahrscheinlich für Wasenka eine größere Überzeugungskraft als die Worte. Er zuckte die Achseln und verbeugte sich mit einem geringschätzigen Lächeln.
»Kann ich Oblonski sprechen?«
Durch das Achselzucken und das Lächeln ließ sich Ljewin nicht aufbringen. ›Was bleibt ihm auch weiter zu tun übrig?‹ dachte er.
»Ich werde ihn sofort zu Ihnen schicken.«
[68] »Was ist das für ein sinnloses Benehmen!« sagte Stepan Arkadjewitsch, als er von seinem Freunde erfahren hatte, daß er aus dem Hause gewiesen sei, und Ljewin im Garten fand, wo er in Erwartung der Abreise des Gastes umherging. »Mais c'est ridicule! Was für eine Fliege hat dich denn gestochen? Mais c'est du dernier ridicule! 5 Was findest du denn dabei, wenn ein junger Mann ...«
Aber die Stelle, wo die Fliege Ljewin gestochen hatte, war offenbar noch schmerzhaft; denn er wurde wieder ganz blaß, als Stepan Arkadjewitsch die Veranlassung erörtern wollte, und unterbrach ihn hastig:
»Bitte, rede nicht von der Veranlassung! Ich habe nicht anders gekonnt! Ich schäme mich sehr vor dir und vor ihm. Aber ihm, glaube ich, wird es kein großer Schmerz sein wegzureisen; mir aber und meiner Frau ist seine Anwesenheit unangenehm.«
»Aber es ist für ihn eine Beleidigung! Et puis c'est ridicule! 6«
»Aber für mich war es eine Beleidigung und eine Qual! Ich hatte mir nichts zuschulden kommen lassen und sehe nicht ein, warum ich da leiden soll!«
»Na, das hätte ich wahrhaftig nicht von dir erwartet! On peut être jaloux, mais à ce point c'est du dernier ridicule! 7«
Ljewin wandte sich schnell von ihm ab und ging weiter nach dem Ende der Allee zu: dort fuhr er fort, allein auf und ab zu gehen. Es dauerte nicht lange, da hörte er das Poltern des Reisewägelchens und sah hinter den Bäumen hervor, wie Wasenka, auf dem Heu sitzend (denn Sitze befanden sich in diesem Wagen leider nicht), mit seiner schottischen Mütze durch die Allee fuhr und bei jedem Stoße des Wagens in die Höhe flog.
›Was gibt es denn da noch?‹ dachte Ljewin, als der Diener aus dem Hause gelaufen kam und durch lauten Zuruf den Wagen wieder zum Halten veranlaßte. Der Grund war der Maschinist, den Ljewin vollständig vergessen hatte. Der Maschinist grüßte Weslowski, sagte etwas zu ihm und stieg dann zu ihm in den Wagen; darauf fuhren sie beide zusammen weiter.
Stepan Arkadjewitsch und die Fürstin waren über Ljewins Handlungsweise empört. Und auch er selbst hatte das Gefühl, daß er sich nicht nur im höchsten Grade lächerlich gemacht, sondern auch sehr unrecht getan und sich entehrt habe; aber wenn er sich die Qualen ins Gedächtnis zurückrief, die er und seine Frau ausgestanden hatten, und sich dann fragte, wie er im Wiederholungsfalle handeln würde, so gab er sich die Antwort, daß er genau das gleiche tun würde.
Trotzdem waren zu Ende dieses Tages alle, mit Ausnahme der Fürstin, die Ljewin ein solches Benehmen nicht verzeihen konnte, in ungewöhnlich lebhafte, vergnügte Stimmung gekommen, [69] wie Kinder nach einer Bestrafung oder Erwachsene nach einem lästigen offiziellen Empfang, so daß am Abend über Wasenkas Ausweisung in Abwesenheit der Fürstin bereits wie über ein weit zurückliegendes Begebnis gesprochen wurde. Und Dolly, die von ihrem Vater die Gabe besaß, spaßhaft zu erzählen, rief bei Warjenka ordentliche Lachkrämpfe hervor, als sie zum dritten und vierten Male, immer mit neuen humoristischen Zusätzen, erzählte, wie sie gerade dem Gast zu Ehren sich ein paar neue Schleifen angesteckt habe und schon ins Wohnzimmer getreten sei; da habe sie auf einmal das Poltern des alten Kastens von Wagen gehört. Und wer sei in dem Kasten darin gewesen? Wasenka in eigener Person habe mit seinem schottischen Mützchen und mit seinen Liedern und mit seinen Gamaschen auf dem Heu gesessen.
»Hättest du wenigstens noch die Kutsche anspannen lassen! Ja, und dann hörte ich rufen: ›Halt, halt!‹ Na, dachte ich, er hat doch noch Mitleid mit ihm gehabt. Ich sah hin, und da stieg der dicke Deutsche zu ihm ein, und sie fuhren davon ... Und mit meinen schönen Schleifen hatte ich mich vergebens geputzt!«
1 (frz.) Stellen Sie sich vor, daß die Kleine ...
2 (frz.) Er macht einer jungen und hübschen Frau den Hof.
3 (frz.) Ich glaube, daß Weslowski Kitty ein klein wenig den Hof macht.
4 (frz.) dieser kleine Flirt.
5 (frz.) Aber das ist ja lächerlich ... Aber das ist ja höchst lächerlich.
6 (frz.) Und außerdem ist es lächerlich.
7 (frz.) Man kann eifersüchtig sein, aber in diesem Grade, das ist höchst lächerlich.
Darja Alexandrowna führte ihre Absicht aus und fuhr zu Anna. Es tat ihr sehr leid, daß sie damit ihre Schwester verletzte und etwas tat, was deren Mann unangenehm war; sie sagte sich selbst, daß Ljewin und seine Frau durchaus richtig handelten, wenn sie keinerlei Beziehungen mit Wronski zu haben wünschten. Aber anderseits hielt sie es für ihre Pflicht, Anna zu besuchen und ihr zu zeigen, daß ihre Gefühle gegen sie trotz ihrer veränderten Lage unverändert geblieben seien.
Da Darja Alexandrowna bei dieser Fahrt dem Ljewinschen Ehepaar nicht gern etwas zu verdanken haben mochte, so schickte sie ins Dorf, um sich Pferde zu mieten. Aber als Ljewin davon erfuhr, kam er zu ihr und machte ihr Vorwürfe.
»Warum meinst du denn, daß mir deine Besuchsreise unangenehm sei? Und wenn sie mir wirklich unangenehm wäre, so würde sie mir dadurch noch unangenehmer, wenn du nicht meine Pferde nimmst«, sagte er. »Du hattest mir doch gar nicht bestimmt gesagt, daß du hinfahren wolltest. Mietest du dir im Dorfe Pferde, so ist das erstens für mich peinlich, und zweitens, was die Hauptsache ist: die Leute übernehmen das, bringen dich aber nicht bis an dein Ziel. Ich habe Pferde, und wenn du mich nicht kränken willst, so benutze sie.«
[70] Darja Alexandrowna mußte sich fügen, und am festgesetzten Tage stellte Ljewin für seine Schwägerin ein Viergespann und die gleiche Zahl von Wechselpferden bereit. Er hatte die Tiere aus den Arbeits- und Reitpferden ausgesucht, und wenn sie auch nicht schön aussahen, so waren sie doch imstande, Darja Alexandrowna an einem Tage hinzubringen. Gerade jetzt, wo Ljewin sowohl für die Fürstin, die wieder abreiste, wie auch für die Hebamme Pferde nötig hatte, machte ihm die Sache Schwierigkeiten; aber um der Pflicht der Gastfreundschaft willen konnte er nicht zugeben, daß Darja Alexandrowna sich von anderswoher Pferde mietete; außerdem wußte er auch, daß die zwanzig Rubel, die seiner Schwägerin für diese Fahrt abverlangt worden waren, für sie sehr ins Gewicht fielen, und Darja Alexandrownas Geldangelegenheiten, die sich in recht übler Verfassung befanden, betrachteten Ljewin und seine Frau wie ihre eigenen.
Auf Ljewins Rat fuhr Darja Alexandrowna noch vor Sonnenaufgang ab. Der Weg war gut, der Kaleschwagen bequem, die Pferde liefen munter, und auf dem Bock saß außer dem Kutscher noch an Stelle eines Dieners der Gutsschreiber, den ihr Ljewin zu größerer Sicherheit mitgegeben hatte. Darja Alexandrowna schlummerte ein und wachte erst wieder auf, als sie sich bereits dem Einkehrhause näherten, wo die Pferde gewechselt werden mußten.
Sie trank bei demselben reichen Bauern Tee, bei dem Ljewin auf seiner Fahrt zu Swijaschski eingekehrt war, und unterhielt sich mit den Weibern über die Kinder und mit dem Alten über Graf Wronski, den dieser sehr lobte; dann fuhr sie um zehn Uhr weiter. Zu Hause hatte sie vor Sorgen um die Kinder niemals Zeit, ruhig zu denken. Dafür wimmelten nun jetzt auf dieser vierstündigen Fahrt alle die bisher zurückgehaltenen Gedanken plötzlich in ihrem Kopfe durcheinander, und sie überdachte wie nie zuvor ihr Leben in seinem ganzen Verlaufe und von den verschiedensten Seiten. Ihre Gedanken kamen ihr selbst sonderbar vor. Zuerst dachte sie an ihre Kinder; obgleich die Fürstin und namentlich Kitty (auf diese setzte sie das größere Vertrauen) ihr versprochen hatten, auf sie aufzupassen, beunruhigte sie sich dennoch um sie. ›Wenn nur Mascha nicht wieder dumme Streiche macht; wenn nur Grigori nicht von einem Pferde geschlagen wird, und wenn es nur mit Lillys Magenverstimmung nicht noch schlimmer wird.‹ Dann aber wurden die Fragen der Gegenwart von Fragen der nächsten Zukunft abgelöst. Sie dachte daran, daß sie in Moskau zum nächsten Winter eine neue Wohnung mieten müßten, daß für das Wohnzimmer die Anschaffung [71] anderer Möbel erforderlich sei und daß sie ihrer ältesten Tochter einen Pelz machen lassen müsse. Dann traten ihr Fragen, die einer ferneren Zukunft angehörten, entgegen: wie sie die Kinder, wenn sie nun heranwüchsen, werde leiten können. ›Mit den Mädchen, das wird sich noch machen‹, dachte sie, ›wie aber mit den Knaben?‹
›Nun ja, ich beschäftige mich jetzt mit Grigori; aber das ist doch nur deshalb möglich, weil ich selbst jetzt gerade frei und durch keine Entbindung behindert bin. Auf Stiwa ist bei der Erziehung der Kinder natürlich nicht zu rechnen. Aber mit Hilfe guter Menschen werde ich sie schon erziehen; nur wenn dann wieder eine Schwangerschaft kommen sollte ...‹ Und es kam ihr der Gedanke, daß es doch eigentlich mit Unrecht heiße, der auf das Weib gelegte Fluch bestehe darin, mit Schmerzen Kinder zu gebären. ›Gebären, das ist noch nicht das Schlimmste; aber die Schwangerschaft, das ist eine Marter‹, dachte sie und vergegenwärtigte sich ihre letzte Schwangerschaft und den Tod dieses letzten Kindchens. Sie mußte dabei an das Gespräch denken, das sie in dem Einkehrhause mit einer jungen Frau geführt hatte. Auf die Frage, ob sie Kinder habe, hatte die hübsche junge Frau fröhlich geantwortet:
›Ich hatte ein Töchterchen; aber Gott hat es mir wieder genommen; in der Fastenzeit habe ich es be graben.‹
›Da bist du wohl sehr traurig darüber gewesen?‹ hatte Darja Alexandrowna gefragt.
›Weshalb sollte ich traurig sein? Der Alte hat schon Enkel genug. Man hat nur Sorge davon. Weder arbeiten kann man noch sonst etwas tun. Es ist nur ein Hindernis.‹
Diese Antwort hatte für Darja Alexandrowna trotz des gutherzigen, freundlichen Wesens der jungen Frau etwas Abstoßendes gehabt; aber jetzt kamen ihr diese Worte unwillkürlich wieder in den Sinn. In diesen herzlosen, eigensüchtigen Worten steckte doch auch ein gut Teil Wahrheit, meinte sie.
›Ja, und überhaupt‹, dachte Darja Alexandrowna, indem sie ihr ganzes Leben während all dieser Jahre ihrer Ehe überblickte, ›was man dabei durchzumachen hat: die Schwangerschaft, die Übelkeit, die Benommenheit, die Gleichgültigkeit gegen alles und vor allen Dingen die körperliche Entstellung. Kitty, die junge, hübsche Kitty, auch die, wie häßlich ist sie geworden, und ich sehe, wenn ich schwanger bin, ganz mißgestaltet aus, das weiß ich. Dann das Gebären, die Schmerzen dabei, diese gräßlichen Schmerzen, dieser letzte Augenblick ... dann das Nähren, diese schlaflosen Nächte, diese furchtbaren Leiden ...‹
[72] Darja Alexandrowna fuhr bei der bloßen Erinnerung an die aufgesprungenen Brustwarzen zusammen, ein Übel, das sie fast bei jedem Kinde durchgemacht hatte. ›Dann die Krankheiten der Kinder, diese ewige Angst; dann die Erziehung, die häßlichen Neigungen‹ (sie erinnerte sich an die Übeltat der kleinen Mascha in den Himbeeren), ›der Unterricht, das Lateinische – alles das macht soviel Kopfzerbrechen und soviel Mühe. Und zu alledem dann noch der Tod dieser Kinder, die einem so schwer geworden sind.‹ Und wieder tauchte vor ihrem geistigen Blick eine schreckliche Erinnerung auf, die unaufhörlich auf ihrem Mutterherzen lastete, die Erinnerung an den Tod des letzten Kindchens, das als Säugling an der Bräune gestorben war, und an sein Begräbnis: wie teilnahmlos alle Anwesenden angesichts dieses kleinen rosa Särgleins gewesen waren und welchen herzzerreißenden Schmerz sie selbst ganz allein empfunden hatte beim Anblick der blassen kleinen Stirn mit den lockigen Härchen an den Schläfen und des wie in Verwunderung geöffneten Mündchens, das aus dem Sarge noch in dem Augenblick hervorgeschaut hatte, als der rosa Deckel mit dem Kreuz aus Goldborte daraufgelegt wurde.
›Und wozu das alles? Was ist das Ergebnis von alledem? Daß ich, ohne auch nur einen Augenblick Ruhe zu haben, bald schwanger, bald nährend, stets gereizt und mürrisch, selbst gemartert und andern eine Qual, meinem Manne eine widerwärtige Last, mein Leben dahinbringe und unglückliche, schlecht erzogene, bettelarme Kinder heranwachsen. Schon jetzt würde ich nicht wissen, wie wir durchkommen sollten, wenn wir nicht den Sommer bei Ljewins verlebten. Konstantin und Kitty sind ja freilich so taktvoll, uns das nicht fühlen zu lassen; aber es kann doch nicht so weitergehen. Auch bei ihnen werden sich Kinder einstellen, und es wird ihnen dann nicht mehr möglich sein, uns zu unterstützen; sie schränken sich ja auch jetzt schon ein. Oder wird uns etwa Papa helfen, der doch so gut wie nichts für sich zurückbehalten hat? Somit werde ich nicht einmal imstande sein, die Kinder aus eigener Kraft aufzuziehen, sondern höchstens mit Hilfe anderer, unter Demütigungen für mich. Nun, und setzen wir den günstigsten Fall: daß mir keine Kinder mehr sterben und ich sie so leidlich erziehe. In diesem günstigsten Falle ist das Ergebnis eben nur, daß sie nicht gerade Taugenichtse sind. Das ist alles, was ich zu wünschen wagen darf. Und dafür so viele Qualen und Mühen! ... Darum das ganze Leben verdorben!‹ Sie mußte wieder an das denken, was die junge Bäuerin gesagt hatte, und wieder war ihr die Erinnerung daran widerwärtig; aber sie konnte nicht umhin zuzugeben, daß [73] in diesen Worten doch auch ein gut Teil derber Wahrheit steckte.
»Nun? Ist es noch weit, Michail?« fragte Darja Alexandrowna den Gutsschreiber, um von den Gedanken, die sie ängstigten, loszukommen.
»Von diesem Dorfe sollen es noch sieben Werst sein.«
Der Kaleschwagen fuhr auf der Dorfstraße zu einer kleinen Brücke hinunter. Über die Brücke kam gerade in lautem, lustigem Gespräch ein Haufe fröhlicher Bauersfrauen, jede mit einem Bündel zusammengedrehter Garbenbänder über den Schultern. Die Frauen blieben auf der Brücke stehen und betrachteten neugierig den Wagen. Darja Alexandrowna hatte die Empfindung, daß alle diese ihr zugewandten Gesichter gesund und froh seien und sie durch ihre Lebensfreudigkeit verhöhnen wollten. ›Alle leben sie, alle freuen sie sich des Lebens‹, dachte sie, während sie an den Frauen vorüber, dann auf der andern Seite der Brücke die Anhöhe hinanfuhr und nun wieder auf ebenem Wege im Trabe angenehm von den weichen Federn der alten Kalesche geschaukelt wurde; ›aber ich bin aus meiner Welt, die mich mit Sorgen ertötet, jetzt eben erst für einen Augenblick wie aus einem Gefängnis entlassen und ein wenig zur Besinnung gekommen. Alle leben sie: diese Frauen, und meine Schwester Natalja, und Warjenka, und Anna, zu der ich hinfahre: nur ich nicht.‹
›Freilich, über Anna fallen alle Leute her. Warum denn? Bin ich etwa besser als sie? Allerdings, ich habe wenigstens einen Gatten, den ich liebe; und wenn ich ihn auch nicht so liebe, wie ich ihn lieben möchte, so liebe ich ihn doch; aber Anna hat ihren Mann nicht geliebt. Worin besteht denn ihre Schuld? Sie will leben. Dieses Verlangen hat uns Gott in die Seele hineingelegt. Sehr möglich, daß auch ich in gleicher Lage dasselbe getan hätte. Auch ich weiß bis auf den heutigen Tag noch nicht, ob ich gut daran getan habe, in jener schrecklichen Zeit auf sie zu hören, als sie zu mir nach Moskau gekommen war. Ich hätte damals meinen Mann verlassen und ganz von vorn zu leben anfangen sollen. Ich hätte wahrhaft lieben und wahrhaft geliebt werden können. Und ist meine Lage etwa jetzt besser geworden? Ich achte ihn nicht. Ich habe ihn nötig‹, dachte sie über ihren Mann, ›und ich ertrage ihn. Ist etwa nun meine Lage eine bessere? Damals hätte ich noch jemandem gefallen können, ich besaß noch meine Schönheit‹, setzte Darja Alexandrowna ihre Gedankenreihe fort und bekam Lust, sich im Spiegel zu sehen. Sie hatte in ihrer Reisetasche einen kleinen Spiegel bei sich und hätte ihn gern herausgeholt; als sie aber auf den Rücken des Kutschers und auf den Rücken des hin und her schaukelnden Gutsschreibers [74] blickte, sagte sie sich, daß sie sich schämen würde, wenn sich einer von ihnen umsähe, und sie holte den Spiegel nicht heraus.
Aber auch ohne in den Spiegel zu blicken, war sie der Meinung, es sei wohl auch jetzt noch nicht zu spät; und sie erinnerte sich an Sergei Iwanowitsch, der gegen sie besonders liebenswürdig gewesen war, und an Stiwas Freund, den braven Turowzün, der mit ihr zusammen ihre im Scharlachfieber liegenden Kinder gepflegt hatte und in sie verliebt gewesen war. Und da war noch ein ganz junger Mann, der, wie Stiwa scherzend zu ihr gesagt hatte, der Ansicht war, daß sie schöner sei als ihre beiden Schwestern. Und die leidenschaftlichsten, unmöglichsten Liebesgeschichten erstanden vor Darja Alexandrownas Phantasie. ›Anna hat ganz recht getan, und ich kann sie in keiner Weise tadeln. Sie ist glücklich und macht einen andern glücklich und ist nicht zerschlagen und gebrochen wie ich, sondern gewiß noch ebenso frisch und verständig und für alle Eindrücke empfänglich wie immer‹, dachte Darja Alexandrowna, und ein schelmisches Lächeln spielte um ihre Lippen, namentlich weil sie bei dem Gedanken an Annas Liebschaft sich als Gegenstück dazu eine ganz ähnliche eigene Liebschaft vorspiegelte, eine Liebschaft mit einem eingebildeten männlichen Wesen, das in sie verliebt sei, so einer Art von Sammelbegriff. Sie gestand, ebenso wie Anna, alles ihrem Manne. Und sie mußte über Stepan Arkadjewitschs Staunen und Bestürzung bei dieser Nachricht lächeln.
Unter solchen Phantasien näherte sie sich der Wegscheide, wo der Weg nach Wosdwischenskoje von der großen Straße abzweigte.
Der Kutscher hielt das Viergespann an und blickte nach rechts, nach einem Roggenfelde, wo bei einem Ackerwagen einige Bauern saßen. Der Gutsschreiber machte Anstalten abzusteigen, besann sich aber dann eines anderen, rief einem der Bauern gebieterisch zu und winkte ihn mit der Hand zu sich heran. Der leise Luftzug, der während der Fahrt zu spüren gewesen war, hatte jetzt, wo sie hielten, aufgehört; die Bremsen setzten sich in dichter Menge auf die schweißbedeckten Pferde, die sich ärgerlich ihrer erwehrten. Der metallische, von dem Bauernwagen herübertönende Klang des Sensendengelns verstummte. Einer der Bauern stand auf und ging auf die Kalesche zu.
[75] »Nanu! Du bist wohl von Holz?« rief der Gutsschreiber ärgerlich dem Bauern zu, der langsam mit den bloßen Füßen über die Erdhöcker des holperigen, trockenen Weges hinwegschritt. »Komm flink, vorwärts!«
Der kraushaarige Alte, dessen Haar mit einem Baststreifen aufgebunden und dessen Hemd an dem gekrümmten Rücken von Schweiß dunkel gefärbt war, beschleunigte seinen Schritt, trat an die Kalesche heran und faßte mit der sonnengebräunten Hand einen der Kotflügel an.
»Nach Wosdwischenskoje? Zum Herrenhof? Zum Grafen?« wiederholte er die Frage des Gutsschreibers. »Da fahrt nur hier hinan. Hier links herum. Dann immer die breite Allee entlang, dann kommt ihr gerade drauf zu. Zu wem wollt ihr denn? Zum Grafen selbst?«
»Ob sie wohl zu Hause sind, lieber Mann?« fragte Darja Alexandrowna. Sie bediente sich dieser unbestimmten Personenbezeichnung, da sie nicht wußte, wie sie selbst dem Bauern gegenüber nach Anna fragen sollte.
»Sie werden wohl zu Hause sein«, antwortete der Bauer, indem er von einem seiner nackten Füße auf den andern trat und dabei im Staube deutliche Abdrücke seiner Sohlen mit allen fünf Zehen zurückließ. »Sie werden wohl zu Hause sein«, wiederholte er, offenbar mit dem Wunsche, das Gespräch weiter fortzusetzen. »Gestern sind noch mehr Gäste gekommen. Es sind eine Unmenge Gäste da ... Was willst du?« wandte er sich an einen jungen Burschen, der ihm von dem Bauernwagen her etwas zurief. »So so! Vorhin sind sie hier alle vorbeigeritten gekommen, um sich die Mähmaschinen anzusehen. Jetzt werden sie wohl zu Hause sein. Und ihr, wo seid ihr denn her?«
»Wir sind von weit her«, antwortete der Kutscher, der abgestiegen war und sich nun wieder auf den Bock setzte. »Also es ist nicht mehr weit?«
»Ich sage ja, wir sind gleich da. Sobald du da hinaufkommst ...«, sagte er und fingerte an dem Kotflügel umher.
Der gesunde, stämmige, junge Bursche kam nun auch heran.
»Ist vielleicht Arbeit bei der Ernte zu bekommen?« fragte er.
»Ich weiß es nicht, lieber Freund.«
»Sobald du also links umbiegst, fährst du gerade drauf zu«, sagte der Bauer, der offenbar die Reisenden nur ungern fortließ und Lust hatte, noch ein bißchen zu reden.
Der Kutscher trieb die Pferde an; aber kaum waren sie nach links eingebogen, als der Bauer ihnen nachrief: »Halt! Heda, lieber Mann! Halt!« Es riefen sogar zwei Stimmen. Der Kutscher hielt.
[76] »Da kommen sie selbst! Da sind sie!« rief der Bauer. »Hei, wie sie jagen!« Er wies mit der Hand auf vier Reiter und zwei Personen in einem leichten Wagen, die auf dem Wege herankamen.
Es waren Wronski in Begleitung eines Jockeis sowie Weslowski und Anna zu Pferde und die Prinzessin Warwara und Swijaschski im Wagen. Sie hatten einen Ausflug unternommen, zum Vergnügen und um die Tätigkeit der neu angeschafften Mähmaschinen zu beobachten.
Als die Kutsche hielt, kam die Gruppe im Schritt näher. Voran ritt Anna mit Weslowski. Anna ritt ruhigen Schritt auf einem kurzbeinigen, stämmigen, englischen Doppelpony mit geschorener Mähne und kurzem Schweif. Ihr schöner Kopf mit dem schwarzen Haar, das unter dem hohen Hut hervorquoll, die vollen Schultern, die schlanke Hüfte in dem schwarzen Reitkleid und ihre gesamte ruhige, anmutige Haltung auf dem Pferd erregten Dollys Bewunderung.
Im ersten Augenblick war es ihr unpassend erschienen, daß Anna ritt. Mit der Vorstellung vom Reiten einer Dame war in Darja Alexandrownas Auffassung die Vorstellung von einer jugendlich leichtfertigen Koketterie verbunden, die ihrer Meinung nach zu Annas Lage nicht paßte; aber als sie sie aus größerer Nähe betrachtete, söhnte sie sich sofort mit ihrem Reiten aus. Trotz aller Vornehmheit lag in Annas Haltung, Kleidung und Bewegungen eine solche Einfachheit, Ruhe und Würde, daß sich nichts Natürlicheres denken ließ.
Neben Anna ritt auf einem grauen, erhitzten Kavalleriepferde, die dicken Beine nach vorn gestreckt und offenbar sehr stolz auf seine Erscheinung, Wasenka Weslowski, auf dem Kopf die schottische Mütze mit den flatternden Bändern, und Darja Alexandrowna konnte, als sie ihn erkannte, ein heiteres Lächeln nicht unterdrücken. Hinter ihnen ritt Wronski. Unter sich hatte er ein dunkelbraunes Vollblut, das offenbar bei dem Galopp sehr in Hitze geraten war. Er arbeitete mit den Zügeln, um das Tier zurückzuhalten.
Hinter ihm ritt ein Mann von sehr kleiner Gestalt in Jockeitracht. Swijaschski und die Prinzessin kamen in einem nagelneuen leichten Wagen mit einem stattlichen schwarzen Traber hinter den Reitern her.
Sobald Anna in der kleinen Gestalt, die in einer Ecke der alten Kalesche lehnte, Dolly erkannte, strahlte plötzlich ein freudiges Lächeln auf ihrem Gesichte auf. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, zuckte auf ihrem Sattel zusammen und trieb das Pferd zum Galopp an. Als sie an den Kutschwagen herangekommen war, [77] sprang sie ohne Hilfe ab und lief, ihr Reitkleid aufraffend, zu Dolly. »Das hatte ich mir doch gedacht, daß du einmal kommen würdest, und hatte doch auch wieder nicht gewagt, es zu hoffen! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich freue!« sagte sie, indem sie bald ihr Gesicht gegen das Gesicht Dollys drückte und sie küßte, bald sich wieder zurückbog und sie betrachtete. »Das ist einmal eine Freude, Alexei!« rief sie, sich nach Wronski zurückwendend, der vom Pferde gestiegen war und sich den beiden Damen näherte.
Wronski nahm seinen hohen grauen Hut ab und trat zu Dolly.
»Sie können gar nicht glauben, wie sehr wir uns über Ihren Besuch freuen«, sagte er, indem er diesen Worten einen besonders nachdrücklichen, herzlichen Ton verlieh und lächelnd seine kräftigen, weißen Zähne sichtbar werden ließ.
Wasenka Weslowski begrüßte, ohne vom Pferde zu steigen, die Besucherin dadurch, daß er seine bebänderte Mütze abnahm und freudig über dem Kopfe schwenkte.
»Das ist die Prinzessin Warwara«, antwortete Anna auf einen fragenden Blick Dollys, als der leichte Wagen sich näherte.
»Ah!« machte Darja Alexandrowna, und ihr Gesicht drückte unwillkürlich ihr Mißvergnügen aus.
Die Prinzessin Warwara war Stiwas Tante, und Dolly kannte sie schon lange, ohne jedoch besondere Hochachtung vor ihr zu hegen. Sie wußte, daß die Prinzessin Warwara von ihrer Jugend an bei reichen Verwandten von deren Gnade gelebt hatte; aber daß sie jetzt bei dem ihr fremden Wronski lebte, fand Dolly unwürdig, und sie schämte sich für die Verwandtschaft ihres Mannes. Anna bemerkte Dollys Gesichtsausdruck sehr wohl; sie wurde verlegen, errötete, ließ ihr Reitkleid aus der Hand fallen und strauchelte darüber.
Darja Alexandrowna trat an den leichten Wagen heran, der angehalten hatte, und begrüßte kühl die Prinzessin Warwara. Swijaschski war ihr gleichfalls bekannt. Er erkundigte sich, wie es seinem Freunde, diesem sonderbaren Kauz, und seiner jungen Frau gehe, und nachdem er mit einem schnellen Blick die wenig zueinander passenden Pferde und die geflickten Kotflügel der Kutsche gemustert hatte, machte er den Vorschlag, die Damen möchten in dem leichten Wagen fahren.
»Ich fahre dann in diesem Vehikel«, sagte er, auf die Kutsche weisend. »Der Traber ist ein sehr ruhiges Tier, und die Prinzessin kutschiert meisterhaft.«
»Nein, nein, bleiben Sie nur ruhig, wo Sie gewesen sind«, sagte Anna, die herantrat, »und wir beide fahren in dem Kutschwagen.« Sie faßte Dolly unter dem Arm und führte sie fort.
[78] Darja Alexandrownas Augen wanderten hierhin und dorthin: zu diesem vornehmen Fuhrwerk, wie sie noch nie eines gesehen hatte, zu diesen prächtigen Pferden, zu diesen eleganten, vornehmen Gestalten, die sie umgaben. Aber am allermeisten war sie von der Veränderung überrascht, die mit der ihr so vertrauten, lieben Anna vorgegangen war. Eine andere Frau, die eine geringere Beobachtungsgabe besessen und Anna früher nicht gekannt hätte und namentlich sich nicht mit den Gedanken beschäftigt hätte, denen Darja Alexandrowna sich unterwegs überlassen hatte, würde an Anna überhaupt nichts Besonderes wahrgenommen haben. Aber jetzt war Dolly überrascht von jener zeitweiligen Schönheit, die nur in Zeiten der Liebe bei den Frauen vorkommt und die sie jetzt auf Annas Gesicht vorfand. Alles an diesem Gesicht: die Deutlichkeit der Grübchen in Kinn und Wangen, die Haltung der Lippen, das Lächeln, das gleichsam auf dem Gesicht umherhuschte, der Glanz der Augen, die Anmut und Geschwindigkeit der Bewegungen, der volle Klang der Stimme, ja sogar die Art, wie sie halb ärgerlich, halb freundlich auf Weslowskis Frage antwortete, ob sie ihm erlaube, sich auf ihren Pony zu setzen, um ihm den Rechtsgalopp beizubringen – alles war überaus reizvoll, und sie schien das selbst zu wissen und sich darüber zu freuen.
Als die beiden Frauen in die Kutsche einstiegen, überkam sie beide plötzlich eine eigentümliche Verlegenheit. Anna fühlte sich verlegen unter dem forschend fragenden Blicke, mit dem Dolly sie ansah, Dolly dagegen deswegen, weil sie sich nach Swijaschskis Bemerkung über das »Vehikel« unwillkürlich der schmutzigen alten Kutsche schämte, in die sie mit Anna einstieg. Der Kutscher Filipp und der Gutsschreiber hatten dieselbe Empfindung. Der Gutsschreiber war, um seine Verlegenheit zu verbergen, mit besonderem Eifer den Damen beim Einsteigen behilflich; aber der Kutscher Filipp wurde mürrisch und nahm sich gleich von vornherein vor, sich durch diese äußerlichen Vorzüge nicht beeinflussen zu lassen. Mit spöttischem Lächeln betrachtete er den schwarzen Traber und war bereits im stillen mit seinem Urteil fertig, daß dieser Rappe da vor dem Wägelchen nur »für die Prominage« zu gebrauchen sei, aber nicht vierzig Werst bei Hitze ohne Ausspannung machen könne.
Die Bauern waren alle von ihrem Ackerwagen aufgestanden, schauten neugierig und vergnügt die Begrüßung der angekommenen Dame mit an und machten dazu ihre Bemerkungen.
»Die freuen sich aber mal; haben sich gewiß lange nicht gesehen«, meinte der kraushaarige Alte mit dem Baststreifen ums Haar.
[79] »Sieh mal, Onkel Gerasim, den Rapphengst! Der müßte die Garben einführen; das würde flink gehen!«
»Guck mal! Die in Hosen, ist das ein Weibsbild?« sagte einer von ihnen, indem er auf Wasenka Weslowski wies, der sich auf den Damensattel setzte.
»Nee, das ist eine Mannsperson. Sieh nur, wie geschickt er aufgesprungen ist!«
»Na, Kinder, schlafen tun wir nun wohl nicht mehr?«
»Wie werden wir denn jetzt noch schlafen!« sagte der Alte mit einem schrägen Blick nach der Sonne. »Der Mittag ist ja schon vorbei! Nehmt die Sensen, wir wollen uns wieder dranmachen!«
Anna betrachtete Dollys mageres, müdes Gesicht, in dessen Falten sich der Staub gesammelt hatte, und wollte schon sagen, was sie dachte, nämlich daß Dolly magerer geworden sei; aber da fiel ihr ein, daß ihre eigene Schönheit noch gewachsen sei und daß auch Dollys Blick ihr dies gesagt habe; so seufzte sie denn und begann von sich selbst zu sprechen.
»Du siehst mich an«, sagte sie, »und überlegst, ob ich in meiner Lage glücklich sein kann. Nun also: ich schäme mich, es zu bekennen; aber ich ... ich fühle mich in einer geradezu unverzeihlichen Weise glücklich. Es ist mir etwas wie Zauberei widerfahren, wie ein Traum, wo einem angst und bange ist und man auf einmal aufwacht und merkt, daß alle diese Schrecknisse gar nicht vorhanden sind. Ich bin aufgewacht; alle Angst und Qual habe ich überstanden und bin nun schon lange, namentlich seit wir hier wohnen, so glücklich, so glücklich! ...« sagte sie und blickte Dolly mit einem Lächeln an, in dem eine schüchterne Frage lag.
»Das freut mich wirklich!« antwortete Dolly lächelnd, aber unwillkürlich in kühlerem Tone, als sie es selbst gewollt hatte. »Es freut mich sehr, daß du dich wohl fühlst. Warum hast du denn gar nicht an mich geschrieben?«
»Warum ich nicht geschrieben habe? Ich habe es nicht gewagt. Du vergißt meine Lage ...«
»An mich? An mich zu schreiben hast du nicht gewagt? Wenn du wüßtest, wie ich ... Ich bin der Ansicht ...«
Darja Alexandrowna wollte die Gedanken aussprechen, die ihr am Vormittag durch den Kopf gegangen waren; aber sie hatte die undeutliche Empfindung, daß das jetzt hier doch nicht am Platze sei.
[80] »Nun, davon ein andermal. Was sind denn das da alles für Gebäude?« fragte sie, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, und wies auf eine Anzahl von roten und grünen Dächern hin, die über grüne lebende Hecken von Akazien und Flieder herüberschauten. »Das ist ja ordentlich eine kleine Stadt.«
Aber Anna antwortete nicht darauf.
»Nein, nein! Wie denkst du denn über meine Lage? Was ist deine Ansicht? Nun?« fragte sie.
»Ich denke ...«, begann Darja Alexandrowna; aber in diesem Augenblick galoppierte Wasenka Weslowski, der dem Pony wirklich den Rechtsgalopp beigebracht hatte, an ihnen vorüber, in seiner kurzen Jacke auf das sämische Leder des Damensattels schwer niederklatschend. »Es ist gelungen, Anna Arkadjewna!« rief er. Anna blickte gar nicht einmal zu ihm hin; aber Darja Alexandrowna hatte wieder die Empfindung, daß es unangemessen sei, ein voraussichtlich nicht kurzes Gespräch über diesen Gegenstand im Wagen zu beginnen, und daher brach sie in der Mitteilung ihres Gedankens ab.
»Ich habe eigentlich gar keine Ansicht darüber«, sagte sie, »aber ich habe dich immer gern gehabt, und wenn man jemand gern hat, so hat man den ganzen Menschen gern, wie er ist, und nicht, wie man möchte, daß er wäre.«
Anna wandte ihren Blick von dem Gesicht ihrer Freundin weg, kniff die Augen zusammen (dies war eine neue Angewohnheit, die Dolly noch nicht an ihr kannte) und dachte nach in dem Bestreben, den Sinn dieser Worte vollständig zu erfassen. Und als ihr dies augenscheinlich nach Wunsch gelungen war, blickte sie Dolly wieder ins Gesicht.
»Wenn du Sünden hast«, sagte sie, »so müssen sie dir alle für deinen Besuch und für diese Worte vergeben werden.«
Und Dolly sah, daß ihr die Tränen in die Augen traten. Schweigend drückte sie Annas Hand.
»Also was sind denn das für Gebäude? Welch eine Menge!« wiederholte sie nach kurzem Stillschweigen ihre Frage.
»Das sind die Häuser der Angestellten, die Fabrik, die Pferdeställe«, antwortete Anna. »Und hier fängt der Park an. All dies war verwahrlost; aber Alexei hat alles wieder instand setzen lassen. Er hat großes Gefallen an diesem Gute und hat, was ich niemals erwartet hätte, leidenschaftliches Interesse für die Landwirtschaft gewonnen. Aber er ist ja auch eine so reich begabte Natur! Was er nur vornimmt, das macht er auch vortrefflich. Weit entfernt, daß er sich hier auf dem Lande langweilen sollte, ist er vielmehr mit einer wahren Leidenschaft tätig. Man erkennt [81] ihn kaum wieder: er ist ein wirtschaftlicher, vortrefflicher Landwirt geworden; er ist in der Landwirtschaft sogar geizig. Aber auch nur in der Landwirtschaft. Da, wo es sich um Zehntausende handelt, rechnet er nicht«, sagte sie mit jenem listigen, frohen Lächeln, mit dem Frauen oft von geheimen, ihnen allein bekannten Eigentümlichkeiten des geliebten Mannes reden. »Siehst du zum Beispiel dieses große Gebäude da? Das ist das neue Krankenhaus. Ich glaube, es wird ihn mehr als hunderttausend Rubel kosten. Das ist jetzt sein Steckenpferd. Und weißt du, wie er darauf gekommen ist, es zu bauen? Die Bauern hatten ihn, glaube ich, gebeten, ihnen die Pacht für die Wiesen zu ermäßigen; aber er hatte es ihnen abgeschlagen, und ich machte ihm den Vorwurf, er sei geizig. Natürlich nicht deshalb allein, aber doch deshalb mit begann er dieses Krankenhaus zu bauen, um zu zeigen, verstehst du, daß er nicht geizig sei. Man kann ja sagen, das wäre kleinlich, aber ich liebe ihn deswegen nur um so mehr. Und nun wirst du gleich unser Haus sehen. Es stammt noch von seinem Großvater her und ist im Äußern unverändert gelassen.«
»Wie schön!« rief Dolly und blickte mit aufrichtiger Bewunderung nach dem prächtigen, säulengeschmückten Gebäude, das aus dem verschiedenfarbigen Grün der alten Bäume des Gartens heraustrat.
»Nicht wahr, es ist schön? Und vom Hause, von oben, hat man eine wundervolle Aussicht.«
Sie fuhren in einen mit Kies bedeckten und mit Gartenanlagen geschmückten Vorhof hinein, wo zwei Arbeiter damit beschäftigt waren, ein umgegrabenes Blumenbeet mit unbearbeiteten porösen Steinen einzufassen, und hielten in der überdachten Anfahrt.
»Ah, sie sind schon da!« sagte Anna, als sie die Reitpferde erblickte, die soeben von der Anfahrt weggeführt wurden. »Nicht wahr, das ist ein schönes Pferd? Es ist ein Doppelpony. Mein Liebling. Führe es hierher, und gebt mir Zucker! Wo ist der Graf?« fragte sie zwei aus dem Hause herbeieilende Diener in Galalivreen. »Ah, da ist er ja!« fuhr sie fort, als sie Wronski und Weslowski erblickte, die aus dem Tor traten, um die Damen zu empfangen.
»Wo werden Sie die Fürstin unterbringen?« fragte Wronski, zu Anna gewendet, auf französisch, und begrüßte dann, ohne die Antwort abzuwarten, noch einmal Darja Alexandrowna, jetzt mit einem Handkuß. »Ich denke, im großen Balkonzimmer?«
»Ach nein! Das ist gar zu abgelegen! Lieber im Eckzimmer; dann sehen wir uns häufiger. Nun, dann komm!« sagte Anna, [82] nachdem sie ihrem Lieblingspferde den Zucker gegeben hatte, den ihr einer der Diener herausgebracht hatte.
»Et vous oubliez votre devoir« 1, wandte sie sich an Weslowski, der gleichfalls vor das Tor herausgetreten war.
»Pardon, j'en ai tout plein les poches« 2, erwiderte er lächelnd, indem er die Finger in die Westentasche steckte.
»Mais vous venez trop tard« 3, versetzte sie und wischte sich mit dem Taschentuch die Hand ab, die ihr das Pferd, als es den Zucker nahm, feucht gemacht hatte.
Anna wandte sich an Dolly: »Bleibst du lange hier? Nur einen Tag? Das ist unmöglich!«
»Ich habe es so versprochen, und die Kinder ...«, antwortete Dolly, die sehr verlegen war, weil sie ihre bescheidene Reisetasche aus dem Kutschwagen nehmen mußte und weil sie wußte, daß ihr Gesicht jedenfalls sehr bestaubt aussah.
»Nein, nein, Dolly, mein Herzchen ... Nun, wir werden ja sehen. Komm, komm!« Und Anna führte Dolly nach dem Zimmer, wo sie wohnen sollte.
Es war nicht das Prunkzimmer, das Wronski in Vorschlag gebracht hatte, sondern eines, für das Anna ihre Freundin erst ausdrücklich um Entschuldigung bat. Aber auch dieses Zimmer war mit einer Verschwendung ausgestattet, wie Dolly sie weder in ihrem Elternhause noch in ihrem eigenen Heim jemals um sich gehabt hatte und die sie an die besten ausländischen Hotels erinnerte.
»Ach, mein Herzchen, wie glücklich ich bin!« sagte Anna, die sich auf einen Augenblick in ihrem Reitkleide neben Dolly gesetzt hatte. »Erzähle mir von deinen Kindern. Stiwa habe ich flüchtig gesehen; aber der versteht nicht von Kindern zu erzählen. Was macht mein Liebling Tanja? Sie ist wohl schon ein großes Mädchen, denke ich.«
»Ja, recht groß«, antwortete Darja Alexandrowna kurz und wunderte sich selbst darüber, daß sie so kühl über ihre Kinder Auskunft gab. »Wir leben sehr hübsch bei Ljewins«, fügte sie hinzu.
»Ja, wenn ich gewußt hätte, daß du mich nicht verachtest ...«, sagte Anna. »Ihr solltet alle zu uns herkommen. Stiwa ist ja ein alter guter Freund von Alexei«, fuhr sie fort und errötete plötzlich.
»Ja, aber wir fühlen uns da so wohl ...«, antwortete Dolly verlegen.
»Freilich, ich rede vor Freude dummes Zeug. Aber ich muß immer wieder sagen, mein Herzchen: wie freue ich mich über deinen Besuch!« sagte Anna und küßte sie noch einmal. »Du hast [83] mir noch nicht gesagt, wie und was du über mich denkst; aber ich will alles wissen. Ich freue mich aber, daß du mich siehst, wie ich wirklich bin. Vor allen Dingen möchte ich nicht, daß die Leute dächten, ich wollte irgend etwas beweisen. Ich will gar nichts beweisen; ich will einfach nur leben, will niemandem Übles tun als mir selbst. Das ist doch mein Recht, nicht wahr? Aber das ist ein Punkt, über den sich viel sagen läßt, und wir wollen über das alles noch in Ruhe miteinander reden. Jetzt gehe ich mich umkleiden und werde dir das Mädchen schicken.«
Als Darja Alexandrowna allein geblieben war, musterte sie mit dem Kennerblick der Hausfrau ihr Zimmer. Alles, was sie beim Vorfahren am Haus und im Hause selbst gesehen hatte und jetzt in ihrem Zimmer sah, machte ihr den Eindruck jenes modernen europäischen Prunkes und Luxus, von dem sie nur in englischen Romanen gelesen, den sie aber noch nie in Rußland und nun gar auf dem Lande gesehen hatte. Alles war hier modern, von den modernen französischen Tapeten bis zum Teppich, der den ganzen Fußboden bedeckte. Das Bett enthielt eine Sprungfedermatratze und ein besonderes Keilkissen; die kleinen Kopfkissen waren mit schwerseidenen Bezügen versehen. Der marmorne Waschtisch, der Frisiertisch, das Ruhebett, die Tischchen, die Bronze-Uhr auf dem Kamin, die Gardinen und Türvorhänge, alles war modern und kostbar.
Die kokette Zofe, die hereinkam, um ihre Dienste anzubieten, trug sich in Frisur und Kleidung moderner als Dolly und sah überhaupt ebenso modern und vornehm aus wie das ganze Zimmer. Darja Alexandrowna fühlte sich angenehm berührt von ihrer Höflichkeit, Sauberkeit und Dienstfertigkeit, hatte aber dabei doch eine unbehagliche Empfindung; sie schämte sich vor ihr wegen ihrer geflickten Nachtjacke, die sie unglücklicherweise gerade diesmal aus Versehen eingepackt hatte. Sie schämte sich wegen eben jener Flicken und gestopften Stellen, auf die sie zu Hause so stolz gewesen war. Zu Hause hatte sie sich gesagt, daß zu einem halben Dutzend Nachtjacken vierundzwanzig Ellen Nansok, die Elle zu fünfundsechzig Kopeken, erforderlich seien, und daß das mehr als fünfzehn Rubel austrage, ohne die Verzierung und ohne Macherlohn; diese fünfzehn Rubel hatte sie gespart. Aber dieser Kammerzofe gegenüber hatte sie, wenn sie sich auch nicht eigentlich richtig vor ihr schämte, doch ein unbehagliches Gefühl.
[84] Darja Alexandrowna empfand eine große Erleichterung, als ihre alte Bekannte Annuschka ins Zimmer trat. Die kokette Zofe wurde zu ihrer gnädigen Frau gerufen, und Annuschka blieb bei Darja Alexandrowna.
Sie war über Darja Alexandrownas Ankunft offenbar sehr erfreut und plauderte unermüdlich. Dolly merkte, daß sie die größte Lust hatte, ihre Ansicht über die Stellung ihrer Herrin auszusprechen und namentlich auch über Wronskis Liebe und Ergebenheit zu ihr; aber Dolly unterbrach sie absichtlich jedesmal, sobald sie davon zu reden anfing.
»Ich bin mit Anna Arkadjewna zusammen aufgewachsen; ich liebe und verehre sie über alles. Na, uns steht es ja nicht zu, darüber zu richten. Und dann liebt er sie auch, glaube ich, so sehr ...«
»Also, bitte, gib das zum Waschen, wenn es möglich ist«, unterbrach sie Darja Alexandrowna.
»Wie Sie befehlen. Bei uns sind für die kleine Wäsche zwei besondere Frauen angestellt, und alle Wäsche wird mit der Maschine gewaschen. Der Graf kümmert sich um alles persönlich. Nein, was das für ein Gatte ist ...«
Dolly war froh, als Anna zu ihr hereinkam und durch ihr Kommen dem Geschwätz Annuschkas ein Ende machte.
Anna hatte sich umgekleidet und trug jetzt ein ganz einfaches Batistkleid. Dolly betrachtete dieses einfache Kleid aufmerksam. Sie wußte, was es mit dieser Einfachheit auf sich hatte und wieviel Geld sie kostete.
»Eine alte Bekannte«, sagte Anna, auf Annuschka weisend.
Anna war jetzt nicht mehr befangen, sondern benahm sich völlig ungezwungen und ruhig. Dolly sah, daß sie sich bereits vollständig von der Erregung erholt hatte, in die sie durch ihre Ankunft versetzt worden war; sie hatte jenen oberflächlichen, gleichgültigen Ton angenommen, bei dem gleichsam die Tür zu der Abteilung, wo sich ihre innersten Gefühle und Gedanken befanden, verschlossen blieb.
»Nun, und was macht dein Töchterchen, Anna?« fragte Dolly.
»Anny?« (so nannte sie ihre Tochter). »Sie ist gesund. Sie hat sich sehr herausgemacht. Möchtest du sie sehen? Komm, ich will sie dir zeigen. Ich habe eine schreckliche Not mit den Wärterinnen gehabt«, erzählte sie. »Wir hatten eine italienische Amme genommen. Sie war ja ganz gut, aber dumm, dumm! Wir wollten sie entlassen; aber das Kind hatte sich so an sie gewöhnt, daß wir sie immer noch bei uns haben.«
»Aber wie habt ihr es denn eingerichtet? ...« begann Dolly und wollte fortfahren: ›Welchen Familiennamen wird das kleine [85] Mädchen führen?‹ Aber da bemerkte sie, daß Annas Gesicht sich auf einmal verfinsterte, und so gab sie denn ihrer Frage schnell eine andere Fortsetzung. »Wie habt ihr es denn eingerichtet? Habt ihr sie schon entwöhnt?«
Aber Anna hatte sie verstanden.
»Du wolltest doch nach etwas anderem fragen? Du wolltest nach ihrem Namen fragen, nicht wahr? Das ist ein Schmerz für Alexei. Sie hat keinen Namen. Das heißt, sie ist eine Karenina«, sagte Anna und kniff die Augen so zu, daß nur die sich zusammenschließenden Wimpern zu sehen waren. »Aber« (ihr Gesicht wurde auf einmal wieder hell) »darüber wollen wir später reden. Komm, ich will sie dir zeigen. Elle est très gentille. 1 Sie kriecht schon.«
Der Luxus, den Darja Alexandrowna schon im ganzen Hause angestaunt hatte, überraschte sie im Kinderzimmer noch mehr. Da waren Wägelchen, die Wronski aus England hatte kommen lassen, und Geräte zum Gehenlernen, und ein eigens zum Kriechen eingerichtetes Polster, wie ein Billard aussehend, und Wiegen, und eigentümliche moderne Badewannen. All das war englisches Erzeugnis, zuverlässig und dauerhaft und augenscheinlich sehr kostspielig. Das Zimmer war groß, sehr hoch und hell.
Als sie eintraten, saß die Kleine im bloßen Hemdkleidchen auf einem Sesselchen am Tische und nahm ihr aus einer Suppe bestehendes Mittagsmahl ein, womit sie sich ihre ganze kleine Brust begossen hatte. Ein russisches Mädchen, das für die Kinderstube angestellt war, fütterte die Kleine und aß offenbar selbst mit ihr zusammen. Weder die italienische Amme noch die englische Wärterin waren anwesend; sie befanden sich im anstoßenden Zimmer, und daher hörte man ihr Gespräch, das in einem seltsamen Französisch geführt wurde, die einzige Art, wie sie sich miteinander verständigen konnten.
Als sie Annas Stimme hörte, trat die Engländerin, eine vornehm gekleidete große Person mit einem unangenehmen Gesicht und wenig vertrauenerweckendem Ausdruck, hastig ihre blonden Locken zurückschüttelnd, in die Tür und begann sich sogleich zu entschuldigen, obwohl ihr Anna gar keinen Vorwurf gemacht hatte. Auf jede Bemerkung Annas antwortete sie eilig ein paarmal hintereinander: »Yes, Mylady.«
Das kleine Mädchen mit seinen schwarzen Augenbrauen und dem dunklen Haar, seiner gesunden Gesichtsfarbe und seinem kräftigen Körperchen mit der rosigen Haut gefiel Darja Alexandrowna sehr, trotz der finsteren Miene, mit der es das ihm neue Gesicht betrachtete; das gesunde Aussehen des Kindes erregte [86] sogar ihren Neid. Auch die Art, wie es kroch, fand Darja Alexandrownas Beifall. Keines ihrer Kinder war so gekrochen. Diese Kleine bot, als sie auf den Teppich gesetzt und ihr hinten das Kleidchen aufgeschürzt war, einen allerliebsten Anblick. Mit ihren glänzenden, schwarzen Augen blickte sie wie ein kleines Tierchen die Erwachsenen an, lächelte und war offenbar über die ihr zuteil werdende Bewunderung erfreut; dann hielt sie die Beine seitwärts, stemmte sich energisch auf die Arme, zog ihren ganzen Hinterkörper flink heran und griff hierauf wieder mit den Ärmchen nach vorn aus.
Aber der allgemeine Ton in der Kinderstube und namentlich die Engländerin erregten Darja Alexandrownas starkes Mißfallen. Nur daraus, daß in eine so gesetzwidrige Familie wie die Annas eine wirklich gute englische Wärterin wohl nicht eingetreten wäre, vermochte Darja Alexandrowna es sich zu erklären, daß Anna bei ihrer Menschenkenntnis eine so unsympathische, wenig ansehnliche Engländerin für ihr Töchterchen hatte nehmen können. Außerdem merkte Darja Alexandrowna sogleich nach ein paar Worten, daß Anna, die Amme, die Wärterin und das Kind keine rechte Fühlung miteinander hatten und daß der Besuch der Mutter hier etwas Ungewöhnliches war. Anna wollte der Kleinen ein bestimmtes Spielzeug reichen, konnte es aber nicht finden.
Das Erstaunlichste aber war, daß Anna bei der Frage, wieviel Zähne die Kleine schon habe, sich irrte und von den beiden letzten Zähnen gar nichts wußte.
»Es ist mir manchmal recht schmerzlich, daß ich hier sozusagen überflüssig bin«, sagte sie, als sie mit Dolly aus dem Kinderzimmer wieder hinausging und ihre Schleppe in die Höhe hob, um an den Spielsachen, die bei der Tür lagen, vorbeizukommen. »Bei dem ersten Kinde war das anders.«
»Ich dachte, im Gegenteil«, erwiderte Darja Alexandrowna schüchtern.
»O nein! Du weißt wohl, ich habe ihn wiedergesehen, meinen Sergei«, sagte Anna und kniff die Augen zu, als ob sie nach etwas weit Entferntem blickte. »Indessen, davon reden wir später noch. Du glaubst gar nicht, es geht mir wie einem Hungernden, dem auf einmal ein reiches Mahl vorgesetzt wird und der nun nicht weiß, wonach er zuerst greifen soll. Das reiche Mahl, das bist du und die Gespräche, die ich mit dir zu führen gedenke und die ich bisher mit niemand führen konnte; und da weiß ich gar nicht, welches Gespräch ich zuerst in Angriff nehmen soll. Mais je ne vous ferai grâce de rien. 2 Ich habe ein Bedürfnis, alles auszusprechen. Ja, ich muß dir doch zunächst[87] eine Skizze der Gesellschaft entwerfen, die du bei uns vorfindest«, begann sie. »Ich fange mit den Damen an. Da ist die Prinzessin Warwara. Du kennst sie, und ich weiß, wie ihr beide, du und Stiwa, über sie denkt. Stiwa sagt immer, Warwaras ganzer Lebenszweck bestehe darin, nachzuweisen, daß sie besser sei als Tante Katerina Pawlowna; das ist ganz richtig; aber sie hat ein gutes Herz, und ich bin ihr sehr dankbar. In Petersburg gab es eine Zeit, wo ich notwendig eine Dame der Gesellschaft zur Freundin haben mußte. Da war sie zur Stelle. Aber sie hat wirklich ein gutes Herz und hat mir meine Stellung wesentlich erleichtert. Ich sehe, daß du die ganze Schwierigkeit meiner Stellung nicht überblickst ... ich meine, dort, in Petersburg«, fügte sie hinzu. »Hier bin ich vollständig ruhig und glücklich. Nun, aber davon später. Ich muß dir doch unsere Gäste weiter aufzählen. Dann kommt Swijaschski; er ist Adelsmarschall und ein sehr verständiger Mensch; aber er hat Alexei nötig. Du verstehst, bei seinem Vermögen kann Alexei jetzt, wo wir auf dem Lande wohnen, einen großen Einfluß ausüben. Ferner Tuschkewitsch; du hast ihn schon gesehen, er verkehrte viel bei Betsy. Jetzt hat man ihn dort abgeschoben, und er ist nun zu uns gekommen. Er ist, wie Alexei zu sagen pflegt, einer von den Menschen, die sehr angenehm sind, wenn man sie für das nimmt, was sie scheinen möchten; et puis, ›il est comme il faut‹ 3, wie die Prinzessin Warwara sagt. Dann Weslowski ... den kennst du. Ein sehr netter junger Mensch«, sagte sie, und ein schelmisches Lächeln spielte dabei um ihre Lippen. »Was ist denn das für eine tolle Geschichte, die er mit Ljewin gehabt hat? Weslowski hat Alexei davon erzählt; aber wir glauben es nicht recht. Il est très gentil et naïf 4«, sagte sie wieder mit demselben Lächeln. »Die Männer müssen Unterhaltung haben, und Alexei braucht ein Publikum; darum ist mir diese ganze Gesellschaft wertvoll. Es muß bei uns lebhaft und heiter zugehen, und Alexei darf nicht dazu kommen, nach etwas Neuem zu verlangen. Ferner wirst du den Verwalter zu sehen bekommen. Er ist ein Deutscher, ein sehr braver Mensch, und versteht seine Sache. Alexei schätzt ihn sehr. Dann der Arzt, ein junger Mensch, nicht eigentlich vollständiger Nihilist, aber, weißt du, er ißt mit dem Messer ... jedoch ein sehr tüchtiger Arzt. Dann der Baumeister ... Une petite cour. 5«
»Nun, Prinzessin, da bringe ich Ihnen auch Dolly, mit der Sie so gern zu reden wünschten«, sagte Anna, als sie mit Darja Alexandrowna auf die große steinerne Terrasse hinaustrat, wo die Prinzessin Warwara im Schatten an einem Stickrahmen saß und an einem Sesselbezug für den Grafen Alexei Kirillowitsch arbeitete. »Sie sagt, sie wolle vor dem Mittagessen nichts genießen; aber lassen Sie nur doch etwas zum Frühstück herbringen, und ich werde unterdessen Alexei suchen und sie alle herholen.«
Die Prinzessin Warwara empfing Dolly freundlich und etwas gönnerhaft und begann ihr sofort auseinanderzusetzen, sie habe sich bei Anna deshalb zu längerem Aufenthalte niedergelassen, weil sie immer eine größere Zuneigung zu ihr gehabt habe als ihre Schwester Katerina Pawlowna (eben die, bei der Anna erzogen worden war); und jetzt, wo sich alle von Anna losgesagt hätten, halte sie es für ihre Pflicht, ihr in dieser besonders schweren Zeit des Überganges behilflich zu sein.
»Sobald ihr Mann in die Scheidung willigt, kehre ich wieder in meine Einsamkeit zurück; aber jetzt kann ich hier nützlich sein und erfülle meine Pflicht, so schwer es mir auch wird; ich mache es eben nicht wie andere Leute. Und wie lieb von dir, daß du hergekommen bist; daran hast du wirklich ein gutes Werk getan! Sie leben völlig wie die besten Ehegatten; Gott wird sie beide richten, uns steht das nicht zu. Und war es etwa nicht dieselbe Sache bei Birjusowski mit Frau Awenjewa ... und auch bei Nikandrow und Frau Mamonowa, und bei Wasiljew und Lisa Neptunowa? Und da hat doch niemand darüber geredet; und das Ende war schließlich, daß sie überall wieder empfangen wurden. Und dann, c'est un intérieur si joli, si comme il faut. Tout à fait à l'anglaise. On se réunit le matin au breakfast et puis on se sépare. 1 Jeder tut bis zum Abendessen, was er will. Abendessen um sieben Uhr. Stiwa hat sehr recht daran getan, daß er dich hergeschickt hat. Er muß zu ihnen halten. Du weißt doch, daß Wronski durch seine Mutter und seinen Bruder alles erreichen kann. Und dann tun sie auch sehr viel Gutes. Hat er dir von seinem Krankenhause erzählt? Ça sera admirable 2 ... es kommt alles aus Paris.«
Das Gespräch der beiden Damen wurde durch Anna unterbrochen, die die Herren alle zusammen im Billardzimmer gefunden hatte und nun mit ihnen auf die Terrasse zurückkehrte. Bis zum Essen war noch viel Zeit, das Wetter war prachtvoll, und daher wurden mehrere Mittel verschiedener Art in Vorschlag[89] gebracht, um die noch übrigen zwei Stunden auszufüllen. Mittel, die Zeit hinzubringen, gab es in Wosdwischenskoje in großer Menge, und sie waren alle von anderer Art als die in Pokrowskoje üblichen.
»Une partie de lawn-tennis? 3« schlug Weslowski mit seinem hübschen Lächeln vor. »Ich spiele wieder mit Ihnen, Anna Arkadjewna.«
»Nein, dazu ist es zu heiß. Wir wollen lieber einen kleinen Spaziergang im Garten machen und dann Kahn fahren; wir müssen doch Darja Alexandrowna unsere Ufer zeigen«, schlug Wronski vor.
»Ich bin mit allem einverstanden«, erklärte Swijaschski.
»Ich denke, es wird Dolly am angenehmsten sein, einen kleinen Spaziergang zu machen, nicht wahr? Und dann können wir ja Kahn fahren«, meinte Anna.
Hierfür entschied man sich. Weslowski und Tuschkewitsch gingen nach dem Badehäuschen und versprachen, dort den Kahn in Bereitschaft zu setzen und auf die übrigen zu warten.
Sie gingen in zwei Paaren auf einem Gartenwege: Anna mit Swijaschski und Dolly mit Wronski. Dolly war etwas verlegen und befangen infolge der ihr völlig neuen Umwelt, in die sie hineingeraten war. Vom Standpunkt allgemeinerer Betrachtung aus entschuldigte sie Annas Handlungsweise nicht nur, sondern billigte sie sogar. Wie das Frauen von tadelloser Sittlichkeit, durch die Einförmigkeit des sittlichen Lebens ermüdet, überhaupt nicht selten tun, hatte sie aus der Entfernung nicht nur nachsichtig über die verbrecherische Liebe geurteilt, sondern sogar einen gewissen Neid empfunden. Außerdem war sie ihrer Schwägerin Anna von ganzem Herzen zugetan. Aber als sie sie nun im wirklichen Leben inmitten dieser ihr fremden Menschen erblickte, die sich eines ihr neuen gesellschaftlichen Tones bedienten, da wurde ihr denn doch unbehaglich zumute. Besonders unangenehm war es ihr, zu sehen, wie die Prinzessin Warwara zum Dank für die wirtschaftlichen Vorteile, die sie genoß, den beiden alles verzieh.
Und wenn Dolly auch im allgemeinen, theoretisch, Annas Handlungsweise billigte, so war es ihr doch unangenehm, den Mann zu sehen, um dessentwillen sie so gehandelt hatte. Außerdem hatte Wronski ihr niemals gefallen. Sie hielt ihn für sehr stolz und sah doch an ihm nichts, worauf er hätte stolz sein dürfen, mit Ausnahme seines Reichtums. Aber gegen ihren Willen machte er Eindruck auf sie, hier bei sich zu Hause, mehr als früher, und sie vermochte in seiner Gesellschaft nicht unbefangen zu sein. Sie hatte vor ihm eine ähnliche Empfindung wie vor der [90] Kammerjungfer wegen der Nachtjacke. Wie sie sich bei der Kammerjungfer wegen der geflickten Nachtjacke zwar nicht eigentlich geschämt, aber doch unbehaglich gefühlt hatte, so bei Wronski wegen ihres eigenen Ich.
Dolly suchte in ihrer Verlegenheit nach einem Gesprächsstoff. Sie glaubte zwar, daß ihm bei seinem Stolz ein Lob seines Hauses und Gartens unangenehm sein werde; aber da sie keinen anderen Gegenstand fand, so sagte sie doch zu ihm, sein Haus habe ihr sehr gefallen.
»Ja, es ist ein sehr schönes Gebäude, und in gutem altem Stil«, antwortete er.
»Besonders hat mir der Hof vor dem Tor gefallen. War der von jeher so?«
»O nein«, erwiderte er, und sein Gesicht leuchtete auf vor Freude. »Wenn Sie diesen Hof in diesem Frühjahr gesehen hätten!«
Und er begann, zuerst mit einer gewissen Zurückhaltung, aber dann immer mehr und mehr von seinem Gegenstand hingerissen, sie auf allerlei Einzelheiten in der Ausschmückung des Hauses und des Gartens aufmerksam zu machen. Es war deutlich, daß Wronski, nachdem er soviel Mühe auf die Verbesserung und Verschönerung seines Landsitzes verwendet hatte, nun auch das Bedürfnis empfand, sich einer neuen Persönlichkeit gegenüber des Erreichten zu rühmen; er freute sich von Herzen über Darja Alexandrownas Lobsprüche.
»Wenn Sie Lust haben, sich das Krankenhaus anzusehen, und nicht zu müde sind – es ist nicht weit. Wollen wir hingehen?« fragte er und blickte ihr ins Gesicht, wie um sich zu überzeugen, daß es ihr auch wirklich nicht zuwider sei.
»Kommst du auch mit, Anna?« wandte er sich an diese.
»Wir wollen auch mitgehen, nicht wahr?« sagte sie zu Swijaschski. »Mais il ne faut pas laisser le pauvre Weslowski et Tuschkewitsch se morfondre là dans le bateau. 4 Wir müssen hinschicken und es ihnen sagen lassen. – Ja, das ist ein Denkmal, das er sich hier selbst errichtet«, sagte Anna, zu Dolly gewendet, mit eben jenem listigen, verständnisfrohen Lächeln, mit dem sie schon vorher von dem Krankenhause gesprochen hatte.
»Ja, es ist etwas Großartiges!« sagte Swijaschski. Aber um den Schein zu vermeiden, als wolle er sich bei Wronski einschmeicheln, fügte er sogleich eine Bemerkung hinzu, die einen leisen Tadel enthielt. »Ich wundere mich nur, Graf«, sagte er, »daß Sie, während Sie in gesundheitlicher Hinsicht so viel für das Volk tun, für die Schulen so wenig übrig haben.«
»C'est devenu tellement commun, les écoles« 5, erwiderte [91] Wronski. »Sie verstehen: natürlich baue ich das Krankenhaus nicht von diesem Gesichtspunkte aus, sondern einfach, weil ich mich einmal dafür begeistert habe. Also nach dem Krankenhaus müssen wir hier gehen«, wandte er sich an Darja Alexandrowna und wies auf einen von der Allee abzweigenden Seitenweg.
Die Damen öffneten die Sonnenschirme und bogen in den Seitenweg ein. Nachdem sie einigen Windungen des Weges gefolgt und aus einem Pförtchen hinausgetreten waren, erblickte Darja Alexandrowna vor sich auf einer kleinen Anhöhe ein großes rotes, schon fast vollendetes Gebäude von eigentümlicher Form. Das noch nicht angestrichene Blechdach glänzte blendend im hellen Sonnenlichte. Neben dem fast fertigen Gebäude wurde noch ein anderes, gebaut, das noch von Gerüsten umgeben war, und Maurergesellen in Schürzen standen auf den Gerüstbrettern und legten die Ziegelsteine, übergössen das Mauerwerk aus ihren Schöpfeimern mit Kalklösung und brachten es mit dem Richtscheit ins Lot.
»Wie schnell die Arbeit bei Ihnen fortschreitet!« sagte Swijaschski. »Als ich das letztemal hier war, war noch kein Dach darauf.«
»Zum Herbst wird alles fertig sein. Innen ist schon fast alles eingerichtet«, sagte Anna.
»Was wird denn das für ein neues Gebäude?«
»Da kommt die Apotheke und die Wohnung für den Arzt hinein«, antwortete Wronski. Da er sah, daß der Baumeister, in kurzem Überzieher, auf ihn zukam, entschuldigte er sich bei den Damen und ging ihm entgegen.
Er umging die Kalkgrube, aus der die Arbeiter Kalk entnahmen, blieb mit dem Baumeister stehen und sprach eifrig mit ihm.
»Der Giebel sitzt immer noch zu niedrig«, antwortete er auf Annas Frage, worum es sich handle.
»Ich habe gleich gesagt, die Grundmauer müßte höher angelegt werden«, sagte Anna.
»Ja, natürlich, das wäre das beste gewesen, Anna Arkadjewna«, versetzte der Baumeister. »Aber das ist nun einmal unterlassen.«
»Ja, ich beschäftige mich sehr mit diesem Bau«, sagte Anna zu Swijaschski, der sein Erstaunen über ihre Kenntnisse vom Bauwesen ausdrückte. »Das neue Gebäude sollte ja eigentlich in der ganzen Bauart dem Krankenhause entsprechen. Aber der Entschluß, es zu bauen, wurde erst nachträglich gefaßt, und der Bau ist dann ohne rechten Plan begonnen worden.«
[92] Als Wronski sein Gespräch mit dem Baumeister beendet hatte, gesellte er sich wieder zu den Damen und führte sie in das Krankenhaus hinein.
Obwohl außen noch an den Gesimsen gearbeitet wurde und im unteren Stockwerk noch die Maler tätig waren, war im oberen Stockwerk beinahe schon alles in Ordnung gebracht. Sie stiegen eine breite, gußeiserne Treppe hinan, betraten einen Vorplatz und gelangten von dort in das erste große Zimmer. Die Wände waren mit marmorähnlichem Stuck bekleidet, die Fenster, die aus je einer Scheibe von gewaltiger Größe bestanden, schon eingesetzt, nur der Parkettfußboden war noch nicht fertig, und die Tischler, die ein etwas zu hohes Quadrat behobelten, unterbrachen ihre Arbeit, um die Bänder, mit denen sie sich die Haare aufgebunden hatten, abzunehmen und die Herrschaften zu begrüßen.
»Dies ist das Empfangszimmer«, bemerkte Wronski erklärend. »Hier kommt ein Pult, ein Tisch und ein Schrank hinein, weiter nichts.«
»Bitte hierher; wir wollen hier weitergehen. Geh nicht zu nah ans Fenster, Dolly«, sagte Anna und versuchte, ob die Farbe schon trocken sei. »Alexei, die Farbe ist schon trocken«, fügte sie hinzu.
Aus dem Empfangszimmer begaben sie sich auf den Flur. Hier zeigte ihnen Wronski die Entlüftungseinrichtung neuester Art, die er hatte anbringen lassen. Dann zeigte er die Marmorwannen und die mit eigenartigen Sprungfedern versehenen Betten. Darauf zeigte er einen Krankensaal nach dem andern, die Vorratskammer, die Wäschestube, dann die Öfen neuester Bauart, dann Schiebewagen, auf denen sich alles Erforderliche auf dem Flur geräuschlos befördern ließ, und vieles andere. Swijaschski, als Sachkundiger auf allen Gebieten neuerer Vervollkommnungen, sprach über alles sein Urteil aus. Dolly war geradezu starr vor Staunen über alle diese ihr bisher völlig unbekannten Dinge und erkundigte sich, in dem Wunsche, alles zu verstehen, eingehend nach allem bei Wronski, dem ihre Anteilnahme sichtlich Freude bereitete.
»Ja, ich glaube, das wird in Rußland das einzige völlig tadellos eingerichtete Krankenhaus sein«, äußerte Swijaschski.
»Wird bei Ihnen nicht eine Abteilung für Wöchnerinnen vorhanden sein?« fragte Dolly. »Das ist auf dem Lande ein so dringendes Bedürfnis. Ich habe oft ...«
Trotz seiner Höflichkeit unterbrach Wronski sie.
»Es ist keine Entbindungsanstalt, sondern ein Krankenhaus und für alle Krankheiten mit Ausnahme der ansteckenden bestimmt«, [93] sagte er. »Aber sehen Sie sich, bitte, einmal dies hier an!« Er rollte einen Fahrstuhl für Genesende, den er erst kürzlich hatte kommen lassen, zu Darja Alexandrowna heran. »Sehen Sie nur!« Er setzte sich in den Stuhl und begann ihn zu bewegen. »Nehmen wir den Fall: ein Kranker kann nicht gehen, er ist noch zu schwach oder fußkrank, braucht aber frische Luft; dann fährt er sich eben und macht auf diese Weise eine Spazierfahrt ...«
Darja Alexandrowna interessierte sich für alles, und alles gefiel ihr außerordentlich; am allermeisten aber gefiel ihr Wronski selbst mit seiner unverstellten, knabenhaften Begeisterung. ›Ja, er ist ein liebenswürdiger, guter Mensch‹, dachte sie mehrmals, während sie nicht auf das hörte, was er sagte, sondern ihn ansah und seinen Gesichtsausdruck prüfte und sich in Gedanken an Annas Stelle versetzte. Er gefiel ihr jetzt in seiner Lebhaftigkeit so sehr, daß es ihr verständlich wurde, wie Anna sich in ihn hatte verlieben können.
1 (frz.) das ist ein so reizendes Familienleben, so wie es sich gehört. Ganz und gar wie bei den Engländern. Man versammelt sich morgens zum Frühstück und geht dann auseinander.
2 (frz.) Das wird vortrefflich werden.
3 (frz.) Eine Partie Rasentennis.
4 (frz.) Aber wir dürfen den armen Weslowski und Tuschkewitsch dort in dem Kahn nicht so lange warten lassen.
5 (frz.) Schulen sind dermaßen üblich geworden.
»Nein, ich glaube, die Fürstin wird müde sein, und die Pferde interessieren sie auch wohl nicht«, sagte Wronski zu Anna, die den Vorschlag gemacht hatte, nach dem Gestüt zu gehen, wo Swijaschski gern einen neuen Hengst sehen wollte. »Geht ihr beide nur hin; ich begleite die Fürstin nach Hause, und wir plaudern ein bißchen miteinander – wenn es Ihnen angenehm ist?« fügte er, zu Darja Alexandrowna gewendet, hinzu.
»Von Pferden verstehe ich allerdings nichts, und es wird mir eine große Freude sein«, erwiderte sie einigermaßen verwundert.
Sie merkte an Wronskis Gesicht, daß er etwas von ihr wollte. Sie hatte sich nicht geirrt. Sobald sie durch das Pförtchen wieder in den Garten getreten waren, blickte er nach der Richtung, wohin Anna gegangen war, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie ihn und seine Begleiterin nicht mehr hören und sehen konnte, begann er:
»Sie haben gewiß erraten, daß mir daran lag, mit Ihnen zu reden.« Er sah sie mit lachenden Augen an. »Ich bin überzeugt, daß Sie wirklich Annas Freundin sind.« Er nahm den Hut ab, zog das Taschentuch hervor und fuhr sich damit über den schon recht kahlen Kopf.
Darja Alexandrowna antwortete nichts und sah ihn nur erschrocken an. Jetzt, wo sie mit ihm allein war, wurde ihr plötzlich bange zumute: seine lachenden Augen und dabei der ernste Ausdruck seines Gesichtes ängstigten sie.
[94] Die verschiedenartigsten Vermutungen über das, was er wohl mit ihr zu besprechen vorhabe, gingen ihr in der Geschwindigkeit durch den Kopf. ›Er wird mich einladen, mit den Kindern zu längerem Besuche zu ihnen hierherzukommen, und ich werde es ihm abschlagen müssen; oder er wird mich bitten, für Anna in Moskau einen gesellschaftlichen Verkehr zu schaffen ... Oder will er von Wasenka Weslowski und seinem Verhältnis zu Anna reden? Oder vielleicht von Kitty, daß er sich ihr gegenüber schuldig fühlt?‹ Ihre Mutmaßungen gingen nur auf Unangenehmes; aber das, worüber er mit ihr sprechen wollte, erriet sie nicht.
»Sie haben einen so großen Einfluß auf Anna, und sie liebt Sie so von Herzen«, sagte er; »helfen Sie mir!«
Darja Alexandrowna blickte schüchtern fragend in sein energisches Gesicht, das in der schattigen Lindenallee bald ganz, bald teilweise in das Licht der durch das Laub dringenden Sonnenstrahlen trat, bald wieder von den Schatten verdunkelt wurde, und wartete, was er weiter sagen werde; aber er ging schweigend neben ihr her und ließ seinen Spazierstock über den Kies hinschleifen.
»Da Sie zu uns gekommen sind, Sie als die einzige von Annas früheren Freundinnen (die Prinzessin Warwara zähle ich nicht mit), so verstehe ich sehr wohl, daß Sie das nicht etwa getan haben, weil Ihnen unsere Lage als eine normale erschiene, sondern weil Sie, bei voller Erkenntnis der ganzen Peinlichkeit dieser Lage, Anna doch noch liebhaben und ihr helfen wollen. Habe ich Sie richtig verstanden?« fragte er, indem er sie anblickte.
»Ja, gewiß«, erwiderte Darja Alexandrowna und machte ihren Sonnenschirm zu. »Aber ...«
»Glauben Sie«, unterbrach er sie und blieb unwillkürlich stehen; er vergaß völlig, daß er dadurch seine Begleiterin in eine wunderliche Lage brachte und sie nun gleichfalls stehenbleiben mußte, »niemand empfindet mehr und stärker als ich die ganze Peinlichkeit der Lage Annas. Und das ist ja auch begreiflich, wenn anders Sie mir die Ehre erweisen, mich für einen Mann zu halten, der ein Herz in der Brust hat. Ich bin an dieser Lage schuld, und daher empfinde ich sie so schwer.«
»Ich verstehe das«, erwiderte Darja Alexandrowna, die ihn unwillkürlich bewunderte, mit welcher Offenheit und Festigkeit er das aussprach. »Aber ebendeshalb, weil Sie die Empfindung haben, daß Sie daran schuld sind, übertreiben Sie, möchte ich meinen. Daß Annas Stellung in der Gesellschaft peinlich ist, weiß ich allerdings.«
[95] »Die Gesellschaft ist für sie geradezu eine Hölle!« sagte er schnell mit finsterem Gesicht. »Man kann sich keine ärgeren Seelenqualen vorstellen als die, die sie in Petersburg während jener zwei Wochen hat durchmachen müssen. Davon wollen Sie überzeugt sein.«
»Ja, aber hier, solange weder Anna noch Sie nach der Gesellschaft Verlangen tragen ...«
»Nach der Gesellschaft!« rief er verächtlich. »Wie kann ich nach der Gesellschaft Verlangen tragen?«
»Solange (und vielleicht bleibt das immer so) sind Sie ja doch glücklich und ruhig. Ich merke es Anna an, daß sie glücklich, vollkommen glücklich ist, und sie hat es mir gegenüber auch schon selbst ausgesprochen«, sagte Darja Alexandrowna lächelnd; aber gerade während sie das sagte, begann sie zu zweifeln, ob Anna auch wohl wirklich glücklich sei.
Aber Wronski, wie es schien, zweifelte daran nicht.
»Ja, ja«, versetzte er. »Ich weiß, daß sie nach allen ihren Leiden hier wieder aufgelebt ist; sie ist glücklich. Sie ist glücklich über den gegenwärtigen Zustand. Aber ich? ... ich fürchte das, was uns in der Zukunft erwartet ... Verzeihung, Sie möchten weitergehen?«
»Nicht doch, es ist mir ganz gleich.«
»Nun, dann setzen wir uns hier.«
Darja Alexandrowna setzte sich auf eine Gartenbank in einem Winkel der Allee. Wronski blieb vor ihr stehen.
»Ich sehe, daß sie glücklich ist«, sagte er noch einmal, und der Zweifel, ob sie auch wirklich glücklich ist, regte sich bei Darja Alexandrowna noch stärker. »Aber kann das so fortdauern? Ob wir gut oder schlecht gehandelt haben, ist eine andere Frage; aber der Würfel ist geworfen« (hier ging er vom Russischen zum Französischen über), »und wir sind für das ganze Leben miteinander verbunden. Wir sind vereint durch die heiligsten Bande, die es für uns gibt, durch die Bande der Liebe. Wir haben ein Kind; es können uns noch mehr Kinder geboren werden. Aber das Gesetz und die gesamte Beschaffenheit unserer Lage bringen es mit sich, daß tausend Verwicklungen und Schwierigkeiten eintreten können, die sie jetzt, wo sie sich nach all den Leiden und Prüfungen seelisch erholt, nicht sieht und nicht sehen kann. Und das ist durchaus begreiflich. Ich aber kann gegen diese Schwierigkeiten und Verwicklungen nicht blind sein. Meine Tochter ist dem Gesetze nach nicht meine Tochter, sondern eine Karenina. Ich will diesen Betrug nicht!« rief er mit einer energisch zurückweisenden Handbewegung und richtete einen finster fragenden Blick auf Darja Alexandrowna.
[96] Sie antwortete nicht und sah ihn nur an. Er fuhr fort:
»Wenn mir ein Sohn geboren werden sollte, so ist er nach dem Gesetze ein Karenin und kann weder meinen Namen noch mein Vermögen erben; und mögen wir ein noch so glückliches Familienleben führen und noch so viele Kinder haben, so wird doch zwischen mir und ihnen kein gesetzliches Band bestehen; sie führen den Familiennamen Karenin. Stellen Sie sich nur vor, wie drückend und entsetzlich diese Lage ist! Ich habe versucht, mit Anna darüber zu reden. Aber es regt sie zu sehr auf. Sie hat kein volles Verständnis dafür, und gerade ihr gegenüber kann ich nicht alles aussprechen. Betrachten Sie, bitte, die Sache jetzt auch noch von einer andern Seite. Ich bin glücklich, glücklich durch ihre Liebe; aber ich muß eine Tätigkeit haben. Eine solche Tätigkeit habe ich gefunden und bin stolz auf diese Tätigkeit und halte sie für achtenswerter als die Tätigkeit meiner früheren Kameraden bei Hofe und im Militärdienste. Und ich würde zweifellos nicht mehr mit ihnen tauschen mögen. Ich arbeite hier ruhig auf meinem Grund und Boden und bin glücklich und zufrieden, und wir haben weiter nichts zu unserm Glücke nötig. Diese Tätigkeit sagt mir durchaus zu. Cela n'est pas un pis- aller 1, ganz im Gegenteil ...«
Darja Alexandrowna merkte, daß er in diesem Teil seiner Auseinandersetzung nicht geradlinig blieb, und begriff nicht recht den Grund seiner Abschweifung; aber sie hatte die Empfindung, da er nun einmal angefangen habe, von seinen innersten Regungen zu reden, von denen er mit Anna nicht sprechen konnte, so wolle er sich jetzt auch alles vom Herzen reden, und die Angelegenheit seiner Tätigkeit auf dem Gute befinde sich in demselben Schubfach der geheimen Gedanken wie die Angelegenheit seines Verhältnisses zu Anna.
»Also ich fahre fort«, sagte er, seine Gedanken sammelnd. »Die Hauptsache ist doch, daß man bei seiner Arbeit die Sicherheit hat, daß das, was man gewirkt hat, nicht mit einem stirbt, sondern von Erben übernommen wird – und das ist eben bei mir nicht der Fall. Versetzen Sie sich in die Lage eines Mannes, der vorher weiß, daß die Kinder, die ihm die geliebte Frau gebiert, nicht ihm gehören werden, sondern einem anderen, einem, der sie haßt und von ihnen nichts wissen will. Ist das nicht entsetzlich?«
Er schwieg, augenscheinlich in heftiger Erregung.
»Ja, gewiß, ich verstehe das durchaus. Aber was kann dabei Anna tun?« fragte Darja Alexandrowna.
»Ja, das bringt mich auf den Zweck, den ich bei diesem Gespräch im Auge hatte«, sagte er, indem er sich mit Gewalt zwang, ruhig zu sein. »Anna hat es in der Hand; es hängt von [97] ihr ab ... Sogar um beim Kaiser die Erlaubnis zur Adoption des Kindes nachzusuchen, ist die Ehescheidung die unerläßliche Vorbedingung. Und die Scheidung hängt von Anna ab. Annas Mann war mit der Scheidung einverstanden; ihr Gemahl hatte damals die Sache so gut wie erledigt. Und auch jetzt würde er sich nicht weigern, das weiß ich. Es ist weiter nichts nötig, als daß er schriftlich darum ersucht wird. Er hatte damals geradezu erklärt, er werde sich nicht weigern, wenn sie den Wunsch ausdrücken sollte. Natürlich«, sagte er mit finsterer Miene, »ist das weiter nichts als eine jener pharisäischen Grausamkeiten, deren nur solche herzlose Menschen fähig sind. Er weiß, welche Qualen ihr jede Erinnerung an ihn bereitet, und eben weil er Anna kennt, verlangt er von ihr einen solchen Brief. Ich fühle ihr nach, daß das eine Qual für sie ist. Aber die Gründe, die für die Abfassung des Briefes in die Waagschale fallen, sind so schwerwiegend, daß es notwendig wird passer par-dessus toutes ces finesses de sentiment. Il y va du bonheur et de l'existence d'Anne et de ses enfants. 2 Von mir will ich dabei nicht reden, obgleich auch ich schwer daran zu tragen habe, sehr schwer.« Das klang fast, als drohe er jemandem eine Strafe dafür an, daß er so schwer zu tragen habe. »Und darum, Fürstin, greife ich ohne falsche Scham nach Ihrer helfenden Hand wie nach einem Rettungsanker. Helfen Sie mir Anna überreden, daß sie an ihn schreibt und die Scheidung verlangt!«
»Ja, natürlich«, antwortete Darja Alexandrowna nachdenklich und erinnerte sich lebhaft an ihr letztes Zusammensein mit Alexei Alexandrowitsch. »Ja, natürlich«, sagte sie noch einmal in entschiedenem Tone, als ihr das Bild Annas vor die Seele trat.
»Versuchen Sie, was Sie über sie vermögen; veranlassen Sie sie, den Brief zu schreiben. Ich mag nicht mit ihr davon sprechen, ja, ich kann es kaum.«
»Gut, ich will mit ihr reden. Aber wie geht es nur zu, daß sie nicht von selbst auf diesen Gedanken kommt?« fragte Darja Alexandrowna, und während sie das sagte, mußte sie infolge einer unklaren Gedankenverbindung an Annas neue Angewohnheit denken, die Augen zusammenzukneifen. Und es fiel ihr ein, daß Anna gerade dann die Augen zusammenkniff, wenn das Gespräch die innersten Lebensfragen berührte. ›Gerade wie wenn sie die Augen vor ihrem eigenen Leben zukniffe, um nicht alles zu sehen‹, dachte Dolly.
»Sie können sich darauf verlassen, ich werde um ihretwillen und um meiner selbst willen mit ihr sprechen«, antwortete sie auf seine Dankbarkeitsversicherung.
Sie standen auf und gingen zum Hause.
Als Anna Dolly schon zu Hause fand, blickte sie ihr forschend in die Augen, wie wenn sie nach dem Gespräch fragen wollte, das Dolly mit Wronski geführt hatte; aber mit Worten fragte sie nicht danach.
»Ich glaube, es ist schon Zeit zum Abendessen«, sagte sie. »Wir haben uns eigentlich noch gar nicht recht gesehen. Ich rechne aber auf den Abend. Jetzt muß ich mich umkleiden gehen. Ich denke mir, du wirst das auch wollen. Wir haben uns alle bei dem Neubau schmutzig gemacht.«
Dolly ging in ihr Zimmer und mußte beinahe über sich selbst lachen. Sich umzukleiden, dazu hatte sie keine Möglichkeit, da sie schon ihr bestes Kleid auf dem Leibe hatte; aber um wenigstens irgendwie anzudeuten, daß sie sich zum Essen anders kleide, ersuchte sie die Kammerjungfer, ihr das Kleid zu säubern, wechselte die Ärmelaufschläge und die Vorsteckschleife und legte sich ein Spitzentuch über den Kopf.
»Das ist alles, was ich tun konnte«, sagte sie lächelnd zu Anna, die in einem dritten, wieder außerordentlich einfachen Kleide zu ihr ins Zimmer trat.
»Ja, wir sind hier gar zu sehr in das Formenwesen hineingeraten«, versetzte sie, als wollte sie sich wegen ihres Aufwandes entschuldigen. »Alexei freut sich über deinen Besuch so herzlich, wie er sich selten über etwas freut. Er ist entschieden in dich verliebt«, fügte sie hinzu. »Aber bist du auch nicht müde?«
Vor dem Essen war keine Zeit mehr, über irgend etwas zu sprechen. Als sie in den Salon traten, fanden sie dort bereits die Prinzessin Warwara und die Herren vor, diese im schwarzen Oberrock. Der Baumeister war im Frack. Wronski stellte der Neuangekommenen den Arzt und den Verwalter vor. Mit dem Baumeister hatte er sie schon im Krankenhause bekannt gemacht.
Der dicke Haushofmeister, der mit seinem runden, glattrasierten Gesicht und mit seiner steifgestärkten weißen Schleife einen gewichtigen Eindruck machte, meldete, daß aufgetragen sei, und die Damen erhoben sich. Wronski bat Swijaschski, seinen Arm Anna Arkadjewna zu reichen; er selbst trat zu Dolly. Weslowski bot, dem nicht so flinken Tuschkewitsch zuvorkommend, der Prinzessin Warwara den Arm, so daß Tuschkewitsch, der Verwalter, der Baumeister und der Arzt keine Damen zu führen hatten.
Das Diner stand, was den Speisesaal, das Geschirr, die Bedienung, die Weine und Speisen anlangte, nicht nur mit dem [99] gesamten in diesem Hause herrschenden modernen Luxus im Einklang, sondern schien sogar noch verschwenderischer und moderner zu sein als das übrige. Darja Alexandrowna achtete aufmerksam auf diesen ihr neuen Luxus, und obgleich sie nicht hoffen konnte, jemals etwas von all dem hier Gesehenen bei sich zu Hause zur Anwendung zu bringen (so hoch stand dies alles in seiner Kostspieligkeit über dem Zuschnitte ihres eigenen Lebens), so suchte sie doch unwillkürlich als Hausfrau, die eine Wirtschaft leitete, alle Einzelheiten zu ergründen und legte sich die Frage vor, wer wohl all das in Ordnung halte und wie er das anstelle. Wasenka Weslowski und ihr Mann und sogar Swijaschski und viele Leute, die sie kannte, dachten darüber niemals nach und glaubten ohne weiteres, was jeder ordentliche Hausherr seine Gäste glauben machen möchte: daß alles, was bei ihm so schön eingerichtet sei, ihn, den Hausherrn, keinerlei Mühe gekostet, sondern sich ganz von selbst gemacht habe. Darja Alexandrowna dagegen wußte, daß von selbst nicht einmal der Frühstücksbrei der Kinder zustande kommt und daß man daher bei einem so vielseitigen, prächtigen Haushalt eine hochgesteigerte Umsichtigkeit von irgend jemand voraussetzen müsse. Und an dem Blicke, mit dem Wronski den Tisch überschaute, und an dem Zeichen, das er dem Haushofmeister durch ein Kopfnicken gab, und daran, wie er ihr, Darja Alexandrowna, die Wahl zwischen kalter Kräutersuppe und Fleischbrühe ließ, erkannte sie, daß hier alles durch die eigene Bemühung des Hausherrn angeordnet und in Gang erhalten werde. Von Anna hing das alles nicht in höherem Grade ab als von Weslowski. Sie und Swijaschski und die Prinzessin und Weslowski waren in gleicher Weise Gäste, die fröhlich genossen, was ihnen dargeboten wurde.
Die Stellung der Hausfrau nahm Anna nur insofern ein, als sie das Gespräch leitete. Und dieser Aufgabe, die für die Hausfrau ihre Schwierigkeit hatte bei der geringen Größe der Tafelrunde, bei Tischgenossen, wie es der Verwalter, der Arzt und der Baumeister waren, Leuten aus einer ganz anderen gesellschaftlichen Schicht, die sich alle Mühe gaben, inmitten dieses ungewohnten Luxus nicht verlegen zu scheinen, und nicht imstande waren, sich an dem allgemeinen Gespräch längere Zeit zu beteiligen – dieser schweren Aufgabe, die Unterhaltung zu leiten, entledigte sich Anna mit dem ihr eigenen Taktgefühl, in durchaus ungezwungener Weise und, wie Darja Alexandrowna zu bemerken glaubte, sogar mit einem gewissen Vergnügen.
Das Gespräch handelte zunächst davon, wie Tuschkewitsch und Weslowski miteinander allein Kahn gefahren waren, und [100] dann erzählte Tuschkewitsch von der letzten Regatta des Jachtklubs in Petersburg.
Aber Anna, die eine kleine Pause abgewartet hatte, wandte sich an den Baumeister, um ihn aus seiner Schweigsamkeit herauszureißen.
»Nikolai Iwanowitsch war überrascht«, sagte sie mit Bezug auf Swijaschski, »wie das neue Gebäude gewachsen ist, seit er zum letzten Male hier war; aber ich selbst komme jeden Tag hin und wundere mich jeden Tag, wie schnell es geht.«
»Mit Seiner Erlaucht läßt sich gut arbeiten«, antwortete der Baumeister lächelnd; er war ein sehr höflicher, ruhiger Mann, von dem Bewußtsein seines eigenen Wertes erfüllt. »Das ist eine andere Sache, wie wenn man mit den Behörden zu tun hat. Wo man im Verkehr mit denen ein Ries Papier vollschreibt, da berichte ich dem Grafen einfach mündlich, wir besprechen die Sache, und in wenigen Worten ist sie erledigt.«
»Amerikanisches Verfahren«, bemerkte Swijaschski lächelnd.
»Jawohl, dort baut man wirtschaftlich ...«
Das Gespräch ging nun zum Mißbrauch der Amtsgewalt in den Vereinigten Staaten über; aber Anna brachte es schleunigst auf ein anderes Gebiet, um auch den Verwalter zum Mitreden zu veranlassen.
»Hast du schon einmal Mähmaschinen gesehen?« wandte sie sich an Darja Alexandrowna. »Wir waren gerade hingeritten, um sie zu besehen, als wir dich trafen. Ich selbst habe sie zum ersten Male gesehen.«
»Wie arbeiten die denn?« fragte Dolly.
»Ganz wie eine Schere. Es ist ein Brett und viele kleine Scheren. Sieh mal, so!«
Anna ergriff mit ihren schönen, weißen, mit Ringen geschmückten Händen ein Messer und eine Gabel und versuchte es zu erklären. Sie war offenbar selbst der Meinung, daß aus ihrer Erläuterung sich niemand einen Begriff von der Sache machen konnte; aber da sie wußte, daß sie hübsch sprach und schöne Hände hatte, so fuhr sie in ihrer Auseinandersetzung fort.
»Die Schneiden haben eigentlich mehr Ähnlichkeit mit Federmessern«, meinte scherzend Weslowski, der kein Auge von ihr ließ.
Anna lächelte ganz leise, gab ihm aber keine Antwort. »Nicht wahr, Karl Fedorowitsch, sie haben doch Ähnlichkeit mit Scheren?« wandte sie sich an den Verwalter.
»O ja«, antwortete dieser, ein Deutscher, in seiner Muttersprache. »Es ist eine ganz einfache Sache ...« Und er begann den Bau der Maschine zu erläutern.
[101] »Schade, daß sie nicht gleich auch bindet. Ich habe auf der Wiener Ausstellung eine gesehen, die mit Drahtband«, sagte Swijaschski. »Solche wären noch vorteilhafter.«
»Es kommt drauf an ... Man müßte den Preis des Drahtes ausrechnen«, sagte der Deutsche. Aus seiner Schweigsamkeit aufgerüttelt, wandte er sich an Wronski: »Das läßt sich ausrechnen, Erlaucht.« Der Deutsche wollte schon in die Tasche greifen, wo er einen Bleistift in dem Notizbuch stecken hatte, in dem er sich alles auszurechnen pflegte; aber da er sich besann, daß er bei Tische saß, und Wronskis kalten Blick bemerkte, unterließ er es. »Es ist zu umständlich, macht zuviel Klopot«, schloß er, die beiden Sprachen vermengend.
»Wünscht man Dochots 1, so hat man auch Klopots 2«, bemerkte, gleichfalls halb deutsch, halb russisch, Wasenka Weslowski, um den Deutschen zu foppen. »J'adore l'allemand« 3, wandte er sich wieder mit demselben Lächeln zu Anna.
»Cessez« 4, sagte sie zu ihm in einem aus Scherz und Ernst gemischten Ton.
»Wir hatten gedacht, Sie auf dem Felde zu treffen, Wasili Semjonowitsch«, wandte sie sich an den Arzt, einen kränklichen Menschen. »Waren Sie nicht dort?«
»Ich bin dort gewesen, aber ich habe mich verflüchtigt«, antwortete der Arzt mit mürrischer Scherzhaftigkeit.
»Da haben Sie sich ja gute Bewegung gemacht.«
»Ganz ausgezeichnete.«
»Nun, und wie steht es denn mit dem Befinden der alten Frau? Es ist doch hoffentlich nicht Typhus?«
»Ob nun Typhus oder nicht, jedenfalls geht es ihr nicht gut.«
»Ach, das tut mir leid!« sagte Anna und wandte sich, nachdem sie auf diese Weise den niederen Tischgenossen den Tribut der Höflichkeit hatte zukommen lassen, wieder zu ihren Standesgenossen.
»Aber es würde doch schwer sein, nach Ihrer Beschreibung eine solche Maschine zu bauen, Anna Arkadjewna«, meinte Swijaschski scherzend.
»Warum sollte das nicht gehen?« erwiderte Anna mit einem Lächeln, das besagte, sie wußte wohl, in ihrer Erläuterung des Baues der Maschine habe etwas Liebliches und Anmutiges gelegen, das auch Swijaschski bemerkt haben müsse. Dieser neue Zug jugendhafter Koketterie überraschte Dolly und machte ihr einen unangenehmen Eindruck.
»Aber dafür besitzt Anna Arkadjewna im Bauwesen ganz erstaunliche Kenntnisse«, sagte Tuschkewitsch.
[102] »Gewiß! Ich habe gehört, wie Anna Arkadjewna gestern sagte: ›Zu den Streben und den Plinthen‹«, sagte Weslowski. »Spreche ich auch die Ausdrücke richtig?«
»Dabei ist nichts Wunderbares, wenn man soviel davon sieht und hört«, versetzte Anna. »Aber Sie wissen wahrscheinlich nicht einmal, aus welchem Stoff man Häuser baut.«
Darja Alexandrowna sah, daß Anna sich über den neckenden Ton, der im Gespräche zwischen ihr und Weslowski üblich geworden war, ärgerte, trotzdem aber unwillkürlich selbst immer wieder in ihn zurückfiel.
Wronski benahm sich in dieser Lage ganz anders als Ljewin. Er legte offenbar Weslowskis Geschwätz keine Wichtigkeit bei, sondern half im Gegenteil selbst bei solchen Späßchen aufmunternd mit.
»Ja, ja, nun sagen Sie einmal, Weslowski, womit werden die Steine untereinander verbunden?«
»Natürlich mit Mörtel.«
»Bravo! Aber was ist denn nun Mörtel?«
»So eine Art Brei ... nein, eine Art Kitt«, erwiderte Weslowski und rief dadurch allgemeines Gelächter hervor.
Abgesehen von dem Arzte, dem Baumeister und dem Verwalter, die in finsteres Schweigen versunken dasaßen, geriet die Unterhaltung unter den Speisenden nie ins Stocken; bald glitt sie glatt dahin, bald hakte sie irgendwo ein und versetzte den einen oder anderen der Tischgenossen in Eifer. Einmal fühlte sich auch Darja Alexandrowna unangenehm berührt, und sie geriet so in Erregung, daß sie einen ganz roten Kopf bekam und erst nachher überlegte, ob sie auch nicht etwas Unpassendes, Verletzendes gesagt habe. Swijaschski war auf Ljewin zu sprechen gekommen und erwähnte dessen sonderbare Anschauung, daß die Maschinen für die russische Landwirtschaft nur ein Schaden seien.
»Ich habe nicht das Vergnügen, diesen Herrn Ljewin zu kennen«, sagte Wronski lächelnd, »aber wahrscheinlich hat er die Maschinen, über die er ein solches Verdammungsurteil fällt, nie gesehen. Und wenn er welche gesehen und probiert hat, so ist das wohl nur sehr oberflächlich gewesen, und es waren vielleicht keine ausländischen Maschinen, sondern irgendwelche russischen Ursprungs. Wie kann er da ein Urteil haben?«
»Er hat überhaupt schnurrige Anschauungen«, sagte Weslowski lächelnd, zu Anna gewendet.
»Ich bin nicht imstande, sein Urteil sachlich zu verteidigen«, sagte Darja Alexandrowna erregt. »Aber ich kann sagen, er ist ein sehr gebildeter Mann, und wenn er hier anwesend wäre, [103] so würde er Ihnen gewiß zu antworten wissen; ich natürlich verstehe nichts davon.«
»Ich habe ihn sehr gern, und wir sind die besten Freunde«, sagte Swijaschski mit gutmütigem Lächeln. »Mais pardon, il est un petit peu toqué 5; so behauptet er zum Beispiel, die Kreistage und die Friedensrichter, das sei alles überflüssig, und mag sich an nichts beteiligen.«
»Das ist unsere russische Gleichgültigkeit«, sagte Wronski und goß sich Eiswasser aus einer Flasche in ein schlankes, hochstengliges Glas, »kein Gefühl für die Pflichten zu besitzen, die uns durch unsere Rechte auferlegt werden, und sich infolgedessen diesen Pflichten zu entziehen.«
»Ich kenne keinen Menschen, der es mit der Erfüllung seiner Pflichten strenger nähme als Ljewin«, entgegnete Darja Alexandrowna, gereizt durch diesen überlegenen Ton Wronskis.
»Ich dagegen«, fuhr Wronski fort, bei dem dieses Gespräch offenbar an eine empfindliche Stelle rührte, »ich dagegen, wie Sie mich hier sehen, bin sehr dankbar für die Ehre, die man mir erwiesen hat, indem man mich dank Nikolai Iwanowitschs Bemühungen« (er wies auf Swijaschski) »zum Ehrenfriedensrichter gewählt hat. Ich bin der Ansicht, daß die Pflicht, an den Versammlungen teilzunehmen und die Streitsache eines Bauern wegen eines Pferdes zu erwägen, für mich ebenso wichtig ist wie überhaupt etwas; was im Bereich meiner Tätigkeit liegt. Und ich werde es mir zur Ehre anrechnen, wenn man mich zum Abgeordneten wählen sollte. Nur dadurch kann ich eine Art von Gegenleistung für die Vorteile gewähren, die ich als Grundbesitzer genieße. Leider mangelt es vielfach an Verständnis für die Bedeutung, die die Großgrundbesitzer im Staate haben müßten.«
Es war für Darja Alexandrowna eine seltsame Empfindung, zu hören, wie sicher Wronski hier in seinem Hause und an seinem Tische sich dessen fühlte, daß seine Ansicht die richtige war. Sie erinnerte sich, daß Ljewin, der die entgegengesetzte Meinung hegte, bei sich zu Hause und an seinem Tische ebenso entschieden in seinem Urteil gewesen war. Aber sie hatte Ljewin gern und stand daher auf seiner Seite.
»Wir können also für die nächste Versammlung auf Sie rechnen, Graf?« fragte Swijaschski. »Aber Sie müßten recht früh hinfahren, so daß Sie schon am Achten da sind. Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollten, mit mir zusammen hinzufahren ...«
»Ich bin ziemlich derselben Ansicht wie dein Schwager«, sagte Anna. »Nur aus etwas anderen Gründen als er«, setzte sie lächelnd hinzu. »Ich fürchte, daß in letzter Zeit bei uns in Rußland [104] diese Pflichten gegen das Gemeinwohl gar zu zahlreich geworden sind. Während es früher eine Unmenge von Beamten gab und man für jede, auch die kleinste Tätigkeit einen Beamten für nötig hielt, wird jetzt alles durch Selbstverwaltung geleistet. Alexei wohnt jetzt erst sechs Monate hier und ist schon Mitglied von, ich glaube, fünf oder sechs verschiedenen Behörden der Selbstverwaltung: Kurator, Richter, Geschworener, irgend etwas beim Gestüt, und was nicht sonst noch alles. Du train que cela va 6, wird seine ganze Zeit für diese Tätigkeit draufgehen. Und ich fürchte, bei einer solchen Menge derartiger Ämter wird alles zuletzt nur leere Form. Bei wie vielen solcher Einrichtungen sind Sie denn Mitglied, Nikolai Iwanowitsch?« wandte sie sich an Swijaschski. »Wohl bei mehr als zwanzig?«
Was Anna sagte, sollte wie Scherz klingen, aber doch hörte man aus ihrem Ton eine gewisse Gereiztheit heraus. Darja Alexandrowna, die Anna und Wronski aufmerksam beobachtete, merkte das sofort. Es entging ihr auch nicht, daß Wronskis Gesicht bei diesem Gespräch sogleich einen ernsten, eigensinnigen Ausdruck angenommen hatte. Wenn ihr mit dieser Wahrnehmung auch noch aufgefallen war, daß die Prinzessin Warwara sofort, um die Unterhaltung auf einen anderen Gegenstand zu bringen, eilig von Petersburger Bekannten zu reden anfing, und wenn sie sich ferner noch daran erinnerte, daß Wronski so ganz ohne äußeren Anlaß im Garten über seine Tätigkeit zu reden begonnen hatte, so mußte sie notwendig auf den Gedanken kommen, daß über diesen Punkt, die Tätigkeit für das Gemeinwohl, ein geheimer Zwist zwischen Anna und Wronski bestand.
Die Speisen, die Weine, die Bedienung, alles war sehr gut; aber alles war von jener Art, die Darja Alexandrowna von großen Mittagsgesellschaften und Bällen her kannte, Veranstaltungen, deren sie sich bereits entwöhnt hatte, und alles trug den bei solchen Veranstaltungen üblichen Charakter des Unpersönlichen und Förmlichen; und daher machte alles dies an einem gewöhnlichen Tage und in so kleinem Kreise auf sie einen unangenehmen Eindruck.
Nach dem Essen saß die Gesellschaft ein Weilchen auf der Terrasse. Dann wurde Tennis gespielt. Die Mitspielenden teilten sich in zwei Parteien und stellten sich auf dem sorgsam geebneten und festgestampften Tennisplatz zu beiden Seiten eines ausgespannten Netzes mit vergoldeten Pfosten auf. Darja Alexandrowna machte einen Versuch mitzuspielen; aber lange Zeit vermochte sie das Spiel nicht zu verstehen, und als sie es schließlich doch glücklich verstanden hatte, war sie schon so müde, daß [105] sie sich mit der Prinzessin Warwara hinsetzte und sich darauf beschränkte, den Spielenden zuzuschauen. Ihr Partner, Tuschkewitsch, hörte gleichfalls auf; die übrigen aber setzten das Spiel noch lange fort. Swijaschski und Wronski spielten beide sehr gut und nahmen die Sache sehr ernst. Sie verfolgten mit scharfem Auge den ihnen zugeschleuderten Ball, liefen ohne Übereilung und ohne Zaudern gewandt zu ihm hin, warteten, bis er wieder aufsprang, und schleuderten ihn dann durch einen geschickten, sicheren Schlag mit dem Schläger über das Netz zurück. Weslowski spielte schlechter als die anderen. Er wurde zu hitzig, aber dafür brachte er durch seine Heiterkeit Leben in das Spiel. Sein Lachen und Schreien verstummte keinen Augenblick. Er hatte, ebenso wie die andern Herren, mit Erlaubnis der Damen seinen Rock ausgezogen, und seine volle, hübsche Gestalt in den weißen Hemdärmeln, mit dem roten, schweißbedeckten Gesichte und den ruckartigen Bewegungen prägte sich unwillkürlich geradezu dem Gedächtnis ein.
Als sich Darja Alexandrowna an diesem Abend schlafen legte, sah sie, sobald sie nur die Augen zumachte, Wasenka Weslowski vor sich, wie er auf dem Tennisplatz umherrannte.
Während des Spieles aber war Darja Alexandrowna nicht eigentlich vergnügt. Es mißfiel ihr der auch hierbei fortdauernde Ton der Neckerei zwischen Wasenka Weslowski und Anna, auch das Unnatürliche, das sich stets fühlbar macht, wenn Erwachsene allein, ohne daß Kinder dabei sind, ein Kinderspiel spielen. Um aber bei den andern nicht Anstoß zu erregen und um die Zeit irgendwie auszufüllen, nahm sie, sobald sie sich wieder erholt hatte, von neuem an dem Spiel teil und tat so, als ob sie sehr vergnügt wäre. Diesen ganzen Tag über hatte sie fortwährend die Empfindung, als ob sie mit besseren Schauspielern als sie selbst zusammen Theater spiele und durch ihr schlechtes Spiel die ganze Sache verderbe.
Sie war mit der Absicht gekommen, wenn sie sich wohl fühle, zwei Tage zu bleiben. Aber gleich am Abend beim Spiel beschloß sie, am folgenden Tage wieder zurückzufahren. Jene so leidvollen mütterlichen Sorgen, gegen die sie auf der Herfahrt einen solchen Haß empfunden hatte, erschienen ihr jetzt, nach einem einzigen Tage, den sie ohne diese Sorgen verlebt hatte, in einem ganz andern Lichte und hatten für sie etwas Lockendes.
Als Darja Alexandrowna nach dem Abendtee und einer nächtlichen Kahnfahrt allein in ihr Zimmer trat, ihr Kleid auszog und sich hinsetzte, um ihr schon recht dünn gewordenes Haar für die Nacht zurechtzumachen, da empfand sie eine große Erleichterung.
[106] Es war ihr sogar ein unangenehmer Gedanke, daß in wenigen Augenblicken Anna zu ihr kommen werde. Sie wäre am liebsten mit ihren Gedanken allein geblieben.
Dolly wollte sich schon hinlegen, als Anna im Nachtkleide zu ihr ins Zimmer trat.
Im Laufe des Tages hatte Anna mehrmals dazu angesetzt, von den Dingen, die ihre Seele beschäftigten, zu reden, hatte aber jedesmal nach einigen wenigen Worten wieder davon Abstand genommen. »Nachher, wenn wir miteinander allein sind, wollen wir über alles sprechen; ich habe dir so viel, so viel mitzuteilen«, hatte sie gesagt.
Jetzt waren sie nun miteinander allein; aber Anna wußte nicht, wovon sie reden sollte. Sie saß am Fenster, blickte Dolly an und durchmusterte in ihrem Gedächtnisse jenen ganzen Vorrat von vertraulicheren Gesprächsstoffen, der ihr vorher unerschöpflich erschienen war, und fand nichts Geeignetes. Es schien ihr in diesem Augenblick, als habe sie schon alles gesagt.
»Nun, wie geht es denn Kitty?« begann sie mit einem schweren Seufzer und blickte Dolly schuldbewußt an. »Sage mir die Wahrheit, Dolly, ist sie auch nicht böse auf mich?«
»Ob sie auf dich böse ist? Nein!« antwortete Darja Alexandrowna lächelnd.
»Aber sie haßt mich und verachtet mich?«
»O nein! Aber du weißt, verzeihen kann man so etwas nicht.«
»Ja, ja«, sagte Anna, indem sie sich abwandte und durch das offene Fenster blickte. »Aber ich hatte keine Schuld. Und wer hatte Schuld? Was heißt dabei überhaupt Schuld? Konnte es denn anders kommen? Nun, wie denkst du darüber? Ware es etwa möglich gewesen, daß du Stiwa nicht geheiratet hättest?«
»Das weiß ich wirklich nicht. Aber eines möchte ich von dir wissen ...«
»Ja, ja, aber wir sind noch nicht mit Kitty fertig. Ist sie glücklich? Er soll ja ein guter Mensch sein.«
»›Gut‹ ist zuwenig gesagt. Ich kenne keinen besseren Menschen.«
»Ach, das freut mich! Das freut mich außerordentlich! ›Gut‹ ist zuwenig gesagt«, wiederholte sie.
Dolly lächelte.
»Aber nun erzähle mir von dir selbst«, sagte Dolly. »Wir haben so viel miteinander zu reden. Ich sprach heute auch schon [107] mit ...« Sie wußte nicht, wie sie ihn nennen sollte. Es widerstrebte ihr, ihn den Grafen, und es widerstrebte ihr, ihn Alexei Kirillowitsch zu nennen.
»Mit Alexei«, half Anna ihr ein. »Ich weiß, was ihr miteinander gesprochen habt. Aber ich wollte dich geradezu fragen: Was denkst du von mir und von meinem Leben?«
»Wie kann ich das so plötzlich sagen? Ich weiß es wirklich nicht.«
»Nein, nein, sage es mir doch ... Du siehst ja nun, wie ich lebe. Aber vergiß nicht, daß du uns im Sommer siehst, wo du zu Besuch gekommen bist und wir auch sonst Gäste haben ... Aber als wir zu Frühlingsanfang herkamen, da haben wir ganz einsam gelebt, und wir werden auch später wieder ganz einsam leben, und etwas Besseres wünsche ich mir gar nicht. Aber stelle dir vor, daß ich ganz allein, ohne ihn, hier leben werde, ganz allein, und das wird geschehen ... Ich ersehe das aus vielen Anzeichen, daß das häufig vorkommen wird und daß er die Hälfte der Zeit außerhalb des Hauses zubringen wird.« Sie stand auf und setzte sich näher an Dolly heran. »Selbstverständlich« (sie ließ Dolly, die etwas erwidern wollte, nicht zu Worte kommen), »selbstverständlich werde ich ihn nicht mit Gewalt zurückhalten. Das tue ich auch jetzt nicht. In nächster Zeit findet ein Rennen statt; dabei laufen auch Pferde von ihm; er wird hinfahren. Ich freue mich darüber sehr. Aber denke nun dabei auch einmal an mich, stelle dir meine Lage vor ... Aber was hat es für Zweck, davon zu reden!« Sie lächelte. »Also worüber hat er denn mit dir gesprochen?«
»Er sprach mit mir über einen Punkt, über den ich auch aus eigenem Antriebe mit dir reden wollte, und es wird mir leicht, seinen Wunsch bei dir zu befürworten; er sprach darüber, ob denn keine Möglichkeit sei ... ob es sich nicht machen ließe ...« Darja Alexandrowna stockte, »deine Lage zu ändern, zu verbessern ... Du weißt, wie ich darüber denke ... Aber dennoch solltest du ihn, wenn es möglich ist, heiraten ...«
»Also eine Scheidung?« erwiderte Anna. »Weißt du wohl, daß die einzige Frau, die mich in Petersburg besucht hat, Betsy Twerskaja war? Du kennst sie ja wohl? Au fond c'est la femme la plus dépravée qui existe. 1 Sie hat ein Verhältnis mit Tuschkewitsch gehabt und ihren Mann auf die schändlichste Weise betrogen. Und diese Frau hat mir zu verstehen gegeben, daß sie mich nicht kennen will, solange meine Lage ungeregelt ist. Glaube ja nicht, daß ich dich mit ihr auf gleiche Stufe stelle; ich kenne dich, mein Herz. Aber es fiel mir unwillkürlich ein ... Nun also, was hat er zu dir gesagt?« fragte sie noch einmal.
[108] »Er hat mir gesagt, er leide für seine eigene Person schwer darunter, und nicht weniger Schmerz bereite ihm dein Kummer. Vielleicht sagst du, daß das Selbstsucht ist; aber es ist eine so erlaubte, edle Selbstsucht! Er möchte vor allen Dingen seine Tochter ehelich machen; er möchte dein Gatte sein und ein Recht auf dich haben.«
»Welche Frau, welche Sklavin kann in dem Grade Sklavin sein, wie ich es in meiner Lage bin?« unterbrach Anna sie finster.
»Die Hauptsache ist ihm aber doch ... die Hauptsache ist ihm, daß deine Leiden ein Ende nehmen möchten.«
»Das ist unmöglich! Nun, und was weiter?«
»Nun, etwas durchaus Ordnungsmäßiges: er möchte, daß eure Kinder den richtigen Namen haben.«
»Was für Kinder?« versetzte Anna, indem sie die Augen zusammenkniff und es vermied, Dolly anzusehen.
»Anny und die künftigen.«
»In der Hinsicht kann er ganz beruhigt sein; ich werde keine weiteren Kinder bekommen.«
»Wie kannst du das sagen, daß du keine mehr bekommen wirst? ...«
»Ich werde keine mehr bekommen, weil ich es nicht will.«
Und trotz all ihrer Aufregung mußte Anna lächeln, als sie den unverhohlenen Ausdruck von Neugier, Erstaunen und Schrecken auf Dollys Gesicht wahrnahm.
»Der Arzt hat mir nach meiner Krankheit gesagt ...«
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
»Nicht möglich!« rief Dolly mit weit geöffneten Augen. Für sie war dies eine jener Enthüllungen, aus denen sich so gewaltige Folgerungen und Schlüsse ergeben, daß man im ersten Augenblick nur die Empfindung hat, man könne nicht gleich alles mit seinen Ge danken umfassen, werde aber darüber noch viel, viel nachzudenken haben.
Diese Enthüllung, durch die ihr auf einmal klar wurde, was ihr bisher unverständlich gewesen war, wie es nämlich zuging, daß in so vielen Familien nur ein oder zwei Kinder vorhanden waren, diese Enthüllung erweckte in ihr eine solche Menge von Gedanken, Vorstellungen und widerstreitenden Empfindungen, daß sie nicht imstande war, etwas zu sagen, und nur mit weit geöffneten Augen Anna erstaunt anblickte. Das war ja eben das, was sie sich in ihren Träumereien ausgemalt hatte; aber jetzt, wo sie erfuhr, daß so etwas möglich sei, erschrak sie heftig. Sie fühlte, daß dies denn doch eine allzu einfache Lösung einer so verwickelten Frage sei.
[109] »Ist das nicht unrecht?« fragte sie nur, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte.
»Wieso? Überlege doch nur, ich habe die Wahl zwischen zwei Dingen: entweder schwanger, das heißt krank zu sein oder die Freundin und Genossin meines Mannes zu sein, der doch eben ein Mann ist«, sagte Anna in absichtlich oberflächlichem, leichtfertigem Tone.
»Nun ja, nun ja«, antwortete Darja Alexandrowna. Jetzt, wo sie dieselben Gründe, die sie sich selbst vorgeführt hatte, aus Annas Munde hörte, fand sie sie nicht mehr so beweiskräftig, wie sie sie früher gefunden hatte.
»Für dich und andere«, sagte Anna, wie wenn sie ihre Gedanken erriete, »kann es noch ein Bedenken geben, aber für mich ... Überlege doch, ich bin nicht seine Ehefrau; er liebt mich eben nur so lange, wie er mich liebt. Nun also, womit kann ich mir seine Liebe erhalten? Doch nur hiermit!«
Sie streckte ihre weißen Arme vor ihrem Leibe aus.
Mit großer Geschwindigkeit, wie das in Augenblicken starker Aufregung nicht selten ist, drängten sich Gedanken und Erinnerungen in Darja Alexandrownas Kopfe. ›Ich‹, dachte sie, ›habe Stiwa nicht an mich fesseln können; er ging von mir weg zu anderen, und jene erste, um deretwillen er mir untreu wurde, vermochte ihn dadurch, daß sie immer schön und heiter war, auch nicht festzuhalten. Er verließ sie und nahm eine andere. Sollte Anna wirklich imstande sein, den Grafen Wronski dadurch an sich zu fesseln und dauernd festzuhalten? Wenn sein Sinn auf dergleichen gerichtet ist, so wird er schon Frauen mit noch reizenderem Aussehen und mit noch muntrerem Wesen finden. Und wie weiß und schön auch ihre nackten Arme sein mögen, wie reizvoll ihre ganze üppige Gestalt, ihr erglühendes Gesicht, das aus diesem schwarzen Haarwuchs herausschaut: er wird immer noch etwas Besseres finden, wie mein abscheulicher, armer, lieber Mann immer sucht und findet.‹
Dolly antwortete nicht und seufzte nur. Anna bemerkte diesen Seufzer, in dem zum Ausdruck kam, daß Dolly anderer Ansicht war, und fuhr fort. Sie meinte noch so starke Gründe in Vorrat zu haben, daß sich darauf nichts würde antworten lassen.
»Du sagst, das sei nicht recht gehandelt? Aber man muß das ruhig erwägen«, fuhr sie fort. »Du vergißt meine Lage. Wie kann ich mir Kinder wünschen? Ich rede nicht von den körperlichen Leiden; die fürchte ich nicht. Aber sage selbst: was würden meine Kinder sein? Unglückliche Wesen, die einen fremden Namen tragen müßten. Ihre Geburt würde sie von vornherein[110] in die Zwangslage versetzen, sich ihrer Mutter, ihres Vaters und ihrer Geburt zu schämen.«
»Aber ebendeswegen ist ja die Scheidung notwendig.«
Jedoch Anna hörte nicht auf das, was Dolly sagte. Ihr lag daran, all die Gründe vorzutragen, mit denen sie sich selbst so oft überzeugt hatte.
»Wozu ist mir denn der Verstand gegeben, wenn ich ihn nicht dazu benutze, die Erzeugung unglücklicher Wesen zu verhüten?«
Sie blickte Dolly an, fuhr aber, ohne eine Antwort abzuwarten, fort:
»Ich würde mich stets diesen unglücklichen Kindern gegenüber schuldig fühlen«, sagte sie. »Wenn sie nicht da sind, so sind sie wenigstens nicht un glücklich; wenn sie aber lebten und unglücklich wären, so würde ich allein daran schuld sein.«
Das waren dieselben Gründe, die Darja Alexandrowna sich selbst vorgeführt hatte; aber jetzt hörte sie sie an, ohne sie eigentlich zu verstehen. ›Wie kann man sich denn solchen Wesen gegenüber, die noch gar nicht leben, schon im voraus schuldig fühlen?‹ dachte sie. Und auf einmal kam ihr der Gedanke: Könnte es wohl unter irgendwelchen Umständen für ihren Liebling Grigori besser sein, wenn er gar nicht geboren wäre? Aber diese Frage erschien ihr so seltsam und sinnlos, daß sie mit dem Kopf schüttelte, um diesen Wirrwarr umherwirbelnder, toller Gedanken zu verscheuchen.
»Nein, ich weiß nicht, das ist doch nicht recht gehandelt«, sagte sie nur, mit einem Ausdruck von Widerwillen auf dem Gesicht.
»Ja, aber vergiß nicht, wer du bist und wer ich bin ... Und außerdem«, fügte Anna hinzu, als ob sie sich trotz der Menge ihrer Gründe und der Armseligkeit von Dollys Gegengründen dennoch dessen bewußt wäre, daß das nicht recht gehandelt sei, »vergiß nicht die Hauptsache, nämlich, daß ich mich in ganz anderer Lage befinde als du. Bei dir handelt es sich darum, ob du einen Grund hast zu wünschen, daß du keine Kinder mehr bekommst; aber bei mir handelt es sich darum, ob ich einen Grund habe zu wünschen, daß ich noch welche bekomme. Und das ist ein großer Unterschied. Du verstehst wohl, daß ich das in meiner Lage nicht wünschen kann.«
Darja Alexandrowna erwiderte nichts. Sie wurde sich auf einmal dessen bewußt, daß sie Anna schon so fern stand, daß sie sich über manche Fragen nie mehr einigen konnten und es das beste war, nicht davon zu reden.
1 (frz.) Im Grunde ist sie die verkommenste Frau, die es gibt.
»Um so mehr ist es nötig, daß du deine Lage in Ordnung bringst, wenn es möglich ist«, sagte Dolly.
»Ja, wenn es möglich ist«, versetzte Anna auf einmal in ganz anderem, stillem und traurigem Tone.
»Ist denn eine Scheidung nicht möglich? Es ist mir doch gesagt worden, daß dein Mann damit einverstanden ist.«
»Dolly, ich möchte nicht gern davon reden.«
»Nun, dann wollen wir es lassen«, beeilte sich Darja Alexandrowna zu erwidern, da sie einen schmerzlichen Zug in Annas Gesicht bemerkte. »Ich finde nur, daß du alles zu trübe ansiehst.«
»Ich? Ganz und gar nicht. Ich bin sehr heiter und zufrieden. Du hast ja gesehen, je fais des passions 1. Weslowski ...«
»Ja, die Wahrheit zu sagen, Weslowskis Ton hat mir nicht gefallen«, sagte Darja Alexandrowna in dem Wunsch, das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen.
»Ach, da ist gar nichts dabei! Das dient nur dazu, Alexei ein wenig zu kitzeln; weiter nichts. Dieser Weslowski ist ja noch ein Junge, und ich habe ihn ganz in Händen; du verstehst, ich lenke ihn, wie ich will. Es ist gerade, als wenn ich mit deinem Grigori spiele ... Dolly« (sie ging plötzlich zu etwas anderem über), »du sagst, ich sähe alles zu trübe an. Aber du kannst das nicht verstehen. Es ist zu entsetzlich. Ich bemühe mich, überhaupt nicht zu sehen.«
»Aber das ist doch nötig, möchte ich meinen. Du mußt alles tun, was irgend möglich ist.«
»Aber was ist denn möglich? Nichts ist möglich. Du sagst, ich solle Alexei heiraten, und meinst, daß ich das nicht hinreichend überlege. Ich überlege das nicht hinreichend!« sagte sie bitter, und eine Röte überzog ihr Gesicht. Sie stand auf, drückte die Brust hervor, seufzte schwer und begann mit ihrem leichten Gang im Zimmer auf und ab zu gehen, mitunter stehenbleibend. »Ich überlege das nicht hinreichend? Es vergeht kein Tag, keine Stunde, wo ich das nicht überlege und wo ich mir nicht selbst Vorwürfe deswegen mache, daß ich es überlege, denn dieser Gedanke kann mich wahnsinnig machen. Wahnsinnigmachen«, wiederholte sie. »Wenn ich darüber nachdenke, kann ich nicht mehr ohne Morphium einschlafen. Aber schön; wir wollen einmal in aller Ruhe darüber reden. Ihr sagt zu mir: Scheidung. Erstens wird er sie mir nicht gewähren. Er steht jetzt unter dem Einflusse der Gräfin Lydia Iwanowna.«
Darja Alexandrowna saß, gerade aufgerichtet, auf einem [112] Stuhl und folgte, den Kopf hin und her wendend, mit mitleidigen Blicken der auf und ab gehen den Anna.
»Du solltest es aber doch versuchen«, sagte sie leise.
»Sagen wir also, ich versuche es. Was bedeutet das?« Anna sprach damit offenbar einen Gedanken aus, den sie schon tausendmal durchdacht hatte und auswendig konnte. »Das bedeutet, daß ich, die ich ihn hasse und mich dabei doch vor ihm schuldig bekenne, die Demütigung auf mich nehme, an ihn zu schreiben ... Nun, sagen wir, ich gewinne es über mich und tue es. Entweder erhalte ich dann eine kränkende Antwort oder seine Einwilligung. Gut, ich habe also seine Einwilligung erhalten ...« Anna befand sich in diesem Augenblick am fernsten Ende des Zimmers, war dort stehengeblieben und nahm irgend etwas mit dem Fenstervorhang vor. »Ich erhalte seine Einwilligung; – und mein Sohn? ... Den werden sie mir ja sicherlich nicht überlassen. Der wird bei seinem Vater, den ich verlassen habe, aufwachsen und wird mich verachten lernen. Mach dir das nur klar, daß ich zwei Menschen liebe, ich glaube, beide gleich stark, aber beide mehr als mich selbst: meinen kleinen Sergei und Alexei.«
Sie kam aus der Ecke nach der Mitte des Zimmers und blieb vor Dolly stehen, die Hände gegen die Brust gedrückt. In dem weißen Nachtkleide erschien ihre Gestalt auffallend groß und breit. Sie beugte den Kopf hinab und blickte mit den glänzenden, feuchten Augen unter den Brauen hervor auf die kleine, hagere Dolly, die in ihrer gestopften Nachtjacke und der Nachthaube einen kümmerlichen Anblick bot und vor Aufregung am ganzen Leibe zitterte.
»Nur diese beiden Wesen liebe ich, und das eine von ihnen schließt das andere aus. Ich kann sie beide nicht vereinigen, und gerade das, nur das ist es, was ich brauche. Aber wenn mir das nicht zuteil wird, dann ist mir alles gleich. Alles ganz gleich. Irgendwie wird es ja ein Ende nehmen, und darum kann und mag ich nicht darüber reden. Also tadle und verdamme mich deswegen nicht. Du mit deiner reinen Seele vermagst nicht all das zu verstehen, worunter ich leide.«
Sie trat zu Dolly heran, setzte sich neben sie, ergriff ihre Hand und blickte ihr mit schuldbewußter Miene ins Gesicht.
»Was denkst du? Wie denkst du über mich? Verachte mich nicht. Ich verdiene keine Verachtung. Ich bin eben eine Unglückliche. Wenn jemand unglücklich ist, so bin ich es«, sagte sie, wandte sich von ihr ab und brach in Tränen aus.
Als Dolly allein geblieben war, betete sie und legte sich zu Bett. Sie hatte Anna von ganzem Herzen bemitleidet, während [113] sie miteinander gesprochen hatten; aber jetzt konnte sie sich nicht dazu zwingen, an sie zu denken. Die Erinnerungen an ihr Heim und an ihre Kinder tauchten mit einem ganz besonderen, ihr neuen Reize, mit einer Art von neuem Glanze vor ihrem geistigen Blick auf. Diese ihre Welt erschien ihr jetzt so wertvoll und lockend, daß sie um keinen Preis noch einen weiteren Tag fern von ihr verleben mochte und den Entschluß faßte, morgen unter allen Umständen wieder abzufahren.
Unterdessen nahm Anna, als sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, ein kleines Glas mit Wasser und träufelte einige Tropfen einer Arznei hinein, dessen Hauptbestandteil Morphium war. Nachdem sie es ausgetrunken und ein Weilchen regungslos dagesessen hatte, ging sie in beruhigter, heiterer Stimmung ins Schlafzimmer.
Als sie dort eintrat, blickte Wronski sie aufmerksam an. Er suchte auf ihrem Gesicht die Spuren der Unterredung, die sie, wie er wußte, mit Dolly gehabt haben mußte, da sie ja so lange in deren Zimmer geblieben war. Aber in ihrem Gesicht, das die innere Erregung zu verhalten und zu verbergen verstand, fand er nichts als die trotz der Gewöhnung ihn immer noch fesselnde Schönheit und das Bewußtsein dieser Schönheit und den Wunsch, daß diese auf ihn wirken möge. Er wollte nicht nach dem Gegenstand des Gesprächs fragen, hoffte aber, daß sie von selbst etwas darüber sagen werde. Aber sie sagte nur:
»Ich freue mich recht, daß Dolly dir gefallen hat. Das hat sie doch, nicht wahr?«
»Ich kenne sie ja schon lange. Sie ist, glaube ich, eine sehr gute, brave Frau, nur außergewöhnlich bieder. Aber ich habe mich doch über ihren Besuch gefreut.«
Er ergriff Annas Hand und blickte ihr fragend in die Augen.
Sie faßte diesen Blick anders auf und lächelte ihm zu.
Am andern Morgen machte sich Darja Alexandrowna trotz der Bitten des Gastgebers und der Gastgeberin zur Abreise fertig. Ljewins Kutscher, in seinem nicht mehr neuen Rock und mit seinem etwas fuhrmannsmäßigen Hut, fuhr mit seinen Pferden, die in der Farbe nicht zueinander paßten, und mit der Kutsche, deren Kotflügel ausgeflickt waren, finster und entschlossen in der überdachten, mit Sand bestreuten Anfahrt vor.
Der Abschied von der Prinzessin Warwara und den Herren hatte für Darja Alexandrowna etwas Peinliches. Bei einem nur eintägigen Zusammensein war es sowohl ihr selbst wie auch ihren Gastgebern klargeworden, daß sie nicht in diesen Kreis paßte und es das beste war, sich zu trennen. Anna war die [114] einzige, die Betrübnis empfand. Sie wußte, daß jetzt, nach Dollys Abreise, niemand mehr in ihrer Seele die Gefühle aufstören werde, die in ihr bei diesem Wiedersehen wie der erregt worden waren. Die Reizung dieser Gefühle hatte ihr Schmerz bereitet; aber dennoch wußte sie, daß dies der beste Teil ihrer Seele war und daß dieser Teil ihrer Seele bei dem Leben, das sie führte, schnell verkümmern werde.
Als Darja Alexandrowna in ihrem Wagen wieder das freie Feld erreicht hatte, empfand sie ein angenehmes Gefühl der Erleichterung, und sie hatte schon Lust, ihre Leute zu fragen, wie es ihnen bei Wronski gefallen habe, als der Kutscher Filipp von selbst zu reden begann:
»Reich sind sie schon; aber Hafer haben sie uns nur drei Maß gegeben. Ehe die Hähne krähten, hatten die Pferde ihn bis auf das letzte Korn aufgefressen. Was sind denn auch drei Maß? Das ist nur so ein kleiner Imbiß. Und jetzt kostet der Hafer doch sogar bei den Herbergswirten nur fünfundvierzig Kopeken. Bei uns, da kann man sicher sein, da bekommen die fremden Pferde so viel, wie sie nur fressen mögen.«
»Ein geiziger Herr«, bestätigte der Gutsschreiber.
»Nun, und ihre Pferde, haben dir die gefallen?« fragte Dolly.
»Die Pferde sind gut, das muß ihnen der Neid lassen. Und auch das Essen war gut. Aber das Ganze kam mir gar nicht so recht frisch und lustig vor, Darja Alexandrowna; ich weiß nicht, ob Sie das auch gefunden haben«, sagte er, indem er sein hübsches, gutmütiges Gesicht zu ihr zurückwandte.
»Ja, ich habe es auch gefunden. Nun, wie ist's, kommen wir zum Abend nach Hause?«
»Wir müssen schon hinkommen.«
Zu Hause angekommen, fand Darja Alexandrowna alle in bestem Wohlsein vor, und sie erschienen ihr ganz besonders nett und liebenswürdig. Mit großer Lebhaftigkeit erzählte sie von ihrer Fahrt und wie freundlich sie aufgenommen sei, und von dem Luxus und guten Geschmack, der bei Wronskis herrsche, und von ihren Vergnügungen, und erlaubte niemandem, ein Wort gegen die beiden zu sagen.
»Man muß Anna und Wronski kennen (ich habe ihn jetzt besser kennengelernt), um beurteilen zu können, wie lieb, wie rührend gut sie sind«, sagte sie, und zwar jetzt vollkommen aufrichtig; jenes unbestimmte Gefühl der Mißbilligung und Unbehaglichkeit, das sie dort empfunden hatte, war ihr ganz aus dem Gedächtnis entschwunden.
1 (frz.) ich erwecke Leidenschaften.
Wronski und Anna verlebten den ganzen Sommer und noch einen Teil des Herbstes auf dem Lande, immer in den gleichen Verhältnissen und ohne irgendwelche Schritte zur Herbeiführung der Scheidung zu tun. Sie waren übereingekommen, nirgends hinzureisen; aber je länger sie allein lebten, besonders im Herbste und nach der Abreise der Gäste, um so mehr fühlten sie beide, daß sie dieses Leben auf die Dauer nicht aushalten konnten und daß darin eine Änderung stattfinden müsse.
Ihr Leben war scheinbar von der Art, daß man sich ein besseres gar nicht denken konnte: sie lebten im Überfluß, sie waren gesund, sie hatten ein Kind, und beide hatten sie ihre Beschäftigung.
Anna verwandte, auch wenn keine Gäste da waren, dennoch ebensoviel Sorgfalt auf ihr Äußeres; auch beschäftigte sie sich sehr viel mit Büchern: sie las sowohl Romane wie ernste Bücher, die gerade Mode waren. Sie ließ sich alle die Bücher kommen, die in den von ihr gehaltenen ausländischen Zeitungen und Zeitschriften lobend erwähnt wurden, und las sie mit jener Aufmerksamkeit, die man nur in der Einsamkeit aufzubringen pflegt. Außerdem studierte sie die Gegenstände, mit denen sich Wronski beschäftigte, aus Büchern und Fachzeitschriften, so daß er sich oft in Fragen der Landwirtschaft und des Bauwesens, mitunter sogar in Fragen der Pferdezucht und des Sportes geradezu an sie wandte. Er war erstaunt über ihre Kenntnisse und über ihr Gedächtnis; anfangs bezweifelte er ihre Angaben manchmal und wünschte deren Bestätigung durch Druckschriften; aber sie fand dann immer beim Nachschlagen in den Büchern dasselbe, was sie ihm auf seine Fragen als Auskunft gegeben hatte, und konnte es ihm nachweisen.
Auch für die Einrichtung des Krankenhauses erwärmte sie sich. Sie half nicht nur, sondern richtete auch vieles selbständig ein und hatte dabei manche eigenen Gedanken. Aber ihre Hauptsorge blieb doch immer sie selbst: die Überlegung, wieweit sie Wronskis Liebe besitze und wie sie ihn für all das entschädigen könne, was er um ihretwillen aufgegeben habe. Wronski wußte diesen ihren Wunsch, der ihr einziger Lebenszweck geworden war, in seinem Werte zu würdigen, den Wunsch, ihm nicht nur zu gefallen, sondern ihm auch zu dienen; aber zugleich fühlte er sich auch durch das Liebesnetz, in das sie ihn zu verstricken suchte, belästigt. Je häufiger er sich im Laufe der Zeit durch dieses Netz behindert fühlte, um so stärker wurde bei ihm das Verlangen, nicht eigentlich sich davon loszumachen, [116] aber doch zu versuchen, ob dadurch auch nicht seine Freiheit beeinträchtigt werde. Wäre nicht in ihm dieses immer wachsende Verlangen gewesen, frei zu sein, nicht jedesmal erst eine Szene durchmachen zu müssen, wenn er zu den Versammlungen oder zum Rennen nach der Stadt fahren mußte, so würde Wronski mit seinem Leben vollständig zufrieden gewesen sein. Die Rolle, die er sich ausgesucht hatte, die Rolle des reichen Grundbesitzers, also eines Angehörigen jenes Standes, von dem er meinte, daß er den eigentlichen Kern der russischen Aristokratie bilden müsse, diese Rolle entsprach nicht nur völlig seinem Geschmack, sondern gewährte ihm jetzt, nachdem er ein halbes Jahr so gelebt hatte, auch eine ständig zunehmende Befriedigung. Und seine Arbeit, die ihn immer mehr beschäftigte und erfreute, hatte vortrefflichen Erfolg. Trotz der gewaltigen Ausgaben, die das Krankenhaus und die Maschinen und die Kühe, die er sich aus der Schweiz hatte kommen lassen, und viele andere Dinge verursachten, sah er deutlich, daß er sein Vermögen nicht verminderte, sondern vermehrte. Wo es sich um Einnahmen handelte, beim Verkauf von Holz, Getreide, Wolle, beim Verpachten von Land, da war Wronski hart wie Stein und verstand es, seinen Preis zu behaupten. In den Hauptfragen des Wirtschaftsbetriebes hielt er sich sowohl bei diesem Gute wie bei seinen anderen Gütern an die einfachsten, mit möglichst geringem Wagnis verbundenen Wirtschaftsweisen und zeigte sich in den wirtschaftlichen Einzelheiten im höchsten Grade berechnend und sparsam. Trotz aller Schlauheit und Gewandtheit seines deutschen Verwalters, der ihn zu Ankäufen veranlassen wollte und dabei jeden Kostenanschlag so aufstellte, daß man zunächst eine sehr große Summe für erforderlich halten mußte und erst nach näherer Prüfung merkte, es lasse sich doch billiger einrichten und ein sofortiger Gewinn erzielen, ließ sich Wronski durch ihn nicht beeinflussen. Er hörte an, was der Verwalter vorbrachte, stellte eingehende Fragen und stimmte ihm nur dann zu, wenn das, was sie kommen lassen oder einrichten wollten, etwas wirklich Neues und in Rußland noch Unbekanntes war, was Aufsehen erregen konnte. Überdies entschloß er sich zu größeren Ausgaben nur dann, wenn er Geld flüssig hatte, erkundigte sich vor solchen Ausgaben über alle Einzelheiten und bestand darauf, daß er für sein Geld dann auch wirklich nur das Allerbeste bekam. Daher war klar, daß bei der Art, wie er die Sache betrieb, sein Vermögen nicht abnehmen konnte, sondern wachsen mußte.
Im Oktober sollten die Adelswahlen im Gouvernement Kaschin abgehalten werden, wo die Güter Wronskis, Swijaschskis, [117] Kosnüschews, Oblonskis und ein kleiner Teil des Besitztums Ljewins lagen.
Diese Wahlen zogen wegen vieler Umstände und wegen der daran beteiligten Persönlichkeiten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Es wurde von ihnen viel gesprochen, und man traf dazu mancherlei Vorbereitungen. Eingesessene des Gouvernements, die in Moskau, in Petersburg und im Auslande wohnten und sich sonst nie an den Wahlen beteiligt hatten, kamen diesmal herbeigereist.
Wronski hatte schon lange vorher Swijaschski das Versprechen gegeben, zu den Wahlen zu fahren.
Vor den Wahlen kam Swijaschski, der überhaupt häufig in Wosdwischenskoje zu Besuch war, zu Wronski, um ihn abzuholen.
Am Tage vorher wäre es zwischen Wronski und Anna wegen dieser beabsichtigten Reise beinahe zu einem Streite gekommen. Es war der langweiligste, verdrießlichste Teil der Herbstzeit auf dem Lande, und so erklärte denn Wronski, auf einen Kampf gefaßt, ihr in einem strengen, kalten Tone, wie er ihn noch nie vorher Anna gegenüber angewendet hatte, daß er am nächsten Tage abreisen werde. Aber zu seiner Verwunderung nahm Anna diese Nachricht sehr ruhig auf und fragte nur, wann er zurückkommen werde. Er blickte sie forschend an, da ihm ihre Ruhe unverständlich war. Sie erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln. Er kannte an ihr diese Fähigkeit, sich in ihr Inneres zurückzuziehen, und wußte, daß sie das nur dann tat, wenn sie sich im stillen zu etwas entschlossen hatte und ihm ihre Pläne nicht mitteilen wollte. Er fürchtete, daß es auch diesmal so wäre; aber es lag ihm so sehr daran, einer Szene zu entgehen, daß er sich stellte, als sei er davon überzeugt, daß sie die Sache verständig auffasse; und zum Teil glaubte er das, was er wünschte, auch wirklich.
»Du wirst dich hoffentlich nicht langweilen?«
»Ich hoffe, nein«, erwiderte Anna. »Ich habe gestern eine Kiste Bücher von Gautier bekommen. Nein, ich werde mich schon nicht langweilen.«
›Wenn sie diesen Ton annehmen will, nun, um so besser‹, dachte er. ›Sonst wäre es ja doch immer wieder die alte Leier.‹
So reiste er denn, ohne sie zu einer offenen Aussprache veranlaßt zu haben, zu den Wahlen. Es war dies, seit sie einander näher kannten, das erstemal, daß er sich von ihr trennte, ohne sich vollständig mit ihr ausgesprochen zu haben. Einerseits beunruhigte ihn dies, anderseits fand er, daß es so schließlich doch besser sei. ›Die ersten Male wird sie, so wie diesmal, die Empfindung [118] haben, daß es zwischen uns an Klarheit und Offenheit fehlt; aber nachher wird sie sich schon daran gewöhnen. Jedenfalls kann ich alles um ihretwillen aufgeben, alles, aber nicht meine männliche Unabhängigkeit‹, dachte er.
Im September war Ljewin wegen Kittys bevorstehender Entbindung nach Moskau übergesiedelt. Er hatte schon einen ganzen Monat ohne Beschäftigung in Moskau zugebracht, als Sergei Iwanowitsch, der ein Gut im Gouvernement Kaschin besaß, sich anschickte, zu den Wahlen zu fahren, die ihm sehr am Herzen lagen. Er forderte auch seinen Bruder zum Mitkommen auf, der wegen seines im Kreise Selesnjew gelegenen Besitzes wahlberechtigt war. Außerdem hatte Ljewin in Kaschin für seine im Auslande lebende Schwester zwei höchst wichtige Angelegenheiten zu erledigen, bei denen es sich um eine Vormundschaftssache und um den Empfang von Einstandsgeldern handelte.
Ljewin war immer noch unentschlossen; aber Kitty, der es nicht entgangen war, daß er sich in Moskau langweilte, und die ihm von vornherein zugeredet hatte hinzufahren, hatte ihm ohne sein Wissen eine Adelsuniform machen lassen, die achtzig Rubel kostete. Und diese für die Uniform ausgegebenen achtzig Rubel wurden nun der Hauptgrund, der Ljewin zu der Reise bewog. Er fuhr nach Kaschin.
Er war nun schon seit sechs Tagen in Kaschin, besuchte täglich die Versammlungen und bemühte sich in den Angelegenheiten seiner Schwester, die durchaus nicht in Ordnung kommen wollten. Die Adelsmarschälle waren sämtlich durch die Wahlen in Anspruch genommen, und es war schlechterdings unmöglich, die Erledigung der sehr einfachen Angelegenheit zu erreichen, die vom Vormundschaftsamte abhing. Die andere Angelegenheit, der Empfang einer Geldsumme, stieß gleichfalls auf Hindernisse. Nachdem lange Bemühungen um die Aufhebung der Zwangsverwaltung vorausgegangen waren, sollte nun eigentlich das Geld zur Abholung bereit sein; aber der Rechtsbeistand, ein höchst dienstfertiger Mann, konnte die erforderliche Anweisung nicht ausstellen, weil dazu die Unterschrift des Präsidenten nötig war und der Präsident, ohne jemand mit seiner Vertretung beauftragt zu haben, sich in der Sitzung befand. Alle diese Plackereien, die Lauferei bald hierhin, bald dorthin, die Unterhandlungen mit sehr guten, braven Menschen, die für die unangenehme Lage des Antragstellers volles Verständnis [119] hatten, aber nicht imstande waren, ihm zu helfen, diese ganze Anstrengung, die völlig ergebnislos blieb: alles das brachte bei Ljewin eine qualvolle Empfindung hervor, ähnlich dem beängstigenden Ohnmachtsgefühl im Traume, wenn man vergeblich wünscht, von seiner körperlichen Kraft Gebrauch zu machen. Er hatte diese Empfindung häufig bei den Unterredungen mit seinem Sachwalter, einem überaus gutherzigen Manne. Dieser Sachwalter tat allem Anschein nach, was nur irgend möglich war, und strengte alle seine Geisteskräfte an, um dem armen Ljewin aus der Schwierigkeit herauszuhelfen. »Wissen Sie, was Sie versuchen sollten?« sagte er ihm wiederholt. »Gehen Sie doch einmal da und da hin!« Und nun entwickelte er einen umständlichen Plan, wie Ljewin den verhängnisvollen Umstand, durch den alles gehindert wurde, umgehen könne. »Aber«, fügte er sofort hinzu: »es wird wohl doch hapern; indessen, versuchen Sie es!« Und Ljewin versuchte es und scheute keine Gänge und Fahrten. Alle Leute waren gegen ihn freundlich und liebenswürdig; aber das Ergebnis war jedesmal, daß das, was er umgehen wollte, am Ende doch wieder als Hindernis vor ihm stand und den Weg versperrte. Ganz besonders verdrießlich war Ljewin darüber, daß er schlechterdings nicht herausbekommen konnte, mit wem er eigentlich kämpfte und wer einen Vorteil davon hätte, daß seine Angelegenheit nicht zum Abschluß käme. Und das schien niemand zu wissen; auch der Sachwalter wußte es nicht. Hätte Ljewin dies ebensowohl verstanden, wie er den Grund verstand, weshalb man zum Eisenbahnschalter nur gelangt, indem man Schlange steht, so hätte er sich nicht gekränkt gefühlt und sich nicht geärgert; aber über die Hindernisse, auf die er hier bei seiner Angelegenheit stieß, konnte ihm niemand Aufklärung geben, niemand wußte, wozu die eigentlich auf der Welt waren.
Ljewin hatte sich jedoch seit seiner Verheiratung sehr geändert, er hatte Geduld gelernt; und wenn er nicht begriff, wozu alles dies so eingerichtet war, so sagte er sich, er dürfe, ohne das Ganze zu kennen, sich kein Urteil erlauben, und es werde doch wohl so sein müssen; und so bemühte er sich denn, sich nicht darüber aufzuregen.
Jetzt nun, wo er bei den Wahlen anwesend war und sich an ihnen beteiligte, gab er sich ebenfalls alle Mühe, nicht vorschnell zu tadeln und sich nicht mit andern zu streiten, sondern nach Möglichkeit sich Einsicht in diese Sache zu verschaffen, bei der ehrenwerte, brave Männer, die auch er hochachtete, mit solchem Ernst und Eifer tätig waren. Seit Ljewin sich verheiratet hatte, hatten sich ihm so viele neue, ernste Gebiete des Lebens erschlossen, [120] die ihm vorher infolge seines nur oberflächlichen Verhältnisses zu ihnen unwichtig erschienen waren, daß er auch von den Wahlen annahm, sie würden wohl eine ernste Bedeutung haben, und diese ernste Bedeutung zu erkennen suchte.
Sergei Iwanowitsch klärte ihn über das Wesen und die Bedeutsamkeit des Umschwunges auf, den man bei diesen Wahlen herbeizuführen hoffte. Der Gouvernements-Adelsmarschall, in dessen Händen dem Gesetze gemäß so viele hochwichtige Verwaltungsangelegenheiten lagen: die Vormundschaftssachen (gerade in einer solchen hatte Ljewin jetzt soviel Pein auszustehen) und die gewaltigen Summen der Adelsgelder und das Mädchengymnasium, das Knabengymnasium, die Militärschule sowie der Volksschulunterricht nach der neuen Ordnung und schließlich die Kreistage – der Gouvernements-Adelsmarschall Snetkow war ein Vertreter der alten Art von Adligen: er hatte ein riesiges Vermögen durchgebracht, war ein gutmütiger, in seiner Art ehrenhafter Mann, besaß aber durchaus kein Verständnis für die Bedürfnisse der Neuzeit. Immer und in allen Dingen stellte er sich auf die Seite des Adels; er widersetzte sich geradezu der Verbreitung der Volksbildung und suchte dem Kreistage, der doch eine so gewaltige Bedeutung haben soll, einen ständischen Charakter zu geben. Man mußte daher an seine Stelle einen frischen, fortschrittlichen, tüchtigen, durchaus neuzeitlich denkenden Mann setzen und darauf hinwirken, daß aus all den Rechten, die dem Adel nicht als solchem, sondern als einem Bestandteile des Kreistages verliehen waren, für die Selbstverwaltung soviel Vorteil wie nur irgend möglich gezogen würde. In dem reichen Gouvernement Kaschin, das immer und in allen Dingen den anderen voraus war, hatten sich jetzt solche geistige Kräfte zusammengefunden, daß dieses Werk, wenn es hier richtig durchgeführt wurde, für die andern Kreise, ja für ganz Rußland als Vorbild dienen konnte. Und darum hatte die ganze Sache eine außerordentliche Bedeutung. Es war vorgeschlagen worden, an Snetkows Stelle als Adelsmarschall Swijaschski zu setzen oder noch lieber den ehemaligen Professor Newjedowski, einen hervorragend klugen Mann, der mit Sergei Iwanowitsch sehr befreundet war.
Eröffnet wurde die Versammlung von dem Gouverneur, der an die Edelleute eine Rede hielt: sie möchten sich bei der Wahl der Beamten nicht durch persönliche Gründe, sondern nur durch die Verdienste der Betreffenden und durch die Rücksicht auf das Wohl des Vaterlandes leiten lassen; er hoffe, daß der hochlöbliche Adel des Gouvernements Kaschin wie bei den früheren [121] Wahlen so auch diesmal seine Pflicht gewissenhaft erfüllen und das hohe Vertrauen des Monarchen rechtfertigen werde.
Nach Beendigung seiner Rede verließ der Gouverneur den Saal; die Edelleute folgten ihm geräuschvoll und in lebhafter Erregung, manche sogar in begeisterter Stimmung, und umringten ihn, während er seinen Pelz anzog und sich mit dem Gouvernements-Adelsmarschall freundschaftlich unterhielt. Ljewin, der in alles Einblick gewinnen und sich nichts entgehen lassen wollte, stand auch dort in dem dichten Schwarm und hörte, wie der Gouverneur sagte: »Bitte, bestellen Sie an Marja Iwanowna, meine Frau bedauere außerordentlich, aber sie müsse dem Armenhause einen Besuch machen.« Gleich darauf suchte sich jeder der Edelleute seinen Pelz heraus, und sie alle fuhren nach dem Dom.
Im Dom leistete Ljewin, indem er mit den anderen die Hand erhob und die Worte des obersten Geistlichen nachsprach, einen höchst feierlichen Eid, alles das zu erfüllen, was der Gouverneur als seine Erwartung ausgesprochen hatte. Gottesdienstliche Handlungen machten auf Ljewin immer einen starken Eindruck, und als er die Worte sprach: »Ich küsse das Kreuz« und rings um sich diese Schar junger und alter Männer sah, die das gleiche wiederholten, fühlte er sich gerührt.
Am zweiten und dritten Tage wurde über die Adelsgelder und über das Mädchengymnasium verhandelt, Dinge, die nach Sergei Iwanowitschs Aussage keinerlei Bedeutung hatten, und da Ljewin mit der Lauferei in seinen eigenen Angelegenheiten zu tun hatte, so wohnte er diesen Verhandlungen nicht bei. Am vierten Tage fand am Gouvernementstische eine Prüfung der Adelskasse statt. Und hierbei kam es zum ersten Male zu einem Zusammenstoße der neuen Partei mit der alten. Der Ausschuß, der mit der Prüfung der Kasse beauftragt war, berichtete der Versammlung, daß der Kassenbestand genau stimme. Der Gou vernements-Adelsmarschall stand auf, bedankte sich bei den Edelleuten für das ihm erwiesene Vertrauen und wurde dabei bis zu Tränen gerührt. Die Edelleute ergingen sich in lauten Zustimmungen und drückten ihm die Hand. In diesem Augenblick aber sagte ein zu Sergei Iwanowitschs Partei gehöriger Edelmann, er habe gehört, daß der Ausschuß die Kasse gar nicht geprüft habe, in der Meinung, eine solche Prüfung habe für den Gouvernements-Adelsmarschall etwas Kränkendes. Eines der Mitglieder des Ausschusses habe dies unvorsichtigerweise geäußert. Darauf sprach ein kleiner, dem Aussehen nach noch sehr junger, aber sehr giftiger Herr sich dahin aus, es würde dem Gouvernements-Adelsmarschall jedenfalls angenehm [122] gewesen sein, über die Gelder Rechenschaft abzulegen, und nun gehe er infolge der übertriebenen Feinfühligkeit der Ausschußmitglieder dieser moralischen Befriedigung verlustig. Darauf bestritten die Ausschußmitglieder, jemals gesagt zu haben, daß die Kasse nicht geprüft sei, und nun begann Sergei Iwanowitsch folgerichtig zu beweisen, daß sie bestimmt erklären müßten, entweder daß sie die Kasse geprüft hätten oder daß sie es nicht getan hätten, und setzte diese Zwangslage eingehend auseinander. Ihm erwiderte dann ausführlich ein Redner der Gegenpartei. Dann sprach Swijaschski und nach ihm wieder der giftige Herr. Die Auseinandersetzung zog sich in die Länge und führte zu keinem Ergebnis. Ljewin wunderte sich, daß über diesen Gegenstand so lange gestritten wurde, namentlich da Sergei Iwanowitsch auf seine Frage, ob er denn glaube, daß Geld veruntreut sei, erwiderte:
»Oh, nicht doch! Er ist ein ehrlicher Mensch. Aber wir mußten dieser altmodischen Gewohnheit einer patriarchalischen Behandlung von Adelssachen einen Stoß versetzen.«
Am fünften Tage wurden die Wahlen der Kreis-Adelsmarschälle abgehalten. Dieser Tag war in mehreren Kreisen recht stürmisch. Im Kreise Selesnjew wurde Swijaschski ohne Ballotage einstimmig wiedergewählt, und es fand bei ihm an diesem Tage ein Festessen statt.
Auf den sechsten Tag waren die Gouvernementswahlen angesetzt. Die beiden Säle, der große und der kleine, waren voll von Edelleuten in mannigfachen Uniformen. Viele hatten sich nur für diesen einen Tag eingefunden. Bekannte, die einander lange nicht gesehen hatten und von denen der eine aus der Krim, ein anderer aus Petersburg, ein dritter aus dem Auslande gekommen war, begegneten einander in diesen Sälen. Am Gouvernementstische, unter dem Bilde des Zaren, fanden die Verhandlungen statt.
Die Edelleute hatten sich sowohl im großen wie im kleineren Saale in zwei Lager gruppiert, und aus mancherlei Anzeichen war zu erkennen, daß jede Partei vor der anderen ihre Geheimnisse hatte: feindselige, mißtrauische Blicke flogen hinüber und herüber; das Gespräch verstummte bei Annäherung fremder Personen; manche begaben sich sogar flüsternd weg nach dem entfernten Vorsaal. Dem Äußeren nach schieden sich die Edelleute scharf in zwei Altersklassen: die Alten und die Jungen. Die Alten trugen größtenteils entweder alte zugeknöpfte Adelsuniformen [123] mit Hut und Degen oder je nach ihrer früheren dienstlichen Stellung ihre besonderen Marine-, Kavallerie- und Infanterie-Uniformen. Die Uniformen der alten Edelleute waren von altmodischem Schnitt, mit Puffen an den Schultern; sie waren offenbar zu klein geworden, zu kurz in der Hüfte und zu eng, als wenn ihre Träger aus ihnen herausgewachsen wären. Die Jungen dagegen trugen aufgeknöpfte Adelsuniformen, lang in der Hüfte und breit in den Schultern, mit weißen Westen, oder auch Uniformen mit schwarzem Kragen und goldgestickten Lorbeerblättern, dem Abzeichen des Justizministeriums. Zu den Jungen gehörten auch einige Hofuniformen, die hier und da zur Verschönerung des Schwarmes beitrugen.
Aber diese Teilung in Junge und Alte fiel nicht durchweg mit der Teilung der Parteien zusammen. Einige der Jungen gehörten nach Ljewins Beobachtungen zur alten Partei, und umgekehrt flüsterten einige der ältesten Edelleute mit Swijaschski und waren also offenbar eifrige Anhänger der neuen Partei.
Ljewin stand im kleinen Saale, wo man rauchen und an einem Schanktisch etwas zu essen bekommen konnte, neben einer Gruppe seiner Parteigenossen, hörte dem Gespräche zu und strengte vergeblich seine Geisteskräfte an, um das, was gesprochen wurde, zu verstehen. Sergei Iwanowitsch war der Mittelpunkt, um den sich die andern gruppierten. Augenblicklich hörte er mit an, was Swijaschski und Chljustow sagten, der Adelsmarschall eines anderen Kreises, der zu ihrer Partei gehörte. Chljustow wollte sich nicht dazu verstehen, mit seinen Kreisangehörigen zu Snetkow zu gehen und ihn zu bitten, daß er doch von neuem kandidieren möge; Swijaschski dagegen redete ihm zu, dies doch zu tun, und auch Sergei Iwanowitsch billigte diesen Plan. Ljewin begriff nicht, zu welchem Zwecke eine feindliche Partei einen Adelsmarschall, den sie wegballotieren wollte, bitten sollte zu kandidieren.
Stepan Arkadjewitsch, der soeben einen Bissen gegessen und ein Gläschen getrunken hatte und sich nun mit dem parfümierten, farbig geränderten Batisttaschentuch den Mund wischte, trat in seiner Kammerherrenuniform zu ihnen.
»Wir werden die feindliche Stellung nehmen, Sergei Iwanowitsch!« sagte er, indem er die beiden Hälften seines Backenbartes sorgsam auseinanderstrich.
Und nachdem er dem Gespräch ein Weilchen zugehört hatte trat er der Meinung Swijaschskis bei.
»An einem Kreise ist es genug, und Swijaschski kann es nicht tun, weil schon allgemein bekannt ist, daß er zur Opposition gehört«, sagte er, und dies war allen außer Ljewin verständlich.
[124] »Nun, Konstantin, du scheinst ja auch schon in Geschmack gekommen zu sein?« fügte er, zu Ljewin gewendet, hinzu und faßte ihn unter den Arm. Ljewin hätte sich gefreut, daran Geschmack zu finden; aber er konnte nicht begreifen, worum es sich handelte, und einige Schritte von den Redenden wegtretend, drückte er seinem Schwager sein Erstaunen darüber aus, weshalb der Gouvernements-Adelsmarschall gebeten werden sollte, wieder zu kandidieren.
»O sancta simplicitas!« 1 erwiderte Stepan Arkadjewitsch und setzte ihm nun kurz und klar auseinander, wie die Sache stand.
»Wenn, wie bei der vorigen Wahl, alle Kreise den Gouvernements-Adelsmarschall bäten zu kandidieren, dann würde er mit lauter weißen Kugeln gewählt werden. Das darf nicht geschehen. Jetzt aber sind acht Kreise willens, ihn um seine Kandidatur zu ersuchen; wenn nun zwei Kreise es ablehnen, sich an dieser Aufforderung zu beteiligen, so wird Snetkow möglicherweise auf seine Kandidatur verzichten. Und dann wird es der alten Partei vielleicht gelingen, einen anderen ihrer Anhänger durchzubringen, da dann unser ganzer Plan gestört ist. Aber wenn nur der eine Kreis Swijaschskis sich von jener Aufforderung ausschließt, dann wird Snetkow kandidieren. Er wird sogar eine Mehrheit erhalten; denn wir werden ihm absichtlich eine Anzahl von unseren Stimmen zukommen lassen, so daß die Gegenpartei in ihrer Rechnung irre wird und, wenn wir einen der Unsrigen als Kandidaten aufstellen, ihm auch ihrerseits eine Anzahl Stimmen zuwendet.«
Ljewin verstand nun, aber noch nicht ganz, und wollte eben noch einige Fragen stellen, als auf einmal alle zu reden und zu lärmen begannen und in den großen Saal eilten.
»Was ist los? Was? Wen? – Vertrauen sollen wir haben? Zu wem? Wieso? – Er schließt ihn aus? – Wir haben kein Vertrauen zu ihm. – Er will Flerow nicht zulassen. – Was schadet das, daß er sich im Anklagezustand befindet? – Auf die Art könnte er ja jeden ausschließen. Das ist gemein. – Da möchten wir doch mal das Gesetz sehen!« hörte Ljewin von verschiedenen Seiten durcheinanderrufen. Alle strebten eilig vorwärts, als ob sie etwas zu versäumen fürchteten, und mit ihnen begab sich auch Ljewin in den großen Saal und näherte sich mitten in dem dichten Schwarm der Edelleute dem Gouvernementstisch, an dem der Gouvernements-Adelsmarschall, Swijaschski und andere Parteiführer hitzig über etwas stritten.
1 (lat.) O heilige Einfalt!
Ljewin stand ziemlich entfernt. Ein neben ihm stehender Edelmann, der schwer und mit krächzendem Geräusch atmete, und ein anderer, der mit seinen dicken Stiefelsohlen knarrte, hinderten ihn, deutlich zu hören. Er hörte von weitem nur die weiche Stimme des Adelsmarschalls, dann die kreischende jenes giftigen Edelmanns und darauf Swijaschskis Stimme. Sie stritten, soweit er daraus vernehmen konnte, über den Sinn eines Gesetzesparagraphen und über die Bedeutung der Worte: »gegen den eine gerichtliche Untersuchung eingeleitet ist.«
Die Menge teilte sich, um Sergei Iwanowitsch, der zu dem Tische hingehen wollte, durchzulassen. Sergei Iwanowitsch wartete ab, bis der bissige Edelmann mit dem, was er sagen wollte, fertig war, und sagte dann, seiner Ansicht nach sei es das Sicherste, den Gesetzesparagraphen einzusehen; er ersuche den Sekretär, den Paragraphen aufzuschlagen. Es ergab sich, daß in dem Paragraphen gesagt war, im Falle einer Meinungsverschiedenheit habe Abstimmung durch Ballotage stattzufinden.
Sergei Iwanowitsch las den Paragraphen vor und begann seinen Sinn zu erläutern; aber da unterbrach ihn ein hochgewachsener, dicker Gutsbesitzer mit etwas gekrümmter Haltung, mit gefärbtem Schnurrbart, in einer engen Uniform, auf deren Kragen hinten der überstehende Hals wie auf einer Stütze ruhte. Er trat an den Tisch heran, klopfte mit seinem Siegelring darauf und rief laut:
»Abstimmen! Die Stimmkugeln her! Da ist nichts weiter zu reden! Die Stimmkugeln her!«
Nun fingen auf einmal mehrere gleichzeitig an zu sprechen, und der hochgewachsene Edelmann mit dem Siegelring erboste sich immer mehr und schrie immer lauter. Aber es war nicht mehr zu verstehen, was er sagte.
Er sagte ganz dasselbe, was Sergei Iwanowitsch beantragt hatte; aber augenscheinlich hatte er auf ihn und seine ganze Partei einen Haß, und dieses Gefühl des Hasses teilte sich nun seiner ganzen eigenen Partei mit, und dadurch wurde dann als Gegenwirkung auf der anderen Seite ein gleiches, obwohl in anständigerer Form sich äußerndes Gefühl der Erbitterung hervorgerufen. Es erhob sich ein Geschrei, und eine Minute lang herrschte ein solcher Lärm, daß der Gouvernements-Adelsmarschall um Ruhe bitten mußte.
»Abstimmen, abstimmen! Wer ein Edelmann ist, versteht das auch ohne lange Auseinandersetzungen. – Wir vergießen unser [126] Blut ... – Das Vertrauen des Monarchen ... – Den Adelsmarschall darf man nicht so kontrollieren; er ist doch kein Kommis! – Aber darum handelt es sich gar nicht! – Die Stimmkugeln her! So eine Gemeinheit!« wurde von allen Seiten in Grimm und Wut geschrien. Die Blicke und Gesichter waren noch grimmiger und wütender als die Worte und drückten einen unversöhnlichen Haß aus. Ljewin begriff gar nicht, worum es sich handelte, und war erstaunt über die Leidenschaftlichkeit, mit der die Frage, ob über Flerows Zulassung abgestimmt werden sollte oder nicht, behandelt wurde. Er hatte, wie ihm nachher Sergei Iwanowitsch auseinandersetzte, sich folgenden Gedanken nicht klargemacht: für das Gemeinwohl war es erforderlich, den Gouvernements-Adelsmarschall zu beseitigen; zur Beseitigung des Adelsmarschalls war Stimmenmehrheit erforderlich; um aber die Stimmenmehrheit zu haben, war es erforderlich, daß jenem Flerow das Stimmrecht zuerkannt wurde; und um Flerow für stimmfähig erklären zu können, war es erforderlich, den Gesetzesparagraphen in entsprechender Weise auszulegen.
»Eine einzige Stimme kann die ganze Sache entscheiden, und wenn man dem Wohle der Gesamtheit dienen will, muß man entschlossen und folgerichtig sein«, schloß Sergei Iwanowitsch. Ljewin aber hatte sich das zu der Zeit, als sich der Vorgang abspielte, noch nicht klargemacht, und es war ihm peinlich, diese braven Männer, die er hochachtete, in so häßlicher, grimmiger Aufregung zu sehen. Um dieses peinliche Gefühl loszuwerden, ging er, ohne das Ende der Verhandlungen abzuwarten, hinaus in den kleinen Saal, wo sich niemand befand außer den Kellnern am Schanktisch. Beim Anblick der Kellner, die eifrig damit beschäftigt waren, das Geschirr abzuwaschen und abzutrocknen und Teller und Gläser aufzustellen, und beim Anblick ihrer ruhigen, frischen Gesichter empfand Ljewin ein unerwartetes Gefühl der Erleichterung, als wenn er aus einem übelriechenden Zimmer in die reine Luft hinausgetreten wäre. Er fing an, auf und ab zu gehen und sah mit Vergnügen den Kellnern zu. Namentlich gefiel ihm einer mit schon ergrautem Backenbart; er unterwies seine jüngeren Kollegen in der Kunst, Mundtücher zu falten, und hatte für die törichten Späße, die sie über ihn machten, nur den Ausdruck stillschweigender Geringschätzung. Ljewin hatte eben vor, mit dem alten Kellner ein Gespräch anzuknüpfen, als der Sekretär des adligen Vormundschaftsamtes, ein altes Männchen, dessen Besonderheit es war, sämtliche Edelleute des Gouvernements bei ihren Vornamen und Vatersnamen zu kennen, ihm dazwischenkam.
[127] »Wollen Sie die Güte haben zu kommen, Konstantin Dmitrijewitsch?« sagte er zu ihm. »Ihr Herr Bruder sucht Sie. Es wird abgestimmt.«
Ljewin begab sich wieder in den großen Saal, nahm ein weißes Kügelchen in Empfang und ging unmittelbar hinter seinem Bruder Sergei Iwanowitsch zu dem Tische hin, neben dem mit bedeutsamer, spöttischer Miene Swijaschski stand, seinen Bart in der Faust zusammenfaßte und daran roch. Sergei Iwanowitsch steckte seine Hand in einen Kasten und legte seine Kugel irgendwohin; dann machte er Ljewin Platz, blieb aber neben ihm stehen. Ljewin trat heran; aber da er vollständig vergessen hatte, worum es sich handelte, so wandte er sich in seiner Verlegenheit an Sergei Iwanowitsch mit der Frage: »Wohin soll ich sie legen?« Er hatte leise gefragt, während in der Nähe gesprochen wurde, so daß er hatte hoffen können, seine Frage würde nicht gehört werden. Aber die Redenden verstummten gerade in dem Augenblicke, und die unpassende Frage wurde gehört. Sergei Iwanowitsch zog ein finsteres Gesicht.
»Das hängt von der Überzeugung eines jeden ab«, antwortete er in strengem Ton.
Einige lächelten. Ljewin wurde rot, steckte hastig die Hand unter das Tuch und legte die Kugel, da er sie in der rechten Hand hatte, nach rechts. Nachdem er das getan hatte, fiel ihm ein, daß er auch die linke Hand hätte unter das Tuch stecken müssen, und so tat er dies denn noch nachträglich, allerdings zu spät; er wurde noch verlegener und ging möglichst schnell in die hintersten Reihen zurück.
»Einhundertsechsundzwanzig Stimmen für die Berechtigung! Achtundneunzig Stimmen dagegen!« rief der Sekretär, der das R nicht aussprechen konnte. Dann hörte man Gelächter: es hatten sich in dem Kasten noch ein Knopf und zwei Nüsse gefunden. Der Edelmann war zugelassen worden; die neue Partei hatte gesiegt.
Aber die alte Partei erachtete sich nicht für besiegt. Ljewin hörte, daß Snetkow gebeten wurde zu kandidieren, und sah, daß ein Schwarm von Edelleuten den Gouvernements-Adelsmarschall umringte, der etwas sagte. Ljewin trat näher heran. Auf die Aufforderung der Edelleute antwortend, sprach Snetkow von dem Vertrauen des Adels, von der Liebe, die man ihm entgegenbringe und die er nicht verdiene, da sein ganzes Verdienst darin bestehe, daß er treu dem Adel ergeben sei, dem er in den zwölf Jahren seiner Diensttätigkeit sein Wirken gewidmet habe. Mehrere Male wiederholte er die Worte: »Ich habe, soviel in meinen Kräften lag, mein Amt treu und redlich geführt; [128] ich weiß Ihre freundliche Gesinnung zu schätzen und danke Ihnen.«
Aber auf einmal hielt er inne, da Tränen seine Stimme hemmten, und verließ den Saal. Mochten nun diese Tränen davon herrühren, daß er das Gefühl hatte, man lasse ihm nicht Gerechtigkeit widerfahren, oder kamen sie von seiner Liebe zum Adel oder von der Gespanntheit der Lage, in der er sich befand, da er merkte, daß er von Feinden umgeben sei: genug, seine Aufregung teilte sich auch anderen mit, die Mehrzahl der Edelleute war gerührt, und Ljewin empfand eine gewisse Zärtlichkeit gegen Snetkow.
In der Tür prallte der Gouvernements-Adelsmarschall mit Ljewin zusammen.
»Pardon, entschuldigen Sie, bitte!« sagte er zu ihm, wie zu einem Unbekannten; als er dann aber Ljewin erkannte, lächelte er schüchtern. Es kam Ljewin vor, als wollte Snetkow etwas sagen, sei aber vor Erregung nicht dazu imstande. Als Ljewin den Ausdruck seines Gesichtes und die Haltung seiner ganzen Figur sah, wie er in seiner Uniform, mit den Ordenssternen und den weißen, tressengeschmückten Hosen, hastig dahineilte, mußte er unwillkürlich an ein gehetztes Wild denken, das merkt, daß es mit ihm zu Ende geht. Dieser Ausdruck im Gesicht des Adelsmarschalls hatte für Ljewin besonders deshalb etwas Rührendes, weil er erst gestern in seiner Vormundschaftssache bei ihm in seinem Hause gewesen war und ihn dort in seinem ganzen Glanze als guten Familienvater gesehen hatte. Das große Haus mit den alten Familienmöbeln; die zwar nicht vornehmen und etwas unsauberen, aber aufmerksamen alten Diener, augenscheinlich frühere Leibeigene, die ihren Herrn nicht gewechselt hatten; die beleibte, gutherzige Hausfrau mit der Spitzenhaube und dem türkischen Schal, die ihre hübsche Enkelin, eine Tochter ihrer Tochter, auf dem Arme hielt und liebkoste; der forsche Sohn, Schüler der sechsten Gymnasialklasse, der eben aus der Schule kam und bei der Begrüßung seinem Vater die große Hand küßte; die herzlichen, freundlichen Worte und Gebärden des Hausherrn: alles das hatte gestern in Ljewins Herzen unwillkürlich ein Gefühl der Hochachtung und der Teilnahme für Snetkow hervorgerufen. Jetzt nun machte ihm der alte Mann einen überaus rührenden, traurigen Eindruck, und er wollte ihm gern etwas Angenehmes sagen.
»Also Sie werden wieder unser Adelsmarschall werden?« sagte er.
»Schwerlich«, erwiderte der Adelsmarschall und blickte dabei ängstlich um sich. »Ich bin müde, ich bin schon zu alt. Es sind [129] Würdigere und Jüngere da als ich; mögen die das Amt übernehmen.«
Und der Adelsmarschall entfernte sich durch eine Seitentür.
Nun war der feierlichste Augenblick da. In wenigen Minuten sollte zur Wahl geschritten werden. Die Wortführer der einen und der anderen Partei rechneten an den Fingern die zu erwartenden Ja und Nein aus.
Die Auseinandersetzung über Flerow hatte der neuen Partei nicht nur die Stimme Flerows eingebracht, sondern auch noch einen Zeitgewinn, so daß sie versuchen konnten, drei Edelleute herbeizuschaffen, die durch die Ränke der alten Partei der Möglichkeit beraubt worden waren, an den Wahlen teilzunehmen. Zwei Edelleute nämlich, die eine Schwäche für alkoholische Getränke besaßen, waren von Snetkows Helfershelfern betrunken gemacht worden; desgleichen ein dritter, dem sogar die Uniform weggenommen worden war.
Als dies die neue Partei erfahren hatte, benutzte sie die Zeit der Verhandlungen über Flerow dazu, in einer Droschke einige der Ihrigen hinzuschicken, und es gelang, dem einen Edelmann zu einer Uniform zu verhelfen und auch von den beiden andern Betrunkenen wenigstens den einen zur Versammlung herbeizuschaffen.
»Einen habe ich herbekommen; ich habe ihm Wasser über den Kopf gegossen«, meldete, zu Swijaschski tretend, der Gutsbesitzer, der die beiden hatte holen lassen. »Es geht mit ihm; er wird seine Sache schon machen.«
»Ist er auch nicht zu sehr betrunken? Wird er uns nicht umfallen?« fragte Swijaschski kopfschüttelnd.
»Nein, er ist ein strammer Bursche. Wenn sie ihn nur nicht hier wieder von neuem betrunken machen ... Ich habe den Bierausschenker streng angewiesen, ihm unter keinen Umständen etwas zu geben.«
Der schmale Saal, in dem geraucht und gegessen wurde, war voll von Edelleuten. Die Aufregung steigerte sich immer mehr, und auf allen Gesichtern machte sich die Unruhe bemerkbar. Besonders aufgeregt waren die Wortführer, die mit allen Einzelheiten und mit der Berechnung aller Stimmen Bescheid wußten. Dies waren die Befehlshaber der bevorstehenden Schlacht. Die übrigen, ähnlich den gemeinen Soldaten vor der Schlacht, machten sich zwar auch zum Kampfe fertig, suchten sich aber in der Zwischenzeit noch zu vergnügen. Die einen aßen stehend oder [130] an Tischen sitzend; die andern gingen, Zigaretten rauchend, in dem langen Saale auf und ab und unterhielten sich mit Freunden, die sie lange nicht gesehen hatten.
Ljewin hatte keine Lust zu essen, auch rauchte er überhaupt nicht; zu einer Gruppe seiner Bekannten, das heißt zu Sergei Iwanowitsch, Stepan Arkadjewitsch, Swijaschski und einigen anderen, mochte er nicht herantreten, weil Wronski in seiner Hofstallmeister-Uniform bei ihnen stand und in lebhaftem Gespräche mit ihnen begriffen war. Schon tags zuvor hatte Ljewin ihn bei den Wahlen gesehen und war ihm absichtlich aus dem Wege gegangen, da er nicht mit ihm zusammenzutreffen wünschte. Er ging an ein Fenster, setzte sich dort auf einen Stuhl, betrachtete die einzelnen Gruppen und hörte auf das, was um ihn herum gesprochen wurde. Er war besonders deswegen verstimmt, weil er sah, wie alle lebhaft, eifrig und geschäftig waren und nur er allein mit einem uralten, zahnlosen, immer wispernd die Lippen bewegenden, kleinen Herrn in Marine-Uniform, der sich neben ihn gesetzt hatte, in Teilnahmslosigkeit und Untätigkeit verharrte.
»Das ist ein nichtswürdiger Heimtücker! Ich habe es ihm schon längst gesagt, aber er wollte es nicht glauben. Na ja! In drei Jahren hat er es nicht fertiggebracht, eine Versammlung zu berufen«, sagte in energischem Tone ein Gutsbesitzer von kleiner Gestalt und gekrümmter Haltung, dessen stark pomadisiertes Haar über den gestickten Kragen seiner Uniform hing, und stampfte kräftig mit den Absätzen seiner neuen, offenbar für die Wahlen angefertigten Stiefel auf den Boden. Er warf Ljewin einen mißvergnügten Blick zu und drehte sich kurz um.
»Ja, es ist eine unsaubere Geschichte, das ist nicht zu leugnen«, erwiderte ein anderer Gutsbesitzer, gleichfalls von kleinem Wuchse, mit hoher Stimme.
Nach diesen beiden kam ein ganzer Haufe von Gutsbesitzern, die einen dicken General umringten, eilig in Ljewins Nähe. Sie suchten offenbar eine Stelle, wo sie miteinander reden konnten, ohne von anderen gehört zu werden.
»Wie kann er sich erdreisten zu sagen, daß ich ihm habe die Hosen stehlen lassen! Ich denke mir, er hat sie versoffen. Und wenn er auch ein Fürst ist, ich habe auch nicht so viel Achtung vor ihm! So etwas darf er nicht zu behaupten wagen; das ist eine Unverschämtheit!«
»Aber erlauben Sie! Man beruft sich auf einen bestimmten Paragraphen«, wurde in einer anderen Gruppe gesagt. »Die Ehefrau muß als Adlige eingetragen sein.«
[131] »Ich schere mich den Teufel um so einen Paragraphen! Ich rede die Wahrheit. Dafür sind wir richtige Edelleute. Wir können Vertrauen beanspruchen!«
»Euer Exzellenz, trinken wir ein Gläschen Likör!«
Ein anderer Trupp ging hinter einem Edelmanne her, der etwas mit lauter Stimme schrie; dies war einer der drei Betrunkenen.
»Ich habe Marja Semjonowna immer dazu geraten, das Land zu verpachten, weil sie selbst keinen Gewinn daraus erzielt«, sagte mit angenehmer Stimme ein Gutsbesitzer mit grauem Schnurrbart, in der Oberstenuniform des alten Generalstabes. Es war jener Gutsbesitzer, den Ljewin bei Swijaschski getroffen hatte. Er erkannte ihn sofort. Auch der Gutsbesitzer sah ihn scharf an, und sie begrüßten sich.
»Sehr angenehm! Gewiß, ich erinnere mich sehr gut. Im vorigen Jahre, bei Nikolai Iwanowitsch, dem Adelsmarschall.«
»Nun, wie geht denn jetzt Ihre Wirtschaft?« fragte Ljewin.
»Es ist immer dieselbe Geschichte; man wirtschaftet mit Verlust«, antwortete der Gutsbesitzer, der neben ihm stehengeblieben war. Er lächelte dabei ergebungsvoll; seine Miene war ruhig und bekundete seine Überzeugung, daß es eben so sein müsse. »Und Sie? Wie kommen Sie denn eigentlich in unser Gouvernement?« fragte er. »Sie sind wohl hergekommen, um bei unserm coup d'état 1 mitzuwirken?« fügte er hinzu; er sprach die französischen Worte ohne Unsicherheit, aber schlecht aus.
»Ganz Rußland hat sich hier zusammengefunden: selbst Kammerherren und womöglich sogar Minister.« Er wies auf die stattliche Gestalt Stepan Arkadjewitschs in weißen Hosen und der Kammerherrenuniform, der gerade mit einem General zusammen ging.
»Ich muß Ihnen gestehen, daß ich für die Bedeutung der Adelswahlen sehr wenig Verständnis habe«, sagte Ljewin.
Der Gutsbesitzer sah ihm ins Gesicht.
»Aber was ist denn da zu verstehen? Von irgendwelcher Bedeutung ist dabei überhaupt nicht die Rede. Das Ganze ist eine wertlos gewordene Einrichtung, die nur durch das Beharrungsvermögen in mechanischer Bewegung bleibt. Sehen Sie nur die Uniformen an; auch die sagen Ihnen: dies ist eine Versammlung von Friedensrichtern, von ständigen Beisitzern dieser und jener Behörden und so weiter, aber nicht von Edelleuten.«
»Warum sind Sie denn dann hergekommen?« fragte Ljewin.
»So aus alter Gewohnheit; das ist der erste Grund. Und dann muß ich auch allerlei Beziehungen aufrechterhalten. Bis zu einem gewissen Grade betrachte ich es auch als eine sittliche Verpflichtung. [132] Und dann, die Wahrheit zu sagen, habe ich diesmal auch eine eigene Angelegenheit. Mein Schwager möchte sich gern für ein Amt bei einer Adelsbehörde wählen lassen; er ist nicht reich, und da muß ich ihm ein bißchen behilflich sein. Sehen Sie einmal diese Herren da; warum kommen die denn her?« sagte er und wies auf jenen bissigen Herrn, der vorher am Gouvernementstische gesprochen hatte.
»Das ist die neue Generation des Adels.«
»Neu ist sie schon; aber richtiger Adel ist das nicht. Das sind Grundbesitzer, während wir Landwirte sind. Als Edelleute begehen sie eigentlich eine Art Selbstmord.«
»Aber Sie sagten doch, daß diese ganze Einrichtung sich überlebt hätte.«
»Überlebt hat sie sich freilich; aber doch sollte man mit ihr etwas ehrerbietiger verfahren. Da ist zum Beispiel dieser Snetkow ... Ob wir nun etwas taugen oder nicht, aber jedenfalls sind wir das Ergebnis eines tausendjährigen Wachstums. Wissen Sie, wenn man sich vor dem Hause ein Gärtchen anlegen will, so möchte man sich dazu ein Stückchen Boden frei und eben machen, und nun wächst vielleicht gerade an der Stelle bei Ihnen ein hundertjähriger Baum. Wenn der auch krumm gewachsen und alt ist, so werden Sie doch um der Blumenbeete willen den alten Kerl nicht umhauen, sondern die Beete so anlegen, daß Sie sich auch den Baum dabei nach Möglichkeit zunutze machen. So einen Baum zieht man nicht in einem Jahre heran«, sagte er, vorsichtig jedes Wort überlegend, und brachte dann das Gespräch sogleich auf einen andern Gegenstand. »Nun, und wie steht's mit Ihrer Wirtschaft?«
»Nicht gerade besonders. Fünf Prozent bringt sie ein.«
»Ja, aber dabei rechnen Sie Ihre eigene Person nicht mit. Ihre Arbeitskraft ist ja doch auch etwas wert, nicht wahr? Sehen Sie, ich will da einmal von mir selbst sprechen. Ehe ich selbst wirtschaftete, bekam ich in einem Amte, das ich bekleidete, jährlich dreitausend Rubel Gehalt. Jetzt arbeite ich mehr, als ich als Beamter arbeitete, und erziele ebenso wie Sie meine fünf Prozent, und auch das nur, wenn's Gott gibt. Und meine eigene Arbeit gebe ich umsonst.«
»Warum tun Sie es denn dann? Wenn es doch offenbarer Schaden ist?«
»Ja, man tut es eben doch! Was soll man machen? Man ist es so gewohnt und weiß, daß es nun einmal so sein muß. Ich will Ihnen noch mehr sagen«, fuhr, sich mit dem Ellbogen auf das Fensterbrett stützend, der Gutsbesitzer fort, der ins Reden gekommen war; »mein Sohn hat keine Lust zur Landwirtschaft. [133] Er will Gelehrter werden. Es wird also niemand da sein, der mein Lebenswerk weiterführt. Und doch arbeitet man daran fort. So habe ich mir in diesem Jahre einen Garten angelegt.«
»Ja, ja«, erwiderte Ljewin, »das ist vollkommen richtig. Ich habe immer die Empfindung, daß ich von meiner Landwirtschaft keinen rechten Vorteil habe, und doch arbeitet man weiter ... Man fühlt eine Art von Verpflichtung dem Grund und Boden gegenüber.«
»Da möchte ich Ihnen noch etwas erzählen«, fuhr der Gutsbesitzer fort. »Mein Nachbar, ein Händler, war bei mir zu Besuch. Wir gingen durch die Wirtschaft, durch den Garten. ›Nein‹, sagte er, ›Stepan Wasiljewitsch, alles ist ja bei Ihnen in schönster Ordnung; aber um den Garten haben Sie sich nicht recht gekümmert.‹ Dabei ist mein Garten sehr gut in Ordnung. ›Meines Erachtens müßte diese Linde umgehauen werden. Aber es müßte zur Saftzeit geschehen. Sie haben hier ja wohl tausend Linden auf Ihrem Gute; jede würde zwei gute Stücke Bast liefern. Und der Bast steht heutzutage hoch im Preise. Und die Stämme würde ich zu Bauholz behauen lassen.‹«
»Und für dieses Geld würde er Vieh aufkaufen oder auch ein Stück Land zu einem Spottpreise erstehen und es an die Bauern verpachten«, fügte Ljewin lächelnd als Schluß hinzu; denn es waren ihm offenbar selbst schon oft ähnliche Vorschläge entgegengebracht worden. »Und solche Leute erwerben sich auf diese Art ein Vermögen. Aber Sie und ich, wir können froh sein, wenn wir uns das Unsrige erhalten und es unseren Kindern hinterlassen.«
»Sie sind verheiratet, wie ich gehört habe?« sagte der Gutsbesitzer.
»Ja«, antwortete Ljewin mit stolzer Befriedigung. »Ja, eigentlich ist es doch sonderbar«, fuhr er fort, »da leben wir nun so ohne viel Nachdenken dahin, als wären wir, wie im Altertum die Vestalinnen, dazu angestellt, so eine Art von heiligem Feuer zu unterhalten.«
Der Gutsbesitzer lächelte unter seinem grauen Schnurrbart.
»Es gibt unter uns auch einzelne – wie zum Beispiel unser Freund Nikolai Iwanowitsch dort oder der Graf Wronski, der sich jetzt bei uns niedergelassen hat – die eine landwirtschaftliche Industrie betreiben möchten; aber bis jetzt führt das noch zu weiter nichts als zum Verlust des Kapitals.«
»Aber warum machen wir es denn nicht wie die Händler und fällen die Bäume in unserm Garten, um des Bastes willen?« fragte Ljewin, zu dem Gedanken zurückkehrend, der vorhin seine Aufmerksamkeit erweckt hatte.
[134] »Uns liegt es eben ob, wie Sie so richtig sagten, das heilige Feuer zu unterhalten. Das wäre auch keine Handlungsweise, wie sie sich für einen Edelmann schickt. Und unser Wirken als Edelleute vollzieht sich auch nicht hier, bei den Wahlen, sondern dort in unserm stillen Winkel. Es gibt auch ein eigenes angeborenes Standesgefühl, das einem sagt, was man tun soll und was man nicht tun soll. Sehen Sie, mit unseren Bauern ist es dieselbe Geschichte; ich beobachte das so manchmal: wenn einer ein tüchtiger Bauer ist, dann sucht er Land zu pachten, soviel er kriegen kann. Mag es auch noch so schlecht sein, er pflügt es doch. Ebenfalls ohne Gewinn. Geradezu mit Verlust.«
»Ganz wie wir«, sagte Ljewin. »Es ist mir sehr, sehr angenehm gewesen, Sie zu treffen«, fügte er hinzu, als er sah, daß Swijaschski auf ihn zukam.
»Wir haben uns hier zum ersten Male wiedergesehen, seit wir uns bei Ihnen kennengelernt haben«, sagte der Gutsbesitzer, »und sind auch gleich ins Reden gekommen.«
»Nun, da haben Sie gewiß auf die neumodischen Einrichtungen geschimpft?« fragte Swijaschski lächelnd.
»Ohne das geht es nicht ab.«
»Wir haben uns das Herz erleichtert.«
1 (frz.) Staatsstreich.
Swijaschski faßte Ljewin unter den Arm und ging mit ihm zu der Gruppe seiner Parteigenossen hinüber. Jetzt ließ sich eine Begegnung mit Wronski nicht mehr vermeiden. Er stand mit Stepan Arkadjewitsch und Sergei Iwanowitsch zusammen und blickte dem herankommenden Ljewin gerade entgegen.
»Sehr erfreut. Ich hatte wohl schon das Vergnügen, mit Ihnen zusammenzutreffen ... bei der Fürstin Schtscherbazkaja«, sagte er, indem er Ljewin die Hand reichte.
»Ja, ich erinnere mich unserer Begegnung recht wohl«, versetzte Ljewin, und da er fühlte, daß er dunkelrot wurde, wandte er sich sogleich von ihm weg und knüpfte ein Gespräch mit seinem Bruder an.
Leise lächelnd setzte Wronski seine Unterhaltung mit Swijaschski fort; es lag ihm offenbar nicht das geringste daran, mit Ljewin in ein Gespräch zu kommen; Ljewin dagegen wendete sich, während er mit seinem Bruder sprach, unaufhörlich nach Wronski um und überlegte, worüber er wohl mit ihm zu sprechen anfangen könnte, um seine Unhöflichkeit wiedergutzumachen.
[135] »Worum handelt es sich denn jetzt?« fragte Ljewin, wobei er Swijaschski und Wronski anblickte.
»Um Snetkow. Er muß jetzt entweder ablehnen, sich als Kandidat aufstellen zu lassen, oder sich dazu bereit erklären«, antwortete Swijaschski.
»Was hat er denn bisher getan, hat er sich bereit erklärt oder nicht?«
»Das ist es ja eben, daß er weder das eine noch das andere getan hat«, erwiderte Wronski.
»Aber wenn er nun ablehnt, wer wird denn dann kandidieren?« fragte Ljewin, indem er Wronski anblickte.
»Wer da will«, antwortete Swijaschski.
»Werden Sie es tun?« fragte Ljewin.
»Ich? Beileibe nicht«, versetzte Swijaschski verlegen und mit einem ängstlichen Blick auf den neben Sergei Iwanowitsch stehenden giftigen Herrn.
»Also wer denn dann? Newjedowski?« sagte Ljewin, der wohl merkte, daß er etwas Unpassendes geredet hatte.
Aber diese letzte Frage war noch schlimmer. Newjedowski und Swijaschski kamen beide als Kandidaten in Betracht.
»Ich nun schon in keinem Falle«, antwortete der giftige Herr. Es war Newjedowski selbst. Swijaschski stellte ihn und Ljewin einander vor.
»Nun, hat dich das Fieber auch ergriffen?« sagte Stepan Arkadjewitsch zu Wronski, indem er ihm mit den Augen zuzwinkerte. »Es ist gerade wie bei den Rennen. Man kann wetten.«
»Ja, es ist wirklich eine Art Fieber«, bemerkte Wronski. »Und hat man sich einmal auf die Sache eingelassen, dann will man sie auch durchführen. Ein Kampf!« sagte er, zog die Augenbrauen zusammen und preßte seine starken Kiefer aufeinander.
»Welch feiner Kopf doch unser Swijaschski ist!« bemerkte Stepan Arkadjewitsch. »Für alles hat er ein so klares Verständnis.«
»O ja«, antwortete Wronski zerstreut.
Es trat eine Pause im Gespräche ein, während der Wronski, da man doch irgendwohin sehen muß, Ljewin anblickte, seine Beine, seine Uniform und dann sein Gesicht. Und als er Ljewins Augen finster auf sich gerichtet sah, fragte er, um doch irgend etwas zu sagen:
»Wie kommt es denn, daß Sie, obwohl Sie doch dauernd auf dem Lande leben, nicht Friedensrichter sind? Sie tragen nicht die Uniform eines Friedensrichters.«
[136] »Weil ich der Ansicht bin, daß das Friedensgericht eine törichte Einrichtung ist«, antwortete Ljewin verdrießlich, obwohl er die ganze Zeit über auf eine Gelegenheit gewartet hatte, mit Wronski in ein Gespräch zu kommen, um die Unart, die er bei der ersten Begegnung begangen hatte, wiedergutzumachen.
»Ich meine das nicht, im Gegenteil«, erwiderte Wronski mit ruhigem Lächeln.
»Es ist eine Spielerei«, unterbrach ihn Ljewin. »Wir brauchen keine Friedensrichter. Ich habe in acht Jahren keinen Prozeß gehabt. Und wenn ich einen gehabt habe, so wurde er verkehrt entschieden. Der Friedensrichter wohnt vierzig Werst von mir entfernt. Um eines Prozesses willen, der zwei Rubel wert ist, muß ich einen Bevollmächtigten hinschicken, der mich fünfzehn Rubel kostet.«
Und nun erzählte er, ein Bauer habe einem Müller Mehl gestohlen, und als der Müller ihm das auf den Kopf zusagte, habe der Bauer ihn wegen Verleumdung verklagt. Diese ganze Geschichte war unangebracht und töricht, und Ljewin wurde sich dessen, während er sprach, selbst bewußt.
»Oh, er ist ein Original!« sagte Stepan Arkadjewitsch mit seinem schönsten Mandelöl-Lächeln. »Aber wir wollen gehen; es scheint, die Abstimmung beginnt.«
Sie gingen auseinander.
»Ich begreife nicht«, sagte Sergei Iwanowitsch, der den ungeschickten Ausfall seines Bruders mit angehört hatte, »ich begreife nicht, wie man bis zu einem solchen Grade alles politischen Taktes ermangeln kann. Das ist etwas, was wir Russen nun einmal nicht besitzen. Der Gouvernements-Adelsmarschall ist unser Gegner, aber du bist mit ihm ami cochon 1 und bittest ihn zu kandidieren. Dagegen Graf Wronski ... ich strebe ja nicht danach, sein Freund zu werden – er hat mich zum Essen eingeladen, aber ich werde nicht hingehen – indessen er gehört doch zu unserer Partei; warum soll man ihn sich zum Feinde machen? Dann hast du Newjedowski gefragt, ob er kandidieren werde. So etwas tut man nicht.«
»Ach, ich verstehe von diesen Dingen nichts! Und das sind ja doch alles nur Possen«, erwiderte Ljewin verdrießlich.
»Ja, du sagst, das sind Possen; aber sobald du mit deinen Fingern darankommst, bringst du uns alles in Unordnung.«
Ljewin schwieg, und sie gingen zusammen in den großen Saal.
Obgleich der Gouvernements-Adelsmarschall den gegen ihn vorbereiteten Anschlag in der Luft witterte und obgleich er nicht von allen darum gebeten worden war, hatte er sich dennoch entschlossen zu kandidieren. Alles im Saale verstummte; [137] der Sekretär verkündete mit lauter Stimme, daß jetzt über die Wahl des Garde-Rittmeisters Michail Stepanowitsch Snetkow zum Gouvernements-Adelsmarschall ballotiert werden solle.
Die Kreis-Adelsmarschälle traten mit Tellern, auf denen die Stimmkugeln lagen, von ihren Tischen an den Gouvernementstisch, und die Wahl begann.
»Rechts hinlegen!« flüsterte Stepan Arkadjewitsch seinem Schwager Ljewin zu, als sie beide zusammen hinter dem Adelsmarschall zum Tische hingingen. Aber Ljewin hatte jenes listige Verhalten, das ihm vorher auseinandergesetzt worden war, jetzt schon wieder vergessen und fürchtete, Stepan Arkadjewitsch habe sich bei seiner Weisung: »Rechts hinlegen!« geirrt. Snetkow war ja doch ein Gegner. Als er an den Kasten herantrat, hielt er die Kugel in der rechten Hand; aber in der Meinung, daß dies falsch sei, nahm er die Kugel dicht vor dem Kasten in die linke Hand und legte sie dann augenscheinlich nach links hin. Ein neben dem Kasten stehender Edelmann, der auf diesem Gebiete eine besondere Kennerschaft besaß und an der bloßen Bewegung des Ellbogens erkannte, wohin ein jeder seine Kugel legte, runzelte unwillkürlich die Stirn. Er hatte es bei Ljewin nicht nötig gehabt, seinen Scharfblick anzustrengen.
Alles verstummte; man hörte das Geräusch beim Durchzählen der Kugeln. Dann verkündete eine einzelne laute Stimme die Zahl der Ja und Nein.
Der Adelsmarschall war mit beträchtlicher Mehrheit wiedergewählt worden. Alle redeten lärmend durcheinander und drängten ungestüm nach der Tür. Snetkow kam herein, und die Edelleute umringten ihn beglückwünschend.
»Nun, ist es jetzt zu Ende?« fragte Ljewin seinen Bruder.
»Das war nur der Anfang«, erwiderte an Sergei Iwanowitschs Stelle lächelnd Swijaschski. »Ein anderer Kandidat kann noch mehr Stimmen erhalten.«
Das hatte Ljewin wieder ganz vergessen. Er besann sich nur, daß da irgendein besonders feiner Anschlag vorbereitet war; aber worin der eigentlich bestand, darüber sein Gedächtnis anzustrengen, war ihm widerwärtig. Es überkam ihn eine gedrückte Stimmung und der lebhafte Wunsch, aus diesem Menschenschwarm hinauszukommen.
Da ihn niemand beachtete und auch niemand ihn hier nötig zu haben schien, so begab er sich unauffällig nach dem kleinen Saal, wo der Schanktisch aufgestellt war, und empfand, als er die Kellner wieder erblickte, eine große Erleichterung. Der alte Kellner fragte Ljewin, ob er etwas essen wolle, und Ljewin griff diesen Gedanken gern auf. Nachdem er ein Kotelett mit [138] Bohnen verzehrt und sich ein bißchen mit dem Kellner über dessen frühere Herrschaft unterhalten hatte, begab er sich auf die Galerie; in den großen Saal wollte er nicht wieder hineingehen, wo er sich so unbehaglich fühlte.
Die Galerie war voll von geputzten Damen, die sich über die Brüstung beugten und sich bemühten, nur ja kein Wort von dem, was unten gesprochen wurde, zu verlieren. Neben den Damen saßen und standen vornehme Rechtsanwälte, bebrillte Gymnasiallehrer und Offiziere. Überall wurde von den Wahlen gesprochen, und wie sich der Adelsmarschall abgequält habe, und wie hübsch die Verhandlungen gewesen seien; aus einer der Gruppen hörte Ljewin ein Lob seines Bruders. Eine der Damen sagte zu einem Anwalt:
»Wie freue ich mich, daß ich Kosnüschew gehört habe. Dafür kann man schon ein bißchen Hunger aushalten. Wundervoll! Wie klar und deutlich alles bei ihm herauskommt! Bei Ihnen auf dem Gericht ist niemand imstande, so zu reden. Höchstens noch Maidel, und auch der ist bei weitem kein so glänzender Redner.«
Ljewin fand einen freien Platz an der Brüstung und beugte sich darüber, um zu sehen und zu hören.
Alle Edelleute saßen innerhalb der für die einzelnen Kreise eingerichteten kleinen Verschläge. Mitten im Saale stand ein Herr in Uniform und verkündete mit hoher, lauter Stimme:
»Es wird ballotiert über die Kandidatur des Stabsrittmeisters Jewgeni Iwanowitsch Apuchtin für das Amt des Gouvernements-Adelsmarschalls!« Totenstille folgte, und eine schwache Greisenstimme wurde vernehmbar:
»Ich bin zurückgetreten.«
»Es wird ballotiert über die Kandidatur des Hofrats Peter Petrowitsch Bohl«, rief wieder die erste Stimme.
»Ich bin zurückgetreten«, erscholl eine jugendliche, scharfe Stimme.
Es folgte wieder ein solcher Aufruf, und wieder die Antwort: »Ich bin zurückgetreten.« So ging es ungefähr eine Stunde lang. Ljewin, mit dem Ellbogen auf die Brüstung gestützt, sah und hörte. Anfangs war er verwundert und suchte zu begreifen, was das zu bedeuten habe; aber als er dann zu der Überzeugung gelangt war, daß er es doch nicht begreifen könne, wurde ihm die Sache langweilig. Darauf aber wurde ihm von dem Anblick dieser gewaltigen Erregung und Erbitterung auf allen Gesichtern recht traurig zumute: er beschloß abzureisen und ging hinunter. Als er den zur Galerie gehörigen Flur durchschritt, traf er auf einen Gymnasiasten, der mit sehr niedergeschlagener[139] Miene und tränenfeuchten Augen auf und ab ging. Auf der Treppe begegneten ihm zwei Personen: eine Dame, die auf ihren Hackenstiefelchen eilig hinauflief, und ein windig aussehender Staatsanwaltschaftsgehilfe.
»Ich sage Ihnen, Sie kommen noch zur rechten Zeit«, sagte der Staatsanwaltschaftsgehilfe in dem Augenblick, da Ljewin zur Seite trat, um die Dame vorüber zu lassen.
Ljewin war schon bei der nach dem Ausgang führenden Treppe und holte gerade die Kleidernummer für seinen Pelz aus der Westentasche, als der Sekretär seiner noch habhaft wurde. »Bitte kommen Sie, Konstantin Dmitrijewitsch, es wird ballotiert.«
Es wurde über die Kandidatur Newjedowskis abgestimmt, der vorher so entschieden in Abrede gestellt hatte, daß er kandidieren werde.
Ljewin begab sich zu der Tür, die in den Saal führte: sie war verschlossen. Der Sekretär klopfte an; die Tür öffnete sich, und an Ljewin vorüber schlüpften zwei Gutsbesitzer mit dunkelroten Gesichtern hinaus.
»Ich kann das nicht mehr aushalten«, sagte der eine von beiden.
Hinter ihnen wurde an der Tür das Gesicht des Gouvernements-Adelsmarschalls sichtbar. Dieses Gesicht war von Erschöpfung und Angst schrecklich entstellt.
»Ich hatte dir doch verboten, jemand hinaus zu lassen!« schrie er dem Türhüter zu.
»Ich wollte nur jemand hereinlassen, Euer Exzellenz!«
»Mein Gott, mein Gott!« stöhnte der Gouvernements-Adelsmarschall und schlich, schwer seufzend, in seinen weißen Hosen, mit gesenktem Kopfe, mitten durch den Saal zu dem großen Tische hin.
Eine Anzahl von Stimmen, die vorher Snetkow erhalten hatte, war nun dem klugen Anschlage gemäß auf Newjedowski übertragen worden, und dieser war Gouvernements-Adelsmarschall geworden. Viele waren damit zufrieden, viele darüber froh und glücklich, viele geradezu entzückt, viele aber unzufrieden und unglücklich. Der nicht wiedergewählte Gouvernements-Adelsmarschall befand sich in einer Verzweiflung, die er nicht zu verbergen vermochte. Als Newjedowski aus dem Saale ging, umringte ihn ein dichter Schwarm und gab ihm mit derselben Begeisterung das Geleit wie am ersten Tage dem Gouverneur, der die Wahlen eröffnet hatte, und wie ehemals dem bisherigen Gouvernements-Adelsmarschall Snetkow, als dieser gewählt worden war.
1 (frz.) dick befreundet.
Der neu gewählte Gouvernements-Adelsmarschall und viele Mitglieder der siegreichen Partei der Jungen speisten an diesem Tage bei Wronski.
Wronski war zu den Wahlen gekommen, weil er sich auf dem Lande langweilte und sein Recht auf Freiheit Anna gegenüber wahren mußte, aber auch um sich durch seine Unterstützung bei den Wahlen Swijaschski erkenntlich zu zeigen für all dessen Bemühungen zu seinen, Wronskis, Gunsten bei den Kreistagswahlen, und ganz besonders, um alle Pflichten der selbsterwählten Stellung eines Edelmannes und Grundbesitzers genau zu erfüllen. Aber er hätte nie erwartet, daß diese Wahlangelegenheit ihn so beschäftigen und fesseln, auch nicht, daß er mit dieser Angelegenheit so gut zurechtkommen werde. Er war in dem Kreise der Edelleute ein vollständiger Neuling gewesen; aber er hatte augenscheinlich Erfolg gehabt und irrte sich nicht, wenn er glaubte, daß er unter den Edelleuten bereits einen beträchtlichen Einfluß erlangt hatte. Zu diesem Ergebnis wirkten verschiedene Umstände zusammen: sein Reichtum und sein Ansehen, das schöne Haus in der Stadt, das ihm von einem alten Bekannten namens Schirkow zur Benutzung überlassen war, der Geldgeschäfte betrieb und in Kaschin mit großem Erfolg eine Bank gegründet hatte; ferner der vorzügliche Koch, den Wronski von seinem Gute mitgebracht hatte; dann die Freundschaft mit dem Gouverneur, der sein Jugendkamerad vom Pagenkorps her war, und zwar sogar ein Jugendkamerad, den er damals gefördert hatte; und am allermeisten sein schlichtes, gegen alle gleiches Benehmen, durch das die Mehrzahl der Edelleute sehr bald veranlaßt wurde, ihr Urteil über seinen vermeintlichen Hochmut zu ändern. Er fühlte selbst, daß, mit Ausnahme dieses läppischen Herrn, des Mannes von Kitty Schtscherbazkaja, der à propos de bottes 1 ihm mit sinnlosem Ingrimm einen Haufen unpassender Dummheiten gesagt hatte, jeder Edelmann, dessen Bekanntschaft er gemacht hatte, sein Anhänger geworden war. Er war sich darüber klar, und auch andere erkannten dies als richtig an, daß er zu Newjedowskis Erfolg sehr wesentlich mitgewirkt hatte. Und jetzt, wo er in seinem Hause und an seinem Tische Newjedowskis Wahl festlich beging, empfand er ein angenehmes Gefühl der Genugtuung, weil der von ihm geförderte Kandidat gesiegt hatte. Die Wahlen selbst hatten so verlockend auf ihn gewirkt, daß er sich vornahm, wenn er sich innerhalb der nächsten drei Jahre verheiratet haben würde, selbst zu kandidieren – gerade wie er [141] nach einem durch seinen Rennreiter gewonnenen Preise Lust bekam, selbst mitzureiten.
Vorläufig wurde jetzt der Sieg des Jockeis gefeiert. Wronski saß an der Spitze der Tafel, zu seiner Rechten der Gouverneur, ein noch junger Mann, General à la suite 2. Für alle andern war dies der höchste Chef des Gouvernements, der die Wahlen feierlich eröffnet, eine Rede gehalten und, wie Wronski sah, bei vielen ein Gefühl tiefer Ehrfurcht und knechtischer Ergebenheit hervorgerufen hatte; für Wronski dagegen war das Maslow Katka (das war sein Spitzname im Pagenkorps gewesen), der ihm gegenüber verlegen war und den er versuchte mettre à son aise 3. Zu seiner Linken saß Newjedowski mit seinem noch jugendlichen, starren, giftig blickenden Gesicht. Mit ihm verkehrte Wronski in ungezwungenem, achtungsvollem Tone.
Swijaschski ertrug seinen Mißerfolg mit heiterer Miene. Eigentlich war dies gar nicht einmal ein Mißerfolg für ihn, wie er selbst sagte, indem er sich mit seinem Sektglase zu Newjedowski wandte: man habe gar keinen besseren Verfechter der neuen Richtung finden können, die der Adel nunmehr einschlagen müsse; und darum stehe, sagte er, jeder ehrenhafte Mann auf der Seite des heutigen Siegers und feiere dessen Erfolg.
Stepan Arkadjewitsch war gleichfalls guter Laune, weil er seine Zeit in so vergnüglicher Weise hinbrachte und weil alle um ihn herum zufrieden waren. Während der erlesenen Tafel besprach man einzelne Vorkommnisse des Wahlkampfes. Swijaschski machte in spaßhafter Weise die weinerliche Redeweise des Adelsmarschalls nach und bemerkte, zu Newjedowski gewendet, Seine Exzellenz werde sich wohl für eine andere, minder einfache Art der Kassenprüfung entscheiden müssen, als es Tränen des Verwalters der Kasse wären. Ein anderer Edelmann erzählte sehr scherzhaft, der bisherige Gouvernements-Adelsmarschall habe sich für einen Ball, den er habe geben wollen, bereits Diener in Kniehosen kommen lassen; wenn nun der neue Gouvernements-Adelsmarschall keinen Ball mit Dienern in Kniehosen gebe, so müßten die Leute wieder zurückgeschickt werden.
Während der Tafel gebrauchten die Tischgenossen, wenn sie sich zu Newjedowski wandten, fortwährend die Ausdrücke: »unser Gouvernements-Adelsmarschall« und »Euer Exzellenz«.
Sie verwendeten diese Ausdrücke mit demselben Vergnügen, mit dem man eine neuvermählte Frau mit Madame oder mit dem Namen ihres Mannes anredet. Newjedowski tat, als seien ihm diese Bezeichnungen nicht nur gleichgültig, sondern als verachte [142] er sie geradezu; aber es war klar, daß sie ihn sehr glücklich machten und er sich gewaltsam zwingen mußte, sein Entzücken nicht zu zeigen, da es zu der neuen fortschrittlichen Richtung, der alle Anwesenden huldigten, nicht gepaßt hätte.
Während der Tafel wurden mehrere Telegramme an Personen abgesandt, bei denen man Anteilnahme für das Ergebnis der Wahl voraussetzte. Auch Stepan Arkadjewitsch, der sich in höchst vergnügter Stimmung befand, sandte an Darja Alexandrowna ein Telegramm folgenden Inhalts: »Newjedowski gewählt, zwanzig Stimmen Mehrheit. Ich hocherfreut. Weiterverbreiten.« Er diktierte das Telegramm laut und bemerkte dazu: »Man muß ihnen doch eine Freude machen.« Aber als Darja Alexandrowna das Telegramm empfing, seufzte sie nur über den dafür ausgegebenen Rubel und zweifelte keinen Augenblick daran, daß es gegen Ende eines Festmahls abgesandt war. Sie wußte, daß es eine Schwäche Stiwas war, gegen Ende von Festessen faire jouer le télégraphe 4.
Alles ging zwanglos und vergnügt zu, wozu auch die vorzüglichen Speisen und die nicht aus russischen Weinhandlungen stammenden, sondern in Flaschen unmittelbar aus dem Auslande bezogenen Weine mitwirkten. Swijaschski hatte eine Tafelrunde von etwa zwanzig Personen ausgewählt, lauter gleichgesinnte, fortschrittliche Mitglieder der neuen Partei und dabei geistreiche Männer von anständiger Denkart. Es wurden Trinksprüche ausgebracht, auch halb scherzhafte, auf den neuen Gouvernements-Adelsmarschall, und auf den Gouverneur, und auf den Bankdirektor, und auf »unsern liebenswürdigen Gastgeber«.
Wronski war von dem ganzen Verlauf sehr befriedigt. Einen so netten Ton hatte er in der Provinz gar nicht erwartet.
Gegen Ende des Mahles wurde es noch lustiger. Der Gouverneur bat Wronski, ein Wohltätigkeitskonzert zu besuchen, das seine Frau zum Besten der slawischen Brüder vorbereite; seine Frau habe den lebhaften Wunsch, ihn kennenzulernen.
»An das Konzert schließt sich ein Ball, und du wirst dabei das schönste weibliche Wesen unserer Stadt zu sehen bekommen Wirklich, etwas Hervorragendes.«
»Not in my line« 5, antwortete Wronski, der diese Wendung liebte; aber er lächelte und versprach, hinzukommen.
Man saß noch bei Tische und hatte eben angefangen zu rauchen, als Wronskis Kammerdiener zu ihm trat und ihm auf einer Platte einen Brief hinhielt.
»Aus Wosdwischenskoje durch besonderen Boten«, sagte er mit wichtiger Miene.
[143] »Erstaunlich, welche Ähnlichkeit er mit dem Staatsanwaltschaftsgehilfen Swentizki hat«, sagte einer der Gäste auf französisch über den Kammerdiener, während Wronski mit finsterem Gesicht den Brief las.
Der Brief war von Anna. Noch ehe Wronski ihn gelesen, hatte er schon seinen Inhalt gewußt. In der Voraussetzung, daß die Wahlen in fünf Tagen beendet sein würden, hatte er versprochen, am Freitag zurückzukommen. Heute war nun Sonnabend, und er wußte, der Brief enthielt Vorwürfe darüber, daß er nicht rechtzeitig zurückgekehrt war. Einen Brief, den er am vorhergehenden Abend abgeschickt, hatte Anna wahrscheinlich noch nicht bekommen gehabt.
Der Inhalt des Briefes war wirklich so, wie er erwartet hatte; aber die Form war unerwartet und berührte ihn besonders unangenehm. »Anny ist sehr krank; der Arzt sagt, es sei vielleicht Lungenentzündung. So allein bin ich ratlos. Die Prinzessin Warwara ist keine Hilfe, sondern ein Hindernis. Ich habe Dich vorgestern und gestern erwartet und schicke jetzt zu Dir, um zu erfahren, wo Du bist und was Dich zurückhält. Ich wollte eigentlich selbst hinkommen, habe es mir aber dann anders überlegt, da ich weiß, daß es Dir unangenehm sein würde. Gib irgendwelche Antwort, damit ich weiß, was ich tun soll.«
Sein Gedanke war: ›Das Kind ist krank, und sie hat selbst herkommen wollen! Die Tochter krank, und dieser feindselige Ton!‹
Es war für Wronski ein schroffer Gegensatz: diese harmlose Fröhlichkeit während der Wahltage und jenes düstere, drückende Liebesverhältnis, zu dem er zurückkehren sollte. Aber er mußte hinfahren, und so benutzte er den ersten Nachtzug zur Heimreise.
Vor Wronskis Abreise zu den Wahlen hatte Anna überlegt, daß die Auftritte, die sich jedesmal, wenn er irgendwohin reiste, zwischen ihnen wiederholten, nur dazu dienen konnten, ihn ihr zu entfremden, nicht aber, ihn an sie zu fesseln, und sie hatte sich deshalb vorgenommen, sich mit aller Gewalt zu beherrschen, um den Abschied von ihm mit Ruhe zu ertragen. Aber der kalte, strenge Blick, mit dem er sie angesehen hatte, als er gekommen war, um ihr von seiner bevorstehenden Abreise Mitteilung zu machen, hatte sie schmerzlich gekränkt, und er war noch nicht abgefahren, als auch schon ihre Ruhe dahin war.
In der Einsamkeit sann sie dann immer wieder über diesen Blick nach, in dem Wronskis Rechtsanspruch auf Freiheit zum [144] Ausdruck gekommen war, und gelangte, wie stets, zu dem gleichen Ergebnis: zu dem Bewußtsein ihrer Erniedrigung. ›Er hat das Recht wegzufahren, wann und wohin er will. Und nicht nur wegzufahren, sondern auch mich ganz zu verlassen. Er hat alle Rechte, und ich habe gar keine. Aber eben, weil er das weiß, sollte er nicht so handeln ... Indessen, was hat er denn eigentlich getan? Er hat mich mit kalter, strenger Miene angeblickt. Selbstverständlich ist das nichts Bestimmbares, nichts Greifbares; aber früher kam das nicht vor, und dieser Blick ist ein bedeutungsvolles Zeichen‹, sagte sie zu sich. ›Dieser Blick zeigt, daß seine Liebe zu erkalten beginnt.‹
Und obgleich sie überzeugt war, daß seine Liebe zu erkalten begann, so sah sie sich doch außerstande, etwas dagegen zu tun und ihr Verhältnis zu ihm in irgendeinem Punkte zu ändern. Ganz wie bisher konnte sie ihn nur durch ihre persönliche Anziehungskraft und dadurch, daß er sie liebte, festhalten. Und ganz wie bisher konnte sie nur durch stete Beschäftigung am Tage und durch Morphium zur Nacht die entsetzlichen Gedanken an das betäuben, was dann werden sollte, wenn er aufhörte, sie zu lieben. Allerdings gab es noch ein Mittel, ein Mittel, nicht ihn festzuhalten – festhalten sollte ihn, das war ihr entschiedener Wunsch, nichts anderes als seine Liebe – aber doch ihm nahe zu bleiben und zu ihm in einem solchen Verhältnis zu stehen, daß er sich nicht von ihr lossagen konnte. Dieses Mittel war die Scheidung und die Eingehung einer neuen Ehe. So begann sie denn dies zu wünschen und nahm sich vor, sobald nur Wronski oder Stiwa mit ihr davon zu reden anfangen würde, sich sofort damit einverstanden zu erklären.
Unter solchen Gedanken verbrachte sie, von ihm getrennt, fünf Tage, eben die fünf Tage, auf die er ursprünglich die Dauer seiner Abwesenheit berechnet hatte.
Spaziergänge, Gespräche mit der Prinzessin Warwara, Besuche des Krankenhauses und namentlich Lesen, Lesen eines Buches nach dem andern, füllten ihre Zeit aus. Als aber am sechsten Tage der Kutscher ohne ihn zurückkam, da fühlte sie, daß sie den Gedanken an ihn und an das, was er dort wohl tue, durch nichts mehr zu übertäuben vermochte. Gerade um diese Zeit war ihr Töchterchen krank geworden. Anna übernahm die Pflege des Kindes; doch auch dies brachte ihr keine Ablenkung ihrer Gedanken, um so weniger, da die Krankheit nicht gefährlich war. Wie sehr sie sich auch Mühe gab, sie konnte dieses Kind nicht lieben, und Liebe zu heucheln vermochte sie gleichfalls nicht. Am Abend dieses Tages empfand Anna, als sie allein geblieben war, eine solche Angst um ihn, daß sie nahe daran [145] war, nach der Stadt zu fahren; indessen sammelte sie ihre Gedanken doch noch so weit, daß sie davon Abstand nahm; sie schrieb dann jenen widerspruchsvollen Brief, den Wronski bei dem Festessen empfing, und schickte ihn, ohne ihn noch einmal durchgelesen zu haben, durch einen besonderen Boten ab. Am anderen Morgen erhielt sie Wronskis Brief und bereute nun die Absendung des ihrigen. Mit Schrecken erwartete sie eine Wiederholung jenes strengen Blickes, mit dem er sie vor seiner Abreise angesehen hatte, namentlich sobald er erfahren werde, daß die Kleine gar nicht gefährlich krank sei. Aber trotzdem freute sie sich auch wieder, an ihn geschrieben zu haben. Jetzt zweifelte Anna zwar gar nicht mehr daran, daß er sie als Hemmschuh empfinde und nur mit Bedauern auf seine Freiheit verzichte, um zu ihr zurückzukehren; aber trotzdem freute sie sich, daß er nun kommen werde. Mochte er sie immerhin als Hemmschuh empfinden; aber er würde doch jedenfalls hier bei ihr sein, und sie würde ihn sehen und um jede seiner Bewegungen wissen.
Sie saß im Wohnzimmer unter der Lampe, las in einem neuen Buche von Taine, horchte auf die Töne des Windes draußen und erwartete jeden Augenblick die Ankunft des Wagens. Mehrmals hatte sie geglaubt, das Geräusch der Räder zu hören; aber immer hatte sie sich geirrt. Endlich hörte sie nicht nur das Geräusch der Räder, sondern auch den Ruf des Kutschers und das dumpfe Rollen in der überdachten Anfahrt. Selbst die Prinzessin Warwara, die sich Patience legte, bestätigte diese Wahrnehmung. Anna wurde dunkelrot und stand auf; aber statt hinunterzugehen, wie sie es vorher zweimal vergeblich getan hatte, blieb sie stehen. Sie schämte sich plötzlich des Betruges, den sie begangen hatte; ganz besonders aber war ihr bange, wie Wronski ihr entgegentreten werde. Das Gefühl der Kränkung war schon ganz verflogen; nur Furcht empfand sie jetzt, Furcht vor sei nem Unwillen. Sie bedachte, daß die Kleine nun schon eine ganze Weile wieder gesund war; es war ihr sogar unangenehm, daß Annys Befinden sich gerade um die Zeit, wo sie den Brief abgeschickt hatte, wieder gebessert hatte. Dann aber dachte sie daran, daß er nun da sei, der ganze Mensch, mit seinen Händen, mit seinen Augen. Sie hörte seine Stimme. Und alles vergessend, lief sie ihm freudig entgegen.
»Nun, was macht Anny?« fragte er zaghaft von unten, als er sah, daß Anna zu ihm heruntergelaufen kam.
Er saß auf einem Stuhl, und ein Diener zog ihm die gefütterten Stiefel aus.
»Es geht zur Zufriedenheit; sie befindet sich besser.«
»Und du?« fragte er, indem er sich den Schnee abschüttelte.
[146] Sie ergriff mit beiden Händen seinen Arm und zog ihn um ihre Hüfte herum, ohne die Augen von ihm abzuwenden.
»Nun, das freut mich sehr«, sagte er und ließ einen kalten Blick über sie, über ihre Frisur und über ihr Kleid gleiten, das sie, wie er wußte, seinetwillen angelegt hatte.
Alles dies gefiel ihm; aber wie oft hatte es ihm schon gefallen! Und jener strenge, steinerne Ausdruck, den sie so sehr fürchtete, dauerte auf seinem Gesichte an.
»Nun, das freut mich sehr. Also du bist gesund?« sagte er, und nachdem er sich mit dem Taschentuche den feuchten Bart abgetrocknet hatte, küßte er ihr die Hand.
›Ganz gleich‹, dachte sie. ›Die Hauptsache ist, daß er hier ist, und wenn er hier ist, so soll und wird er mich lieben.‹
Der Abend verging heiter und fröhlich in Gesellschaft der Prinzessin Warwara, die bei Wronski über Anna Klage führte, weil sie, während er weg war, Morphium genommen habe.
»Was sollte ich machen? Ich konnte nicht schlafen. Meine Gedanken hinderten mich daran. Wenn er hier ist, nehme ich nie welches. Fast nie.«
Er erzählte von den Wahlen, und Anna verstand es, ihn durch Fragen zu dem Gegenstand hinzuleiten, von dem er mit Vergnügen sprach: von dem Erfolg, den er gehabt hatte. Sie ihrerseits erzählte ihm alles, was ihn von den häuslichen Erlebnissen interessieren konnte. Und alle ihre Nachrichten waren erfreulich.
Aber als sie spät am Abend allein waren und Anna sah, daß sie ihn wieder vollständig unter ihrer Herrschaft hatte, wollte sie die unangenehme Erinnerung an den Blick verwischen, mit dem er sie wegen ihres Briefes angesehen hatte. Sie sagte:
»Gestehe nur, du hast dich geärgert, als du meinen Brief bekamst, und hast mir nicht geglaubt?«
Sobald sie das ausgesprochen hatte, merkte sie auch schon, daß, mochte er im Augenblick auch noch so verliebt in sie sein, er ihr dies nicht verziehen habe.
»Der Brief war allerdings recht sonderbar«, erwiderte er. »Zuerst schriebst du, Anny sei krank, und dann, daß du selbst hinkommen wolltest.«
»Es war alles die Wahrheit.«
»Daran zweifle ich auch nicht.«
»Doch, du zweifelst daran. Du bist mit mir unzufrieden; das sehe ich dir an.«
»Ich zweifle nicht einen Augenblick. Unzufrieden bin ich wohl, das ist richtig, aber nur deswegen, weil du, wie es scheint, nicht anerkennen willst, daß es Pflichten gibt ...«
»Die Pflicht, in ein Konzert zu gehen ...«
[147] »Wir wollen nicht weiter davon reden«, sagte er.
»Warum sollten wir denn nicht davon reden?« versetzte sie.
»Ich will nur sagen, daß doch auch Angelegenheiten vorkommen können, denen man sich durchaus nicht entziehen kann. So werde ich jetzt wegen des Hauses nach Moskau fahren müssen ... Ach, Anna, warum bist du nur so reizbar? Weißt du denn nicht, daß ich ohne dich nicht leben kann?«
»Wenn du gleich wieder weg willst«, sagte Anna in plötzlich verändertem Tone, »so sehe ich daraus, daß dir das Leben mit mir lästig ist ... Du kommst auf einen Tag und fährst wieder fort; so machen das ...«
»Anna, es ist grausam von dir, so zu reden. Ich bin bereit, mein ganzes Leben hinzugeben ...«
Aber sie hörte gar nicht auf ihn.
»Wenn du nach Moskau fährst, fahre ich auch hin. Ich bleibe hier nicht allein. Entweder müssen wir uns ganz trennen oder dauernd zusammen leben.«
»Du weißt ja doch, daß dies mein einziger Wunsch ist. Aber um das zu ermöglichen ...«
»Ist die Scheidung nötig? Ich will an ihn schreiben. Ich sehe, daß ich so nicht weiterleben kann ... Aber nach Moskau fahre ich mit dir doch.«
»Du sprichst das wie eine Drohung. Und doch wünsche ich nichts so sehnlich, als mich nie mehr von dir zu trennen«, erwiderte Wronski lächelnd.
Aber nicht mehr nur ein kalter Blick lag in seinen Augen, sondern es blitzte darin der böse Blick eines aufs höchste gereizten und erbitterten Menschen auf, während er diese zärtlichen Worte sprach.
Sie sah diesen Blick und verstand seine Bedeutung richtig.
›Wenn es so steht, dann ist es ein Unglück!‹ sagte dieser Blick von ihm. Und obgleich dieser Eindruck nur einen Augenblick gedauert hatte, vergaß sie ihn in der Folgezeit nie wieder.
Anna schrieb an ihren Mann und bat ihn um die Scheidung. Gegen Ende November siedelten Wronski und Anna, nachdem die Prinzessin Warwara, die nach Petersburg reisen mußte, sich von ihnen getrennt hatte, nach Moskau über. Da sie jeden Tag Alexei Alexandrowitschs Antwort und im Anschluß an diese die Scheidung erwarteten, so wohnten sie jetzt wie Eheleute zusammen.
Ljewins wohnten schon mehr als zwei Monate in Moskau. Schon längst war jener Zeitpunkt vorüber, wo nach den zuverlässigsten Berechnungen von Leuten, die mit diesen Dingen Bescheid wußten, Kittys Entbindung hätte stattfinden müssen; aber die Schwangerschaft dauerte immer noch fort, und aus keinem Anzeichen war zu entnehmen, daß das wichtige Ereignis jetzt näher bevorstehe als vor zwei Monaten. Der Arzt und die Hebamme und Dolly und die Mutter und ganz besonders Ljewin, der ohne Angst gar nicht an das, was herannahte, denken konnte, alle begannen sie ungeduldig und unruhig zu werden; nur Kitty fühlte sich völlig ruhig und glücklich.
Sie merkte jetzt deutlich, wie in ihrem Herzen ein neues Gefühl der Liebe zu dem künftigen, für sie zum Teil schon gegenwärtigen Kinde heranwuchs, und überließ sich mit Wonne diesem Gefühl. Das Kind war jetzt nicht mehr lediglich ein Teil von ihr, sondern führte mitunter schon sein eigenes, von ihr unabhängiges Leben. Oft verursachte ihr das körperlichen Schmerz; aber zugleich kam sie die Lust an, laut aufzulachen in einem seltsamen, neuen Freudengefühl.
Alle, die sie liebte, waren um sie, und alle waren so gut und lieb zu ihr und zeigten sich so eifrig auf ihr Wohl bedacht, und überall trat ihr so ausschließlich nur Angenehmes und Freundliches entgegen, daß, wenn sie nicht gewußt und gefühlt hätte, daß dieser Zustand bald ein Ende nehmen müsse, sie sich gar kein besseres, angenehmeres Leben hätte wünschen können. Das einzige, was ihr den vollen Genuß dieses Daseins beeinträchtigte, war der Umstand, daß ihr Mann nicht so war, wie sie ihn gern hatte und wie er auf dem Lande zu sein pflegte.
Sie liebte sein ruhiges, heiteres, gastfreundliches Wesen auf dem Lande. In der Stadt dagegen schien er immer unruhig und auf der Hut zu sein, als fürchte er, es könne jemand ihm und namentlich ihr etwas zuleide tun. Dort auf dem Lande, wo er offenbar das Bewußtsein hatte, daß er an seinem Platze sei, hatte er nie gehastet und war nie unbeschäftigt gewesen. Hier[149] in der Stadt hatte er es fortwährend eilig, als wolle er dies oder das nicht versäumen, und dabei hatte er eigentlich gar nichts zu tun. Und er tat ihr leid. Auf andere Leute, das wußte sie, machte er keinen bemitleidenswerten Eindruck; im Gegenteil, wenn Kitty ihn in Gesellschaft beobachtete, wie man wohl manchmal einen geliebten Menschen beobachtet und sich bemüht, ihn wie einen Fremden anzusehen, um sich vorstellen zu können, welchen Eindruck er auf andere mache, so bemerkte sie sogar mit einer Art von eifersüchtiger Bangigkeit, daß er mit seinem wohlgesitteten Anstande, mit seiner etwas altmodischen, schüchternen Höflichkeit den Damen gegenüber, mit seiner kräftigen Gestalt und mit seinem, wie es ihr schien, besonders ausdrucksvollen Gesicht keineswegs eine bemitleidenswerte, sondern vielmehr eine sehr anziehende Erscheinung war. Aber vorwiegend betrachtete sie ihn nicht von außen, sondern sozusagen von innen heraus, und dabei sah sie, daß er hier nicht der echte Ljewin war; anders konnte sie sich seinen Zustand nicht erklären. Zuzeiten machte sie es ihm im stillen zum Vorwurf, daß er es nicht verstehe, in der Stadt zu leben; zu anderer Zeit aber wieder sagte sie sich, daß es wirklich für ihn eine schwere Aufgabe sei, hier sein Leben so zu gestalten, daß es ihm selbst Befriedigung gewähre.
Und in der Tat, was sollte er hier tun? Das Kartenspiel machte ihm kein Vergnügen. In den Klub ging er nicht. Mit Lebemännern von Oblonskis Schlage zu verkehren, jetzt wußte sie schon, was das bedeutete: das bedeutete, an argen Trinkgelagen teilzunehmen und nachher böse, böse Orte zu besuchen. Sie konnte ohne Entsetzen gar nicht daran denken, wohin sich die Männer bei solchen Gelegenheiten zu begeben pflegten. Oder sollte er am Gesellschaftsleben teilnehmen? Aber sie wußte, dazu gehörte, daß einem die Annäherung an junge Damen Vergnügen machte; und daß das bei ihrem Manne der Fall wäre, konnte sie doch auch nicht wünschen. Oder sollte er mit ihr und ihrer Mutter und ihren Schwestern zu Hause sitzen? Aber so angenehm und unterhaltend ihr selbst diese sich immer gleichbleibenden Gespräche waren (Linchen-Trinchen-Gespräche pflegte der alte Fürst die Unterhaltungen der Schwestern zu nennen), so wußte sie doch, daß ihm das langweilig sein mußte. Was blieb ihm also übrig zu tun? Sollte er an seinem Buche schreiben? Er hatte dazu auch wirklich einen Versuch gemacht und war in der ersten Zeit einige Male nach der Bibliothek gegangen, um sich für sein Buch Auszüge zu machen und sich über einzelne Punkte zu belehren; aber, wie er sich ihr gegenüber ausgedrückt hatte, je länger dieses müßige Leben dauerte, um so weniger Zeit hatte er übrig. Und außerdem klagte er ihr, er [150] habe hier schon zuviel von seinem Buche gesprochen, und die Folge davon sei, daß ihm alle seine Gedanken über diesen Gegenstand in Verwirrung geraten seien und ihre Anziehungskraft für ihn verloren hätten.
Einen Vorteil brachte jedoch das Stadtleben insofern mit sich, als Streitigkeiten hier in der Stadt zwischen ihnen beiden niemals vorkamen. Ob dies nun daher rührte, daß die gesamten Lebensverhältnisse in der Stadt andere waren, oder daher, daß sie beide in dieser Hinsicht vorsichtiger und verständiger geworden waren, genug, Zwistigkeiten aus Eifersucht, vor denen ihnen bei der Übersiedlung nach der Stadt so bange gewesen war, kamen hier nicht vor.
In dieser Hinsicht trug sich sogar ein für beide sehr wichtiges Ereignis zu, nämlich eine Begegnung Kittys mit Wronski.
Die alte Fürstin Marja Borisowna, Kittys Taufpatin, die immer eine große Zuneigung zu ihr gehabt hatte, wünschte dringend, sie wiederzusehen. Obwohl Kitty wegen ihres Zustandes sonst keine Besuche machte, fuhr sie doch mit ihrem Vater zu der verehrten alten Dame und traf bei ihr Wronski.
Kitty hatte sich bei dieser Begegnung nur das eine vorzuwerfen, daß für einen Augenblick, als sie in dem Zivilanzuge die ihr einst so wohlvertrauten Züge erkannte, ihr der Atem stockte, alles Blut zum Herzen strömte und, wie sie fühlte, eine heiße Röte ihr ins Gesicht stieg. Aber das dauerte nur einige Sekunden. Ihr Vater, der absichtlich in lautem Tone mit Wronski sprach, hatte dieses Gespräch noch nicht beendet, als sie bereits völlig fähig war, Wronski anzusehen und nötigenfalls mit ihm zu reden, geradeso wie sie mit der Fürstin Marja Borisowna redete, und vor allen Dingen so, daß alles, bis auf die kleinste Einzelheit im Klang ihrer Stimme und in ihrem Lächeln, die Billigung ihres Mannes gefunden hätte, dessen unsichtbare Gegenwart sie in diesem Augenblick zu empfinden glaubte.
Sie wechselte einige Worte mit ihm und lächelte sogar ruhig zu einer scherzhaften Bemerkung von ihm über die Wahlversammlung, die er »unser Parlament« nannte. (Daß sie lächelte, war erforderlich, um zu zeigen, daß sie den Scherz verstanden habe.) Aber dann wandte sie sich auch sofort zu der Fürstin Marja Borisowna und blickte kein einziges Mal wieder nach ihm, bis er aufstand, um sich zu empfehlen; nun sah sie ihn an, aber augenscheinlich nur, weil es unhöflich ist, jemand, der einem eine Verbeugung macht, nicht anzusehen.
Sie war ihrem Vater dafür dankbar, daß er zu ihr über ihr Zusammentreffen mit Wronski keinerlei Bemerkung machte; aber an seiner besonderen Zärtlichkeit, während sie nach dem [151] Besuch ihre gewöhnliche Spazierfahrt machte, merkte sie, daß er mit ihr zufrieden war. Auch sie selbst war mit sich zufrieden. Sie hatte gar nicht erwartet, daß sie die Kraft besitzen würde, alle Erinnerungen an ihre früheren Gefühle für Wronski irgendwo in der Tiefe ihrer Seele gewaltsam niederzuhalten und ihm gegenüber völlig gleichmütig und ruhig nicht nur zu scheinen, sondern auch zu sein.
Ljewin errötete weit heftiger als Kitty selbst, als sie ihm erzählte, daß sie mit Wronski bei der Fürstin Marja Borisowna zusammengetroffen sei. Es war ihr sehr schwer geworden, ihm dies mitzuteilen; aber noch schwerer wurde es ihr, weiterzusprechen und über die Einzelheiten der Begegnung zu berichten, da er keine Fragen darüber an sie richtete, sondern sie nur mit finsterem Gesicht anblickte.
»Es tut mir sehr leid, daß du nicht dabei warst«, sagte sie. »Ich meine nicht, im Zimmer; ich hätte wohl in deiner Gegenwart nicht so ungezwungen sein können. Ich erröte jetzt viel mehr, viel, viel mehr als dort«, fügte sie hinzu; sie errötete so stark, daß ihr die Tränen kamen. »Aber daß du nicht durch eine Ritze sehen konntest.«
Ihre ehrlichen Augen ließen ihrem Mann keinen Zweifel daran, daß sie wirklich mit sich zufrieden war, und trotz ihres Errötens beruhigte er sich sofort und begann, sie näher zu befragen, was sie ja auch nur gewünscht hatte. Nachdem er alles erfahren hatte, sogar die Einzelheit, daß sie sich nur im ersten Augenblick nicht habe des Errötens erwehren können, daß ihr aber dann so harmlos und frei zumute gewesen sei wie jedem Beliebigen gegenüber, wurde Ljewin wieder ganz fröhlich und sagte, er freue sich über diesen Vorfall sehr und werde sich nun nicht wieder so töricht benehmen wie bei den Wahlen, sondern sich bei der nächsten Begegnung mit Wronski Mühe geben, möglichst freundlich und nett zu ihm zu sein.
»Es ist eine widerwärtige Empfindung, denken zu müssen, daß man mit jemand so gut wie feind ist und ein Zusammentreffen etwas Peinliches hat«, sagte Ljewin. »Ich freue mich sehr, wirklich sehr.«
»Also, bitte, fahre ja mit zu Bohls«, sagte Kitty zu ihrem Manne, als er zwischen zehn und elf Uhr, ehe er das Haus verließ, zu ihr in ihr Zimmer kam. »Ich weiß, du ißt zu Mittag im Klub; Papa hat dich dazu eingeschrieben. Aber was tust du denn bis dahin?«
[152] »Ich will eigentlich nur zu Katawasow«, antwortete Ljewin.
»Warum willst du denn so früh dorthin?«
»Er hat versprochen, mich mit Metrow bekannt zu machen. Ich möchte mit ihm gern über meine Arbeit sprechen; er ist ein namhafter Petersburger Gelehrter«, antwortete Ljewin.
»Ja, ja, du lobtest ja neulich sosehr eine Abhandlung von ihm, nicht wahr? Nun, und dann?« fragte Kitty.
»Dann fahre ich vielleicht noch aufs Gericht, in der Angelegenheit meiner Schwester.«
»Willst du nicht auch ins Konzert?« fragte sie.
»Was soll ich da allein?«
»Ach was, fahr nur hin; da bekommst du die neuen Sachen zu hören, von denen wir neulich sprachen; sie interessieren dich ja so sehr. Wenn ich könnte, würde ich unbedingt hinfahren.«
»Nun, jedenfalls komme ich vor dem Mittagessen noch einmal nach Hause«, erwiderte er und sah nach der Uhr.
»Zieh doch den Oberrock an, damit du gleich mit zur Gräfin Bohl fahren kannst.«
»Ist denn dieser Besuch unbedingt notwendig?«
»Ja, gewiß, unbedingt! Er ist doch bei uns gewesen. Na, was macht es dir denn für Mühe? Du fährst hin, nimmst Platz, redest fünf Minuten lang über das Wetter, stehst wieder auf und fährst weg.«
»Weißt du, du wirst es mir gar nicht glauben, aber ich habe mich von all diesem Formenwesen so entwöhnt, daß ich mich ordentlich schäme, dergleichen zu tun. Welchen Sinn hat das überhaupt: ein fremder Mensch kommt, setzt sich, bleibt ein Weilchen ganz zwecklos sitzen, stört die Leute vom Hause, verdirbt sich selbst die Laune und geht wieder.«
Kitty lachte.
»Aber als du noch unverheiratest warst, hast du ja doch wohl auch Besuche gemacht?« fragte sie.
»Allerdings, aber es ist mir immer peinlich gewesen, und jetzt habe ich mich dessen so entwöhnt, daß ich wahrhaftig lieber zwei Tage hintereinander das Mittagessen entbehren möchte als diesen Besuch machen. Ich schäme mich geradezu! Ich habe immer die Vorstellung, daß die Leute es übelnehmen und im stillen sagen: Warum bist du eigentlich nur so ohne jeden Anlaß hergekommen?«
»Nein, übelnehmen werden sie es dir nicht. Das versichere ich dir«, antwortete Kitty und blickte ihm lachend ins Gesicht. Sie ergriff seine Hand. »Nun adieu! Bitte, mach den Besuch nur!«
Er küßte seiner Frau die Hand und war schon im Begriff, wegzugehen, als sie ihn wieder zurückhielt.
[153] »Konstantin, weißt du wohl, daß ich nur noch fünfzig Rubel habe?«
»Nun schön, ich werde mit zur Bank fahren und Geld abheben. Wieviel willst du haben?« versetzte er mit dem ihr wohlbekannten unzufriedenen Gesichtsausdruck.
»Nein, bitte, warte noch ein bißchen.« Sie hielt ihn an der Hand zurück. »Wir wollen darüber reden; mich beunruhigt das. Ich gebe meiner Meinung nach nichts unnütz aus, und trotzdem ist das Geld immer wie weggeblasen. Wir müssen wohl irgendeinen Fehler machen.«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte er, räusperte sich und sah sie mit gesenktem Kopfe von unten her an.
Dieses Räuspern kannte sie an ihm. Das pflegte bei ihm ein Zeichen starker Unzufriedenheit zu sein – der Unzufriedenheit nicht mit ihr, sondern mit sich selbst. Er war tatsächlich unzufrieden, aber nicht deswegen, weil viel Geld draufging, sondern weil er an etwas erinnert wurde, was er in dem Bewußtsein, daß dabei etwas nicht stimmte, gern vergessen hätte.
»Ich habe Sokolow angewiesen, den Weizen zu verkaufen und sich die Pacht für die Mühle im voraus geben zu lassen. Wir werden unter allen Umständen Geld zur Verfügung haben.«
»Gewiß, aber ich fürchte, daß wir überhaupt zuviel ...«
»Durchaus nicht, durchaus nicht!« versetzte er. »Nun adieu, mein Herz!«
»Nein, wirklich, es tut mir manchmal leid, daß ich Mamas Rat gefolgt bin. Wie schön wäre es auf dem Lande gewesen! So mache ich euch allen Unbequemlichkeiten, und wir vergeuden unser Geld.«
»Durchaus nicht, durchaus nicht. Seit wir geheiratet haben, ist es noch kein einziges Mal vorgekommen, daß ich gewünscht hätte, es möchte lieber anders sein, als es war.«
»Im Ernst?« sagte sie und blickte ihm in die Augen.
Er hatte das gesagt, ohne viel zu überlegen, nur um sie zu trösten. Aber als er sie nun anblickte und diese treuen, lieben Augen fragend auf sich gerichtet sah, da wiederholte er denselben Satz noch einmal von ganzem Herzen. ›Ich vergesse wirklich manchmal zu meiner Schande, meiner Frau etwas Liebes zu tun‹, dachte er. Und dabei fiel ihm ein, was in so naher Zukunft ihnen bevorstand.
»Ob es wohl bald ...? Was meinst du?« flüsterte er, indem er ihre beiden Hände ergriff.
»Ich habe es schon so oft gedacht, daß ich jetzt nichts mehr denke und nichts mehr weiß.«
»Und du hast keine Furcht?«
[154] Sie lächelte geringschätzig.
»Keine Spur«, erwiderte sie.
»Also, wenn etwas vorfallen sollte, ich bin bei Katawasow.«
»Nein, es wird nichts vorfallen, es ist nicht daran zu denken. Ich fahre mit Papa auf dem Boulevard spazieren. Dann machen wir einen Besuch bei Dolly. Vor dem Mittagessen erwarte ich dich. Ach ja, das wollte ich noch sagen: Weißt du wohl, daß Dollys Lage ganz unhaltbar zu werden anfängt? Sie steckt tief in Schulden und hat gar kein Geld. Ich habe gestern mit Mama und mit Arseni« (so nannte sie Herrn Lwow, den Mann ihrer Schwester) »darüber gesprochen, und es schien uns das beste, daß ihr beide, du und er, Stiwa einmal ordentlich vornehmen möchtet. So geht es schlechterdings nicht weiter. Mit Papa kann man darüber nicht reden ... Aber wenn du und er ...«
»Aber was können wir denn dabei ausrichten?« fragte Ljewin.
»Jedenfalls geh einmal zu Arseni und sprich mit ihm; er wird dir genauer sagen, was wir beschlossen haben.«
»Nun, daß ich mit Arseni in allem einverstanden sein werde, weiß ich im voraus. Also, ich will zu ihm fahren. – Apropos, wenn ich ins Konzert soll, so könnte ich ja mit Natalja zusammen hin. Nun adieu!«
An der Haustür hielt ihn der alte Kusma an, der schon in Ljewins Junggesellenzeit sein Diener gewesen war und nun in der Stadt den Wirtschaftsangelegenheiten Ljewins vorstand.
»Prachtkerl« (dies war das linke Deichselpferd, das vom Gute mitgebracht war) »ist beschlagen worden; aber er hinkt immer«, sagte er. »Was, befehlen Sie, soll geschehen?«
In der ersten Zeit seines Moskauer Aufenthaltes hatte Ljewin sich viel mit den Pferden abgegeben, die er vom Gute mitgebracht hatte. Er wollte gern diesen Teil seiner Wirtschaft möglichst gut und dabei möglichst billig einrichten; aber es stellte sich heraus, daß eigenes Fuhrwerk ihn teurer zu stehen kam als Mietswagen, und daß es ohne Benutzung von Mietswagen doch nicht abging.
»Laß den Tierarzt holen; vielleicht ist es eine Verletzung.«
»Und wie soll Katerina Alexandrowna ausfahren?« fragte Kusma.
Ljewin war jetzt nicht mehr, wie in der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Moskau, darüber erstaunt, daß für eine Fahrt von der Wosdwischenkastraße nach der Siwzew-Wraschek-Straße zwei starke Pferde vor einen schweren Wagen gespannt werden mußten, um ihn einige hundert Schritte weit durch den Schneeschlamm zu ziehen und dort vier Stunden lang bis zur [155] Rückfahrt stillzustehen, und daß er dann dafür fünf Rubel bezahlen mußte. Jetzt erschien ihm das schon als etwas ganz Natürliches.
»Sag dem Fuhrherrn, er möchte zwei Pferde für unsern Wagen schicken«, antwortete er.
Nachdem Ljewin, dank den Einrichtungen in der Stadt, in so einfacher, leichter Weise eine Schwierigkeit erledigt hatte, die auf dem Lande soviel persönliche Bemühung und Achtsamkeit erfordert haben würde, trat er vor das Haus, rief eine Droschke heran, setzte sich hinein und fuhr nach der Nikitskajastraße. Unterwegs dachte er nicht mehr an die Geldangelegenheit, sondern war nur von dem Gedanken erfüllt, daß er nun den Petersburger Gelehrten, der auf dem Gebiete der Volkswirtschaft wissenschaftlich tätig war, kennenlernen und mit ihm über sein Buch reden werde.
Nur in der allerersten Zeit in Moskau hatten jene dem Landbewohner seltsam erscheinenden, nutzlosen, aber unvermeidlichen Ausgaben, die auf Schritt und Tritt erforderlich wurden, für Ljewin etwas Überraschendes gehabt. Aber jetzt hatte er sich an diese Ausgaben bereits gewöhnt. Es ging ihm in dieser Hinsicht ähnlich, wie es nach einem geläufigen Ausdruck den Trinkern geht: das Geld für das erste Glas sperrt und sträubt sich, aus dem Beutel herauszukommen, wie ein Dachs, den man aus seinem Bau ziehen will; das Geld für das zweite Glas kommt ruhig heraus wie eine Kuh aus dem Stalle, und die Geldstücke für die folgenden Gläser flattern heraus wie kleine Vögel aus dem Käfig. Als Ljewin den ersten Hundertrubelschein wechselte, um Livreen für den Diener und den Pförtner zu kaufen, da überlegte er unwillkürlich: diese Livreen, von denen kein Mensch einen Nutzen habe, die aber doch unumgänglich notwendig seien, wenigstens nach dem Erstaunen zu urteilen, das die Fürstin und Kitty bei seiner Bemerkung bekundet hatten, daß es doch auch ohne Livreen gehe, diese Livreen würden soviel kosten wie zwei Sommerarbeiter, das heißt ungefähr dreihundert Arbeitstage, von der Osterwoche bis zu den Fasten, und zwar lauter Tage voll schwerer Arbeit vom frühen Morgen bis zum späten Abend – und dieser Hundertrubelschein sträubte sich heftig, aus der Brieftasche herauszukommen. Die nächste Banknote, die gewechselt wurde, um Speisen und Getränke im Betrage von achtundzwanzig Rubeln für ein Essen zu beschaffen, das sie den Verwandten geben mußten, erweckte zwar bei Ljewin die Erinnerung daran, daß achtundzwanzig Rubel der Preis von neun Tschetwert Hafer seien, den die Arbeiter mit vielem Schweiß und Ächzen gemäht, gebunden, gedroschen, geworfelt, [156] gesiebt und aufgeschüttet hätten; aber diese zweite Banknote ging doch schon leichter weg. Jetzt aber rief das Wechseln der Hundertrubelscheine schon längst nicht mehr derartige Erwägungen bei ihm hervor, und diese Papierblätter flogen davon wie kleine Vögelchen. Ob das Vergnügen, das die für dieses Geld beschafften Dinge gewährten, auch im richtigen Verhältnis zu der Arbeit stehe, die seinerzeit zum Erwerb des Geldes aufgewendet war, diese Überlegung war bei ihm schon längst abgekommen. Seine ehemalige wirtschaftliche Richtschnur, daß es einen bestimmten Preis gebe, unter dem eine bestimmte Menge Getreide nicht verkauft werden dürfe, war bei ihm gleichfalls in Vergessenheit geraten. Der Roggen, für den er so lange an einem bestimmten Preise festgehalten hatte, war nun je Tschetwert fünfzig Kopeken unter dem Preise verkauft worden, der ihm einen Monat vorher geboten worden war. Selbst die einfache Rechnung, daß sie bei solchen Ausgaben unmöglich ein Jahr lang würden leben können, ohne in Schulden zu geraten, selbst diese Rechnung machte auf ihn keinen Eindruck mehr. Nur eines war erforderlich: er mußte immer Geld bei der Bank liegen haben, so daß man stets wußte, daß man morgen würde Fleisch kaufen können; woher das Geld kam, danach fragte er nicht. Das hatte er auch bisher durchführen können: er hatte immer Geld auf der Bank gehabt. Aber jetzt war sein Geld auf der Bank zu Ende gegangen, und er wußte nicht recht, wo er welches hernehmen sollte. Dieser Gedanke war es gewesen, der ihm, als Kitty von dem Gelde angefangen hatte, für einen Augenblick die Laune verdorben hatte; aber er hatte jetzt keine Zeit, daran zu denken. Während der Fahrt in der Droschke dachte er nur an Katawasow und die bevorstehende Bekanntschaft mit Metrow.
Ljewin war bei seiner Anwesenheit in Moskau seinem ehemaligen Universitätsfreunde, Professor Katawasow, wieder nähergetreten, den er seit seiner Hochzeit nicht mehr gesehen hatte. Er hatte Katawasow wegen seiner schlichten, klaren Weltanschauung sehr gern. Allerdings war Ljewin der Ansicht, die Klarheit von Katawasows Weltanschauung stamme von einer gewissen Dürftigkeit seiner Veranlagung her, und Katawasow seinerseits war der Ansicht, der Mangel an Folgerichtigkeit in Ljewins Denken sei eine Folge ungenügender geistiger Zucht. Aber trotzdem hatte Katawasows Klarheit für Ljewin etwas Anziehendes und ebenso für Katawasow die Überfülle von [157] Ljewins ungeordneten Gedanken; es machte beiden Vergnügen, miteinander zusammenzukommen und sich zu unterhalten.
Ljewin hatte seinem Freunde einige Stellen aus seinem Werke vorgelesen, und sie hatten ihm gefallen. Als Katawasow gestern mit Ljewin in einer öffentlichen Vorlesung zusammengetroffen war, hatte er ihm mitgeteilt, daß der berühmte Metrow, an dessen Abhandlung Ljewin so großes Gefallen gefunden hatte, sich gegenwärtig in Moskau aufhalte und große Anteilnahme dafür bekundet habe, was er, Katawasow, ihm von Ljewins Arbeit erzählt habe. Metrow werde morgen um elf Uhr bei ihm sein und sich sehr freuen, Ljewins Bekanntschaft zu machen.
»Sie haben sich aber ganz entschieden gebessert, liebster Freund, wie ich mit Vergnügen feststelle«, sagte Katawasow, als er Ljewin in seinem kleinen Wohnzimmer begrüßte. »Ich höre die Klingel und denke: es ist doch unmöglich, daß der pünktlich kommt ... Nun also, was sagen Sie zu den Montenegrinern? Ein echtes Kriegervolk!«
»Was hat sich denn neuerdings ereignet?« fragte Ljewin.
Katawasow teilte ihm in kurzen Worten die letzte Nachricht vom Kriege mit; dann ging er mit ihm in sein Arbeitszimmer und machte ihn dort mit einem kleinen, stämmigen Herrn von sehr angenehmem Äußern bekannt. Dies war Metrow. Das Gespräch drehte sich kurze Zeit um Politik und um die Auffassung, die man in den höchsten Kreisen Petersburgs von den letzten Ereignissen habe. Metrow teilte eine ihm aus zuverlässiger Quelle bekannt gewordene Äußerung mit, die der Kaiser und ein Minister bei diesem Anlasse getan hätten. Katawasow dagegen hatte gleichfalls als zuverlässig gehört, der Kaiser habe etwas ganz anderes gesagt. Ljewin bemühte sich, eine Lage zu ersinnen, in der sowohl die eine wie die andere Äußerung getan sein könnte; dann brach man das Gespräch über diesen Gegenstand ab.
»Ja, mein Freund hier hat ein Buch über die natürlichen Lebensbedingungen des Arbeiters in bezug auf den Grund und Boden beinah vollendet«, sagte Katawasow. »Ich bin nicht Fachmann; aber als Naturforscher habe ich mich gefreut, daß er den Menschen nicht als etwas außerhalb der zoologischen Gesetze Stehendes auffaßt, sondern seine Abhängigkeit von seiner gesamten Umgebung einsieht und in dieser Abhängigkeit die Gesetze der Entwicklung sucht.«
»Das ist sehr reizvoll«, erwiderte Metrow.
»Ich hatte eigentlich angefangen, ein rein landwirtschaftliches Buch zu schreiben«, bemerkte Ljewin errötend; »indem ich mich aber darin mit dem Hauptinstrument der Landwirtschaft, dem [158] Arbeiter, beschäftigte, bin ich unwillkürlich zu ganz unerwarteten Ergebnissen gelangt.«
Und nun begann Ljewin vorsichtig, wie wenn er das Gelände erkunden wollte, seine Ansicht darzulegen. Er wußte, daß Metrow eine Abhandlung gegen die herrschende volkswirtschaftliche Auffassung geschrieben hatte; aber bis zu welchem Grade er bei ihm auf Zustimmung zu seinen eigenen neuen Ansichten hoffen durfte, das wußte er nicht und konnte er aus dem klugen, ruhigen Gesicht des Gelehrten nicht erraten.
»Aber worin sehen Sie denn die besonderen Eigentümlichkeiten des russischen Arbeiters?« fragte Metrow. »In seinen, um mich so auszudrücken, zoologischen Eigenschaften oder in den Lebensverhältnissen, in denen er sich befindet?«
Ljewin merkte, daß schon in dieser Frage ein Gedanke zum Ausdruck kam, mit dem er nicht einverstanden sein konnte; aber er fuhr fort, seine Ansicht zu entwickeln, die darin bestand, daß der russische Arbeiter vom Grund und Boden eine Auffassung habe, die von der Auffassung der Arbeiter bei anderen Völkern durchaus verschieden sei. Und um diesen Satz zu beweisen, beeilte er sich, hinzuzufügen, seiner Meinung nach rühre diese Auffassung des russischen Volkes daher, daß es sich seines Berufes, die gewaltigen, noch unbewohnten Landgebiete im Osten zu besiedeln, bewußt sei.
»Bei Schlüssen über den gemeinsamen Beruf eines Volkes gerät man leicht in Irrtümer«, bemerkte Metrow, indem er Ljewin unterbrach. »Der Zustand des Arbeiters wird immer von seinem Verhältnis zum Grund und Boden und zum Kapital abhängen.«
Und ohne daß er Ljewin hätte seinen Gedanken bis zu Ende darlegen lassen, begann nun Metrow ihm die Besonderheit seiner eigenen Betrachtungsweise auseinanderzusetzen.
Worin die Besonderheit von Metrows Auffassung bestand, das begriff Ljewin nicht, weil er sich keine Mühe gab, es zu begreifen. Er sah, daß Metrow, ganz wie die andern, trotz seiner Abhandlung, in der er die Volkswirtschaftler bekämpft hatte, die Lage des russischen Arbeiters dennoch nur vom Gesichtspunkte des Kapitals, des Arbeitslohnes und der Rente betrachtete. Obgleich er zugeben mußte, daß im östlichen, größten Teile Rußlands die Rente noch gleich Null sei, daß der Arbeitslohn für neun Zehntel der sich auf achtzig Millionen belaufenden Bevölkerung Rußlands nur im eigenen Lebensunterhalt bestehe und daß ein Kapital bisher nur in Gestalt der einfachsten Arbeitsgeräte vorhanden sei, so betrachtete er dennoch jeden Arbeiter nur von diesem Gesichtspunkte aus. In vielen Punkten allerdings stimmte er mit den Volkswirtschaftlern nicht überein, [159] und über den Arbeitslohn hatte er eine eigene Auffassung, die er nun Ljewin auseinandersetzte.
Ljewin hörte ihm nur ungern zu und versuchte anfangs einige Einwendungen vorzubringen. Er hätte gern Metrow unterbrochen, um ihm seine Gedanken zu entwickeln, durch die seiner Ansicht nach jede weitere Auseinandersetzung überflüssig gemacht wurde. Als er sich dann aber überzeugt hatte, daß sie beide für die Sache eine so verschiedene Anschauungsweise hatten, daß sie einander doch nie würden verstehen können, da widersprach er nicht mehr und hörte nur noch zu. Und obwohl das, was Metrow sagte, ihn nun gar nicht mehr beschäftigte, empfand er doch beim Zuhören eine gewisse Befriedigung. Seine Eitelkeit fühlte sich dadurch geschmeichelt, daß ein solcher Gelehrter so bereitwillig, mit solcher Sorgfalt und mit solchem Vertrauen auf seine, Ljewins, Sachkenntnis (mitunter wies er durch eine bloße Andeutung auf ein ganzes großes Gebiet dieses Gegenstandes hin) ihm seine Gedanken auseinandersetzte. Ljewin führte dies darauf zurück, daß Metrow ihn als eine wertvolle Persönlichkeit betrachte; er wußte eben nicht, daß er schon mit allen ihm Näherstehenden diesen Gegenstand zur Genüge besprochen hatte und nun jedesmal einen besonderen Genuß darin fand, wenn er mit einer neuen Persönlichkeit darüber reden konnte, und daß er überhaupt gern mit allen Leuten redete, auch über solche ihn beschäftigende Gegenstände, die ihm selbst unklar waren.
»Aber wir werden zu spät kommen«, sagte Katawasow nach einem Blick auf die Uhr, sobald Metrow seine Auseinandersetzung beendet hatte.
»Es findet heute in der Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft eine Festsitzung aus Anlaß von Swintitschs fünfzigjährigem Jubiläum statt«, erwiderte Katawasow auf eine Frage Ljewins. »Peter Iwanowitsch und ich wollen auch hin. Ich habe versprochen, über Swintitschs zoologische Arbeiten zu sprechen. Kommen Sie mit; es wird sehr interessant sein.«
»Ja, es ist wirklich Zeit«, sagte Metrow. »Kommen Sie doch mit und von dort zu mir, wenn es Ihnen recht ist. Ich würde sehr gern Ihre Arbeit ganz kennenlernen.«
»Ach, nicht doch. Sie ist noch recht unschön; ich bin ja noch gar nicht fertig. Aber in die Sitzung werde ich sehr gern mitkommen.«
»Haben Sie schon gehört, Verehrtester? Ich habe ein Sondergutachten eingereicht«, sagte Katawasow, während er sich im Nebenzimmer den Frack anzog, zu Metrow.
Damit begann ein Gespräch über die Universitätsfrage.
[160] Die Universitätsfrage war in diesem Winter in Moskau ein sehr wichtiges Ereignis. Drei ältere Professoren hatten im Senat ein Gutachten einiger jüngerer Professoren zurückgewiesen; die jüngeren hatten darauf ein gesondertes Gutachten eingereicht. Dieses Gutachten war nach dem Urteile der einen ganz abscheulich, nach dem Urteile anderer durchaus schlicht und gerecht; so hatten sich die Professoren in zwei Parteien gespalten.
Die einen, zu denen Katawasow gehörte, sahen bei der Gegenpartei nur gemeine Verleumdung und Betrug, die anderen hingegen beschuldigten ihre Gegner eines Bubenstreiches und der Mißachtung aller Autorität. Obwohl Ljewin mit der Universität in keiner Beziehung stand, hatte er doch schon mehrmals während seiner Anwesenheit in Moskau von dieser Sache gehört und darüber gesprochen und hatte sich eine eigene Meinung gebildet; so beteiligte er sich denn an dem Gespräch, das auch noch auf der Straße fortgesetzt wurde, bis alle drei beim alten Universitätsgebäude anlangten.
Die Sitzung hatte bereits begonnen. An dem mit einer Decke behangenen Tisch, wo Katawasow und Metrow Platz nahmen, saßen sechs Herren, von denen einer, sich tief über sein Manuskript beugend, etwas vorlas. Ljewin setzte sich in den Stuhlreihen, die in einiger Entfernung um den Tisch herumstanden, auf einen freien Stuhl und fragte einen neben ihm sitzenden Studenten flüsternd, was da vorgelesen werde. Der Student blickte Ljewin unwillig an und antwortete: »Die Biographie.«
Obgleich Ljewin für die Biographie jenes Gelehrten kein besonderes Interesse hatte, so hörte er doch unwillkürlich zu und erfuhr einiges Wissenswertes und Neues aus dem Leben des berühmten Mannes.
Als der Vortragende geendet hatte, dankte ihm der Vorsitzende und las dann seinerseits ein ihm von dem Dichter Ment zugesandtes Gedicht vor, das dieser auf das Jubiläum verfaßt hatte, und fügte einige Worte des Dankes für den Dichter hinzu. Darauf las Katawasow mit seiner lauten, schreienden Stimme seinen Bericht über die wissenschaftlichen Arbeiten des Jubilars vor.
Als Katawasow damit fertig war, blickte Ljewin auf die Uhr, sah, daß es schon zwischen eins und zwei war, und sagte sich, daß er vor dein Konzerte keine Zeit mehr haben werde, dem Professor Metrow seine Schrift vorzulesen; auch hatte er jetzt gar keine Lust mehr dazu. Er hatte während der Vorträge auch noch an das vorangegangene Gespräch gedacht. Er war sich jetzt darüber klar, daß, obgleich Metrows Gedanken vielleicht einen gewissen Wert besäßen und die seinigen gleichfalls, diese Gedanken [161] jedoch nur dann sich klarer gestalten und zu einem Ergebnis führen ließen, wenn ein jeder für sich in der von ihm gewählten Richtung weiterarbeite, daß aber bei einem wechselseitigen Austausch dieser Gedanken nichts herauskomme. Ljewin entschloß sich daher, Metrows Einladung abzulehnen, und trat bei Schluß der Sitzung zu ihm heran. Metrow machte Ljewin mit dem Vorsitzenden bekannt, mit dem er sich gerade über das neueste politische Ereignis unterhielt. Dabei erzählte Metrow dem Vorsitzenden dasselbe, was er vorher Ljewin erzählt hatte, und Ljewin machte dazu dieselben Bemerkungen, die er schon damals gemacht hatte, nur daß er zur Abwechselung eine neue Ansicht, die ihm jetzt gerade einfiel, als die seinige vorbrachte. Hierauf ging das Gespräch wieder zur Universitätsfrage über. Da Ljewin das alles schon einmal gehört hatte, so beeilte er sich, Metrow zu sagen, er bedaure, seiner Einladung nicht Folge leisten zu können, empfahl sich und fuhr zu Lwow.
Lwow, der Kittys Schwester Natalja zur Frau hatte, hatte sein ganzes Leben in Residenzstädten und großenteils im Auslande zugebracht, wo er auch seine Erziehung genossen hatte und im diplomatischen Dienst tätig gewesen war.
Im vorigen Jahre war er aus dem diplomatischen Dienst ausgetreten (nicht etwa, weil er Unannehmlichkeiten gehabt hätte; die hatte er nie mit jemand) und hatte ein Amt bei der Hofbehörde in Moskau übernommen, um seinen beiden Knaben eine recht gute Erziehung zuwenden zu können.
Trotz des schärfsten Gegensatzes in ihren Gewohnheiten und Anschauungen und obwohl Lwow älter war als Ljewin, waren sie in diesem Winter einander nähergetreten und hatten aneinander Gefallen gefunden.
Lwow war zu Hause, und Ljewin trat ohne Anmeldung bei ihm ein.
Lwow trug einen Hausrock mit Gürtel und sämischlederne Schuhe, saß auf einem Lehnstuhl und las durch einen Kneifer mit blauen Gläsern ein Buch, das auf einem Lesepult stand; in der vorsichtig vom Körper weggestreckten schönen Hand hielt er eine zur Hälfte in Asche verwandelte Zigarre.
Auf seinem schönen, feinen, noch, jugendlichen Gesicht, dem das lockige, silbern glänzende Haar noch mehr den Ausdruck des Rassigen verlieh, strahlte ein freundliches Lächeln auf, als er Ljewin erblickte.
[162] »Vortrefflich! Ich wollte soeben zu Ihnen schicken. Nun, was macht Kitty? Setzen Sie sich hierher; hier haben Sie es bequemer ...« Er stand auf und zog einen Schaukelstuhl heran. »Haben Sie das letzte Rundschreiben im Journal de Saint-Pétersbourg gelesen? Ich finde es ausgezeichnet«, sagte er mit französischem Tonfall.
Ljewin erzählte, was er von Katawasow über die in Petersburg herrschende Auffassung der Lage gehört hatte, und nachdem sie so ein Weilchen von Politik gesprochen hatten, berichtete er ihm von seiner Bekanntschaft mit Metrow und von seinem Besuch der Sitzung. Dies interessierte Lwow in hohem Grade.
»Ja, sehen Sie, ich beneide Sie geradezu darum, daß Sie zu dieser interessanten Gelehrtenwelt Zutritt haben«, sagte er und ging, da er nun in Eifer kam, wie gewöhnlich sogleich zu der ihm geläufigeren französischen Sprache über. »Allerdings würde ich auch gar keine Zeit dazu haben. Mein Amt und die Beschäftigung mit den Kindern nehmen mir die Möglichkeit dazu. Und ferner schäme ich mich nicht einzugestehen, daß meine Bildung gar zu mangelhaft ist.«
»Das möchte ich denn doch nicht glauben«, erwiderte Ljewin lächelnd; wie immer empfand er eine gewisse Rührung über Lwows geringe Selbsteinschätzung, die keineswegs erheuchelt war in der Absicht, bescheiden zu scheinen oder gar zu sein, sondern durchaus seiner wirklichen Gesinnung entsprach.
»Doch, doch! Ich fühle jetzt recht, wie schwach es mit meinen Kenntnissen bestellt ist. Ich muß sogar für die Erziehung meiner Kinder vieles in meinem Gedächtnis wieder auffrischen oder geradezu neu lernen. Denn daß die Kinder Lehrer haben, damit ist's nicht genug; es muß auch jemand da sein, der die Aufsicht führt, gerade wie Sie in Ihrer Landwirtschaft zu den Arbeiten noch einen Aufseher nötig haben. Sehen Sie, was ich da eben lese«, er zeigte auf die Buslajewsche Grammatik, die auf dem Lesepult lag, »das hat mein kleiner Michail aufbekommen, und es ist so furchtbar schwer ... Hier, erklären Sie mir dies doch, bitte. Hier heißt es ...«
Ljewin wollte ihm deutlich machen, daß dabei eigentlich nichts zu verstehen wäre; das müsse einfach auswendig gelernt werden. Aber Lwow wollte ihm darin nicht zustimmen. »Ja, sehen Sie wohl, Sie machen sich darüber lustig«, sagte er.
»Im Gegenteil«, erwiderte Ljewin, »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie eifrig ich immer, wenn ich Sie so beobachte, das zu erlernen suche, was ich für die Zukunft verstehen muß, nämlich die Kunst der Kindererziehung.«
[163] »Nun, zu lernen ist dabei eigentlich nichts«, versetzte Lwow.
»Ich weiß nur«, sagte Ljewin, »daß ich noch nie besser erzogene Kinder als die Ihrigen gesehen habe und mir gar keine besseren Kinder, als es die Ihrigen sind, wünschen könnte.«
Lwow wollte sich offenbar beherrschen, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich freute; aber trotzdem strahlte er über das ganze Gesicht.
»Wenn sie nur besser werden als ich. Das ist alles, was ich wünsche«, erwiderte er. »Sie wissen noch nicht, was für Not man mit Knaben hat, die wie die meinigen bei dem steten Leben im Ausland nicht ihre richtige Ordnung gehabt haben.«
»Das werden Sie alles mit ihnen nachholen. Die Knaben sind ja so gut befähigt. Die Hauptsache bleibt doch immer die sittliche Erziehung. Und das ist es, was ich zu lernen suche, wenn ich Ihre Kinder ansehe.«
»Sie sagen: die sittliche Erziehung. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwer das ist! Kaum hat man eine üble Neigung bezwungen, so entwickeln sich andre, und der Kampf beginnt von neuem. Wenn wir nicht an der Religion eine Stütze hätten (Sie besinnen sich wohl, wir haben einmal darüber gesprochen), so wäre kein Vater aus eigener Kraft, ohne diese Hilfe, imstande, seine Kinder zu erziehen.«
Dieses für Ljewin stets interessante Gespräch wurde durch Natalja Alexandrowna unterbrochen, die, bereits zur Ausfahrt angekleidet, ins Zimmer trat. Es ließ sich nicht leugnen, daß sie eine wirkliche Schönheit war.
»Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie hier waren«, sagte sie; augenscheinlich war sie keineswegs betrübt darüber, daß sie dieses ihr längst bekannte und langweilige Gespräch unterbrochen hatte, sondern im Gegenteil erfreut. »Nun, was macht Kitty? Ich bin heute bei euch zum Mittagessen. Also nun möchte ich dir einmal sagen, Arseni«, wandte sie sich zu ihrem Manne, »du nimmst den Wagen ...«
Und nun begann zwischen Mann und Frau eine Beratung darüber, wie sie den Tag verleben wollten. Da der Mann dienstlich zum Empfang irgend jemandes nach dem Bahnhof fahren mußte und die Frau zum Konzert und zu einer öffentlichen Sitzung des Komitees für den Südosten wollte, so war vieles zu erwägen und zu bedenken. Ljewin, als Verwandter, mußte sich an diesen Überlegungen beteiligen. Es wurde beschlossen, Ljewin sollte mit Natalja ins Konzert und in die öffentliche Sitzung fahren; von dort sollte der Wagen zu Arsenis Amt geschickt werden, Arseni sollte dann seine Frau abholen und zu Kitty hinbringen; oder, wenn er mit seinen Amtsgeschäften [164] noch nicht fertig wäre, so sollte er den Wagen wieder zurückschicken, und dann würde Ljewin mit Natalja fahren.
»Ljewin macht mich ganz irre«, sagte Lwow zu seiner Frau. »Er versichert mir, unsere Kinder seien Ausbünde von Vortrefflichkeit, und dabei weiß ich doch, daß in ihnen nicht wenig Schlechtes steckt.«
»Arseni übertreibt gern; das habe ich immer gesagt«, entgegnete seine Frau. »Wenn man nach dem Vollkommenen strebt, dann wird man nie zufrieden sein. Es ist ganz richtig, was Papa sagt: als wir erzogen wurden, hätte man die eine Übertreibung befolgt: die Kinder hätte man in den Zwischenstock verwiesen, und die Eltern hätten in der Beletage gewohnt; jetzt dagegen sei es gerade umgekehrt: für die Eltern die Rumpelkammer und für die Kinder die Beletage. Die Eltern sollen heutzutage gar nichts mehr vom Leben haben; alles ist nur für die Kinder da.«
»Warum nicht, wenn das angenehmer ist?« sagte Lwow mit seinem hübschen Lächeln und berührte leise ihre Hand. »Wer dich nicht kennt, müßte denken, daß du keine Mutter, sondern eine Stiefmutter wärest.«
»Nein, Übertreibung ist in allen Dingen vom Übel«, erwiderte Natalja ruhig und legte dabei das Papiermesser ihres Mannes an den ihm zukommenden Platz auf den Tisch.
»Nun, da seid ihr ja, kommt einmal her, ihr Musterkinder!« sagte Lwow zu seinen hübschen, wohlgestalteten Knaben, die gerade ins Zimmer traten; sie machten vor Ljewin ihre Verbeugung und gingen dann zum Vater hin, den sie augenscheinlich etwas fragen wollten.
Ljewin hätte sich gern mit ihnen ein bißchen unterhalten und auch gern gehört, was sie von ihrem Vater wollten; aber zuerst knüpfte Natalja ein Gespräch mit ihm an, und gleich darauf trat ein Amtsgenosse Lwows, namens Machotin, in Hofuniform ins Zimmer, um mit ihm zusammen zum Empfang des erwarteten hohen Besuches zu fahren, und nun begann ein ununterbrochenes Gespräch über die Herzegowina, über die Fürstin Korsinskaja, über die Stadtverordnetenversammlung und über den plötzlichen Tod der Fürstin Apraxina.
Ljewin hatte den Auftrag, den er mitbekommen hatte, ganz vergessen. Erst als er schon auf den Flur trat, fiel er ihm ein.
»Ach ja, Kitty hat mir aufgetragen, mit Ihnen über Oblonski zu sprechen«, sagte er zu Lwow, der seine Frau und ihn hinausbegleitet hatte und nun auf der Treppe stehengeblieben war.
»Ja, ja, maman wünscht, daß wir, die Schwäger, ihn uns einmal vornehmen«, sagte er errötend. »Indessen, welchen Beruf habe ich eigentlich dazu?«
[165] »Dann werde ich ihn mir vornehmen«, meinte lächelnd Frau Lwowa, die in ihrem Mantel aus weißem Hundefell auf das Ende des Gesprächs wartete. »Nun, dann wollen wir fahren.«
Die Spielfolge der Morgenaufführung wies zwei sehr reizvolle Werke auf.
Das eine war eine Phantasie: »König Lear auf der Heide«, das andere ein dem Andenken Bachs geweihtes Quartett. Beide Werke waren neu und von moderner Art, und Ljewin hätte sich gern über sie ein eigenes Urteil gebildet. Nachdem er seine Schwägerin zu ihrem Platz geleitet hatte, stellte er sich an eine Säule und nahm sich vor, möglichst aufmerksam und gewissenhaft zuzuhören. Darauf bedacht, jede Zerstreuung zu vermeiden und sich den Eindruck nicht zu verderben, blickte er nicht nach den heftigen Armbewegungen des Kapellmeisters, die stets in so unangenehmer Weise die Aufmerksamkeit von der Musik ablenken, noch auch nach den Damen, die ihre Hüte nicht abgenommen und sich für das Konzert absichtlich die Ohren mit den Hutbändern zugebunden hatten, noch auch nach all den Leuten, die sich entweder mit nichts oder mit den verschiedenartigsten Dingen, nur nicht mit der Musik beschäftigten. Er bemühte sich auch, Begegnungen mit Musikkennern und mit Schwätzern zu vermeiden; er stand da, vor sich hin auf den Boden blickend, und hörte zu.
Aber je länger er diese Phantasie über den König Lear anhörte, um so weniger fühlte er sich imstande, sich darüber irgendein bestimmtes Urteil zu bilden. Fortwährend ließ es sich so an, als wolle sich ein musikalischer Ausdruck für ein Gefühl gestalten; aber im nächsten Augenblicke fiel jedesmal alles wieder in Bruchstücke neuer musikalischer Bestandteile auseinander und manchmal geradezu nur in Töne, die lediglich durch die Laune des Komponisten nicht miteinander verbunden, sondern in höchst verzwickter Weise nur durcheinander gemischt waren. Aber selbst diese Bruchstücke von mitunter ganz hübschen musikalischen Gedanken wirkten nicht angenehm, weil sie völlig unerwartet auftraten und der Hörer durch nichts auf sie vorbereitet war. Fröhlichkeit und Trauer und Verzweiflung und Zärtlichkeit und Jubel erschienen in ganz unbegründeter Weise, wie die Gefühle eines Irrsinnigen. Und gerade wie bei einem Irrsinnigen gingen diese Gefühle dann auch wieder ganz unerwartet vorüber.
[166] Ljewin hatte während der ganzen Aufführung dieses Musikstücks die Empfindung eines Tauben, der einem Tanze zusieht. Als das Stück beendet war, fand er sich völlig verständnislos und fühlte infolge seiner angestrengten und ganz unbelohnt gebliebenen Aufmerksamkeit eine starke Ermüdung. Auf allen Seiten erscholl lautes Händeklatschen. Alle standen auf, gingen umher und redeten miteinander. In dem Wunsche, seiner Verständnislosigkeit durch die bessere Einsicht anderer aufzuhelfen, setzte sich auch Ljewin in Bewegung, um den einen oder andern Musikverständigen zu suchen, und war sehr erfreut, als er einen der berühmtesten Kenner im Gespräch mit seinem Bekannten Peszow erblickte.
»Wundervoll!« sagte Peszow mit seiner tiefen Baßstimme. »Guten Tag, Konstantin Dmitrijewitsch. Ganz besonders malerisch, farbenreich und ich möchte sagen plastisch ist die Stelle, wo man die Annäherung Kordelias empfindet, wo das Weib, ›das ewig Weibliche‹« (er zitierte diese Worte deutsch) »den Kampf mit dem Schicksal aufnimmt. Nicht wahr?«
»Aber warum soll man denn gerade an Kordelia denken?« fragte Ljewin schüchtern; er hatte ganz und gar vergessen, daß die Phantasie den König Lear auf der Heide darstellte.
»›Kordelia tritt auf‹ ... Hier steht's!« antwortete Peszow und schlug mit den Fingern auf die glanzpapierne Vortragsfolge, die er in der Hand hatte. Er reichte sie Ljewin hin.
Jetzt erst erinnerte sich Ljewin an den Titel der Phantasie, und er beeilte sich, die auf der Rückseite des Blattes abgedruckte russische Übersetzung der Shakespeareschen Verse zu lesen.
»Ohne das kann man nicht folgen«, sagte Peszow, indem er sich zu Ljewin wandte, da der Herr, mit dem er sich bis dahin unterhalten hatte, weggegangen war und er nun niemand sonst hatte, mit dem er reden konnte.
Im weiteren Verlaufe der Pause entspann sich zwischen Ljewin und Peszow ein Streit über die Vorzüge und Mängel der Wagnerschen Richtung in der Musik. Ljewin behauptete, Wagner und alle seine Nachahmer begingen insofern einen Fehler, als sie die Musik in das Gebiet einer fremden Kunst hinüberführen wollten; das sei derselbe Fehler, den die Poesie begehe, wenn sie die Züge eines Gesichtes darzustellen versuche, was doch Sache der Malerei sei. Und als Beispiel eines solchen Fehlers führte er einen Bildhauer an, der auf den Einfall gekommen war, um das Standbild eines Dichters herum aus Marmor ausgehauene Schattengebilde seiner dichterischen Gestalten an dem Sockel aufsteigen zu lassen. »Diese Schattengebilde sind bei dem Bildhauer so weit davon entfernt, Schattengebilde zu sein, [167] daß sie, statt zu schweben, sich an Leitern festhalten«, sagte Ljewin. Diese Redewendung gefiel ihm sehr; aber er konnte sich nicht erinnern, ob er sich dieser selben Redewendung nicht schon früher, und zwar gerade Peszow gegenüber, bedient habe, und daher wurde er nach diesen Worten verlegen.
Peszow dagegen behauptete, die gesamte Kunst sei nur eine einzige, einheitliche, und die Kunst könne zu ihren höchsten Offenbarungen nur durch eine Vereinigung aller Gattungen gelangen.
Bei der zweiten Nummer ordentlich zuzuhören, war für Ljewin ein Ding der Unmöglichkeit. Peszow, der bei ihm stehengeblieben war, redete fast die ganze Zeit über und schalt auf dieses Werk wegen seiner übertriebenen, gekünstelten, abgeschmackten Einfachheit; er verglich es mit der Einfachheit der Präraffaeliten in der Malerei. Beim Hinausgehen traf Ljewin noch viele Bekannte und unterhielt sich mit ihnen über Politik und über Musik und über gemeinsame Bekannte; unter anderen begegnete er auch dem Grafen Bohl, und es fiel ihm dabei ein, daß er ja bei diesem einen Besuch machen sollte, was er vollständig vergessen hatte.
»Nun, dann fahren Sie nur gleich hin«, sagte zu ihm Frau Lwowa, der er dies mitteilte. »Vielleicht werden Sie gar nicht empfangen. Und dann kommen Sie, bitte, in die Sitzung, um mich abzuholen; Sie werden mich dort noch antreffen.«
»Vielleicht wird heute nicht empfangen?« fragte Ljewin, als er in dem Bohlschen Hause in den Flur trat.
»O doch, es wird empfangen; bitte näher zu treten«, erwiderte der Pförtner und nahm ihm unverzüglich den Pelz ab.
›Das ist ärgerlich‹, dachte Ljewin, indem er seufzend den einen Handschuh auszog und seinen Hut glattstrich. ›Was hat es nur für einen Zweck, daß ich zu diesen Leuten komme? Was habe ich mit ihnen zu reden?‹
Als Ljewin durch das erste Zimmer ging, traf er gleich an der Tür auf die Gräfin Bohl, die mit verdrießlicher, strenger Miene einem Diener einen Befehl gab. Sobald sie Ljewins ansichtig wurde, lächelte sie und bat ihn, in den sich anschließenden kleinen Raum zu treten, aus dem Stimmen zu hören waren. In diesem Zimmer saßen in Sesseln die beiden Töchter der Gräfin und ein Moskauer Oberst, den Ljewin kannte. Ljewin trat zu ihnen, begrüßte sie und nahm, den Hut auf einem Knie haltend, neben dem Sofa Platz.
[168] »Wie befindet sich Ihre Frau Gemahlin? Waren Sie im Konzert? Wir konnten nicht hinkommen. Mama mußte bei einer Totenmesse sein.«
»Ja, ich habe davon gehört«, erwiderte Ljewin. »Ein so plötzlicher Tod! Wie mag das nur gekommen sein?«
Die Gräfin trat herein, setzte sich auf das Sofa und fragte gleichfalls nach Ljewins Frau und nach dem Konzerte.
Ljewin antwortete und wiederholte seine Frage nach dem plötzlichen Tode der Fürstin Apraxina.
»Sie hatte immer eine schwache Gesundheit.«
»Waren Sie gestern in der Oper?«
»Ja, ich war da«, antwortete Ljewin.
»Die Lucca war recht gut.«
»Ja, sehr gut«, erwiderte er, und da es ihm völlig gleichgültig war, was diese Leute von ihm denken mochten, so begann er dasselbe zu wiederholen, was schon hundertmal über die Besonderheit des Talentes dieser Sängerin gesagt worden war. Die Gräfin Bohl gab sich den Anschein, als höre sie ihm zu. Als er dann genug geredet hatte und schwieg, begann der Oberst, der bis dahin still gewesen war, zu sprechen. Er redete gleichfalls von der Oper und dann von der mangelhaften Straßenbeleuchtung. Endlich sprach er noch von einer in Aussicht genommenen folle journée 1 beim Grafen Tjurin, brach dabei in ein geräuschvolles Lachen aus, stand auf und empfahl sich. Ljewin war gleichfalls aufgestanden, merkte aber an der Miene der Gräfin, daß es für ihn noch nicht an der Zeit sei, wegzugehen. Es fehlten noch etwa zwei Minuten. Er setzte sich wieder.
Aber da er immer daran denken mußte, wie dumm doch das Ganze sei, so fand er keinen Gesprächsstoff und saß stumm da.
»Sie besuchen die öffentliche Sitzung nicht? Es soll ja sehr interessant sein«, begann die Gräfin.
»Nein, ich besuche sie nicht; aber ich habe meiner Schwägerin versprochen, sie von da abzuholen«, antwortete Ljewin.
Wieder trat ein Stillschweigen ein. Die Mutter und die eine Tochter wechselten, wie schon einmal, wieder einen Blick miteinander.
›Na, jetzt wird es ja wohl Zeit sein‹, dachte Ljewin und stand auf. Die Damen drückten ihm die Hand und baten ihn, an seine Frau mille choses 2 auszurichten.
Der Pförtner fragte ihn, während er ihm in den Pelz half: »Dürfte ich um Ihre Adresse bitten?« und schrieb sie sofort in ein großes, schön eingebundenes Buch.
[169] ›Natürlich ist mir die ganze Geschichte gleichgültig, aber peinlich und furchtbar albern bleibt sie doch‹, dachte Ljewin und tröstete sich damit, daß es eben alle Leuten täten. Nun fuhr er zu der öffentlichen Sitzung des Ausschusses, wo er seine Schwägerin treffen sollte, um mit ihr zusammen nach Hause zu fahren.
In der öffentlichen Sitzung des Komitees war viel Publikum anwesend und darunter fast die ganze bessere Gesellschaft. Ljewin kam gerade hin, als der Jahresbericht an der Reihe war, ein äußerst interessanter Bericht, wie alle sagten. Als die Vorlesung des Jahresberichtes zu Ende war, bildeten sich zwanglose Gruppen, und Ljewin traf unter anderen auch Swijaschski, der ihn einlud, am Abend doch ja in die Landwirtschaftliche Gesellschaft zu kommen, wo ein höchst bedeutsamer Vortrag gehalten werden würde; er fand auch Stepan Arkadjewitsch, der eben erst vom Rennen gekommen war, und noch viele andere Bekannte. Ljewin unterhielt sich noch ein Weilchen mit ihnen und hörte die verschiedenen Urteile über diese Sitzung und über ein neues Theaterstück und über einen Aufsehen erregenden Prozeß mit an. Aber wahrscheinlich durch die Ermüdung, die er zu fühlen begann, herrührend von der vorausgegangenen gespannten Aufmerksamkeit, beging er bei dem Gespräch über den Rechtsstreit einen Fehler, und an diesen Fehler erinnerte er sich später noch mehrmals mit gelindem Ärger. Als nämlich von der Strafe gesprochen wurde, die einem in Rußland verurteilten Ausländer bevorstände, und daß es doch unrichtig sei, ihn mit Ausweisung über die Grenze zu bestrafen, da wiederholte Ljewin einen Vergleich, den er tags zuvor im Gespräche von einem Bekannten gehört hatte:
»Ich meine, ihn über die Grenze zu schicken, das wäre ganz dasselbe, wie wenn man einen Hecht damit bestrafen wollte, daß man ihn ins Wasser setzt.« Erst später fiel ihm ein, daß dieser Gedanke, den er von seinem Bekannten gehört und nun wie einen eigenen geäußert hatte, ursprünglich aus einer Krylowschen Fabel stammte und daß sein Bekannter ihn aus einem Zeitungsaufsatz zitiert hatte.
Nachdem Ljewin seine Schwägerin zu sich nach Hause gebracht und Kitty wohl und munter angetroffen hatte, fuhr er in den Klub.
Er kam im Klub gerade zur rechten Zeit an. Gleichzeitig mit ihm fuhren noch eine Menge von Mitgliedern und Gästen vor. Ljewin war sehr lange nicht im Klub gewesen, zum letzten Male [170] in der Zeit, als er nach seinem Abgang von der Universität noch in Moskau lebte und in der Gesellschaft verkehrte. Er erinnerte sich noch an den Klub, nämlich an die Einzelheiten der äußeren Einrichtung; aber welchen Eindruck eigentlich das Klubleben früher auf ihn gemacht hatte, das hatte er vollständig vergessen. Aber sobald er in den weiten, halbkreisförmigen Hof gefahren, aus der Droschke gestiegen und die Stufen vor dem Tor hinaufgegangen war und der Pförtner mit dem breiten Schultergurt geräuschlos die Tür vor ihm geöffnet und sich vor ihm verbeugt hatte; sobald er im Pförtnerzimmer die Gummischuhe und Pelze jener Klubmitglieder erblickt hatte, die der Ansicht waren, daß man weniger Mühe habe, wenn man diese Kleidungsstücke gleich unten ablege, als wenn man sie erst mit hinaufnehme; sobald er das geheimnisvolle, ihm vorauseilende Klingelzeichen gehört, die sanft ansteigende teppichbedeckte Treppe erstiegen und auf dem Vorplatz das Standbild und an der oberen Tür den ihm wohlbekannten, nun schon gealterten, dritten Pförtner in der Klublivree erblickt hatte, der nicht zu langsam und nicht zu schnell die Tür öffnete und den Ankömmling musterte: da überkam ihn wieder die ehemalige Klubempfindung, das Gefühl wohligen Aufatmens, das Gefühl inniger Befriedigung, das Gefühl einer wohlanständigen Umgebung.
»Darf ich um Ihren Hut bitten«, sagte der Pförtner zu Ljewin, der die Klubbestimmung, daß Hüte im Vorzimmer gelassen werden sollten, vergessen hatte. »Sie sind lange nicht hier gewesen. Der Fürst hat Sie gestern eingeschrieben. Fürst Stepan Arkadjewitsch ist noch nicht da.«
Der Pförtner kannte nicht nur Ljewin, sondern auch alle seine Bekannten und Verwandten und erwähnte daher sofort zwei diesem besonders nahestehende Personen.
Ljewin durchschritt den ersten Saal, der durch spanische Wände abgeteilte Nischen enthielt und gewöhnlich nur als Durchgang diente (rechts davon lag ein nur durch einen niedrigen Verschlag abgetrenntes Zimmer, in dem ein Obsthändler saß), überholte einen langsam gehenden alten Herrn und trat in den von einer lärmenden Gesellschaft erfüllten Speisesaal.
Er ging die Tische entlang, die fast sämtlich bereits besetzt waren, und musterte die Anwesenden. Überall erblickte er die verschiedenartigsten Personen, alte und junge, solche, die er kaum von Ansehen kannte, und andere, die ihm näherstanden. Kein einziger von ihnen zeigte eine verdrießliche, sorgenvolle Miene. Es machte den Eindruck, als hätten sie alle mit ihren Hüten auch ihre Nöte und Sorgen im Vorzimmer gelassen und schickten sich nun an, die irdischen Güter des Lebens recht mit [171] Bedacht zu genießen. Auch Swijaschski war da, und der junge Schtscherbazki, und Newjedowski, und der alte Fürst, und Wronski, und Sergei Iwanowitsch.
»Aber du kommst ja so spät!« sagte der Fürst lächelnd und reichte ihm über die Schulter weg die Hand. »Wie geht es Kitty?« fügte er hinzu und zog das Mundtuch zurecht, das er sich hinter einen Westenknopf gesteckt hatte.
»Ganz nach Wunsch; sie befindet sich wohl. Die drei Schwestern essen heute zusammen bei uns zu Hause.«
»Aha, Linchen-Trinchen! Na, bei uns hier ist kein Platz mehr. Aber geh an jenen Tisch dort und sichere dir schleunigst einen Stuhl«, sagte der Fürst und nahm, indem er sich wegwandte, vorsichtig einen Teller mit Quappensuppe in Empfang.
»Ljewin, hierher!« rief aus einiger Entfernung eine gutmütige Stimme. Es war Turowzün. Er saß dort mit einem jungen Offizier zusammen, und neben ihnen waren zwei Stühle angelehnt. Erfreut ging Ljewin zu ihnen hin. Er hatte den gutmütigen Lebemann Turowzün immer gern gehabt (war doch mit seiner Person die Erinnerung an die Liebeserklärung verknüpft, die er Kitty gemacht hatte); heute aber nach all den anstrengenden klugen Gesprächen war ihm der Anblick des treuherzigen Turowzün besonders erfreulich.
»Diese beiden Plätze sind für Sie und Oblonski. Er wird gleich kommen.«
Der Offizier, der sich sehr gerade hielt und sehr fröhliche, stets lachende Augen hatte, war aus Petersburg und hieß Gagin. Turowzün machte die Herren miteinander bekannt.
»Oblonski kommt doch immer und ewig zu spät.«
»Ah, da ist er ja!«
»Du bist wohl auch eben erst gekommen?« sagte Oblonski, indem er schnellen Schrittes auf Ljewin zutrat. »Guten Abend! Hast du schon ein Schnäpschen getrunken? Na, dann komm!«
Ljewin stand auf und ging mit ihm zu einem großen Tisch, auf dem allerlei Liköre und die verschiedenartigsten Vorspeisen aufgestellt waren. Man hätte glauben sollen, daß ein jeder hier aus den etwa zwanzig Vorspeisen mit Leichtigkeit etwas seinem besonderen Geschmack Zusagendes herausfinden konnte; aber Stepan Arkadjewitsch verlangte irgendeinen ganz besonderen Leckerbissen, und einer der dort stehenden Livreediener brachte ihm auch sofort das Verlangte. Sie tranken jeder ein Gläschen und kehrten an ihren Tisch zurück.
Sogleich, noch bei der Fischsuppe, ließ Gagin Champagner kommen und vier Gläser füllen. Ljewin lehnte das ihm angebotene Glas nicht ab und bestellte seinerseits eine zweite [172] Flasche. Er hatte tüchtigen Hunger bekommen und aß und trank mit großem Vergnügen, und mit noch größerem Vergnügen beteiligte er sich an den heiteren, harmlosen Gesprächen seiner Tischgenossen. Gagin erzählte mit gedämpfter Stimme eine neue Petersburger Anekdote, die zwar dumm und unanständig, aber doch recht lustig war, und besonders Ljewin lachte so laut darüber, daß die in der Nähe Sitzenden zu ihm hinblickten.
»Das ist so in der Art wie: ›Gerade den kann ich nicht ausstehen!‹ Kennst du die Geschichte?« fragte Stepan Arkadjewitsch. »Ach, die ist prächtig! Bring noch eine Flasche«, sagte er zu dem Diener und begann seine Anekdote zu erzählen.
»Peter Iljitsch Winowski läßt bitten«, unterbrach den Erzähler ein alter Diener, indem er ihm und Ljewin zwei schlanke Gläser perlenden Champagners reichte. Stepan Arkadjewitsch nahm ein Glas, wechselte mit einem am anderen Ende des Tisches sitzenden kahlköpfigen Herrn mit langem, rötlichem Schnurrbart einen Blick und nickte ihm lächelnd zu.
»Wer ist das?« fragte Ljewin.
»Du hast ihn einmal bei mir getroffen; entsinnst du dich? Ein guter Kerl.«
Ljewin tat das gleiche wie Stepan Arkadjewitsch und nahm das andere Glas.
Auch Stepan Arkadjewitschs Anekdote war sehr vergnüglich. Nun trug Ljewin eine vor, die gleichfalls Beifall fand. Dann kam die Rede auf Pferde, auf die Rennen, die an diesem Tage stattgefunden hatten, und auch darauf, mit welcher Eleganz Wronskis Atlasnü den ersten Preis gewonnen habe. Ljewin merkte gar nicht, wie die Zeit verging und das Mahl sich seinem Ende näherte.
»Ah, da sind Sie ja auch!« sagte gegen Ende des Essens Stepan Arkadjewitsch, bog sich über die Stuhllehne zurück und streckte Wronski die Hand entgegen, der mit einem hochgewachsenen Gardeoberst zu ihm trat. Auch auf Wronskis Gesicht lag jener heitere Schimmer gutmütiger Fröhlichkeit, den man hier im Klub überall sah. Vergnügt lehnte er sich mit dem Ellbogen auf Stepan Arkadjewitschs Schulter und flüsterte ihm etwas zu; dann streckte er mit demselben vergnügten Lächeln auch Ljewin die Hand hin.
»Es freut mich sehr, Sie hier zu treffen«, sagte er. »Ich habe Sie damals bei den Wahlen noch gesucht; aber es wurde mir gesagt, Sie seien schon abgereist.«
»Ja, ich bin noch am selben Tage weggefahren. Wir sprachen eben jetzt von Ihrem Pferde. Ich gratuliere Ihnen«, sagte Ljewin. »Das ist ja ein sehr flotter Lauf gewesen.«
[173] »Sie halten ja wohl auch Pferde?«
»Nein, mein Vater tat es; aber ich erinnere mich noch recht wohl und habe daher ein wenig Verständnis dafür.«
»Wo hast du denn während des Essens gesessen?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
»Wir saßen am zweiten Tisch, hinter den Säulen.«
»Wir haben seinen Sieg gefeiert«, sagte der hochgewachsene Oberst. »Das ist nun schon sein zweiter Kaiserpreis. Wenn ich nur bei den Karten soviel Glück hätte wie er mit den Pferden! Aber wozu verlieren wir die kostbare Zeit? Ich gehe in unseren Höllenpfuhl.« Damit entfernte er sich von dem Tische.
»Das ist Jaschwin«, antwortete Wronski auf Turowzüns Frage und setzte sich auf einen neben ihnen frei gewordenen Platz. Nachdem er ein ihm angebotenes Glas Wein ausgetrunken hatte, bestellte er seinerseits eine neue Flasche. Mochte es nun eine Folge der Klubstimmung oder des genossenen Weines sein, Ljewin ließ sich mit Wronski in ein Gespräch über die beste Rinderrasse ein und freute sich sehr darüber, daß in seinem Herzen keine feindselige Gesinnung gegen diesen Mann mehr vorhanden war. Er sagte ihm unter anderem sogar, er habe von seiner Frau gehört, daß sie ihn bei der Fürstin Marja Borisowna getroffen habe.
»Ach, die Fürstin Marja Borisowna, das ist eine prächtige Dame!« rief Stepan Arkadjewitsch und erzählte über sie eine Anekdote, durch die er alle zum Lachen brachte. Besonders Wronski lachte so herzlich, daß Ljewin sich mit ihm vollständig ausgesöhnt fühlte.
»Nun, wie steht's? Alle fertig?« fragte Stepan Arkadjewitsch und stand lächelnd auf. »Dann wollen wir gehen!«
Nachdem Ljewin vom Tische aufgestanden war, ging er mit Gagin durch die hohen Räume nach dem Billardzimmer und hatte beim Gehen das Gefühl, als ob seine Arme besonders regelmäßig und leicht schlenkerten.
Als er durch den großen Saal kam, stieß er auf seinen Schwiegervater.
»Nun, wie ist's? Wie gefällt dir unser Tempel des Müßiggangs?« fragte der Fürst, indem er ihn unter den Arm faßte. »Komm, wir wollen uns ein bißchen Bewegung machen.«
»Ich wollte sowieso schon ein bißchen umhergehen und mich umsehen. Es ist hier alles sehr reizvoll.«
[174] »Ja, dir ist das interessant. Aber meine Interessen sind hier schon ganz andere als die deinigen. Du, wenn du diese alten Männerchen ansiehst«, sagte er und wies auf einen alten Klubgenossen mit gekrümmtem Rücken und hängender Unterlippe, der in seinen weichen Stiefeln, kaum die Füße weiterrückend, ihnen entgegenkam, »du meinst wohl, die seien gleich von vornherein als Knickepeter geboren?«
»Was heißt das: als Knickepeter?«
»Na ja, du kennst nicht einmal diesen Ausdruck. Das ist hier bei uns im Klub ein Fachausdruck. Du weißt doch, wenn man Ostereier rollt und zuviel mit ihnen rollt, dann wird aus dem Ei ein sogenannter Knickepeter. So geht es auch unsereinem: man fährt in den Klub, immer und immer wieder, und wird auf die Art ein Knickepeter. Ja, du lachst; aber unsereiner denkt schon daran, wann er selbst zu den Knickepetern gehören wird. Kennst du den Fürsten Tschetschenski?« fragte der Fürst, und Ljewin sah ihm schon am Gesichte an, daß er etwas Spaßhaftes zu erzählen beabsichtigte.
»Nein, ich kenne ihn nicht.«
»Wundert mich. Der Fürst Tschetschenski ist eine sehr bekannte Persönlichkeit. Na, aber es kommt nicht darauf an. Er tut weiter nichts als Billard spielen. Also noch vor drei Jahren gehörte er nicht zu den Knickepetern und spielte sich als den Forschen auf. Und er selbst nannte andere Leute Knickepeter. So kommt er denn einmal hier an, und unser Pförtner ... du weißt wohl: Wasili; na, dieser Dicke; er ist groß in Witzen. Also da fragt ihn Fürst Tschetschenski: ›Na, Wasili, wer ist denn schon da? Sind Knickepeter da?‹ Und der antwortet ihm: ›Sie sind der dritte.‹ Ja, ja, mein Lieber, so geht es einem!«
Miteinander plaudernd und Bekannte, auf die sie trafen, begrüßend, wanderten der Fürst und Ljewin durch alle Zimmer: durch das große, wo schon die Spieltische standen und die gewohnten Partner um niedrigen Einsatz spielten; durch das Sofazimmer, wo Schach gespielt wurde und Sergei Iwanowitsch mit jemandem ein eifriges Gespräch führte; durch das Billardzimmer, wo sich in der Nische mit dem Sofa eine lustige Champagnergesellschaft niedergelassen hatte, zu der sich inzwischen auch Gagin gesellt hatte; auch in den Höllenpfuhl warfen sie einen Blick, wo sich eine Menge Herren, die pointieren wollten, um einen Tisch drängten, an dem Jaschwin bereits saß. Bemüht, kein Geräusch zu machen, traten sie auch in das verdunkelte Lesezimmer, wo unter den mit Lichtschirmen versehenen Hängelampen nur zwei Personen saßen: ein junger Mann, der mit ärgerlicher Miene eine Zeitschrift nach der andern zur Hand [175] nahm, und ein kahlköpfiger General, der ins Lesen vertieft war. Sie gingen auch in das Zimmer hinein, das der Fürst das kluge Zimmer nannte. In diesem Zimmer redeten drei Herren eifrig über die letzte politische Neuigkeit.
»Bitte, kommen Sie, Fürst, es ist alles bereit«, sagte ein dazukommender Herr, der zu der üblichen Kartenrunde des Fürsten gehörte und diesen nun hier gefunden hatte. Der Fürst ging mit ihm weg; Ljewin setzte sich und hörte ein Weilchen zu; aber da kamen ihm all die Gespräche in den Sinn, die er schon an diesem Vormittag über denselben Gegenstand gehört hatte, und es wurde ihm auf einmal ganz öde zumute. Eilig stand er auf und ging hinaus, um Oblonski und Turowzün zu suchen, in deren Gesellschaft man sich immer vergnügte.
Turowzün saß mit einem tönernen Trinkgefäß auf einem erhöht stehenden Sofa im Billardzimmer; Stepan Arkadjewitsch und Wronski redeten an der Tür, die in einer entfernten Ecke des Zimmers lag, miteinander.
»Nicht eigentlich, daß sie bekümmert wäre; aber das Unbestimmte, Unsichere der ganzen Lage«, hörte Ljewin sagen und wollte schnell zurücktreten; aber Stepan Arkadjewitsch rief ihn heran.
»Ljewin!« sagte Stepan Arkadjewitsch, und Ljewin bemerkte, daß er zwar nicht Tränen, aber einen feuchten Schimmer in den Augen hatte, was bei ihm stets eintrat, wenn er entweder reichlich getrunken hatte oder gerührt war. In diesem Augenblick traf sowohl das eine wie das andere zu. »Ljewin, geh nicht weg«, sagte er und drückte seinen Arm kräftig am Ellbogen, als wollte er ihn unter keinen Umständen weglassen.
»Das ist mein wahrer, ich kann beinah sagen, mein bester Freund«, sagte er zu Wronski. »Du bist mir gleichfalls teuer und stehst mir in einer Hinsicht noch näher. Und ich wünsche von Herzen, daß ihr beide einander nähertretet und Freunde werdet, und ich weiß, daß das möglich ist, weil ihr beide gute Menschen seid.«
»Na schön, da brauchen wir uns ja nur noch einen Kuß zu geben«, sagte Wronski mit gutmütigem Scherze und reichte Ljewin die Hand.
Dieser ergriff schnell die hingehaltene Hand und drückte sie kräftig.
»Ich bin sehr, sehr froh darüber«, sagte Ljewin.
»Kellner, eine Flasche Champagner!« rief Stepan Arkadjewitsch.
»Auch ich freue mich sehr«, sagte Wronski.
Aber obgleich Stepan Arkadjewitsch es gern gesehen hätte, [176] daß die beiden neuen Freunde nun miteinander sprächen, und obgleich diese den gleichen Wunsch hegten, hatten sie doch einander nichts zu sagen, und beide fühlten das.
»Weißt du, daß er mit Anna noch gar nicht bekannt ist?« sagte Stepan Arkadjewitsch zu Wronski. »Ich will ihn unbedingt zu ihr bringen. Komm, Ljewin, wir wollen hinfahren!«
»Kennen Sie sich wirklich nicht?« fragte Wronski. »Sie wird sich sehr freuen. Ich würde gleich mit nach Hause fahren«, fügte er hinzu, »aber ich beunruhige mich um Jaschwin und möchte hierbleiben, bis er zu spielen aufhört.«
»Wieso? Steht es denn schlimm mit ihm?«
»Er verliert immerzu, und ich bin der einzige, der ihn zurückzuhalten vermag.«
»Wie ist's? Was meint ihr zu einer Pyramide? Ljewin, magst du spielen? Nun, das ist ja schön«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Stell eine Pyramide auf«, wandte er sich an den Markör.
»Es ist schon alles bereit«, erwiderte der Markör, der bereits die Bälle zu einem Dreieck aufgestellt hatte und den roten zum Zeitvertreib hin und her rollte.
»Nun, dann zu!«
Nach Beendigung des Spiels setzten Wronski und Ljewin sich an Gagins Tisch, und Ljewin setzte nach Stepan Arkadjewitschs Rat auf die Asse. Wronski saß bald am Tische, wo ihn dann unaufhörlich allerlei Bekannte umringten, die zu ihm herankamen, bald ging er in den Höllenpfuhl, um nach Jaschwin zu sehen. Ljewin hatte, nach der geistigen Ermüdung vom Vormittag, jetzt ein höchst angenehmes Gefühl der Erfrischung. Die Beendigung seines feindseligen Verhältnisses zu Wronski war ihm eine große Freude, und die Empfindung der Ruhe, des Wohlseins und der Befriedigung über die ihn umgebende Wohlanständigkeit verließ ihn keinen Augenblick.
Als das Spiel beendet war, faßte Stepan Arkadjewitsch ihn unter den Arm.
»Nun, dann wollen wir also zu Anna fahren. Jetzt gleich, wie? Sie ist zu Hause. Ich habe ihr schon längst versprochen, dich einmal hinzubringen. Was hattest du denn für heute abend noch vor?«
»Nichts Besonderes. Ich hatte Swijaschski versprochen, in die Landwirtschaftliche Gesellschaft zu kommen. Wenn es dir recht ist, wollen wir zu deiner Schwester fahren«, sagte Ljewin.
»Sehr schön, also fahren wir! Sieh einmal nach, ob mein Wagen da ist«, wandte sich Stepan Arkadjewitsch an einen Diener.
Ljewin trat an den Tisch, bezahlte die vierzig Rubel, die er an den Assen verloren hatte, bezahlte dem alten Diener an der [177] Tür seine Klubrechnung, deren Posten diesem auf geheimnisvolle Weise bekannt geworden waren, und ging, in eigenartiger Weise mit den Armen schwenkend, dem Ausgang zu.
»Der Wagen des Fürsten Oblonski!« rief der Pförtner mit seiner grimmigen Baßstimme. Der Wagen fuhr vor, und beide stiegen ein. Nur im ersten Augenblick, solange der Wagen aus dem Tore des Klubgrundstücks herausrollte, dauerte bei Ljewin das Gefühl noch an, das ihn im Klub erfüllt hatte: das Gefühl der Ruhe, der Fröhlichkeit und der Befriedigung über die selbstverständliche Wohlanständigkeit dieser Welt; als aber der Wagen auf die Straße hinausfuhr und er sein Rütteln und Stoßen auf dem unebenen Pflaster fühlte und als er den ärgerlichen Zuruf eines ihnen begegnenden Droschkenkutschers hörte und bei der trüben Straßenbeleuchtung das rote Schild eines Schank- und Kramladens erblickte: da verschwand dieses Gefühl, und er begann über sein Vorhaben nachzudenken und sich zu fragen, ob er gut daran tue, zu Anna zu fahren. Was würde Kitty dazu sagen? Aber Stepan Arkadjewitsch ließ ihm keine Zeit zu weiteren Überlegungen, und als wenn er seine Zweifel erraten hätte, versuchte er sie zu zerstreuen.
»Wie freue ich mich«, begann er, »daß du sie kennenlernen wirst. Weißt du, Dolly hat das schon längst gewünscht. Auch Lwow hat ihr einen Besuch gemacht und verkehrt seitdem dort. Obgleich sie meine Schwester ist«, fuhr Stepan Arkadjewitsch fort, »kann ich doch dreist sagen, daß sie eine Frau ist, wie man sie selten findet. Nun, du wirst ja selbst sehen. Ihre Lage ist sehr schwierig, namentlich jetzt.«
»Warum denn namentlich jetzt?«
»Wir stehen mit ihrem Manne in Unterhandlung wegen der Scheidung. Er ist auch einverstanden; aber es bestehen Schwierigkeiten wegen des Sohnes, und so zieht sich die Sache, die schon längst erledigt sein sollte, nun schon drei Monate hin. Sobald die Scheidung stattgefunden hat, wird sie sich mit Wronski verheiraten. Wie töricht ist doch dieser alte Hokuspokus der kirchlichen Trauung, an den kein Mensch mehr glaubt und der den Leuten nur an ihrem Glücke hinderlich ist!« schaltete Stepan Arkadjewitsch ein. »Na, nachher wird die Stellung der beiden ebenso klar und bestimmt wie die meinige und die deinige.«
»Worin besteht denn die Schwierigkeit?« fragte Ljewin.
[178] »Ach, das ist eine lange, verdrießliche Geschichte! Die ganze Sache hat so etwas Unsicheres, Unbestimmtes. Aber die Hauptsache ist: in Erwartung dieser Ehescheidung wohnt Anna nun schon drei Monate in Moskau, wo alle Leute ihn und sie kennen. Sie kommt nirgendwohin in Gesellschaft und beschränkt ihren Frauenverkehr auf Dolly, weil sie, verstehst du wohl, nicht will, daß jemand sie nur so aus Gnade und Mitleid besucht; diese dumme Person, die Prinzessin Warwara, selbst die hat sich von ihr zurückgezogen, weil sie die Lage nicht für anständig hält. Also, siehst du, unter solchen Umständen würde eine andere Frau in sich selbst keinen Halt finden. Aber sie ... nun, du wirst ja sehen, wie sie sich ihr Leben eingerichtet hat, wie ruhig und würdig ihr ganzes Verhalten ist. Links, in die Gasse der Kirche gegenüber!« rief Stepan Arkadjewitsch, sich aus dem Wagenfenster hinausbiegend. »Puh! Wie heiß!« stöhnte er und schlug trotz der zwölf Grad Kälte seinen schon vorher aufgeknöpften Pelz noch mehr auseinander.
»Sie hat ja ein Töchterchen; da beschäftigt sie sich wohl viel mit der?« fragte Ljewin.
»Wie es scheint, stellst du dir jede Frau nur als Weibchen, als couveuse 1 vor«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch. »Wenn eine Frau beschäftigt ist, meinst du, so kann sie schlechterdings nur mit ihren Kindern beschäftigt sein. Nein, sie zieht, wie es scheint, ihre Kleine ganz vorzüglich auf; aber es wird von ihr nicht viel gesprochen. Anna beschäftigt sich erstens damit, daß sie schreibt. Ich sehe schon, daß du spöttisch lächelst; aber dazu ist kein Anlaß. Sie schreibt ein Kinderbuch und spricht mit niemand davon; aber mir hat sie einiges daraus vorgelesen, und ich habe das Manuskript an Workujew gegeben; du weißt wohl, das ist ein Verleger; ich glaube auch, er schriftstellert selbst. Er hat über solche Sachen ein Urteil, und er sagt, es sei etwas Bedeutendes. Aber nun denkst du wohl, sie sei ein Blaustrumpf? Weit gefehlt! Sie ist vor allen Dingen eine Frau von Herz; das wirst du ja selbst sehen. Sie hat da jetzt ein junges Mädchen, eine Engländerin, bei sich und sorgt für sie und ihre ganze Familie.«
»Ach, das ist also wohl so ein Stück Philanthropie?«
»Da haben wir's, du findest in allem gleich etwas Schlechtes. Sie tut das nicht aus Philanthropie, sondern aus wirklicher Herzensgüte. Sie hatten, ich meine: Wronski hatte einen englischen Trainer, einen Meister in seinem Fach; aber der Mensch ist ein Säufer. Er richtet sich durch den Trunk völlig zugrunde, delirium tremens, und die Familie geriet in die größte Not. Anna wurde das gewahr, unterstützte die Leute, mit der Zeit in immer größerem Umfange, und jetzt hat sie die ganze Familie [179] in ihrer Obhut. Und sie hilft dabei nicht so von oben herab, nur mit Geld, sondern sie bereitet selbst die Knaben durch russischen Unterricht auf das Gymnasium vor, und das Mädchen hat sie zu sich ins Haus genommen. Du wirst sie ja da zu sehen bekommen.«
Der Wagen fuhr auf den Hof hinauf, und Stepan Arkadjewitsch läutete laut am Tor, vor dem ein Schlitten stand.
Ohne den Pförtner, der öffnete, zu fragen, ob die Herrschaft zu Hause sei, trat Stepan Arkadjewitsch in den Hausflur. Ljewin folgte ihm; jedoch wurden seine Zweifel, ob er auch richtig handle, immer stärker.
Bei einem Blick in den Spiegel bemerkte Ljewin, daß er rot aussah; aber er war überzeugt, daß er nicht betrunken sei, und stieg hinter Stepan Arkadjewitsch die teppichbelegte Treppe hinauf. Oben fragte Stepan Arkadjewitsch den Diener, dessen Verbeugung erkennen ließ, daß er ihn als einen guten Freund des Hauses betrachtete, wer bei Anna Arkadjewna sei, und erhielt die Antwort, Herr Workujew sei da.
»Wo sind sie?«
»Im Arbeitszimmer.«
Nachdem Stepan Arkadjewitsch und Ljewin ein kleines Speisezimmer mit dunklem Holzgetäfel an den Wänden durchschritten hatten, traten sie auf dem weichen Teppich in das halbdunkle Arbeitszimmer, das nur durch eine Lampe mit großem, dunklem Schirm erleuchtet war. Eine zweite Lampe mit einem Reflektor brannte an einer Wand und beleuchtete ein lebensgroßes Frauenbildnis, das unwillkürlich Ljewins Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war jenes Bildnis Annas, das Michailow in Italien gemalt hatte. Während Stepan Arkadjewitsch um eine mit Schlinggewächsen überzogene Gitterwand herumtrat, wo dann eine bisher vernehmbare Männerstimme verstummte, betrachtete Ljewin das Bild, das in der hellen Beleuchtung aus dem Rahmen herauszutreten schien, und konnte sich nicht von ihm losreißen. Er vergaß sogar, wo er war, hörte gar nicht, was gesprochen wurde, und verwandte kein Auge von der wundervollen Darstellung. Das war kein Gemälde, sondern eine lebende, entzückende Frau, mit schwarzem, lockigem Haar, entblößten Schultern und Armen und einem sinnenden halben Lächeln auf den von einem zarten Flaum bedeckten Lippen, eine Frau, deren Augen ihn sieghaft und zärtlich anblickten und in Aufregung versetzten. Nur darum konnte man sie nicht für lebend halten, weil sie schöner war als ein lebendes Weib sein kann.
»Ich bin sehr erfreut«, hörte er plötzlich neben sich eine Stimme, die sich offenbar an ihn wandte, die Stimme eben der [180] Frau, die er im Bilde betrachtete und bewunderte. Anna war ihm hinter dem Pflanzengitter hervor entgegengekommen, und Ljewin erblickte in dem halbdunklen Arbeitszimmer das Original des Bildnisses, in einem dunklen, verschiedenfarbig blauen Kleide, nicht in derselben Haltung, nicht mit demselben Gesichtsausdrucke wie auf dem Bilde, aber von der gleichen vollendeten Schönheit, wie sie der Künstler bei der Wiedergabe so glücklich erfaßt und festgehalten hatte. Sie war minder glänzend in der Wirklichkeit als auf dem Bilde; aber dafür besaß die Lebende einen besonderen neuen Reiz, den das Bildnis nicht aufwies.
1 (frz.) Bruthenne.
Sie trat ihm entgegen, ohne ihre Freude über seinen Besuch zu verbergen. Und in der Ruhe, mit der sie ihm ihre kleine, energische Hand hinstreckte, ihn mit Workujew bekannt machte und auf das hübsche rotblonde Mädchen hindeutete, das mit einer Arbeit beschäftigt im gleichen Zimmer saß und das sie als ihre Pflegetochter bezeichnete, verspürte Ljewin die ihm wohlbekannten, ihn angenehm berührenden Umgangsformen der stets ruhigen, sich natürlich gebenden Weltdame.
»Ich bin sehr, sehr erfreut«, wiederholte sie noch einmal, und auf ihren Lippen erschienen Ljewin diese einfachen Worte, er wußte nicht warum, besonders bedeutungsvoll. »Ich weiß von Ihnen schon lange und habe Sie gern, sowohl wegen Ihrer Freundschaft mit Stiwa, wie auch um Ihrer Frau willen; ... ich bin nur sehr kurze Zeit mit ihr bekannt gewesen; aber sie hat mir den Eindruck einer lieblichen Blume hinterlassen, ja wirklich einer Blume. Und nun wird sie schon bald Mutter werden!«
Sie sprach sicher und mit maßvoller Geschwindigkeit, indem sie ihren Blick zwischen Ljewin und ihrem Bruder hin und her gehen ließ. Ljewin merkte, daß er ihr einen guten Eindruck machte, und er fühlte sich in ihrer Gegenwart gleich von vornherein so frei und ungezwungen und wohlig, als hätte er sie schon seit seiner Kindheit gekannt.
»Iwan Petrowitsch und ich haben uns in Alexeis Arbeitszimmer niedergelassen«, sagte sie in Erwiderung auf Stepan Arkadjewitschs Frage, ob er rauchen dürfe, »gerade um zu rauchen.« Und indem sie auf Ljewin statt der ausdrücklichen Frage, ob er rauchen wolle, einen fragenden Blick richtete, zog sie ein Zigarettenkästchen aus Schildpatt zu sich heran und nahm sich eine Pajilla heraus.
[181] »Wie steht es jetzt mit deiner Gesundheit?« fragte ihr Bruder sie.
»So leidlich. Mit den Nerven ist es die alte Geschichte.«
»Nicht wahr, es ist ein ganz vorzügliches Bild?« fragte Stepan Arkadjewitsch, da er bemerkte, daß Ljewin nach dem Gemälde hinblickte.
»Ich habe nie ein besseres Bildnis gesehen.«
»Und außerordentlich ähnlich, nicht wahr?« fragte Workujew.
Ljewin lenkte seinen Blick von dem Abbild auf das Original. Ein besonderer Glanz erhellte Annas Gesicht, als sie seinen Blick auf sich gerichtet fühlte. Ljewin errötete, und um seine Verlegenheit zu verbergen, wollte er fragen, ob sie mit Darja Alexandrowna schon lange nicht zusammen gewesen sei; aber gerade in dem Augenblick begann Anna zu sprechen:
»Iwan Petrowitsch und ich sprachen eben miteinander über die letzten Gemälde Waschtschenkows. Haben Sie sie gesehen?«
»Ja, ich habe sie gesehen«, antwortete Ljewin.
»Aber Verzeihung, ich habe Sie unterbrochen; Sie wollten etwas sagen ...«
Ljewin fragte, ob sie Dolly seit längerer Zeit nicht gesehen habe.
»Gestern ist sie bei mir gewesen; sie war sehr ärgerlich wegen einer Geschichte, die ihr kleiner Grigori auf dem Gymnasium gehabt hat. Der lateinische Lehrer scheint ihn ungerecht behandelt zu haben.«
»Ja, ich habe die Bilder gesehen; aber sie haben mir nicht sonderlich gefallen«, bemerkte Ljewin, um zu dem Gegenstand zurückzukehren, von dem Anna zu reden angefangen hatte.
Ljewin sprach jetzt ganz und gar nicht mehr von jenem sozusagen handwerksmäßigen Standpunkt aus, von dem aus er am Vormittag über mancherlei Gegenstände gesprochen hatte. In dem Gespräche mit ihr gewann jedes Wort eine besondere Bedeutsamkeit. Mit ihr zu reden machte ihm Vergnügen, und noch mehr Vergnügen machte es ihm, ihr zuzuhören.
Anna sprach ungezwungen und verständig; aber es war noch eine Eigentümlichkeit dabei: sie warf ihre verständigen Bemerkungen so leicht hin, als mäße sie ihren eigenen Gedanken gar keinen Wert bei; dagegen schien sie den Gedanken des anderen den größten Wert beizulegen.
Das Gespräch drehte sich nun um die neue Richtung in der Kunst und um die neue, von einem französischen Künstler ausgeführte Bibelillustration. Workujew beschuldigte den Künstler eines Realismus, der geradezu zur Roheit werde. Ljewin meinte, die Franzosen hätten den konventionellen Stil in der Kunst so weit getrieben wie kein anderes Volk und sähen deshalb in der [182] Rückkehr zum Realismus ein besonderes Verdienst. In der Abkehr von der Unwahrhaftigkeit sähen sie etwas Poetisches.
Noch nie hatte eine verständige Bemerkung, die er gemacht hatte, ihm soviel Vergnügen bereitet wie diese. Annas Gesicht leuchtete plötzlich auf, als sie diesen Gedanken in seinem vollen Sinn erfaßt hatte; sie lachte laut auf.
»Ich lache«, sagte sie, »wie man lacht, wenn man ein sehr ähnliches Bildnis sieht. Was Sie soeben sagten, ist eine völlig zutreffende Kennzeichnung der jetzigen französischen Kunst, der Malerei und sogar auch der Literatur: Zola, Daudet. Aber vielleicht ist das immer der Weg: man baut seine conceptions aus rein erdachten, konventionellen Gestalten, und dann, wenn alle combinaisons durchgemacht sind, sind einem die rein erdachten Gestalten langweilig geworden, und man begibt sich auf die Suche nach natürlicheren, lebenstreueren Gestalten.«
»Das ist durchaus richtig!« stimmte Workujew ihr bei.
»Ihr wart also im Klub?« wandte sie sich an ihren Bruder.
›Ja, ja, das ist ein Weib!‹ dachte Ljewin, der alles um sich her vergessen hatte und unverwandt auf ihr schönes, bewegliches Gesicht starrte, das jetzt auf einmal einen vollständig anderen Ausdruck angenommen hatte. Ljewin hörte nicht, wovon sie sprach, während sie sich zu ihrem Bruder hinbeugte; aber er war von der Veränderung ihrer Gesichtszüge überrascht. Ihr vorher in seiner Ruhe so schönes Antlitz spiegelte nun auf einmal eine seltsame Spannung, Zorn und Stolz wider. Aber das dauerte nur einen Augenblick, dann kniff sie die Augen zusammen, als ob sie sich auf etwas besinnen wollte.
»Nun ja, übrigens hat das für niemand Interesse«, sagte sie und wandte sich zu der Engländerin: »Please, order the tea in the drawing-room.« 1
Das junge Mädchen stand auf und ging hinaus.
»Nun, wie ist es? Hat sie ihr Examen bestanden?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
»Sie hat es vorzüglich bestanden. Sie ist ein sehr begabtes Mädchen und ein liebenswürdiger Charakter.«
»Es wird noch so weit kommen, daß du sie mehr liebst als deine eigene Tochter.«
»Da merkt man, daß ein Mann redet. In der Liebe gibt es kein Mehr und kein Weniger. Meine Tochter liebe ich auf die eine Art und meine Pflegetochter auf eine andere.«
»Ich sprach vorhin eben mit Anna Arkadjewna über den gleichen Gegenstand«, sagte Workujew, »und ich war der Ansicht, wenn sie auch nur den hundertsten Teil der Tatkraft, die sie auf diese Engländerin verwendet, der gemeinsamen Sache [183] der russischen Kindererziehung zuwenden wollte, so würde sie ein großes, nützliches Werk vollbringen.«
»Ja, das ist nun einmal nicht anders; ich habe es versucht, aber nicht gekonnt. Graf Alexei Kirillowitsch wollte mich durchaus dazu anregen« (als sie die Worte »Graf Alexei Kirillowitsch« aussprach, richtete sie einen schüchtern bittenden Blick auf Ljewin, und dieser antwortete ihr unwillkürlich mit einem ehrerbietigen, zustimmenden Blicke), »wollte mich durchaus dazu anregen, mich auf dem Lande mit der Schule zu beschäftigen. Ich bin ein paarmal hingegangen. Die kleinen Mädchen waren ja sehr lieb; aber ich konnte zu der Sache kein Herz fassen. Ja, Sie sagen: Tatkraft. Aber Tatkraft wurzelt in der Liebe, und Liebe kann man sich nicht geben, zur Liebe kann man sich nicht zwingen. Dieses junge Mädchen hier habe ich liebgewonnen, ich weiß selbst nicht warum.«
Wieder blickte sie Ljewin an. Und ihr Lächeln und ihr Blick, alles sagte ihm, daß sie ihre Rede nur an ihn richtete, da sie auf seine Meinung Wert lege und zugleich im voraus wisse, daß sie einander verständen.
»Ich verstehe das vollkommen«, erwiderte Ljewin. »Der Schule und überhaupt Einrichtungen ähnlicher Art kann man kein Herzensinteresse widmen, und ich glaube, daß eben deshalb diese philanthropischen Institute so geringe Ergebnisse aufzuweisen haben.«
Sie schwieg ein Weilchen, dann lächelte sie. »Ja, ja«, stimmte sie ihm bei. »Ich habe es nie fertiggebracht. Je n'ai pas le cœur assez large 2, um eine ganze Anstalt voll garstiger kleiner Mädchen zu lieben. Cela ne m'a jamais réussi. 3 Wie viele Frauen gibt es nicht, die sich dadurch eine position sociale geschaffen haben! Und jetzt ist es mir erst recht nicht möglich«, fuhr sie fort, indem sie sich mit einem traurigen, zutraulichen Ausdruck scheinbar an ihren Bruder, in Wirklichkeit aber ausschließlich an Ljewin wandte. »Auch jetzt, wo ich doch irgendwelche Beschäftigung so gut gebrauchen könnte, auch jetzt vermag ich es nicht.« Sie machte plötzlich ein finsteres Gesicht (Ljewin durchschaute, daß ihr Unwille sich gegen sie selbst richtete, weil sie von ihrer persönlichen Lage gesprochen hatte) und brachte das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. »Ich weiß über Sie«, sagte sie zu Ljewin, »daß Sie ein schlechter Staatsbürger sind, und habe Sie verteidigt, so gut ich es verstand.«
»Wie haben Sie mich denn verteidigt?«
»Entsprechend der Art, wie Sie angegriffen wurden. Aber ist Ihnen nicht Tee gefällig?« Sie stand auf und nahm ein in Saffian gebundenes Buch in die Hand.
[184] »Geben Sie es mir, Anna Arkadjewna«, sagte Workujew, auf das Buch zeigend. »Es verdient durchaus, gedruckt zu werden.«
»O nicht doch, es ist alles noch so unfertig.«
»Ich habe ihm schon davon erzählt«, bemerkte Stepan Arkadjewitsch, zu seiner Schwester gewendet, indem er auf Ljewin zeigte.
»Daran hast du unrecht getan. Meine Schriftstellerei steht ungefähr auf gleicher Stufe mit jenen in den Gefängnissen gearbeiteten Körbchen und Schnitzereien, die Lisa Merkalowa früher manchmal an mich verkaufte. Sie war ein sehr tätiges Mitglied eines Vereins für das Wohl der Gefangenen«, bemerkte sie, zu Ljewin gewendet. »Diese Unglücklichen schufen wahre Wunderwerke der Geduld.«
Und Ljewin nahm noch einen neuen Zug in dem Charakter dieser Frau wahr, die ihm so außerordentlich gefiel. Außer Verstand, Anmut und Schönheit besaß sie auch Wahrheitsliebe. Sie machte keinen Versuch, ihm das Peinliche ihrer Lage zu verbergen. Nach jener Bemerkung über die Gefängnisarbeit seufzte sie auf, und ihr Gesicht, das plötzlich einen ernsten, strengen Ausdruck annahm, schien zu Stein zu werden. Mit diesem Ausdruck auf dem Gesicht war sie noch schöner als vorher; aber dieser Ausdruck war ein ganz neuer und hatte nichts gemein mit dem glückstrahlenden, beglückenden Ausdruck, den der Künstler auf dem Bildnis zur Darstellung gebracht hatte. Ljewin betrachtete gerade noch einmal vergleichend das Bild und ihre Gestalt, als sie den Arm ihres Bruders nahm und mit ihm durch die hohe Tür schritt, und er empfand für sie ein zärtliches Mitleid, das ihn selbst in Erstaunen setzte.
Sie forderte Ljewin und Workujew auf, nach dem Besuchszimmer weiterzugehen, während sie selbst mit ihrem Bruder in einem anderen Zimmer zurückblieb, um mit ihm zu sprechen. ›Worüber?‹ dachte Ljewin. ›Über die Scheidung? Über das, was Wronski im Klub tat? Über mich?‹ Und die Frage, was sie wohl mit Stepan Arkadjewitsch besprechen wollte, regte ihn dermaßen auf, daß er kaum auf das hörte, was ihm Workujew von den Vorzügen des Romans für Kinder auseinandersetzte, den Anna verfaßt hatte.
Beim Tee wurde das angenehme, inhaltreiche Gespräch in gleicher Weise fortgesetzt. Nie trat ein Augenblick ein, wo erst nach einem Gesprächsstoffe hätte gesucht werden müssen; sondern es hatte im Gegenteil ein jeder die Empfindung, daß er nicht Zeit fand, alles, was er wollte, auszusprechen, und ein jeder hielt sich gern zurück, um zu hören, was ein anderer sagte. Und alles, was gesprochen wurde, nicht nur von ihr selbst, sondern [185] auch von Workujew und von Stepan Arkadjewitsch, alles erhielt, wie es Ljewin vorkam, durch die Aufmerksamkeit, die sie bekundete, und durch die Bemerkungen, die sie hinzugab, einen bedeutsamen Inhalt.
Während Ljewin dem Gespräch folgte, bewunderte er ununterbrochen sie und ihre Schönheit, ihren Verstand und ihre Bildung, ihre Natürlichkeit und Herzlichkeit. Er hörte zu, er redete und dachte die ganze Zeit über an sie, an ihr inneres Leben, und bemühte sich, ihre Empfindungen zu erraten. Und während er sie früher so streng verurteilt hatte, sprach er sie jetzt infolge eines seltsamen Gedankenganges frei, zugleich bedauerte er sie und fürchtete, daß Wronski für ihr Wesen kein volles Verständnis besitze. Als nach zehn Uhr Stepan Arkadjewitsch aufstand, um wegzufahren (Workujew hatte sich schon früher empfohlen), war es Ljewin, als wären sie eben erst gekommen. Mit Bedauern erhob er sich gleichfalls.
»Leben Sie wohl«, sagte sie, indem sie seine Hand festhielt und ihm mit einem Blicke, von dem er sich unwiderstehlich angezogen fühlte, in die Augen sah. »Ich freue mich sehr, que la glace est rompue. 4«
Sie ließ seine Hand los und kniff die Augen zusammen.
»Sagen Sie Ihrer Frau, daß ich sie noch ebenso liebhabe wie früher und daß, wenn sie mir meine Lage nicht verzeihen kann, ich ihr wünsche, daß sie mir niemals verzeihen möge. Denn um mir zu verzeihen, muß man das durchgemacht haben, was ich durchgemacht habe, und davor behüte sie Gott!«
»Ich will es ihr sagen, ja, gewiß ...«, erwiderte Ljewin errötend.
›Was für eine wunderbare, liebenswürdige, bedauernswerte Frau‹, dachte er, als er mit Stepan Arkadjewitsch in die kalte Winterluft hinaustrat.
»Nun, was sagst du jetzt? Hab ich's dir nicht vorher gesagt?« fragte Stepan Arkadjewitsch, dem es nicht entging, daß Ljewin völlig in ihren Bann geraten war.
»Ja«, erwiderte Ljewin nachdenklich, »sie ist eine ungewöhnliche Frau! Nicht sowohl wegen ihres außerordentlichen Verstandes wie wegen ihres wundervollen Herzens. Sie tut mir schrecklich leid!«
»Jetzt wird, so Gott will, bald alles in Ordnung kommen. Na also, hm, hm, man muß mit seinem Urteil nicht zu schnell sein. Adieu, wir haben nicht denselben Weg.«
[186] Während Ljewin nach Hause fuhr, dachte er unaufhörlich an Anna und an all die durchaus ungekünstelten Gespräche, die er mit ihr geführt hatte; er erinnerte sich dabei an alle Einzelheiten ihres Mienenspieles, versetzte sich immer mehr und mehr in ihre Lage und empfand immer innigeres Mitleid mit ihr.
Zu Hause berichtete ihm Kusma, Katerina Alexandrowna befinde sich wohl und die beiden anderen Schwestern seien erst vor kurzem weggefahren; er übergab ihm auch zwei Briefe. Ljewin las sie gleich dort im Vorzimmer durch, um später nicht dadurch gestört zu werden. Der eine war von seinem Verwalter Sokolow. Sokolow schrieb, er habe den Weizen nicht verkaufen können, da nur fünfundeinhalber Rubel dafür geboten würden; er wisse nicht, wo er Geld zu weiteren Sendungen hernehmen solle. Der andere Brief war von seiner Schwester. Sie machte ihm Vorwürfe, daß ihre Angelegenheit immer noch nicht erledigt sei.
›Na, wenn die Leute nicht mehr geben wollen, müssen wir ihn für fünfeinhalb verkaufen‹, entschied Ljewin sogleich mit großer Leichtigkeit die erste Frage, die ihm in früheren Zeiten sehr schwierig erschienen wäre. ›Es ist ganz wunderbar, wie hier meine Zeit immer besetzt ist‹, dachte er bei dem zweiten Briefe. Er fühlte sich seiner Schwester gegenüber schuldig, weil er das, worum er von ihr gebeten war, immer noch nicht getan hatte. ›Heute bin ich wieder nicht aufs Gericht gekommen; aber ich habe auch wirklich keine Zeit gehabt.‹ Er nahm sich vor, es morgen unter allen Umständen zu tun, und ging zu seiner Frau.
Während er zu ihr ging, durchlief er in seiner Erinnerung den ganzen hinter ihm liegenden Tag. Alle Ereignisse bestanden lediglich in Gesprächen, in Gesprächen, die er mit angehört und an denen er sich beteiligt hatte. Alle diese Gespräche hatten sich um Gegenstände gedreht, mit denen er, wenn er allein und auf dem Lande gewesen wäre, sich niemals beschäftigt haben würde; hier aber hatten sie ihn lebhaft interessiert. Und alle diese Gespräche waren nett gewesen; nur zwei Punkte aus dem Leben dieses Tages riefen bei ihm ein unangenehmes Gefühl hervor: erstens das, was er von dem Hechte gesagt hatte und zweitens schien ihm in dem zärtlichen Mitleid, das er für Anna empfand, etwas Ungehöriges zu liegen.
Seine Frau fand er in trüber, gelangweilter Stimmung. Sie berichtete ihm, ihr, der drei Schwestern, gemeinsames Mittagessen wäre ganz vergnügt verlaufen; aber dann hätten sie auf [187] ihn gewartet und gewartet und sich alle gelangweilt; die beiden Schwestern seien weggefahren, und sie sei allein geblieben.
»Nun, und was hast du gemacht?« fragte sie und blickte ihm in die Augen, die so einen besonderen, verdächtigen Glanz hatten. Aber um ihn nicht davon abzuschrecken, ihr alles zu erzählen, schwieg sie von dieser Beobachtung, die ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, und hörte seinen Bericht darüber, wie er den Abend verlebt hatte, mit beifälligem Lächeln an.
»Nun, ich habe mich sehr gefreut, daß ich mit Wronski zusammengetroffen bin. Ich habe in ganz unbefangener, harmloser Weise mit ihm geredet. Du verstehst wohl, jetzt werde ich mir Mühe geben, nie wieder mit ihm in Berührung zu kommen; aber es ist gut, daß dieser peinliche Zustand beendet ist«, sagte er; aber in Erinnerung daran, daß er trotz seiner angeblichen Bemühung, nie wieder mit Wronski in Berührung zu kommen, unmittelbar darauf zu Anna gefahren war, errötete er. »Ja, da entrüsten wir uns nun darüber, daß das gemeine Volk trinkt; aber ich weiß nicht, wer mehr trinkt, das gemeine Volk oder die Leute unseres Standes; das Volk trinkt wenigstens nur an Feiertagen, aber ...«
Kitty interessierte sich jedoch nicht für Betrachtungen darüber, wie das Volk trinke. Sie hatte gesehen, daß er rot geworden war, und wollte wissen, warum.
»Nun, und wo bist du dann gewesen?«
»Stiwa hat mir so stark zugesetzt, ich möchte mit ihm zu Anna Arkadjewna kommen.«
Sobald Ljewin das gesagt hatte, errötete er noch heftiger, und seine Zweifel, ob er auch recht daran getan habe, zu Anna hinzufahren, waren nun mit einemmal endgültig entschieden. Jetzt wußte er, daß er das nicht hätte tun dürfen.
Kittys Augen hatten sich bei Annas Namen in einer besonderen Weise erweitert und zu blitzen angefangen; aber sich Gewalt antuend, suchte sie ihre Erregung zu verbergen und ihn zu täuschen.
»Ah!« sagte sie nur.
»Du wirst gewiß nicht böse sein, daß ich dort gewesen bin. Stiwa bat mich darum, und auch Dollys Wunsch ist es gewesen«, fuhr Ljewin fort.
»O nein«, erwiderte sie; aber er sah ihr an den Augen an, daß sie sich Gewalt antat, und das schien ihm nichts Gutes zu versprechen.
»Sie ist eine sehr liebe, sehr, sehr bedauernswerte, gute Frau«, sagte er und erzählte nun von Anna und von ihrer Beschäftigung und bestellte auch, was sie ihm aufgetragen hatte.
[188] »Ja, gewiß, sie ist sehr bedauernswert«, versetzte Kitty, als er mit seinen Mitteilungen zu Ende war. »Von wem hast du denn Briefe bekommen?«
Er sagte es ihr, und beruhigt durch ihren gelassenen Ton, ging er weg, um sich zu entkleiden.
Als er zurückkam, fand er Kitty noch unverändert auf ihrem Stuhle sitzend. Sobald er an sie herantrat, blickte sie ihn an und brach in heftiges Schluchzen aus.
»Was hast du? Was hast du?« fragte er, obwohl er schon im voraus wußte, was der Grund war.
»Du hast dich in dieses garstige Weib verliebt; sie hat dich in ihre Netze gezogen. Ich habe es dir an den Augen angesehen. Jawohl, jawohl! Was soll daraus werden! Du hast im Klub getrunken und getrunken, hast gespielt, und dann hast du so einen Besuch gemacht ... bei wem! Nein, wir wollen fortreisen ... Morgen reise ich von hier weg.«
Lange Zeit konnte Ljewin seine Frau nicht beruhigen. Endlich gelang ihm dies doch, aber nur durch das Eingeständnis, daß das Gefühl des Mitleids und dazu noch der genossene Wein ihn verwirrt gemacht hätten, so daß er den listigen Künsten Annas unterlegen sei, sowie durch das Versprechen, diese Frau künftig zu meiden. Der aufrichtigste Teil seines Geständnisses war, daß er während dieses langen Aufenthaltes in Moskau, wo er weiter nichts tue als Gespräche führen und essen und trinken, halb verrückt geworden sei. Sie redeten miteinander bis drei Uhr nachts. Erst um drei Uhr hatten sie sich so weit ausgesöhnt, daß sie einschlafen konnten.
Nachdem Anna ihre Gäste hinausbegleitet hatte, setzte sie sich nicht wieder hin, sondern begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Obgleich sie unbewußt (wie sie das in der letzten Zeit allen jungen Männern gegenüber zu tun pflegte) den ganzen Abend über getan hatte, was nur irgend möglich war, um bei Ljewin ein Gefühl der Liebe zu ihr zu erwecken, und obgleich sie wußte, daß sie dies erreicht hatte, soweit es eben bei einem ehrenhaften Ehemanne und an einem einzigen Abend möglich gewesen war, und obgleich er ihr sehr gefallen hatte (ungeachtet des starken Unterschiedes, den Männer von ihrem Standpunkte aus zwischen Wronski und Ljewin finden mußten, sah sie als Frau an ihnen gerade die gemeinsamen Vorzüge, um deretwillen Kitty sich sowohl in Wronski wie auch in Ljewin verliebt hatte): [189] trotz alledem hörte sie, sobald er nur das Zimmer verlassen hatte, auf, an ihn zu denken.
Ein und derselbe Gedanke verfolgte sie aufdringlich in mannigfaltigen Gestalten. ›Wenn mein Wesen auf andere Männer, selbst auf diesen in seine Frau verliebten Ehemann, eine solche Wirkung ausübt, warum ist dann gerade er so kalt gegen mich? Zwar »kalt« ist wohl nicht das richtige Wort; er liebt mich, das weiß ich. Aber eine Art von neuer Schranke hat sich trennend zwischen uns erhoben. Warum ist er den ganzen Abend nicht zu Hause gewesen? Er hat mir durch Stiwa sagen lassen, er könne Jaschwin nicht allein lassen und müsse ihn beim Spiele im Auge behalten. Ist denn Jaschwin ein kleines Kind? Aber angenommen, daß das die Wahrheit ist (und allerdings redet er nie die Unwahrheit), so steckt hinter dieser wahren Begründung doch noch etwas anderes. Er freut sich über eine Gelegenheit, mir zu beweisen, daß er auch noch andere Verpflichtungen hat. Ich weiß das und finde mich darein. Aber wozu braucht er mir das zu beweisen? Er will mir beweisen, daß seine Liebe zu mir seiner Freiheit nicht hinderlich sein darf. Aber ich brauche keine Beweise, ich brauche Liebe. Er sollte für die ganze Peinlichkeit dieses meines Lebens hier in Moskau Verständnis haben. Ist denn das ein Leben? Ich lebe ja eigentlich gar nicht; ich warte auf die Lösung des Knotens, die sich immer länger und länger hinauszieht. Wieder keine Antwort! Und Stiwa sagt, er könne nicht zu Alexei Alexandrowitsch fahren. Ich aber kann nicht noch einmal an ihn schreiben. Ich kann nichts tun, nichts anfangen, nichts ändern; ich bezwinge mich, ich warte, ich ersinne mir allerlei Zeitvertreib: die Familie des Engländers, Schriftstellerei, Lesen; aber all das ist nur eine Täuschung, gerade wie das Morphium. Er sollte Mitleid mit mir haben‹, dachte sie und fühlte, wie ihr die Tränen des Mitleids mit sich selbst in die Augen traten.
Sie hörte Wronskis kräftiges Klingeln und wischte sich eilig diese Tränen weg; und sie wischte sich nicht nur die Tränen weg, sondern setzte sich auch an die Lampe und schlug ein Buch auf und stellte sich, als sei sie in ruhiger Stimmung. Sie mußte ihm zeigen, daß sie damit unzufrieden war, daß er nicht so früh zurückgekommen war, wie er es versprochen hatte; jedoch nur Unzufriedenheit durfte sie ihm zeigen, aber ja nicht ihren Kummer und am allerwenigsten, daß sie sich selbst bemitleidete. Sie durfte sich selbst bemitleiden, nicht aber er sie. Sie wünschte keinen Kampf mit ihm, machte vielmehr ihm den Vorwurf, daß er es auf einen Kampf mit ihr anlege; aber unwillkürlich setzte sie sich doch selbst in Kampfhaltung.
[190] »Nun, hast du dich auch nicht gelangweilt?« fragte er lebhaft und heiter, indem er zu ihr herantrat. »Welch furchtbare Leidenschaft doch das Spiel ist!«
»Nein, ich habe mich nicht gelangweilt; das habe ich mir längst abgewöhnt. Stiwa und Ljewin sind hier gewesen.«
»Ja, sie wollten dir einen Besuch machen. Nun, wie hat dir Ljewin gefallen?« sagte er und setzte sich neben sie.
»Sehr gut. Sie sind erst vor kurzem weggefahren. Wie ist es denn Jaschwin ergangen?«
»Er war im Gewinnen, siebzehntausend Rubel. Ich rief ihn ab, und er war schon ganz dicht daran, wegzufahren. Aber da kehrte er wieder um und ist jetzt im Verlieren.«
»Warum bist du denn also eigentlich dort geblieben?« fragte sie, indem sie plötzlich die Augen zu ihm in die Höhe hob. Der Ausdruck ihres Gesichtes war kalt und feindselig. »Zu Stiwa hast du gesagt, du wolltest dableiben, um Jaschwin fortzuschaffen. Und nun hast du ihn doch allein dort gelassen.«
Derselbe Ausdruck kalter Kampfbereitschaft spiegelte sich jetzt auch auf seinem Gesichte wider.
»Erstens habe ich ihn nicht ersucht, dir etwas zu bestellen, und zweitens sage ich niemals die Unwahrheit. Die Hauptsache ist aber: ich wollte noch dableiben, und darum blieb ich eben da«, erwiderte er mit finsterer Miene. »Anna, wozu das, wozu das?« fügte er nach einem kurzen Stillschweigen hinzu, indem er sich zu ihr beugte, und hielt ihr seine geöffnete Hand hin, in der Hoffnung, daß sie die ihrige hineinlegen werde.
Sie freute sich über diese Aufforderung zur Zärtlichkeit. Aber eine Art von bösem Geist hinderte sie, ihrem inneren Triebe zu folgen, wie wenn die Kampfregeln ihr verböten, sich zu ergeben.
»Natürlich, du wolltest dableiben, und darum bliebst du da. Du tust eben alles, was du willst. Aber warum sagst du mir das? Zu welchem Zwecke?« sagte sie, immer heftiger werdend. »Bestreitet denn jemand dein Recht? Aber du willst, daß ich dein Recht ausdrücklich anerkenne; nun meinetwegen: du hast das Recht dazu.«
Seine Hand schloß sich wieder; er lehnte sich zurück, und der Ausdruck seines Gesichtes wurde noch trotziger als vorher.
»Bei dir ist es nur Starrsinn«, sagte sie, nachdem sie ihn prüfend angesehen und plötzlich die Bezeichnung für diesen Gesichtsausdruck gefunden hatte, der sie so aufbrachte. »Nichts als Starrsinn. Für dich handelt es sich nur um die Frage, ob du Sieger über mich bleibst; aber für mich ...« Wieder überkam sie ein gewaltiges Mitleid mit sich selbst, und sie wäre [191] beinahe in Tränen ausgebrochen. »Wenn du wüßtest, worum es sich für mich handelt! Wenn du wüßtest, was das für mich zu bedeuten hat, wenn ich, wie jetzt, sehe, daß du mir feindlich, jawohl feindlich, gegenübertrittst! Wenn du wüßtest, wie nahe ich in solchen Augenblicken einem Unglück bin, wie ich mich fürchte, mich vor mir selbst fürchte!« Sie wandte sich weg und suchte ihr Schluchzen zu verbergen.
»Worüber regst du dich nur auf?« sagte er, erschrocken über einen solchen Ausbruch von Verzweiflung, beugte sieh wieder zu ihr, nahm ihre Hand und küßte sie. »Aus welchem Grunde? Suche ich etwa Zerstreuung außerhalb des Hauses? Vermeide ich etwa nicht die Gesellschaft anderer Frauen?«
»Das fehlte auch noch!« sagte sie.
»Nun, so sage doch, was ich tun soll, damit du dich beruhigst. Ich bin bereit, alles zu tun, damit du dich glücklich fühlst«, sagte er, gerührt von ihrer Verzweiflung. »Was würde ich nicht tun, um dir ein Leid wie das jetzige zu ersparen, Anna!«
»Laß gut sein, laß gut sein«, erwiderte sie. »Ich weiß selbst nicht, was mir fehlt: das einsame Leben, die Nerven ... Nun, wir wollen nicht weiter davon reden. Wie war denn das Rennen? Du hast mir noch nichts davon erzählt«, sagte sie und bemühte sich, das Empfinden von Genugtuung darüber zu verbergen, daß der Sieg nun doch auf ihrer Seite geblieben war.
Er gab Befehl, das Abendessen aufzutragen, und erzählte ihr Einzelheiten vom Rennen; aber an seinem Ton und an seinen Blicken, die immer kälter wurden, merkte sie, daß er ihr ihren Sieg nicht verziehen hatte, daß jener Starrsinn, gegen den sie ankämpfte, wieder in ihm mächtig geworden war. Er war gegen sie kälter als vorher, wie wenn er bereute, sich ihr gefügt zu haben. Und indem sie sich der Worte erinnerte, die ihr den Sieg verschafft hatten, nämlich: »Ich bin einem schrecklichen Unglück nahe und fürchte mich vor mir selbst«, sagte sie sich, daß dies eine gefährliche Waffe sei und daß sie sie kein zweites Mal gebrauchen dürfe. Sie fühlte, daß neben der Liebe, die sie beide miteinander verband, sich zwischen ihnen der böse Geist der Zwietracht festgesetzt hatte, den sie weder aus seinem, noch weniger aus ihrem eigenen Herzen zu vertreiben vermochte.
Es gibt keine Lebensverhältnisse, an die sich jemand nicht gewöhnen könnte, namentlich wenn er sieht, daß alle Leute um ihn herum in der gleichen Weise leben. Ljewin hätte drei [192] Monate vorher nicht geglaubt, daß er in den Verhältnissen, in denen er sich befand, ruhig einschlafen könne: bei einem Leben ohne Zweck und Ziel, ohne Sinn und Verstand, das überdies noch seine Mittel überstieg; ferner nach einem Zechgelage (denn anders konnte er das, was im Klub vorgegangen war, nicht nennen); ferner nachdem er ein unschickliches Freundschaftsverhältnis mit einem Manne hergestellt hatte, in den seine Frau früher einmal verliebt gewesen war, und einen noch unschicklicheren Besuch bei einer Frau gemacht hatte, die man nur als eine Verlorene bezeichnen konnte, und sich von dieser Frau hatte bezaubern lassen und dadurch seine eigene Frau tief gekränkt hatte, daß er unter solchen Umständen ruhig einschlafen könnte, hätte er nie geglaubt. Aber infolge der vorangegangenen geistigen Ermüdung, des Wachens bis tief in die Nacht hinein und des genossenen Weines versank er in einen festen, ruhigen Schlaf.
Um fünf Uhr wachte er auf von dem Knarren einer Tür, die geöffnet wurde. Er fuhr in die Höhe und blickte um sich. Kitty lag nicht neben ihm auf dem Bette. Aber hinter der spanischen Wand bewegte sich ein Licht hin und her, und er hörte ihre Schritte.
»Was ist? ... Was ist?« rief er schlaftrunken. »Kitty! Was ist?«
»Nichts Besonderes«, antwortete sie, indem sie mit dem Lichte in der Hand hinter der spanischen Wand hervorkam. »Ich fühlte mich nicht ganz wohl«, fuhr sie mit einem besonders lieblichen, bedeutsamen Lächeln fort.
»Wie ist's? Hat es angefangen? Hat es angefangen?« fragte er erschrocken. »Dann müssen wir hinschicken!« Er begann sich eilig anzuziehen.
»Nein, nein«, sagte sie lächelnd und hielt ihn mit der Hand zurück. »Es wird gewiß nichts sein. Es war mir nur ein wenig unwohl. Aber jetzt ist es wieder vorbei.«
Sie ging zum Bett, löschte das Licht aus, legte sich hin und verhielt sich ganz still. Verdächtig war ihm allerdings die Unhörbarkeit ihres Atems, dessen Geräusch sie anscheinend unterdrückte, und vor allem der Ausdruck besonderer Zärtlichkeit und Erregung, mit dem sie beim Hervortreten hinter der spanischen Wand zu ihm gesagt hatte: »Nichts Besonderes«; aber er war so schläfrig, daß er sofort wieder einschlief. Erst in späterer Zeit erinnerte er sich daran, wie sie absichtlich leise geatmet hatte, und verstand alles, was in ihrer lieben, herrlichen Seele vorgegangen war, während sie so, ohne sich zu rühren, in Erwartung des größten Ereignisses im Frauenleben neben ihm dagelegen hatte. Um sieben Uhr weckte ihn eine Berührung [193] seiner Schulter durch ihre Hand und ein leises Flüstern. Es schienen bei ihr das Bedauern, ihn zu wecken, und der Wunsch, mit ihm zu reden, miteinander zu kämpfen.
»Konstantin, erschrick nicht. Es ist nichts Schlimmes. Aber mir scheint ... Es muß Jelisaweta Petrowna geholt werden.«
Das Licht war wieder angezündet. Sie saß auf dem Bett und hatte ein Strickzeug in den Händen, mit dem sie sich in den letzten Tagen beschäftigt hatte.
»Bitte, erschrick nicht; es ist nichts Schlimmes. Ich fürchte mich nicht im geringsten«, fügte sie hinzu, als sie sein erschrockenes Gesicht sah, und drückte seine Hand an ihre Brust und dann an ihre Lippen.
Er sprang, ohne von sich selbst zu wissen, hastig auf, zog, ohne die Augen von ihr zu wenden, seinen Schlafrock an und blieb stehen, indem er sie immer noch ansah. Er hätte gehen müssen; aber er konnte sich von ihrem Blick nicht losreißen. So lieb und vertraut ihm ihr Gesicht war, so gut er ihre Mienen und ihren Blick kannte: aber so hatte er sie noch nie gesehen. Wie garstig und schändlich kam er sich ihr gegenüber vor, wie er sie jetzt vor sich sah, wenn er sich erinnerte, wie schwer er sie gestern gekränkt hatte! Ihr gerötetes Gesicht, von dem weichen Haar umgeben, das sich aus dem Nachthäubchen hervordrängte, strahlte vor Freude und Entschlossenheit.
So wenig Gekünsteltes und Gemachtes auch überhaupt in Kittys Charakter vorhanden war, so war Ljewin doch überrascht durch das, was sich jetzt vor ihm enthüllte, als plötzlich alle Hüllen fielen und das innerste Wesen ihrer Seele aus ihren Augen hervorstrahlte. Und in dieser Natürlichkeit und Enthüllung wurde sie selbst, ihre eigenste Persönlichkeit, die er so liebte, ihm noch deutlicher sichtbar. Sie blickte ihn lächelnd an; aber plötzlich zuckten ihre Brauen; sie hob den Kopf in die Höhe, und schnell an ihn herantretend, ergriff sie seine Hand und drückte sich mit dem ganzen Leib gegen ihn, wobei sie ihn mit ihrem heißen Atem umgab. Sie litt und schien ihm ihr Leid zu klagen. Und im ersten Augenblick kam ihm gewohnheitsmäßig die Vorstellung, daß er daran schuld sei. Aber in ihrem Blicke lag eine Zärtlichkeit, die gleichsam sagte, daß sie ihm wegen dieser Leiden keinen Vorwurf mache, ja, ihn dafür liebe. ›Wenn also ich nicht daran schuld bin, wer ist dann daran schuld?‹ dachte er unwillkürlich und suchte nach dem Urheber dieser Leiden, um ihn zu bestrafen; aber es gab keinen Schuldigen. Sie litt und klagte, und zugleich war sie stolz auf diese Leiden und freute sich ihrer und liebte sie. Er sah, daß sich in ihrer Seele etwas Schönes, Herrliches vollzog; aber was es eigentlich [194] war, dafür fehlte ihm das Verständnis. Das ging über seine Fassungskraft hinaus.
»Ich habe schon zu Mama geschickt. Und du hole so schnell wie möglich Jelisaweta Petrowna ... Konstantin! ... Es ist nichts, es ist schon vorüber.«
Sie trat von ihm zurück und klingelte.
»Also nun geh jetzt, Pascha kommt. Es geht mir ganz gut.«
Und Ljewin sah mit Erstaunen, daß sie nach dem Strickzeug griff, das sie in der Nacht geholt hatte, und wieder zu stricken anfing.
Als Ljewin aus der einen Tür hinausging, hörte er, wie durch die andere das Mädchen hereinkam. Er blieb an der Tür stehen und hörte, daß Kitty dem Mädchen ins einzelne gehende Anweisungen gab und selbst mit ihr das Bett umstellte.
Er zog sich an, und während das Pferd angespannt wurde, da noch keine Droschken auf der Straße waren, lief er noch einmal ins Schlafzimmer, und zwar, wie es ihm vorkam, nicht auf den Fußspitzen, sondern auf Flügeln. Zwei Mädchen waren eifrig damit beschäftigt, dies und das im Schlafzimmer anders zu stellen. Kitty ging auf und ab, schnell die Maschen umschlagend, und traf ihre Anordnungen.
»Ich fahre sofort zum Arzt. Nach Jelisaweta Petrowna ist schon geschickt worden; aber ich will auch noch mit hinfahren. Ist sonst noch etwas nötig? Ja, soll ich auch zu Dolly?« Sie sah ihn an, hörte aber offenbar nicht, was er sagte.
»Ja, ja. Geh!« sagte sie hastig mit finsterem Gesicht und machte mit der Hand eine Bewegung, daß er weggehen möchte.
Er war schon ins Wohnzimmer gegangen, als auf einmal ein klägliches, aber sofort wieder verstummendes Stöhnen an sein Ohr drang. Er blieb stehen und konnte lange nicht zum Verständnis gelangen.
›Ja, das war sie‹, sagte er zu sich, griff sich an den Kopf und lief die Treppe hinunter.
»Herr, erbarme dich! Vergib uns, hilf uns!« Er wiederholte ein über das andere Mal diese Worte, die ihm unwillkürlich auf die Lippen kamen. Und trotz seines Unglaubens sprach er diese Worte nicht mit den Lippen allein. Jetzt, in diesem Augenblick, spürte er, daß alle seine Zweifel, ja die Unfähigkeit, deren er sich bewußt war, Glauben und Verstand miteinander zu vereinigen, ihn in keiner Weise hinderten, sich an Gott zu wenden. All das war jetzt wie Staub von seiner Seele hinweggeflogen. An wen sollte er sich denn auch sonst wenden, als an ihn, in dessen Hand, wie er fühlte, er selbst und seine Seele und seine Liebe lag?
[195] Der Wagen war noch nicht bereit; aber da Ljewin seine gesamte körperliche und geistige Kraft mit energischer Anspannung auf das gerichtet fühlte, was er zu besorgen hatte, so ging er, um nur ja keinen Augenblick zu verlieren, ohne auf den Wagen zu warten, zu Fuß und gab Kusma Befehl, ihm nachzufahren.
An der Ecke begegnete er einer in schnellem Tempo fahrenden Nachtdroschke. In dem kleinen Schlitten saß, in einer Samtjacke, ein Tuch um den Kopf gewickelt, Jelisaweta Petrowna. »Gott sei Dank, Gott sein Dank!« sagte er, als er zu seiner größten Freude ihren kleinen Blondkopf erkannte, der jetzt einen eigentümlich ernsten, ja beinahe strengen Ausdruck trug. Ohne den Kutscher anhalten zu lassen, lief er wieder heimwärts neben ihr her.
»Also seit ungefähr zwei Stunden? Noch nicht länger?« fragte sie. »Sie werden Peter Dmitrijewitsch zu Hause treffen; aber Sie brauchen ihn nicht zur Eile anzutreiben. Holen Sie doch auch Opium aus der Apotheke.«
»Also Sie glauben, daß es gut vonstatten gehen kann? Herr, erbarme dich und hilf uns!« sagte Ljewin, der gerade sein Pferd aus dem Torweg herauskommen sah. Er sprang in den Schlitten, setzte sich neben Kusma und hieß ihn zum Arzt fahren.
Der Arzt war noch nicht aufgestanden, und der Diener erklärte, der Doktor habe sich erst spät hingelegt und verboten, ihn zu wecken; er werde aber wohl bald aufstehen. Der Diener putzte die Lampenzylinder und schien von dieser Arbeit sehr in Anspruch genommen zu sein. Diese Sorgfalt des Dieners für die Lampenzylinder und dessen Gleichgültigkeit gegen das, was sich in seinem, Ljewins, Hause abspielte, setzten Ljewin anfangs in Erstaunen; aber gleich darauf sagte er sich nach kurzer Überlegung, daß ja niemand seine Empfindungen kenne oder zu kennen verpflichtet sei und daß es daher um so nötiger sei, mit Ruhe, Überlegung und Entschiedenheit zu handeln, um in diese Mauer von Gleichgültigkeit Bresche zu legen und zum Ziele zu gelangen.›Nichts überhasten und nichts versäumen!‹ sagte sich Ljewin. Er fühlte, wie seine körperliche und geistige Kraft sich immer energischer auf das richtete, was er zu besorgen hatte.
Als Ljewin hörte, daß der Arzt noch nicht aufgestanden sei, blieb er unter mancherlei Plänen, die ihm in der Eile durch den [196] Kopf gingen, bei folgendem stehen: Kusma sollte mit einem Zettelchen zu einem anderen Arzte laufen, und er selbst wollte nach der Apotheke fahren und das Opium holen, und wenn bei seiner Rückkehr der Arzt immer noch nicht aufgestanden sei, dann wollte er ihn unter allen Umständen wecken, entweder durch Bestechung des Dieners oder, wenn dieser sich nicht darauf einließe, mit Gewalt.
In der Apotheke klebte der hagere Provisor mit derselben Gleichgültigkeit, mit der der Diener seine Lampenzylinder gereinigt hatte, mit Siegelmarken Pülverchen für einen darauf wartenden Kutscher zu; das Opium zu verabreichen, weigerte er sich. Bemüht, nicht die Geduld zu verlieren und nicht hitzig zu werden, nannte ihm Ljewin die Namen des Arztes und der Hebamme, erklärte ihm, wozu er das Opium nötig habe und suchte ihn auf diese Weise zu überreden. Der Provisor fragte nach dem hinter einer niedrigen Zwischenwand gelegenen Raume hin jemand auf deutsch um Rat, ob er das Opium verabfolgen solle, und langte, als er eine bejahende Antwort erhalten hatte, nach einem Fläschchen und einem Trichter, goß langsam aus einer großen Flasche eine kleine voll, klebte einen Zettel darauf, versiegelte sie trotz Ljewins Bitte, dies doch zu unterlassen, und wollte sie noch einwickeln. Dies aber konnte Ljewin nicht mehr aushalten; mit einem entschlossenen Griff riß er ihm das Fläschchen aus den Händen und lief durch die große Glastür hinaus. Als er wieder zur Wohnung des Arztes kam, war dieser noch nicht aufgestanden, und der Diener, der jetzt damit beschäftigt war, einen Teppich zu legen, weigerte sich, ihn zu wecken. Ljewin holte bedachtsam einen Zehnrubelschein hervor, reichte ihm diesen hin und setzte ihm, indem er jedes Wort langsam aussprach, aber auch keine Zeit verlor, auseinander, daß Peter Dmitrijewitsch (welch eine große, wichtige Persönlichkeit war jetzt für Ljewin dieser früher so unbedeutende Peter Dmitrijewitsch geworden!) versprochen habe, zu jeder Stunde zu ihm zu kommen, und bestimmt nicht böse werden würde; er solle ihn daher unverzüglich wecken.
Der Diener ließ sich nun bereit finden, ging mit Ljewin die Treppe hinauf und ersuchte ihn, ins Wartezimmer zu treten.
Ljewin hörte durch die Tür hindurch, wie der Arzt hustete, umherging, sich wusch und etwas sagte. Es mochten etwa drei Minuten vergangen sein; dem wartenden Ljewin kam es vor, als habe es schon über eine Stunde gedauert. Er konnte es nicht länger ertragen.
»Peter Dmitrijewitsch, Peter Dmitrijewitsch!« sagte er in flehendem Tone durch die Tür, die er ein wenig geöffnet hatte. [197] »Um Gottes willen, seien Sie mir nicht böse, und empfangen Sie mich, wie Sie sind. Es dauert schon über zwei Stunden.«
»Gleich, gleich!« antwortete die Stimme des Arztes, und Ljewin hörte zu seinem Staunen an dem Ton, daß er das lächelnd sagte.
»Nur auf einen Augenblick!«
»Gleich.«
Es vergingen noch zwei Minuten, bis sich der Arzt die Stiefel angezogen, und noch zwei, bis er sich den Rock angezogen und sich gekämmt hatte.
»Peter Dmitrijewitsch!« begann Ljewin wieder mit kläglicher Stimme, aber in diesem Augenblick trat der Arzt angekleidet und gekämmt ins Zimmer. ›Diese Menschen haben aber doch gar kein Gewissen‹, dachte Ljewin. ›Sie kämmen sich, während wir umkommen!‹
»Guten Morgen!« sagte der Arzt zu ihm und reichte ihm die Hand; Ljewin hatte den Eindruck, als wolle er ihn mit seiner Ruhe verhöhnen. »Haben Sie nur Geduld. Nun, wie steht es denn?«
Bestrebt, recht genau zu sein, begann nun Ljewin alle möglichen, auch ganz unnötige Einzelheiten über den Zustand seiner Frau zu erzählen, wobei er seinen Bericht fortwährend durch die Bitte unterbrach, der Doktor möge nun doch unverzüglich mit ihm fahren.
»Aber haben Sie doch nur Geduld. Sie wissen ja mit solchen Sachen nicht Bescheid. Ich bin dabei wahrscheinlich überhaupt nicht nötig; aber ich habe es Ihnen einmal zugesagt, und da will ich meinetwegen hinkommen. Aber Eile hat die Sache nicht. Bitte, setzen Sie sich; ist Ihnen eine Tasse Kaffee gefällig?«
Ljewin sah ihn an, wie wenn er ihn mit seinem Blick fragen wollte, ob er sich etwa über ihn lustig mache. Aber der Arzt dachte offenbar gar nicht an dergleichen.
»Ich kenne das, ich kenne das«, sagte der Arzt lächelnd. »Ich bin selbst Familienvater; aber wir Männer sind in solchen Augenblicken die kläglichsten Geschöpfe. Ich habe eine Klientin, deren Mann bei solchen Anlässen sich immer in den Pferdestall flüchtet.«
»Aber was meinen Sie, Peter Dmitrijewitsch? Glauben Sie, daß es glücklich vonstatten gehen wird?«
»Alle Anzeichen sprechen für einen glücklichen Verlauf.«
»Also Sie kommen gleich hin?« fragte Ljewin und blickte ingrimmig den Diener an, der den Kaffee brachte.
»In einem Stündchen.«
»Nein doch, ich bitte Sie um alles in der Welt!«
[198] »Nun, dann lassen Sie mich wenigstens meinen Kaffee trinken.«
Der Arzt machte sich an seinen Kaffee. Beide schwiegen ein Weilchen.
»Die Türken bekommen aber jetzt entschieden Schläge. Haben Sie die gestrige Nachricht gelesen?« fragte der Arzt, während er an einer Semmel kaute.
»Nein, ich kann hier nicht länger sitzen!« sagte Ljewin und sprang auf. »Also in einer Viertelstunde sind Sie da?«
»In einer halben Stunde.«
»Ehrenwort?«
Als Ljewin nach Hause kam, traf dort mit ihm gleichzeitig die Fürstin ein; sie hatte die Augen voll Tränen, und ihre Hände zitterten. Als sie Ljewin erblickte, umarmte sie ihn und fing an zu weinen. Beide gingen zusammen bis zur Tür des Schlafzimmers.
»Nun, wie steht es, beste Jelisaweta Petrowna?« fragte sie die Hebamme, die mit strahlender, geschäftseifriger Miene zu ihnen herauskam, und ergriff ihre Hand.
»Es geht gut«, antwortete sie. »Reden Sie ihr nur zu, daß sie sich hinlegt. Das wird ihr Erleichterung bringen.«
Von dem Augenblick an, wo Ljewin aufgewacht war und begriffen hatte, worum es sich handelte, hatte er sich vorgenommen, sich auf keine Überlegungen und Besorgnisse einzulassen, alle seine Gedanken und Gefühle fest in seinem Innern zu verschließen, seine Frau nicht aufzuregen, sondern sie im Gegenteil zu beruhigen und ihren Mut zu stärken und so das, was ihm bevorstand, zu ertragen. Er hatte beschlossen, gar nicht darüber nachzudenken, was da geschehen und womit es enden werde, sondern auf Grund der erhaltenen Auskunft über die gewöhnliche Dauer dieses Vorganges hatte er sich in Gedanken vorgenommen, etwa fünf Stunden lang auszuharren und sein Herz hart und fest zu machen, und das war ihm möglich erschienen. Aber als er vom Arzt zurückgekehrt war und wieder Zeuge von Kittys Leiden wurde, da begann er immer häufiger: »Herrgott, vergib uns, hilf uns!« zu stöhnen und zu seufzen und die Augen zu erheben, und er fürchtete, er werde es nicht aushalten können, sondern losweinen oder davonlaufen müssen: so entsetzlich war ihm zumute. Und doch war erst eine Stunde vergangen.
Aber nach dieser einen Stunde verging noch eine Stunde, zwei, drei Stunden; nun waren sämtliche fünf Stunden vergangen, die er als die äußerste Dauer seiner Geduld in Aussicht genommen hatte, und doch war die Lage noch immer unverändert; und er harrte weiter aus, weil ihm eben nichts anderes übrigblieb[199] als auszuharren, und dachte jeden Augenblick, nun sei er an der äußersten Grenze seiner Ausdauer angelangt und sein Herz müsse ihm gleich vor Mitleid brechen.
Aber es vergingen noch Minuten und Stunden und aber Stunden, und seine Pein und Angst wuchs und stieg immer mehr.
Die gewöhnlichsten Grundanschauungen, ohne die man sich im Leben eigentlich nichts vorstellen kann, bestanden alle für Ljewin nicht mehr. Er hatte das Maßgefühl für die Zeit verloren. Bald erschienen ihm Minuten (jene Minuten, wo sie ihn zu sich rief und er ihre schweißbedeckte Hand hielt, mit der sie manch mal die seinige mit ungewöhnlicher Kraft drückte und manchmal ihn von sich zurückstieß) wie Stunden, bald Stunden wie Minuten. Er war erstaunt, als Jelisaweta Petrowna ihn bat, hinter der spanischen Wand ein Licht anzuzünden, und er dabei erfuhr, daß es schon fünf Uhr abends sei. Hätte ihm jemand gesagt, es sei jetzt erst zehn Uhr morgens, er hätte auch das geglaubt. Wo er während dieser Zeit gewesen war, das wußte er ebensowenig, wie wann dies und das geschehen war. Er hatte Kittys heißes Gesicht gesehen, das bald einen stumpfen, leidenden Ausdruck zeigte, bald ihn anlächelte und ihn zu beruhigen suchte. Er hatte auch die Fürstin gesehen: ihren roten Kopf, die ängstliche Spannung in ihren Zügen, die wirr herabhängenden grauen Locken, wie sie mit Gewalt die Tränen unterdrückte und sich auf die Lippen biß. Er hatte auch Dolly gesehen und den Arzt, der dicke Zigarren rauchte, und Jelisaweta Petrowna mit dem festen, entschlossenen Gesichtsausdruck, von dem eine beruhigende Wirkung auszugehen schien, und den alten Fürsten, der mit finsterer Miene im Saale auf und ab ging. Aber wie sie hereingekommen und wieder hinausgegangen waren, und wo sie gewesen waren, das wußte er nicht. Bald war die Fürstin mit dem Arzt im Schlafzimmer gewesen, bald im Arbeitszimmer, wo sich auf einmal ein gedeckter Tisch eingefunden hatte; bald wieder war nicht sie dagewesen, sondern Dolly. Ljewin erinnerte sich, daß er einmal aus dem Hause geschickt worden war, um irgend etwas zu holen. Einmal war er beauftragt worden, einen Tisch und ein Sofa in ein anderes Zimmer zu bringen. Er hatte das mit großem Eifer getan, in der Meinung, es sei irgendwie für Kitty notwendig, und erst nachher erfahren, daß er damit ein Nachtlager für sich selbst zurechtgemacht habe. Dann hatte man ihn zum Arzt ins Arbeitszimmer geschickt, um ihn nach irgend etwas zu fragen. Der Arzt hatte die Frage beantwortet und dann über die Ungehörigkeiten in der Stadtverordnetenversammlung zu reden angefangen. Dann hatte man ihn nach dem Hause der Fürstin geschickt, um aus deren Schlafzimmer ein Heiligenbild[200] in silberner, vergoldeter Einfassung zu holen, und er war mit der alten Kammerfrau der Fürstin auf ein Schränkchen gestiegen, um das Bild abzunehmen, und hatte dabei das Lämpchen vor dem Bilde zerschlagen, und die Kammerfrau der Fürstin hatte ihn sowohl wegen seiner Frau wie auch wegen des Lämpchens zu beruhigen gesucht, und er hatte das Heiligenbild nach seiner Wohnung gebracht und es an Kittys Kopfende aufgestellt und es sorgsam mit dem unteren Rande hinter die Kissen geschoben. Aber wo, wann und wozu das alles geschehen war, das wußte er nicht. Er begriff auch nicht, warum die Fürstin ihn an der Hand faßte, ihn mitleidig ansah und ihn bat, er möchte sich doch beruhigen, und warum Dolly ihm zuredete, doch ein bißchen zu essen, und ihn aus dem Zimmer führte und sogar der Arzt ihn ernst und teilnahmsvoll anblickte und ihm riet, Tropfen zu nehmen.
Er wußte und fühlte nur, daß das, was hier vorging, Ähnlichkeit hatte mit dem, was vor einer Reihe von Monaten in dem Gasthause der Gouvernementsstadt am Sterbebett seines Bruders Nikolai vorgegangen war. Nur war jenes dort Leid gewesen, und dies hier war Freude. Aber sowohl jenes Leid wie auch diese Freude lagen in gleicher Weise außerhalb aller gewöhnlichen Lebensverhältnisse und waren in diesem gewöhnlichen Leben gleichsam Öffnungen, durch die man zu etwas Höherem hindurchblicken konnte. Und in gleich bedrückender, qualvoller Weise rückte das, was sich vollzog, heran, und in gleich unbegreiflicher Weise erhob sich bei der Anschauung dieses Höheren die Seele zu einer Höhe, die sie nie vorher auch nur geahnt hatte und zu der der Verstand ihr nicht zu folgen vermochte.
»Herrgott, vergib uns und hilf uns!« sprach er ein über das andere Mal vor sich hin, und trotz seiner langjährigen und anscheinend völligen Entfremdung hatte er die Empfindung, daß er sich mit derselben Unbefangenheit und demselben Vertrauen an Gott wandte wie in der Zeit seiner Kindheit und ersten Jugend.
Diese ganze Zeit über wechselten bei ihm zwei verschiedene Seelenstimmungen miteinander ab. In der einen befand er sich, wenn er nicht bei Kitty, sondern mit dem Arzt zusammen war der eine dicke Zigarre nach der anderen rauchte und sie am Rande des bereits vollen Aschenbechers abstrich, oder mit Dolly und dem Fürsten zusammen, wo dann über das Mittagessen und über Politik und über Marja Petrownas Krankheit gesprochen wurde und er auf einmal für einen Augenblick vollständig vergaß, was vorging, und so wenig Erinnerung hatte wie jemand, der aus dem Schlafe aufwacht. Und in der anderen [201] Stimmung befand er sich, wenn er bei Kitty war und am Kopfende ihres Bettes stand und ihm das Herz vor Mitleid brechen wollte und doch nicht brach und er fortwährend zu Gott betete. Und jedesmal, wenn ihn aus dem zeitweiligen Zustande des Vergessens ein aus dem Schlafzimmer herüberdringender Schrei aufrüttelte, geriet er in jenen sonderbaren Irrtum, der ihn im ersten Augenblick befallen hatte: jedesmal, wenn er einen solchen Schrei hörte, sprang er auf und lief hin, um sich zu rechtfertigen; und dann fiel ihm unterwegs ein, daß er ja keine Schuld trage, und er wollte sie beschützen und ihr helfen. Aber wenn er sie dann anblickte, so sah er wieder, daß er ihr nicht helfen könne, und geriet in Angst und Entsetzen und stöhnte: »Herrgott, vergib uns und hilf uns!« Und je mehr die Zeit verging, um so mehr steigerten sich diese beiden Seelenstimmungen: um so ruhiger wurde er, sobald er nicht bei ihr war, ja er vergaß sie vollständig, und um so mehr Qual bereitete ihm an ihrem Lager der Anblick ihrer Leiden und das Gefühl der Hilflosigkeit ihnen gegenüber. Er sprang dann auf und wollte irgendwohin flüchten, kam aber doch wieder zu ihr zurückgelaufen.
Manchmal, wenn sie ihn immer wieder und wieder zu sich rief, machte er ihr das im stillen zum Vorwurf. Aber wenn er dann ihr demutvolles, lächelndes Gesicht sah und die Worte hörte: »Ich mache dir so viel Pein«, dann wendete er seinen Vorwurf gegen Gott; aber sowie er an Gott dachte, betete er sogleich um Vergebung und Barmherzigkeit.
Er wußte nicht, ob es spät oder früh sei. Die Lichter waren schon tief herabgebrannt. Dolly war eben im Arbeitszimmer gewesen und hatte den Arzt gebeten, sich doch auf dem Sofa zur Ruhe zu legen. Ljewin saß bei ihm, hörte seine Erzählungen von einem marktschreierischen Magnetiseur an und blickte unverwandt nach der Asche an der Zigarre des Arztes. Es war wieder einmal eine Zeit der Erholung für ihn, und er hatte all das Schreckliche vergessen. Er dachte mit keinem Gedanken an das, was jetzt vorging. Er hörte die Erzählung des Arztes und verstand sie. Plötzlich ertönte ein Schreien, wie er es noch nie gehört hatte. Dieses Schreien war so furchtbar, daß Ljewin nicht einmal aufsprang, sondern nur, ohne Atem zu holen, mit einem erschrocken fragenden Blick den Arzt ansah. Der Arzt hatte den Kopf zur Seite geneigt, horchte und lächelte befriedigt. Alles[202] war diese ganze Zeit her so ungewöhnlich gewesen, daß Ljewin jetzt durch nichts mehr in Erstaunen versetzt wurde. ›Es wird wohl so sein müssen‹, dachte er und blieb sitzen. Aber dann kam ihm der Gedanke: ›Wer hat so geschrien?‹ Er sprang auf, lief auf den Fußspitzen in das Schlafzimmer, ging um Jelisaweta Petrowna und die Fürstin herum und stellte sich auf seinen Platz am Kopfende. Das Schreien war verstummt; aber irgend etwas hatte sich verändert. Was sich verändert hatte, das sah und verstand er nicht, und er wollte es auch nicht sehen und verstehen. Aber er merkte es an Jelisaweta Petrownas Gesicht: dieses Gesicht war ernst und blaß, und obwohl es ebenso fest und entschlossen aussah wie vorher, so zuckte doch die Kinnlade ein wenig und die Augen waren unverwandt auf Kitty gerichtet. Kittys glühendes, abgequältes Gesicht, auf dessen schweißfeuchter Haut eine Haarsträhne festklebte, war zu ihm gewendet und suchte seinen Blick. Die aufgehobenen Hände verlangten nach den seinigen. Mit ihren von Schweiß glühenden Händen ergriff sie seine kalten Hände und drückte sie an ihr Gesicht.
»Geh nicht weg, geh nicht weg! Ich fürchte mich nicht, ich fürchte mich nicht!« sagte sie hastig. »Mama, nehmen Sie mir die Ohrringe ab; sie belästigen mich. Du fürchtest dich doch nicht? Schnell, schnell, Jelisaweta Petrowna ...«
Sie sprach hastig, ganz hastig und versuchte zu lächeln. Aber auf einmal verzerrte sich ihr Gesicht, und sie stieß ihn von sich zurück.
»Nein, das ist entsetzlich! Ich sterbe, ich sterbe! Geh, geh!« schrie sie, und wieder ertönte dasselbe unnatürliche, grauenhafte Schreien.
Ljewin faßte sich an den Kopf und lief aus dem Zimmer hinaus.
»Es ist nichts Schlimmes, es ist nichts Schlimmes, es geht alles gut!« rief ihm Dolly nach.
Aber da mochte jemand sagen, was er wollte, Ljewin wußte, daß jetzt alles verloren war. Den Kopf gegen den Türpfosten gelehnt, stand er im Nebenzimmer und hörte jemand in einer Weise kreischen und heulen, wie es seinen Ohren ganz fremd war, und er wußte, was da so schrie, das war ehemals seine Kitty gewesen. Nach dem Kinde trug er schon längst kein Verlangen mehr. Er haßte jetzt dieses Kind sogar. Sein Wunsch ging jetzt nicht einmal darauf, daß sie am Leben bleiben, sondern nur darauf, daß diese furchtbaren Leiden aufhören möchten.
»Doktor, was ist denn das? Was ist denn das? Mein Gott!« rief er und ergriff den hereinkommenden Arzt bei der Hand.
[203] »Es geht zu Ende«, antwortete der Arzt. Sein Gesicht war, als er das sagte, so ernst, daß Ljewin dieses »es geht zu Ende« in dem Sinne von »sie stirbt« auffaßte.
Seiner Sinne nicht mächtig, lief er in das Schlafzimmer. Das erste, was er sah, war Jelisaweta Petrownas Gesicht. Es sah noch finsterer und strenger aus. Kittys Gesicht war nicht da. An der Stelle, wo dieses Gesicht früher gewesen war, befand sich etwas Furchtbares, furchtbar wegen der krampfhaften Verzerrung wie auch wegen der Laute, die von dort herkamen. Er warf sich mit dem Kopfe gegen das Holz der Bettstelle und meinte, das Herz müßte ihm vor Weh zerspringen. Das schreckliche Schreien schwieg keinen Augenblick, es wurde noch immer schrecklicher; dann, als hätte es die äußerste Grenze des Schrecklichen erreicht, verstummte es plötzlich. Ljewin traute seinen Ohren nicht; aber es war kein Zweifel: das Schreien war verstummt, und er hörte eine leise Geschäftigkeit, ein Rascheln, schnelle Atemzüge, und Kittys lebendige, zärtliche, glückliche Stimme sagte leise und fast versagend: »Es ist zu Ende.«
Er hob den Kopf. Sie hatte die Arme kraftlos auf die Bettdecke sinken lassen und lag in überraschender Schönheit still da; schweigend blickte sie ihn an; sie wollte lächeln, aber sie konnte es nicht.
Und plötzlich fühlte Ljewin sich aus jener geheimnisvollen, schrecklichen, fremden Welt, in der er diese zweiundzwanzig Stunden gelebt hatte, in die frühere, bekannte Welt zurückversetzt, die aber jetzt in einem neuen, so hellen Glanze des Glückes erstrahlte, daß er es nicht ertragen konnte. Die so lange straff angespannten Saiten rissen sämtlich. Ein Schluchzen und Freudentränen, auf die er gar nicht gefaßt gewesen war, überkamen ihn, seinen ganzen Körper erschütternd, mit solcher Gewalt, daß sie ihn lange Zeit am Sprechen hinderten.
Er fiel vor dem Bett auf die Knie, hielt die Hand seiner Frau an seine Lippen und küßte sie wieder und wieder, und diese Hand antwortete durch eine schwache Bewegung der Finger auf seine Küsse. Unterdessen aber flackerte am Fußende des Bettes in Jelisaweta Petrownas geschickten Händen wie das Flämmchen über einem Nachtlämpchen, noch unsicher, das Leben eines menschlichen Wesens, das vorher noch nicht da war und das ebenso wie alle anderen, mit demselben Rechte und demselben persönlichen Interesse, zu leben und seinesgleichen zu zeugen bestimmt war.
»Es lebt, es lebt! Und noch dazu ein Knabe! Seien Sie ganz unbesorgt!« hörte Ljewin die Hebamme sagen, die mit zitternder Hand dem Kinde einen klatschenden Schlag auf den Rücken gab.
[204] »Mama, ist es wahr?« fragte Kitty.
Nur ein Schluchzen der Fürstin gab ihr Antwort.
Und mitten in dem Schweigen ertönte als eine jeden Zweifel ausschließende Antwort auf die Frage der jungen Mutter eine ganz andere Stimme als alle die gedämpft sprechenden im Zimmer. Es war der kecke, dreiste, rücksichtslose Schrei eines neuen menschlichen Wesens, das sich, ohne daß man gewußt hätte woher, eingefunden hatte.
Wenn jemand ein Weilchen vorher zu Ljewin gesagt hätte, Kitty sei gestorben und er selbst auch, und sie hätten Kinder, die Engel seien, und Gott stehe unmittelbar vor ihren Augen da, so hätte er sich über nichts dabei gewundert; aber jetzt, wo er in die Welt der Wirklichkeit zurückgekehrt war, bedurfte es für ihn einer großen Anstrengung der Denkkraft, um zu begreifen, daß sie lebte und gesund war und daß dieses so verzweifelt schreiende Wesen sein Sohn war. Kitty lebte, ihre Qualen hatten ein Ende gefunden. Und er war unbeschreiblich glücklich. Daß Kitty gerettet war, das verstand er, und das machte ihn vollkommen glücklich. Aber das Kind? Woher war das gekommen? Wozu war es da? Wer war es? ... In diesen Gedanken konnte er sich durchaus nicht hineinfinden. Das Kind erschien ihm als etwas Überflüssiges, Unnötiges, und er vermochte sich lange nicht an diesen Zuwachs zu gewöhnen.
Am Morgen zwischen neun und zehn Uhr saßen der alte Fürst Sergei Iwanowitsch und Stepan Arkadjewitsch bei Ljewin und unterhielten sich, nachdem sie über die Wöchnerin geredet hatten, nun auch von andersartigen Gegenständen. Ljewin hörte ihnen zu und dachte während dieser Gespräche unwillkürlich an die Vergangenheit, an die Zeit vor dem heutigen Morgen, er dachte auch an sich selbst, wer und was er noch gestern, vor diesem Ereignis, gewesen war. Es war ihm, als seien seitdem hundert Jahre vergangen. Er fühlte sich auf einer unerreichbaren Höhe, von der er erst mit bewußter Absicht hinabsteigen mußte, um diejenigen, mit denen er sprach, nicht zu verletzen. Er redete, dachte aber dabei unaufhörlich an seine Frau, an alle Einzelheiten ihres jetzigen Zustandes, und an seinen Sohn, bemüht, sich an den Gedanken, daß dieser da sei, zu gewöhnen. Das gesamte Frauenwesen, das schon nach seiner Verheiratung für ihn eine neue, ihm bis dahin unbekannte Wichtigkeit erhalten hatte, wuchs jetzt in seiner Vorstellung zu einer solchen[205] Höhe heran, daß er es mit seiner Einbildungskraft nicht mehr umfassen konnte. Er hörte das Gespräch über das gestrige Mahl im Klub mit an und dachte: ›Was mag sie jetzt tun? Ob sie wohl eingeschlafen ist? Wie mag es ihr gehen? Was mag sie denken? Ob wohl unser Sohn Dmitri schreit?‹ Und mitten im Gespräch, mitten in einem Satze, den einer sprach, sprang er auf und ging aus dem Zimmer.
»Laß mir sagen, ob ich zu ihr hinein kann«, rief ihm der alte Fürst zu.
»Schön, sofort!« erwiderte Ljewin, ohne stehenzubleiben, und eilte zu Kitty.
Sie schlief nicht, sondern redete leise mit ihrer Mutter; sie entwarfen Pläne für die bevorstehende Taufe.
Sauber zurechtgemacht, gekämmt, in einem hübschen Häubchen mit etwas Himmelblauem daran, die Arme auf der Bettdecke ausgestreckt, so lag sie auf dem Rücken da, und als sie seinem Blick begegnete, zog sie ihn mit dem ihrigen zu sich heran. Ihr auch so schon heller Blick wurde immer noch heller, je mehr ihr Mann sich ihr näherte. Auf ihrem Gesicht hatte sich jener Übergang vom Irdischen zum Überirdischen vollzogen, den man häufig auf dem Gesicht Verstorbener wahrnimmt; aber da bedeutet diese Miene den Abschied von den Zurückbleibenden, hier bedeutete sie die Begrüßung eines neuen Ankömmlings. Wieder wurde sein Herz von einer Erregung ergriffen, ähnlich der, die er im Augenblick ihrer Entbindung durchgemacht hatte. Kitty ergriff seine Hand und fragte ihn, ob er geschlafen habe. Er war nicht imstande zu antworten und wandte sich im Bewußtsein seiner Schwäche von ihr ab.
»Ich habe ein Weilchen geschlummert, Konstantin!« sagte sie. »Und jetzt ist mir so wohl.«
Sie sah ihn an; aber auf einmal änderte sich der Ausdruck ihres Gesichtes.
»Gebt ihn mir her«, sagte sie, als sie das Quäken des Kindes hörte. »Geben Sie ihn mir her, Jelisaweta Petrowna; er soll ihn auch sehen.«
»Ei gewiß, der Papa soll ihn auch sehen«, erwiderte Jelisaweta Petrowna, indem sie ein sonderbares, rotes, zappelndes Ding in die Höhe hob und näher brachte. »Aber einen Augenblick Geduld! Wir wollen uns erst zurechtmachen.« Und Jelisaweta Petrowna legte dieses rote, zappelnde Ding auf das Bett und machte sich daran, es auszuwickeln, mit irgend etwas zu bestreuen und wieder einzuwickeln, wobei sie es mit einem Finger hob und drehte.
Beim Anblick dieses winzigen, kläglichen Geschöpfchens [206] strengte Ljewin sich vergeblich an, in seinem Herzen irgendwelche Spuren väterlicher Liebe zu ihm zu entdecken. Er empfand gegen dieses kleine Wesen nur eine Art von Widerwillen. Aber als es nackt dalag und die dünnen, ach, so dünnen Ärmchen ein Weilchen sichtbar waren und die safranfarbenen Füßchen, auch diese mit Zehen versehen, und sogar mit einer großen Zehe, die sich vor den andern auszeichnete, und als er sah, wie Jelisaweta Petrowna diese sich sträubenden Ärmchen wie weiche Sprungfedern zusammendrückte und in die leinenen Hüllen sperrte, da überkam ihn ein solches Mitleid mit diesem Geschöpfchen und eine solche Angst, sie könne ihm Schaden tun, daß er ihr die Hand festhielt.
Jelisaweta Petrowna lachte.
»Seien Sie unbesorgt, seien Sie unbesorgt!«
Als das Kind zurechtgemacht und in ein festes Püppchen verwandelt war, schaukelte Jelisaweta Petrowna es hin und her, wie wenn sie auf ihr Werk stolz wäre, und trat dann mit dem Kinde ein wenig zurück, damit Ljewin seinen Sohn in seiner ganzen Schönheit betrachten könne.
Auch Kitty blickte von der Seite unverwandt zu dem Kinde hin. »Gebt ihn mir, gebt ihn mir!« sagte sie und versuchte sogar, sich aufzurichten.
»Was tun Sie, Katerina Alexandrowna? Sie dürfen sich nicht so bewegen! Warten Sie ein Augenblickchen; ich will ihn Ihnen gleich reichen. Erst wollen wir uns mal dem Papachen vorstellen, was wir für ein Prachtkerlchen sind.«
Und Jelisaweta Petrowna hob auf der einen Hand (die andere stützte nur mit den Fingern von hinten das hin und her wackelnde Köpfchen) dieses seltsame, rote, wacklige Geschöpfchen, dessen Kopf sich hinter dem Rande des Steckkissens verkroch, seinem Vater entgegen. Aber es war auch eine Nase da, und schielende Augen, und schmatzende Lippen.
»Ein wunderschönes Kind!« sagte Jelisaweta Petrowna.
Ljewin seufzte bedrückt. Dieses wunderschöne Kind flößte ihm nur ein Gefühl des Widerwillens und des Mitleids ein. Das war ganz und gar nicht das Gefühl, das er erwartet hatte.
Er wendete sich ab, während Jelisaweta Petrowna das Kind an die ihm noch ungewohnte Mutterbrust legte.
Auf einmal veranlaßte ihn ein Lachen, den Kopf aufzuheben. Es war Kitty gewesen, die so gelacht hatte. Das Kind hatte die Brust angenommen.
»Na, nun ist's aber genug, nun ist's genug«, sagte Jelisaweta Petrowna; aber Kitty ließ den Kleinen nicht los. Er schlief in ihren Armen ein.
[207] »Nun sieh ihn einmal jetzt an«, sagte Kitty und wendete ihm das Kind so zu, daß er es sehen konnte. Das greisenhafte Gesichtchen runzelte sich auf einmal noch mehr zusammen, und das Kind nieste.
Lächelnd und kaum imstande, die Tränen der Rührung zurückzuhalten, küßte Ljewin seine Frau und verließ das verdunkelte Zimmer.
Was er gegen dieses kleine Wesen empfand, war ganz und gar nicht das, was er erwartet hatte. Es lag in diesem Gefühle nichts Heiteres und Fröhliches; im Gegenteil, es war eine neue beängstigende Sorge hinzugekommen. Ljewin war sich bewußt, eine neue verwundbare Stelle bekommen zu haben. Und dieses Bewußtsein war ihm in der ersten Zeit so quälend, die Furcht, dieses hilflose Wesen könne Schmerz leiden, war bei ihm so mächtig, daß das sonderbare Gefühl einer sinnlosen Freude, ja eines gewissen Stolzes, als der Kleine geniest hatte, ganz davor zurücktrat.
Stepan Arkadjewitschs Finanzen befanden sich in sehr üblem Zustande.
Das Geld für zwei Drittel des Waldes war schon längst verbraucht, und mit einem Abzug von zehn Prozent hatte er von dem Händler auch fast den ganzen Preis für das letzte Drittel im voraus erhalten und gleichfalls ausgegeben. Mehr Geld gab der Händler nicht her, um so weniger, da in diesem Winter Darja Alexandrowna zum erstenmal in entschiedener Weise ihr Recht auf ihr Vermögen geltend gemacht und sich geweigert hatte, über den Empfang des Geldes für das letzte Drittel des Waldes auf dem Kaufvertrag durch ihre Unterschrift zu quittieren. Das ganze Gehalt ging für Haushaltsausgaben und zur Bezahlung der nie aufhörenden kleinen Schulden drauf. Es war überhaupt kein Geld mehr da.
Das war unangenehm und peinlich, und nach Stepan Arkadjewitschs Ansicht durfte das so nicht weitergehen. Die Ursache dieses Übelstandes war nach seiner Auffassung darin zu suchen, daß er ein zu geringes Gehalt bezog. Die Stellung, die er bekleidete, war ja vor fünf Jahren ganz gut gewesen, aber seitdem hatten sich die Verhältnisse geändert. Petrow erhielt als Direktor einer Bank zwölftausend Rubel, Swentizki als Mitglied eines Verwaltungsrates siebzehntausend, Mitin, der eine Bank gegründet hatte, fünfzigtausend. ›Offenbar habe ich geschlafen, und man hat mich vergessen‹, sagte sich Stepan Arkadjewitsch [208] im stillen. Und so fing er denn an, umherzuhorchen und Umschau zu halten, spürte gegen Ende des Winters eine sehr gute Stellung aus und leitete den Angriff auf sie ein, zuerst von Moskau aus durch Vermittelung seiner Tanten, Onkel und Freunde, und dann, als die Sache reif war, reiste er im Frühling selbst nach Petersburg. Es war eine der Stellen, deren es in allen möglichen Abstufungen von tausend bis zu fünfzigtausend Rubeln Jahresgehalt zu jener Zeit mehr gab als früher, eine jener fetten Stellen, bei denen auch noch allerlei Spenden von seiten der Klienten vorkamen; es war die Stelle eines Ausschußmitgliedes der vereinigten Agentur des Instituts für wechselseitigen Kredit südrussischer Eisenbahnen und Banken. Dieser Posten erforderte, wie alle derartigen Posten, eine so gewaltige Sachkenntnis und Arbeitskraft, wie man sie schwer bei einem Manne vereinigt finden konnte. Da es nun einen Mann, der diese Eigenschaften in sich vereinigt hätte, nicht gab, so war es doch unter allen Umständen besser, wenn ein ehrlicher Mann diesen Posten einnahm als ein unehrlicher. Und Stepan Arkadjewitsch war nicht nur ein ehrlicher Mann (ohne Betonung des Eigenschaftswortes), sondern er war auch ein ehrlicher Mann (mit Betonung des Eigenschaftswortes), in jenem besonderen Sinne, den dieses Wort in Moskau hat, wenn man sagt: ein ehrlicher Politiker, ein ehrlicher Schriftsteller, eine ehrliche Zeitung, ein ehrliches Institut, eine ehrliche Richtung, womit man nicht nur sagen will, daß der betreffende Mann oder das betreffende Institut nicht unehrlich sind, sondern auch, daß sie die Fähigkeit besitzen, der Regierung bei Gelegenheit einen Nadelstich zu versetzen. Stepan Arkadjewitsch bewegte sich in Moskau in den Kreisen, in denen jener Ausdruck geläufig war, galt dort für einen ehrlichen Mann und hatte daher mehr Anspruch auf diese Stelle als andere Leute.
Diese Stelle brachte jährlich sieben- bis zehntausend Rubel ein, und Oblonski konnte sie bekleiden, ohne sein Staatsamt aufzugeben. Ob er sie erhielt, das hing von zwei Ministerien, von einer Dame und von zwei Juden ab, und obgleich Stepan Arkadjewitsch bei all diesen Leuten durch seine Helfer bereits hatte vorarbeiten lassen, so mußte er sie doch auch noch persönlich in Petersburg aufsuchen. Außerdem hatte Stepan Arkadjewitsch seiner Schwester Anna versprochen, Karenin zu einer deutlichen Antwort wegen der Ehescheidung zu bringen. So reiste er denn, nachdem ihm Dolly auf seine Bitte fünfzig Rubel gegeben hatte, nach Petersburg ab.
Stepan Arkadjewitsch saß in Karenins Arbeitszimmer und hörte zu, als dieser ihm seine Denkschrift über die Ursachen des [209] üblen Zustandes der russischen Finanzen vorlas; aber er wartete nur auf den Augenblick, wo die Vorlesung zu Ende sein würde, um von seiner eigenen Angelegenheit sowie von der Angelegenheit Annas anzufangen.
»Ja, das ist sehr richtig«, bemerkte er, als Alexei Alexandrowitsch den Klemmer, ohne den er nicht mehr lesen konnte, abnahm und seinen ehemaligen Schwager fragend anblickte, »das ist sehr richtig in allem einzelnen; aber die Grundforderung unserer Zeit ist doch die Freiheit.«
»Allerdings, aber ich stelle einen anderen Grundsatz auf, in dem der Grundsatz der Freiheit mit eingeschlossen ist«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch, indem er einen besonderen Ton auf das Wort »eingeschlossen« legte, und setzte den Klemmer wieder auf, um seinem Zuhörer die Stelle, wo ebendies ausgeführt war, noch einmal vorzulesen.
Er blätterte in dem schön geschriebenen, mit außerordentlich breiten, weißen Rändern versehenen Manuskripte und las die durchaus einleuchtende Stelle noch einmal vor.
»Ich will kein Protektionssystem, das nur einzelnen Privatpersonen Vorteil bringt, sondern eine Verwaltung, die auf das Gemeinwohl, in gleicher Weise auf das Wohl der niederen und der höheren Schichten der Bevölkerung, gerichtet ist«, sagte er und sah Oblonski über den Klemmer hinweg an. »Aber sie sind nicht imstande, das einzusehen, sie haben nur persönliche Vorteile im Auge und begeistern sich für leere Worte.«
Stepan Arkadjewitsch wußte, daß, wenn Karenin davon zu reden anfing, was sie täten und dächten (womit er jene Männer meinte, die sich mit seinen Plänen nicht befreunden mochten und die Ursache alles Übels in Rußland waren), daß dann die Auseinandersetzung sich ihrem Ende näherte, und daher ließ er jetzt gern den Grundsatz der Freiheit fallen und erklärte sein völliges Einverständnis. Alexei Alexandrowitsch verstummte und blätterte nachdenklich in seinem Manuskript.
»Ach, apropos«, begann nun Stepan Arkadjewitsch, »ich hatte dich auch noch bitten wollen, bei Gelegenheit, wenn du einmal mit Pomorski zusammenkommen solltest, ihm ein Wörtchen darüber zu sagen, daß ich den lebhaften Wunsch habe, die demnächst zur Besetzung kommende Stelle eines Ausschußmitgliedes der Vereinigten Agentur des Institutes für wechselseitigen Kredit südrussischer Eisenbahnen und Banken zu erhalten.« Die Bezeichnung dieses Postens, dessen Erlangung ihm sosehr am Herzen lag, war ihm bereits ganz geläufig, und er sprach sie rasch und ohne Fehler aus.
Alexei Alexandrowitsch erkundigte sich danach, worin die [210] Tätigkeit dieses neuen Ausschusses eigentlich bestehe, und wurde nachdenklich. Er überlegte, ob auch die Tätigkeit dieses Ausschusses nicht etwas enthalte, was mit seinen Plänen im Widerspruch stände. Aber da die Tätigkeit dieser neuen Einrichtung höchst verwickelt war und seine eigenen Pläne ein außerordentlich weites Gebiet umfaßten, so vermochte er nicht so schnell beides vergleichend gegeneinanderzuhalten und sagte, indem er seinen Klemmer abnahm:
»Selbstverständlich kann ich mit ihm darüber sprechen; aber warum wünschst du denn eigentlich diese Stelle zu erhalten?«
»Es ist ein gutes Gehalt, bis zu neuntausend Rubel, und meine Mittel ...«
»Neuntausend Rubel«, wiederholte Alexei Alexandrowitsch und machte ein finsteres Gesicht.
Die hohe Ziffer dieses Gehaltes erinnerte ihn daran, daß in dieser Hinsicht die Tätigkeit, die Stepan Arkadjewitsch für sich in Aussicht nahm, mit dem Hauptgedanken seiner Pläne im Widerspruche stehen würde, da diese immer die Richtung zur Sparsamkeit hatten.
»Ich finde – und ich habe darüber auch eine Denkschrift verfaßt –, daß diese riesigen Gehälter der Jetztzeit ein Zeichen der wirtschaftlichen Fehler unserer Verwaltung sind.«
»Aber was ist dagegen zu sagen?« entgegnete Stepan Arkadjewitsch. »Nun freilich, so ein Bankdirektor bekommt zehntausend Rubel; aber das ist er doch auch wert. Oder ein Ingenieur bekommt zwanzigtausend. Aber dafür ist es doch auch eine hochwichtige Tätigkeit; das ist nicht zu leugnen!«
»Nach meiner Anschauung ist das Gehalt der Preis für eine Ware und muß daher dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterliegen. Wenn aber ein Gehaltssatz von diesem Gesetze abweicht, zum Beispiel wenn ich sehe, daß zwei Ingenieure von gleichem Wissen und gleicher Befähigung von der Hochschule abgehen und nun der eine vierzigtausend Rubel bezieht, während der andere sich mit zweitausend begnügen muß, oder daß als Bankdirektoren mit gewaltigem Gehalte Juristen und Husarenoffiziere, Leute ohne alle Fachkenntnisse, angestellt werden: so schließe ich daraus, daß in solchen Fällen das Gehalt nicht nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, sondern geradezu nach persönlichen Rücksichten festgesetzt wird. Und da liegt ein Mißbrauch vor, der sowohl an und für sich seine ernste Bedeutung hat wie auch auf den Staatsdienst eine schädliche Rückwirkung ausübt. Ich bin der Ansicht ...«
Stepan Arkadjewitsch beeilte sich, seinen Schwager zu unterbrechen.
[211] »Gewiß, aber du wirst doch zugeben müssen, daß hier ein neues, zweifellos nützliches Unternehmen ins Leben tritt. Das ist doch nicht zu leugnen: eine hochwichtige Tätigkeit! Es wird dabei besonderer Wert auf eine ehrliche Geschäftsführung gelegt«, sagte Stepan Arkadjewitsch mit starker Betonung des Eigenschaftswortes.
Aber Alexei Alexandrowitsch kannte die Moskauer Bedeutung des Wortes »ehrlich« nicht.
»Die Ehrlichkeit ist nur eine negative Eigenschaft«, erwiderte er.
»Aber du würdest mir doch einen großen Gefallen tun«, sagte Stepan Arkadjewitsch, »wenn du bei Pomorski ein gutes Wort für mich einlegen wolltest. Nur so gelegentlich, gesprächsweise ...«
»Ich möchte übrigens meinen, daß das mehr von Bolgarinow abhängt«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch.
»Bolgarinow ist seinerseits vollständig einverstanden«, versetzte Stepan Arkadjewitsch errötend.
Stepan Arkadjewitsch errötete bei der Erwähnung Bolgarinows, weil er am Vormittage dieses Tages bei dem Juden Bolgarinow gewesen war und dieser Besuch ihm eine unangenehme Erinnerung hinterlassen hatte.
Stepan Arkadjewitsch glaubte fest, daß das Institut, dem er seine Dienste widmen wollte, ein neues, hochwichtiges, ehrliches Institut sei; aber als ihn heute morgen Bolgarinow offenbar absichtlich zwei Stunden lang mit anderen Bittstellern im Wartezimmer hatte sitzen lassen, da war ihm die Sache auf einmal unbehaglich geworden.
Ob es ihm nun unbehaglich gewesen war, daß er, Fürst Oblonski, ein Nachkomme Ruriks, zwei Stunden lang in dem Wartezimmer eines Juden warten mußte, oder daß er zum erstenmal in seinem Leben dem Vorbilde seiner Ahnen, nur dem Staate zu dienen, untreu wurde und eine andere Laufbahn einschlug: unbehaglich war es ihm jedenfalls gewesen, sehr unbehaglich. Während dieser zweistündigen Wartezeit bei Bolgarinow hatte Stepan Arkadjewitsch große Anstrengungen gemacht, das unangenehme Gefühl, das er empfand, vor anderen, ja vor sich selbst zu verbergen: er war munteren Schrittes, seinen Backenbart zurechtstreichend, im Wartezimmer auf und ab gegangen, hatte sich mit anderen Bittstellern in Gespräche eingelassen und über einen Wortwitz nachgedacht, den er demnächst über sein Warten bei einem Juden an geeigneter Stelle vorbringen wollte.
Aber doch war ihm diese ganze Zeit über unbehaglich zumute gewesen, und er hatte sich geärgert, ohne selbst recht zu wissen [212] warum: ob deshalb, weil er mit dem Wortwitz nicht ordentlich zurechtkommen konnte oder aus irgendeinem anderen Grunde. Nachdem ihn dann Bolgarinow endlich empfangen hatte, äußerlich mit ganz besonderer Höflichkeit, aber innerlich offenbar über die dem vornehmen Besucher angetane Demütigung triumphierend, und ihm eigentlich, wenn man's genauer ansah, eine abschlägige Antwort erteilt hatte, da hatte sich Stepan Arkadjewitsch beeilt, den unangenehmen Vorfall möglichst schnell zu vergessen. Jetzt aber, wo er wieder daran denken mußte, errötete er.
»Und nun habe ich da noch eine Angelegenheit; du weißt schon, worum es sich handelt ... um Anna«, sagte Stepan Arkadjewitsch, nachdem er ein Weilchen geschwiegen und diese unangenehme Erinnerung von sich abgeschüttelt hatte.
Kaum hatte Oblonski Annas Namen ausgesprochen, als Alexei Alexandrowitschs Gesicht sich vollständig veränderte: an die Stelle der bisherigen Lebhaftigkeit trat ein Ausdruck der Ermüdung und eine leichenartige Starrheit.
»Was wünschen Sie eigentlich von mir?« fragte er, indem er sich auf dem Sessel hin und her drehte und seinen Klemmer zusammenlegte.
»Eine Entscheidung, irgendeine Entscheidung, Alexei Alexandrowitsch. Ich wende mich jetzt an dich« (Stepan Arkadjewitsch hatte eigentlich fortfahren wollen: »nicht als den beleidigten Gatten«, aber da er befürchtete, dadurch die ganze Sache zu verderben, so ersetzte er dies durch eine andere Wendung), »nicht in deiner Eigenschaft als Staatsmann« (was gar nicht hinpaßte), »sondern einfach in deiner Eigenschaft als Mensch und als guter Mensch und als Christ. Du mußt Mitleid mit ihr haben.«
»Was soll das heißen? Inwiefern denn eigentlich?« fragte Karenin leise.
»Ja, du mußt Mitleid mit ihr haben. Wenn du sie gesehen hättest, wie ich sie gesehen habe (ich habe den ganzen Winter mit ihr zusammen verlebt), so würdest du dich ihrer erbarmen. Ihre Lage ist furchtbar, geradezu furchtbar.«
»Ich habe gemeint«, antwortete Alexei Alexandrowitsch mit noch höherer, beinah kreischender Stimme, »Anna Arkadjewna hätte jetzt alles, was sie sich selbst wünschte.«
»Ach, Alexei Alexandrowitsch, wir wollen doch jetzt keine Anklagen erheben, um Gottes willen nicht! Was geschehen ist, [213] ist geschehen, und du weißt ja selbst, was sie wünscht und worauf sie wartet: auf die Scheidung.«
»Ich habe angenommen, Anna Arkadjewna verzichte auf die Scheidung in dem Falle, daß ich von ihr verlange, mir den Sohn zu lassen. In diesem Sinne habe ich seinerzeit geantwortet und meinte, die Sache sei nun abgetan. Ich halte sie für abgetan«, kreischte Alexei Alexandrowitsch.
»Aber um Gottes willen, rege dich doch nicht auf!« sagte Stepan Arkadjewitsch und berührte leise das Knie des Schwagers. »Die Sache ist nicht abgetan. Wenn du mir erlaubst, die wichtigsten Punkte noch einmal zusammenzustellen, so war der Hergang dieser: als ihr euch trenntet, zeigtest du dich so großmütig, wie es nur menschenmöglich war; du bewilligtest ihr alles: die Freiheit, sogar die Scheidung. Sie hat das dankbar gewürdigt. Nein, nein, bezweifle das nicht, es ist so. Sie hat es wirklich dankbar gewürdigt. In dem Grade, daß sie in jenen ersten Augenblicken, erfüllt von dem Bewußtsein ihrer Schuld dir gegenüber, nicht alles überlegte und nicht alles überlegen konnte. Aber das nüchterne Leben und die Zeit haben ihr bewiesen, daß ihre Lage qualvoll und unerträglich ist.«
»Anna Arkadjewnas Leben kann für mich kein Interesse haben«, unterbrach ihn Alexei Alexandrowitsch, indem er die Augenbrauen in die Höhe zog.
»Gestatte mir, das zu bezweifeln«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch mit sanfter Stimme. »Ihre Lage ist für sie qualvoll und bringt dabei keinem anderen den geringsten Vorteil. Du wirst sagen: sie hat das verdient. Sie weiß es, und darum wendet sie sich nicht selbst als Bittende an dich; sie spricht es geradezu aus, daß sie nicht wagt, dich um etwas zu bitten. Aber ich und wir alle, die wir mit ihr verwandt sind und sie lieben, wir bitten dich, wir flehen dich an. Wozu soll sie so schwer leiden? Wer hat davon einen Vorteil?«
»Erlauben Sie, es scheint, daß Sie mich in die Rolle des Angeklagten drängen wollen«, sagte Alexei Alexandrowitsch.
»Aber nein, nein doch, durchaus nicht, verstehe mich nur recht«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch und berührte wieder die Hand seines Schwagers, als ob er überzeugt wäre, daß diese Berührung ihn besänftigen müsse. »Ich sage nur das eine: ihre Lage ist qualvoll, und du kannst sie ihr erleichtern, und du verlierst nichts dabei. Ich werde dir alles so einrichten, daß du gar nichts davon merkst. Du hast es ja doch auch versprochen.«
»Dieses Versprechen hatte ich vorher gegeben. Und ich nahm nun an, daß durch den Punkt wegen des Sohnes die Sache entschieden sei. Und außerdem hoffte ich, Anna Arkadjewna würde [214] soviel Großmut besitzen ...« Alexei Alexandrowitsch, der ganz blaß geworden war, brachte das nur unter großer Anstrengung mit bebenden Lippen hervor.
»Sie stellt alles deiner Großmut anheim. Nur um das eine bittet sie dich flehentlich, sie aus der unerträglichen Lage, in der sie sich jetzt befindet, zu erlösen. Um den Sohn bittet sie nicht mehr. Alexei Alexandrowitsch, du bist ja doch ein guter Mensch. Versetze dich einen Augenblick in ihre Lage. Die Frage der Scheidung ist für sie bei ihrer jetzigen Lage eine Frage, die über Leben und Tod entscheidet. Hättest du früher nicht versprochen, ihr die Scheidung zu gewähren, so hätte sie sich in ihre Lage gefunden und wäre auf dem Lande wohnen geblieben. Aber du hattest dieses Versprechen gegeben, und nun schrieb sie an dich und siedelte nach Moskau über. Und da lebt sie nun in Moskau, wo jedes Zusammentreffen mit früheren Bekannten ihr einen Messerstich ins Herz versetzt, schon sechs Monate und wartet von einem Tage zum anderen auf die Entscheidung. Das ist ja ganz dasselbe, wie wenn man einen zum Tode Verurteilten monatelang mit der Schlinge um den Hals in Gewahrsam hielte und ihn bald den Tod, bald die Begnadigung erwarten ließe. Habe Mitleid mit ihr, und dann will ich es übernehmen, alles so einzurichten ... Vos scrupules 1 ...«
»Davon spreche ich nicht«, unterbrach ihn Alexei Alexandrowitsch voll Widerwillen. »Aber vielleicht habe ich etwas versprochen, was ich nicht berechtigt war zu versprechen.«
»Also willst du dein Versprechen zurücknehmen?«
»Ich habe mich nie geweigert, ein Versprechen zu erfüllen, sofern es möglich war; aber ich möchte Zeit haben, um zu überlegen, wieweit die Erfüllung dieses Versprechens möglich ist.«
»Nein, Alexei Alexandrowitsch«, rief Oblonski aufspringend, »das will ich nicht glauben! Sie ist so tief unglücklich, wie es eine Frau überhaupt sein kann, und du kannst ihr eine solche Bitte nicht abschlagen.«
»Soweit die Erfüllung meines Versprechens möglich ist. Vous professez d'être un libre penseur. 2 Aber ich als gläubiger Mensch kann in einer so wichtigen Sache nicht gegen das christliche Gebot handeln.«
»Aber in der Christenheit und auch bei uns, soviel ich weiß, ist doch die Scheidung gestattet«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. »Auch unsere Kirche gestattet die Scheidung. Und wir sehen ...«
»Gestattet ist sie; aber nicht in diesem Sinne.«
»Alexei Alexandrowitsch, ich erkenne dich gar nicht wieder«, begann Oblonski nach einer kurzen Pause von neuem. »Hast [215] du denn nicht (wir haben dich ja doch deswegen dankbar bewundert) alles verziehen, und warst du nicht, gerade von deinem christlichen Gefühle getrieben, bereit, jedes Opfer zu bringen? Du hast ja selbst gesagt, du wolltest auch den Rock hingeben, wenn man dir den Mantel nehme, und nun ...«
»Ich bitte Sie«, sagte Alexei Alexandrowitsch, plötzlich aufstehend, mit zitternder Kinnlade und dünner, pfeifender Stimme, »ich bitte Sie, dieses Gespräch ... dieses Gespräch abzubrechen.«
»Oh, oh! Nun, verzeih mir, verzeih mir, wenn ich dir weh getan habe«, antwortete Stepan Arkadjewitsch mit einem verlegenen Lächeln und streckte ihm die Hand hin. »Aber ich habe doch nur als Abgesandter meinen Auftrag ausgerichtet.«
Alexei Alexandrowitsch reichte ihm die Hand, dachte ein Weilchen nach und sagte dann:
»Ich muß es überlegen und nach einem Zeichen suchen. Übermorgen werde ich Ihnen meine endgültige Antwort geben«, fügte er hinzu; es schien ihm ein Gedanke gekommen zu sein.
Stepan Arkadjewitsch war eben im Begriff wegzugehen, als Kornei hereinkam und meldete:
»Sergei Alexejewitsch!«
›Wer ist das, Sergei Alexejewitsch?‹ wollte Stepan Arkadjewitsch schon fragen, besann sich jedoch noch rechtzeitig.
»Ach, der kleine Sergei!« rief er. Und bei sich dachte er: ›Also der heißt jetzt Sergei Alexejewitsch. Und ich glaubte, es wäre der Subdirektor.‹ Und zugleich fiel ihm ein: ›Anna hat mich ja gebeten, ihn mir anzusehen, was er macht und wie es ihm geht.‹
Und er erinnerte sich an den schüchternen, mitleiderregenden Gesichtsausdruck, mit dem sie ihm beim Abschied gesagt hatte: »Du wirst ihn ja doch zu sehen bekommen. Bringe genau in Erfahrung, wo er lebt und wer um ihn ist. Und, Stiwa ... wenn es möglich wäre! Sollte es nicht möglich sein?« Stepan Arkadjewitsch hatte verstanden, was dieses »wenn es möglich wäre« bedeutete: wenn es möglich wäre, die Scheidung in der Weise zustande zu bringen, daß der Sohn ihr überlassen würde ... Aber jetzt sah Stepan Arkadjewitsch ein, daß daran überhaupt nicht zu denken sei. Indessen freute er sich trotzdem, seinen Neffen wiederzusehen.
Alexei Alexandrowitsch machte seinen Schwager darauf aufmerksam, daß mit dem Sohne niemals von der Mutter gesprochen [216] werde, und ersuchte ihn, ihrer mit keinem Worte Erwähnung zu tun.
»Er ist nach jenem Wiedersehen mit seiner Mutter, das wir nicht hatten vorhersehen können, sehr krank gewesen«, sagte Alexei Alexandrowitsch. »Wir fürchteten sogar für sein Leben. Aber eine verständige ärztliche Behandlung und Seebäder im Sommer haben seine Gesundheit wiederhergestellt, und jetzt habe ich ihn auf den Rat des Arztes auf die Schule gegeben. In der Tat hat der Umgang mit gleichaltrigen Kameraden auf ihn günstig gewirkt, und er ist jetzt völlig gesund und lernt gut.«
»Das ist aber ein strammer Kerl geworden! Nicht mehr der kleine Sergei, sondern ein großer Sergei Alexejewitsch!« sagte Stepan Arkadjewitsch lächelnd, während er den munter und ungezwungen eintretenden hübschen, breitschulterigen Knaben in dunkelblauer Jacke und langer Hose betrachtete. Der Knabe sah gesund und vergnügt aus. Er verbeugte sich vor dem Onkel wie vor einem Fremden; als er ihn aber dann erkannt hatte, errötete er und wendete sich eilig von ihm ab, als hätte ihn etwas gekränkt und geärgert. Dann trat er zu seinem Vater und reichte ihm einen Zettel mit den Zensuren, die er in der Schule erhalten hatte.
»Nun, das ist ja recht erfreulich«, sagte der Vater. »Du kannst wieder gehen.«
»Er ist magerer geworden und gewachsen und ist nun kein Kind mehr, sondern ein richtiger Junge; das freut mich recht«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Erinnerst du dich denn noch an mich?«
Der Knabe blickte schnell nach dem Vater.
»Ja, ich erinnere mich, mon oncle«, antwortete er. Er sah dabei seinen Onkel an, senkte dann aber sogleich wieder seinen Blick auf den Fußboden.
Der Onkel rief den Knaben zu sich heran und faßte ihn an der Hand.
»Nun, wie steht es? Wie geht es dir?« fragte er. Er hätte gern mit ihm ein Gespräch angeknüpft, wußte aber nicht recht, was er sagen sollte.
Der Knabe errötete und zog, ohne zu antworten, sachte seine Hand aus der des Onkels. Sobald Stepan Arkadjewitsch seine Hand losgelassen hatte, richtete er einen fragenden Blick auf seinen Vater und eilte dann wie ein freigelassener Vogel schnellen Schrittes aus dem Zimmer.
Ein Jahr war vergangen, seit Sergei seine Mutter zum letzten Male gesehen hatte. Seitdem hatte er nie mehr etwas über sie [217] gehört. Und im Laufe dieses Jahres war er in die Schule eingetreten und hatte Kameraden kennengelernt und sich mit ihnen befreundet. Jene sehnsüchtigen Gedanken und Erinnerungen an die Mutter, die ihn nach dem Wiedersehen mit ihr auf das Krankenlager geworfen hatten, beschäftigten ihn jetzt nicht mehr, und wenn sie doch einmal wieder bei ihm auftauchten, so bemühte er sich, sie zu verscheuchen, da er sich ihrer schämte und meinte, dergleichen schicke sich nur für Mädchen, aber nicht für einen Knaben, der in die Schule gehe. Er wußte, daß sein Vater und seine Mutter einen Streit miteinander gehabt und sich infolgedessen getrennt hatten, und wußte auch, daß über ihn bestimmt war, er solle bei dem Vater bleiben, und suchte sich an diesen Gedanken zu gewöhnen.
Als er den Onkel, der seiner Mutter im Gesicht ähnlich war, erblickt hatte, da war ihm dies unangenehm gewesen, weil dadurch bei ihm eben jene Erinnerungen wieder wachgerufen wurden, deren er sich schämen zu müssen glaubte. Und dieses unangenehme Gefühl war noch dadurch gesteigert worden, daß er aus einigen Worten, die er, an der Tür des Arbeitszimmers wartend, gehört hatte, und namentlich aus dem Gesichtsausdruck seines Vaters und seines Onkels gemerkt hatte, daß zwischen ihnen von der Mutter die Rede sei. Um nun seinem Vater, mit dem er zusammen lebte und von dem er abhing, nicht unrecht geben zu müssen, und besonders, um sich nicht jenem Gefühl zu überlassen, das er seiner für so wenig würdig hielt, hatte Sergei sich bemüht, diesen Onkel, der gekommen war, um seine Ruhe zu stören, nicht anzusehen und nicht an das zu denken, woran er durch ihn erinnert wurde.
Aber als Stepan Arkadjewitsch, der gleich nach ihm das Zimmer verlassen und ihn auf der Treppe erblickt hatte, ihn zu sich heranrief und fragte, was er in der Schule in der Zeit zwischen den Unterrichtsstunden mache, da wurde Sergei, auch weil der Vater nicht dabei war, gesprächiger.
»Wir spielen jetzt immer Eisenbahn«, antwortete er auf seine Frage. »Sehen Sie, das wird so gemacht: zwei setzen sich auf eine Bank. Das sind die Reisenden. Und einer steht auf der Bank, auf der die sitzen. Und alle anderen spannen sich davor, manche mit den Gürteln, manche auch nur mit den Händen, und dann geht es durch alle Säle. Die Türen machen wir schon vorher auf. Na, aber dabei Schaffner zu sein, das ist nicht leicht!«
»Das ist wohl der, der steht?« fragte Stepan Arkadjewitsch lächelnd.
»Ja, da muß man Mut haben und geschickt sein, besonders wenn der Zug auf einmal hält oder einer hinfällt.«
[218] »Ja, das ist keine Kleinigkeit«, sagte Stepan Arkadjewitsch und schaute traurig in diese lebhaften Augen, die der Knabe von der Mutter hatte und die nun nicht mehr rein kindlich, nicht mehr ganz unschuldsvoll blickten. Und obwohl er seinem Schwager versprochen hatte, nicht von Anna zu reden, so konnte er sich doch nicht überwinden.
»Denkst du noch an deine Mutter?« fragte er unvermittelt.
»Nein, ich denke nicht an sie«, murmelte Sergei hastig, wurde dunkelrot und schlug die Augen nieder. Und nun konnte der Onkel nichts mehr aus ihm herausbringen.
Eine halbe Stunde darauf fand der russische Hofmeister seinen Zögling noch immer auf der Treppe und konnte lange nicht daraus klug werden, ob er ergrimmt sei oder weine.
»Nun? Sie haben sich gewiß in der Schule beim Hinfallen weh getan?« sagte der Hofmeister. »Ich habe es ja immer gesagt, daß das ein gefährliches Spiel ist. Man müßte es dem Direktor anzeigen.«
»Wenn ich mir auch wirklich weh getan hätte, dann würde ich doch niemand etwas davon merken lassen. Das steht doch bombenfest.«
»Nun also, was ist denn los?«
»Ach, laßt mich in Ruhe! ... Ob ich daran denke oder nicht ... Was geht ihn das an? Wozu soll ich daran denken? Laßt mich in Ruhe!« rief er nicht dem Hofmeister, sondern der ganzen Welt zu.
Stepan Arkadjewitsch verbrachte in Petersburg, wie bei früheren Aufenthalten, so auch diesmal seine Zeit keineswegs müßig. Einerseits nahmen ihn seine geschäftlichen Angelegenheiten in Anspruch, das heißt die Scheidung seiner Schwester und die Bemühung um eine Stelle für sich; außerdem aber fühlte er, wie bei früheren Aufenthalten in Petersburg, das Bedürfnis, sich, wie er sagte, nach dem stockenden Moskauer Leben wieder aufzufrischen.
Moskau war trotz seiner cafés chantants 1 und seiner Omnibusse doch eigentlich nur ein stehender Sumpf. Diese Empfindung hatte Stepan Arkadjewitsch stets. Wenn er eine Weile in Moskau und namentlich im Kreise seiner Familie gelebt hatte, so fühlte er, daß sein Lebensmut zu sinken anfing; und wenn er lange, ohne einmal fortzureisen, in dieser Stadt gelebt hatte, dann kam es so weit, daß er sich über die Verstimmungen und Vorwürfe seiner Frau, über die Gesundheit und Erziehung der [219] Kinder und über kleine dienstliche Angelegenheiten zu beunruhigen begann; sogar über seine Schulden machte er sich dann Gedanken. Aber er brauchte nur nach Petersburg zu kommen und dort ein Weilchen in seinem Umgangskreise zu verkehren, wo man lebte, wirklich lebte und nicht nur vegetierte wie in Moskau, so waren alle diese trüben Gedanken verschwunden und wie Wachs am Feuer dahingeschmolzen.
Seine Frau? ... Erst heute hatte er ein Gespräch mit dem Fürsten Tschetschenski gehabt. Dieser Fürst hatte Frau und Kinder, erwachsene Söhne im Pagenkorps; aber daneben hatte er noch eine uneheliche Frau und auch von dieser mehrere Kinder. Und obgleich auch die erste Familie ganz nett und angenehm war, so fühlte sich der Fürst Tschetschenski doch in der zweiten Familie glücklicher. Er hatte sogar seinen ältesten Sohn in die zweite Familie eingeführt und äußerte sich zu Stepan Arkadjewitsch dahin, er fände, daß das seinem Sohne nützlich und für seine Entwicklung zuträglich sei. Was hätte man wohl dazu in Moskau gesagt?
Die Kinder? ... In Petersburg waren die Kinder den Vätern nicht hinderlich, das Leben zu genießen. Die Kinder wurden in Instituten erzogen, und man hatte hier nicht die wunderliche, in Moskau immer mehr um sich greifende Anschauung (Beispiel: Lwow), daß den Kindern alle Annehmlichkeiten des Lebens zukämen und auf das Teil der Eltern nur die Arbeit und die Sorgen fielen. Hier hatte man Verständnis dafür, daß der Mensch verpflichtet sei, für sich selbst zu leben, und zwar so, wie ein gebildeter Mensch eben leben muß.
Der Dienst? ... Der Dienst war hier gleichfalls nicht jene unerbittliche, hoffnungslose Tretmühle, in der man sich in Moskau abarbeitete; hier konnte man an der dienstlichen Tätigkeit Geschmack finden. Eine Begegnung in der Gesellschaft, eine erwiesene Gefälligkeit, ein treffendes Witzwort, die Kunst, allerlei Personen komisch nachzuahmen – das genügte, und man wurde auf einmal befördert, so wie dieser Brjanzew, mit dem Stepan Arkadjewitsch gestern zusammengetroffen war und der jetzt eines der höchsten Ämter bekleidete. Einer derartigen dienstlichen Tätigkeit konnte man Geschmack abgewinnen.
Ganz besonders aber wirkte die Auffassung, die man in Petersburg für Geldsachen hatte, auf Stepan Arkadjewitsch beruhigend. Bartnjanski, der, nach seiner Lebensweise zu urteilen, jährlich mindestens fünfzigtausend Rubel verbrauchte, hatte gestern über diesen Punkt ihm gegenüber eine bemerkenswerte Äußerung getan.
[220] Während sie sich vor dem Mittagessen miteinander unterhielten, hatte Stepan Arkadjewitsch zu Bartnjanski gesagt:
»Du bist ja wohl mit Mordwinski näher bekannt; da könntest du mir einen großen Dienst erweisen, wenn du ihm ein Wörtchen zu meinen Gunsten sagen wolltest. Es ist da eine Stelle, die ich gern haben möchte, eine Stelle als Mitglied der Agentur ...«
»Laß gut sein; das kann ich doch nicht behalten ... Aber wie bist du denn auf den wunderlichen Einfall gekommen, dich an den Eisenbahngeschäften solcher Juden beteiligen zu wollen? ... Man mag sagen, was man will, es bleibt doch immer eine unsaubere Sache.«
Stepan Arkadjewitsch setzte ihm nicht auseinander, daß dies eine hochwichtige Tätigkeit sei; denn dafür hätte Bartnjanski doch kein Verständnis gehabt.
»Ich brauche Geld. Ich weiß nicht, wovon ich leben soll.«
»Aber du lebst ja doch!«
»Das wohl; aber ich habe Schulden.«
»Ach, wirklich? Viel?« fragte Bartnjanski teilnahmsvoll.
»Sehr viel, zwanzigtausend.«
Bartnjanski lachte laut auf.
»O du glücklicher!« sagte er. »Ich habe anderthalb Millionen Schulden und gar kein Vermögen, und wie du siehst, bekomme ich es doch noch fertig, zu leben!«
Und selbst wenn Stepan Arkadjewitsch den Worten Bartnjanskis nicht geglaubt hätte, so bewiesen ihm die Tatsachen, daß dergleichen wirklich möglich war. Schiwachow hatte dreihunderttausend Rubel Schulden und keine Kopeke in seinem Besitze, und doch lebte er, und noch dazu wie! Den Grafen Kriwzow betrachtete alle Welt schon seit langer Zeit als einen toten Mann, und doch hielt er sich zwei Mätressen. Petrowski hatte ein Vermögen von fünf Millionen durchgebracht, und trotzdem lebte er in demselben Stil weiter, bekleidete sogar ein hohes Amt im Finanzministerium und bezog ein Gehalt von zwanzigtausend Rubeln.
Aber außerdem pflegte Petersburg auch in körperlicher Hinsicht wohltätig auf Stepan Arkadjewitsch zu wirken. Es verjüngte ihn geradezu. In Moskau betrachtete er manchmal nachdenklich im Spiegel sein ergrauendes Haar, schlief nach dem Mittagessen, reckte und streckte träge die Glieder, ging langsamen Schrittes und schwer atmend die Treppe hinauf, langweilte sich in Gesellschaft junger Frauen und tanzte nicht auf Bällen. In Petersburg dagegen hatte er immer das Gefühl, als sei er zehn Jahre jünger geworden.
[221] Er erlebte an seiner eigenen Person in Petersburg, was ihm noch gestern der sechzigjährige Fürst Peter Oblonski, der soeben aus dem Auslande zurückgekehrt war, über sich selbst erzählt hatte.
»Wir verstehen hier nicht zu leben«, hatte Peter Oblonski gesagt. »Wirst du es glauben? Ich habe den Sommer in Baden-Baden verlebt und bin mir da wirklich ganz wie ein Jüngling vorgekommen. Sowie ich ein junges Frauenzimmer sah, geriet ich in Aufregung ... Man speist mit Genuß, man trinkt sein Fläschchen Wein, man fühlt sich kräftig und unternehmungslustig. Nun kam ich wieder nach Rußland – ich mußte zu meiner Frau, und noch dazu aufs Land – na, du wirst es gar nicht glauben, nach zwei Wochen zog ich den Schlafrock an und hörte auf, mich zum Essen umzukleiden. Ein Gedanke an junge Weiber kam mir überhaupt nicht mehr in den Kopf. Ich war vollständig ein Greis geworden, und das einzige, was mir übrigblieb, war, für mein Seelenheil zu sorgen. Da reiste ich wieder weg nach Paris – gleich kam ich wieder in Ordnung.«
Stepan Arkadjewitsch empfand genau denselben Unterschied in seinem Befinden wie Peter Oblonski. In Moskau wurde er so matt und mutlos, daß, wenn er lange ununterbrochen dort gelebt hätte, er wirklich am Ende noch dazu gekommen wäre, sich mit der Rettung seiner Seele zu beschäftigen; in Petersburg dagegen fühlte er sich wieder als anständiger Mensch.
Zwischen der Fürstin Betsy Twerskaja und Stepan Arkadjewitsch bestand seit geraumer Zeit ein sehr merkwürdiges Verhältnis. Stepan Arkadjewitsch machte ihr immer in scherzhafter Weise den Hof und sagte ihr, gleichfalls in scherzhafter Weise, die unanständigsten Dinge, woran sie, wie er wußte, ganz besonderen Geschmack fand. Als Stepan Arkadjewitsch am Tage nach seinem Gespräche mit Karenin ihr einen Besuch machte, fühlte er sich in hervorragendem Maße jugendlich und verstieg sich infolgedessen in seinem scherzhaften Courschneiden und in seinem gewagten Geschwätze dermaßen, daß er zuletzt nicht mehr wußte, wie er den Rückzug bewerkstelligen sollte, da sie unglücklicherweise gar nicht sein Geschmack, vielmehr ihm geradezu zuwider war. Daß dieser Ton zwischen ihnen üblich geworden war, kam nur daher, daß sie selbst daran außerordentliches Gefallen fand. So war er denn heilfroh, als die Ankunft der Fürstin Mjachkaja ihrem Zwiegespräch ein Ende machte.
»Ah, sind Sie auch da?« sagte sie, als sie ihn erblickte. »Nun, wie geht es Ihrer armen Schwester? Sie brauchen mich gar nicht so anzusehen«, fügte sie hinzu. »Seitdem alle über sie hergefallen [222] sind, alle die Menschen, die tausendmal schlechter sind als sie, seitdem finde ich, daß sie ganz recht gehandelt hat. Ich kann es Wronski nicht verzeihen, daß er mich nicht benachrichtigte, als sie in Petersburg war. Ich hätte sie besucht und sie überallhin mitgenommen. Bitte, bestellen Sie ihr meine herzlichsten Grüße. Und nun erzählen Sie mir von ihr ein bißchen.«
»Ja, sie befindet sich in einer schwierigen Lage; sie ...«, begann Stepan Arkadjewitsch, der in seiner Harmlosigkeit die Worte der Fürstin Mjachkaja: »Erzählen Sie mir von Ihrer Schwester«, für bare Münze nahm. Aber nach ihrer Gewohnheit unterbrach ihn die Fürstin Mjachkaja sofort und fing selbst zu reden an.
»Sie hat getan, was außer mir alle tun, aber verheimlichen; sie aber wollte nicht heucheln, und daran hat sie recht gehandelt. Und noch mehr ist es zu billigen, daß sie Ihrem halbverrückten Schwager davongegangen ist. Sie werden mir das nicht übelnehmen. Alle Leute haben immer gesagt, er wäre ein kluger, kluger Mann; nur ich habe stets gesagt: er ist dumm. Jetzt, wo er sich mit Lydia Iwanowna und mit diesem Menschen, dem Landau, eingelassen hat, sagen sie es alle, daß er halb verrückt ist, und so sehr ich mich sonst freue, anderer Meinung zu sein als alle, so ist es mir doch diesmal nicht möglich.«
»Aber erklären Sie mir, bitte, was das zu bedeuten hat«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Gestern war ich in der Angelegenheit meiner Schwester bei ihm und bat ihn um eine entscheidende Antwort. Aber er gab sie mir nicht, sondern sagte, er wolle es sich überlegen, und heute erhielt ich nun statt einer Antwort eine Einladung für den heutigen Abend zu der Gräfin Lydia Iwanowna.«
»Na, da haben wir's, da haben wir's!« rief die Fürstin Mjachkaja frohlockend. »Sie wollen Landau fragen, was der dazu sagt.«
»Was heißt das: Landau fragen? Wozu? Wer ist dieser Landau?«
»Wie? Sie kennen Jules Landau nicht? Le fameux Jules Landau, le clairvoyant? 2 Er ist gleichfalls halb verrückt; aber von dem hängt nun das Schicksal Ihrer Schwester ab. Sehen Sie, das kommt davon, wenn man in der Provinz lebt; Sie wissen ja von gar nichts. Also dieser Landau war Verkäufer in einem Ladengeschäft in Paris und wollte einmal einen Arzt befragen. In dem Wartezimmer bei dem Arzte schlief er ein und begann im Schlafe allen Patienten Ratschläge zu erteilen, höchst verwunderliche Ratschläge. Dann hörte Frau Meledinskaja (Sie wissen wohl: die Frau von Jegor Meledinski, dem Kranken), die hörte von diesem Landau und ließ ihn zu ihrem Manne kommen.[223] Er unternahm es nun, ihn zu heilen. Meiner Ansicht nach hat er ihm nicht den geringsten Nutzen gebracht; denn er ist noch gerade ebenso gelähmt wie vorher; aber sie glauben an ihn und schleppen ihn überallhin mit sich. Auch nach Rußland haben sie ihn mitgebracht. Hier hatte er nun gewaltigen Zulauf, und er nahm Unzählige in seine Behandlung. Die Gräfin Bessubowa ist von ihm geheilt worden und hat ihn so in ihr Herz geschlossen, daß sie ihn als Sohn angenommen hat.«
»Wie ist das zu verstehen: als Sohn angenommen?«
»Ganz einfach, sie hat ihn eben adoptiert. Er ist jetzt nicht mehr Herr Landau, sondern Graf Bessubow. Aber darum handelt es sich augenblicklich nicht; ich wollte sagen: Lydia (die ich sehr gern habe; aber sie ist nicht ganz richtig im Kopfe) hat sich selbstverständlich nun auch in den Bann dieses Landau begeben, und ohne seine Mitwirkung trifft weder sie noch Alexei Alexandrowitsch irgendeine Entscheidung, und darum liegt das Schicksal Ihrer Schwester jetzt in den Händen dieses Landau, alias Grafen Bessubow.«
Nachdem Stepan Arkadjewitsch bei Bartnjanski vorzüglich gegessen und eine tüchtige Menge Kognak getrunken hatte, traf er nur wenig nach der ihm angegebenen Zeit in dem Hause der Gräfin Lydia Iwanowna ein.
»Wer ist noch bei der Gräfin? Der Franzose?« fragte er den Pförtner, als er den ihm wohlbekannten Überzieher Alexei Alexandrowitschs und einen sonderbaren, naiv wirkenden Überzieher mit Agraffen bemerkte.
»Alexei Alexandrowitsch Karenin und Graf Bessubow«, antwortete der Pförtner in strengem Tone.
›Also hat es die Fürstin Mjachkaja richtig getroffen‹, dachte Stepan Arkadjewitsch, während er die Treppe hinaufstieg. ›Sonderbar! Übrigens wäre es vielleicht ganz zweckmäßig, wenn ich näher mit ihr bekannt zu werden suchte. Sie hat einen großen Einfluß. Wenn sie sich bei Pomorski für mich verwendete, dann hätte ich die Stelle in der Tasche.‹
Es war draußen noch ganz hell; aber in dem kleinen Salon der Gräfin Lydia Iwanowna waren die Vorhänge herabgelassen und die Lampen angezündet.
An einem runden Tisch mit einer Hängelampe saßen die Gräfin und Alexei Alexandrowitsch in leisem Gespräch miteinander. Ein kleiner, schmächtiger Mensch mit weiblicher Beckenbildung und nach innen gebogenen Knien, sehr blaß, von hübscher [224] Gesichtsbildung, mit schönen, glänzenden Augen und mit langen Haaren, die ihm auf dem Rockkragen lagen, stand am anderen Ende des Zimmers und betrachtete die an der Wand hängenden Bildnisse.
Nach der Begrüßung mit der Hausfrau und mit Alexei Alexandrowitsch blickte Stepan Arkadjewitsch unwillkürlich noch einmal nach dem Unbekannten.
»Monsieur Landau!« wandte sich die Gräfin an diesen in einem so weichen, behutsamen Ton, daß Oblonski ganz überrascht war. Sie stellte die beiden einander vor.
Landau, der sich schnell umgewendet hatte und näher herangekommen war, legte lächelnd seine regungslose, schweißfeuchte Hand in die ihm entgegengestreckte Hand Stepan Arkadjewitschs, trat dann aber sogleich wieder weg und fuhr fort, die Bildnisse anzusehen. Die Gräfin und Alexei Alexandrowitsch wechselten miteinander bedeutsame Blicke.
»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen, und ganz besonders heute«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna zu Stepan Arkadjewitsch und wies ihm einen Platz neben Karenin an.
»Ich habe ihn Ihnen unter dem Namen Landau vorgestellt«, sagte sie leise, indem sie nach dem Franzosen blickte und dann sofort Alexei Alexandrowitsch ansah, »aber er heißt eigentlich Graf Bessubow, wie Sie wahrscheinlich wissen. Nur hört er diesen Titel nicht gern.«
»Ja, ich habe es gehört«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. »Man sagt, er habe die Gräfin Bessubowa vollständig geheilt.«
»Sie war heute bei mir; sie hat mir furchtbar leid getan!« wandte sich die Gräfin an Alexei Alexandrowitsch. »Diese Trennung ist für sie etwas Entsetzliches. Das ist ein schwerer Schlag für sie!«
»Ist seine Abreise denn endgültig beschlossen?« fragte Alexei Alexandrowitsch.
»Ja, er fährt nach Paris. Er hat gestern eine Stimme gehört«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna und blickte dabei Stepan Arkadjewitsch an.
»Ach, eine Stimme!« sprach Oblonski ihr nach; er sagte sich, daß er in dieser Gesellschaft möglichst vorsichtig sein müsse, wo etwas vorgehe oder vorgehen solle, wozu er noch keinen Schlüssel habe.
Es trat ein Stillschweigen ein, das wohl eine Minute dauerte. Dann sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, wie wenn sie nun zum Hauptgegenstand des Gesprächs überginge, mit einem feinen Lächeln zu Oblonski:
»Ich kenne Sie schon lange und freue mich recht, Sie nun noch [225] näher kennenzulernen. Les amis de nos amis sont nos amis. 1 Aber um ein wahrer Freund zu sein, muß man sich in den Seelenzustand des Freundes versetzen, und ich fürchte, daß Sie das bei Alexei Alexandrowitsch nicht tun. Sie verstehen, wovon ich rede«, fügte sie hinzu und schlug ihre schönen, schwärmerischen Augen zu ihm auf.
»Ich verstehe zum Teil, Gräfin, daß Alexei Alexandrowitschs Lage ...«, erwiderte Oblonski, der nicht recht wußte, was sie eigentlich meinte, und sich daher auf allgemeine Wendungen beschränken wollte.
»In seiner äußeren Lage ist keine Veränderung eingetreten«, versetzte die Gräfin Lydia Iwanowna in strengem Tone und verfolgte gleichzeitig mit einem verliebten Blick Alexei Alexandrowitsch, der aufgestanden war und zu Landau hinging. »Sein Herz hat eine Umwandlung durchgemacht, es ist ihm ein neues Herz gegeben worden, und ich fürchte, daß Sie sich nicht völlig in die Veränderung hineingedacht haben, die mit ihm vorgegangen ist.«
»Das heißt, in allgemeinen Zügen vermag ich mir diese Veränderung doch vorzustellen. Wir sind immer befreundet gewesen, und jetzt ...«, sagte Stepan Arkadjewitsch und erwiderte den Blick der Gräfin seinerseits mit einem zärtlichen Blicke. Er überlegte dabei auch, welchem der beiden Minister sie wohl näherstehen möge, um zu wissen, bei welchem von ihnen er sie um ihre Fürsprache bitten solle.
»Durch die Veränderung, die mit ihm vorgegangen ist, kann in seinem Herzen das Gefühl der Nächstenliebe nicht abgeschwächt werden, sondern es muß im Gegenteil dadurch notwendig noch zunehmen. Aber ich fürchte, daß Sie mich nicht verstehen. Ist Ihnen nicht Tee gefällig?« fragte sie und deutete mit den Augen auf den Diener, der auf einem Tablett Tee anbot.
»Nicht so ganz, Gräfin. Natürlich, sein Unglück ...«
»Ja, ein Unglück, das für ihn das größte Glück geworden ist, da sein Herz sich erneuert hat und nun Seiner voll ist«, unterbrach sie ihn und blickte ihn verliebt an.
›Ich meine, ich kann sie bitten, bei beiden ein gutes Wort für mich einzulegen‹, dachte Stepan Arkadjewitsch.
»O gewiß, Gräfin«, erwiderte er. »Aber ich denke, diese Veränderungen sind von so tiefinnerlicher Art, daß niemand, nicht einmal jemand, der ihm besonders nahesteht, gern davon spricht.«
»Im Gegenteil! Wir müssen davon sprechen und einer dem andern helfen.«
[226] »Ja, ohne Zweifel; aber die Anschauungen sind oft so stark verschieden, und außerdem ...«, versetzte Oblonski mit einem weichen Lächeln.
»Wo es sich um die heilige Wahrheit handelt, kann es keine Verschiedenheit der Anschauungen geben.«
»Gewiß nicht; aber ...« Hier geriet Stepan Arkadjewitsch in Verlegenheit und verstummte. Er merkte, daß von Religion die Rede war.
»Ich glaube, er wird gleich einschlafen«, sagte in bedeutsamem Flüstertone Alexei Alexandrowitsch, der wieder zu Lydia Iwanowna trat.
Stepan Arkadjewitsch sah sich um. Landau saß am Fenster, sich mit den Ellbogen auf die Armlehnen und gegen die Rückenlehne des Sessels stützend; den Kopf hielt er gesenkt. Als er die auf ihn gerichteten Blicke bemerkte, hob er den Kopf in die Höhe und lächelte in kindlich einfältiger Weise.
»Achten Sie nicht auf ihn«, sagte Lydia Iwanowna und rückte mit einer leichten Bewegung einen Stuhl für Alexei Alexandrowitsch zurecht. »Ich habe bemerkt ...«, begann sie, aber da trat gerade der Diener mit einem Brief ins Zimmer. Lydia Iwanowna überflog eilig mit den Augen den Inhalt und schrieb dann, die Herren um Entschuldigung bittend, am Schreibtisch mit außerordentlicher Schnelligkeit eine Antwort, übergab sie dem Diener und kehrte an den runden Tisch zurück. »Ich habe bemerkt«, setzte sie den angefangenen Satz fort, »daß die Moskauer, namentlich die Männer, in religiösen Dingen eine ganz auffallende Gleichgültigkeit an den Tag legen.«
»O nicht doch, Gräfin. Ich meine, die Moskauer stehen gerade in dem Rufe besonderen Ernstes in Glaubenssachen«, entgegnete Stepan Arkadjewitsch.
»Nun, soweit ich das beurteilen kann, gehören gerade Sie leider zu den Gleichgültigen«, sagte, sich zu ihm wendend, Alexei Alexandrowitsch mit müdem Lächeln.
»Wie kann man nur gleichgültig sein!« bemerkte Lydia Iwanowna.
»Ich bin in dieser Hinsicht nicht eigentlich gleichgültig, sondern im Zustande des Wartens«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch mit seinem sanftesten, gewinnendsten Lächeln. »Ich glaube nicht, daß für mich schon die Zeit gekommen ist, mich in diese Gedanken zu vertiefen.«
Alexei Alexandrowitsch und Lydia Iwanowna wechselten einen Blick miteinander.
»Wir können niemals wissen, ob für uns die Zeit gekommen ist oder nicht«, versetzte Alexei Alexandrowitsch streng. »Wir [227] dürfen nicht überlegen, ob wir bereit sind oder nicht; die himmlische Gnade läßt sich nicht durch Erwägungen, die der Mensch anstellt, leiten; manchmal bleibt sie denen fern, die sich nach ihr mühen, und wendet sich zu denen, die es nicht erwartet haben, wie zu Saulus.«
»Nein, es ist doch wohl noch nicht soweit«, sagte Lydia Iwanowna, die unterdes die Bewegungen des Franzosen mit den Augen verfolgt hatte. Landau stand auf und trat zu ihnen.
»Ist es erlaubt, zuzuhören?« fragte er.
»O gewiß, ich wollte Sie nur nicht stören«, antwortete Lydia Iwanowna und sah ihn zärtlich an. »Setzen Sie sich zu uns.«
»Man muß nur die Augen geöffnet halten, um nicht des Lichtes, wenn es kommt, unteilhaftig zu bleiben«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort.
»Ach, wenn Sie die Glückseligkeit kennten, die uns das Bewußtsein Seiner immerwährenden Anwesenheit in unserer Seele verleiht!« sagte die Gräfin Lydia Iwanowna mit einem entzückten Lächeln.
»Aber der Mensch fühlt sich manchmal unfähig, sich zu einer solchen Höhe zu erheben«, bemerkte Stepan Arkadjewitsch. Er war sich zwar bewußt, daß er wider sein Gewissen handelte, indem er ein Schweben der Seele in so hohen Regionen als möglich zugab; aber doch konnte er sich nicht entschließen, sich als Freidenker einer Person gegenüber zu bekennen, die nur ein Wort zu Pomorski zu sagen brauchte, um ihm die gewünschte Stelle zu verschaffen.
»Das heißt, Sie wollen sagen, daß ihn die Sünde daran hindert?« fragte Lydia Iwanowna. »Aber das ist eine unrichtige Anschauung. Für die Gläubigen gibt es keine Sünde; die Sünde ist schon abgebüßt. Verzeihung«, fügte sie mit einem Blick auf den Diener hinzu, der wieder mit einem zweiten Brief ins Zimmer trat. Sie las den Brief und erledigte die Beantwortung mündlich: »Sagen Sie: morgen, bei der Großfürstin.« Dann fuhr sie in dem Gespräche fort: »Für den Gläubigen gibt es keine Sünde.«
»Ja, aber der Glaube ohne Werke ist tot«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch, der sich aus dem Religionsunterrichte an diesen Satz erinnerte; seine unabhängige Stellung suchte er jetzt nur noch durch ein Lächeln zu wahren.
»Da haben wir's! Die bekannte Stelle aus der Epistel des Apostels Jakobus!« sagte Alexei Alexandrowitsch, sich zu Lydia Iwanowna wendend; aus seinen Worten klang eine Art von Vorwurf heraus, und es war klar, daß sie über diesen Gegenstand schon wiederholt gesprochen hatten. »Wieviel Schaden [228] hat die falsche Auslegung dieser Stelle nicht schon angerichtet! Nichts ist in höherem Grade geeignet, vom Glauben abzuhalten, als diese Auslegung. ›Ich habe keine Werke, also kann ich auch nicht glauben.‹ Und doch ist das nirgends gesagt, sondern vielmehr gerade das Gegenteil.«
»Sich für Gott abmühen und durch Arbeit und Fasten seine Seele zu retten suchen«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna im Tone des Widerwillens und der Geringschätzung, »das sind die rohen Vorstellungen unserer Mönche ... Und doch ist das in der Heiligen Schrift nirgends gesagt. Die Sache ist weit einfacher und leichter«, fügte sie hinzu und sah Oblonski mit demselben ermutigenden Lächeln an, mit dem sie bei Hofe die jungen, durch die neue Umgebung verschüchterten Hofdamen zu ermutigen pflegte.
»Wir sind erlöst durch Christus, der für uns gelitten hat. Wir sind erlöst durch den Glauben«, fügte Alexei Alexandrowitsch bekräftigend hinzu, nachdem er schon vorher ihren Worten durch seine Blicke Beifall gezollt hatte.
»Vous comprenez l'anglais?« 2 fragte Lydia Iwanowna, und als sie eine bejahende Antwort erhalten hatte, stand sie auf und suchte unter den Büchern auf einem Bücherbrett. »Ich möchte Ihnen Safe and Happy oder Under the Wing 3 vorlesen«, sagte sie mit einem fragenden Blick auf Karenin. Und nachdem sie das Buch gefunden und sich wieder auf ihren Platz gesetzt hatte, schlug sie es auf. »Es ist ganz kurz. Hier ist der Weg beschrieben, auf dem man zum Glauben und zu jener hoch über allem Irdischen stehenden Glückseligkeit gelangt, die dabei unsere Seele erfüllt. Der Gläubige kann nicht unglücklich sein, weil er nicht allein ist. Aber Sie werden gleich selbst sehen.« Sie wollte eben anfangen zu lesen, als schon wieder der Diener hereinkam: wann sie Herrn Borosdin empfangen wolle. »Herrn Borosdin? Sagen Sie: morgen um zwei Uhr. – Ja«, sagte sie, indem sie den Finger an der betreffenden Stelle als Lesezeichen im Buche hielt und mit ihren sinnenden, schönen Augen vor sich hinblickte. »Da sieht man, wie der wahre Glaube wirkt. Kennen Sie Marja Sanina? Wissen Sie von ihrem Unglück? Sie hat ihr einziges Kind verloren. Sie war in Verzweiflung. Nun, und was geschah? Sie hat diesen Freund gefunden, und nun dankt sie Gott für den Tod ihres Kindes. Das ist das Glück, das der Glaube verleiht!«
»O gewiß, das ist höchst ...«, begann Stepan Arkadjewitsch, der ganz zufrieden damit war, daß nun vorgelesen werden sollte und er so die Möglichkeit haben werde, seine Gedanken ein bißchen zu sammeln. ›Nein‹, dachte er, ›es ist doch wohl [229] besser, wenn ich sie heute nicht um ihre Fürsprache bitte. Wenn ich nur mit guter Art von hier wegkommen könnte!‹
»Sie werden sich langweilen«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, zu Landau gewendet, »da Sie kein Englisch verstehen. Aber es ist ganz kurz.«
»Oh, ich werde es schon verstehen«, erwiderte Landau mit seinem üblichen Lächeln und schloß die Augen.
Alexei Alexandrowitsch und Lydia Iwanowna warfen einander einen bedeutsamen Blick zu, und die Vorlesung begann.
Stepan Arkadjewitsch fühlte sich ganz benommen von all den ihm neuen, sonderbaren Reden, die er hier zu hören bekam. Die bunte Mannigfaltigkeit des Petersburger Lebens wirkte im allgemeinen auf ihn anregend, im Gegensatze zu dem langweiligen Einerlei in Moskau; aber Geschmack und Verständnis hatte er an dieser Mannigfaltigkeit nur auf den Gebieten, die ihm nahe lagen und vertraut waren; in dieser fremden Umwelt dagegen war er ganz betäubt und verwirrt und außerstande, alles zu fassen. Während er die Gräfin Lydia Iwanowna lesen hörte und Landaus schöne, einfältige oder spitzbübische (das wußte er selbst nicht) Augen auf sich gerichtet fühlte, begann Stepan Arkadjewitsch eine Art von eigentümlicher Schwere im Kopfe zu empfinden.
Die allerverschiedensten Gedanken krochen wirr durcheinander in seinem Gehirn umher. ›Marja Sanina freut sich, daß ihr Kind gestorben ist ... Ich würde jetzt gern eine Zigarette rauchen ... Um erlöst zu werden, braucht man nur zu glauben, und die Mönche wissen nicht, wie man das machen muß; aber die Gräfin Lydia Iwanowna weiß es ... Und wovon habe ich nur eine solche Schwere im Kopf? Vom Kognak oder daher, weil hier alles so sonderbar ist? Aber ich glaube, bis jetzt habe ich nichts Unpassendes begangen. Trotzdem geht es nicht mehr an, daß ich ihr meine Bitte vortrage. Ich habe sagen hören, solche Leute zwingen einen zum Beten. Wenn sie mich nur nicht dazu zwingen. Das wäre doch gar zu dumm. Was ist das für ein Unsinn, den sie da vorliest; aber ihre Aussprache ist nicht schlecht. Landau, Bessubow; woher heißt er denn Bessubow?‹ Plötzlich fühlte Stepan Arkadjewitsch, daß sein Unterkiefer in unwiderstehlicher Weise den Anfang zu einer Gähnbewegung machte. Er strich seinen Backenbart zurecht, um das Gähnen zu verbergen, und schüttelte sich. Aber gleich darauf hatte er [230] die Empfindung, als schlafe er schon und schicke sich an, loszuschnarchen. Er kam in dem Augenblick wieder zur Besinnung, als die Stimme der Gräfin Lydia Iwanowna sagte: »Er schläft.«
Stepan Arkadjewitsch fuhr erschrocken auf; er fühlte sich schuldig und ertappt. Aber sofort beruhigte er sich auch wieder, da er merkte, daß die Worte »er schläft« sich nicht auf ihn, sondern auf Landau bezogen hatten. Der Franzose war ebenso wie Stepan Arkadjewitsch eingeschlafen. Aber Stepan Arkadjewitschs Schlaf würde, wie er glaubte, die Leute hier beleidigt haben (übrigens glaubte er auch das eigentlich nicht, so sonderbar kam ihm hier alles vor), Landaus Schlaf dagegen machte ihnen außerordentliche Freude, namentlich der Gräfin Lydia Iwanowna.
»Mon ami«, sagte sie, indem sie vorsichtig, um kein Geräusch zu verursachen, die Falten ihres seidenen Kleides ein wenig aufhob und in ihrer Erregung Karenin nicht Alexei Alexandrowitsch, sondern mon ami anredete, »donnez-lui la main. Vous voyez? 1 Pst!« bedeutete sie dem wieder eintretenden Diener. »Ich nehme keinen Besuch an.«
Der Franzose schlief oder stellte sich schlafend; den Kopf hatte er gegen die Rückenlehne des Sessels zurücksinken lassen; die schweißfeuchte Hand, die auf seinem Knie lag, machte schwache Bewegungen, als wenn sie nach etwas haschte. Alexei Alexandrowitsch stand auf (er wollte es recht vorsichtig tun, stieß aber doch dabei an den Tisch), ging hin und legte seine Hand in die des Franzosen. Stepan Arkadjewitsch erhob sich gleichfalls; in der Absicht, falls er wirklich noch schliefe, sich munter zu machen, öffnete er die Augen recht weit und blickte bald den einen, bald den anderen an. Aber er überzeugte sich, daß das alles vor seinen wachenden Augen vorging. Er fühlte, daß die Unordnung in seinem Kopfe immer ärger wurde.
»Que la personne qui est arrivée la dernière, celle qui demande, qu'elle sorte. Qu'elle sorte!« 2 murmelte der Franzose, ohne die Augen zu öffnen.
»Vous m'excuserez, mais vous voyez ...«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna zu Stepan Arkadjewitsch. »Revenez vers dix heures, encore mieux demain.« 3
»Qu'elle sorte!« wiederholte der Franzose ungeduldig.
»C'est moi, n'est-ce pas?« 4 fragte Stepan Arkadjewitsch. Er erhielt eine bejahende Antwort, und ohne mehr an das zu denken, worum er Lydia Iwanowna hatte bitten wollen, ohne mehr an die Angelegenheit seiner Schwester zu denken, nur von dem einen Verlangen getrieben, möglichst schnell von hier wegzukommen, [231] verließ er auf den Fußspitzen das Zimmer, lief wie aus einem Pesthause auf die Straße hinaus und ließ sich mit dem Droschkenkutscher in eine längere scherzhafte Unterhaltung ein, um nur möglichst schnell erst wieder zu sich zu kommen.
Im Französischen Theater, wo er gerade noch zum letzten Akt kam, und dann beim Champagner in einem Restaurant mit tatarischer Bedienung erholte er sich wieder einigermaßen; hier befand er sich doch wieder in einer Luft, in der er atmen konnte. Aber trotzdem war ihm diesen ganzen Abend über nicht recht wohl zumute.
Bei seiner Rückkehr in die Wohnung Peter Oblonskis, bei dem er in Petersburg wohnte, fand er einen Brief von Betsy vor. Sie schrieb ihm, sie wünsche lebhaft, das begonnene Gespräch zu Ende zu führen, und bat ihn, sie morgen nochmals zu besuchen. Kaum hatte er diese Zeilen mit gerunzelter Stirn durchgelesen, als sich unten schwere Tritte von Männern hören ließen, die irgendwelche Last trugen.
Stepan Arkadjewitsch ging hinaus, um nachzusehen. Es war der wieder jung gewordene Peter Oblonski. Er war so betrunken, daß er die Treppe nicht hinaufsteigen konnte; aber als er Stepan Arkadjewitsch erblickte, befahl er den Leuten, ihn auf die Beine zu stellen, klammerte sich an ihn fest und ging so mit seinem Gaste nach dessen Zimmer; dort fing er an, ihm zu erzählen, wie er den Abend verbracht habe, und schlief gleich dort ein.
Stepan Arkadjewitsch war, was bei ihm nur selten vorkam, sehr niedergeschlagen und konnte lange nicht einschlafen. Alles, woran er nur dachte, war widerwärtig; aber als das Allerwiderwärtigste und geradezu als etwas Beschämendes stand unter seinen Erinnerungen dieser Abend bei der Gräfin Lydia Iwanowna da.
Am anderen Tage empfing er von Alexei Alexandrowitsch dessen endgültige Weigerung, in die Scheidung von Anna zu willigen, und konnte nicht darüber in Zweifel sein, daß dieser Entschluß sich auf die Äußerungen gründete, die der Franzose gestern in seinem wirklichen oder verstellten Schlafe getan hatte.
1 (frz.) Mein Freund ... geben Sie ihm die Hand. Sehen Sie?
2 (frz.) Die Person, die zuletzt gekommen ist, diejenige, die fragt, soll gehen. Soll gehen!
3 (frz.) Sie werden mich entschuldigen, aber Sie sehen ... Kommen Sie gegen zehn Uhr wieder, besser noch morgen.
4 (frz.) Ich bin gemeint, nicht wahr?
Wenn es im Familienleben zu irgendwelchem Unternehmen von Wichtigkeit kommen soll, so ist entweder völlige Zwietracht zwischen den Ehegatten oder liebevolles Einvernehmen erforderlich. Wenn jedoch weder das eine noch das andere vorliegt, [232] sondern das wechselseitige Verhältnis der Ehegatten von unbestimmter Art ist, dann kann nichts zur Ausführung gelangen.
Viele Familien bleiben ein Jahr nach dem andern an demselben Orte wohnen, obwohl er beiden Ehegatten zuwider geworden ist, lediglich deshalb, weil zwischen ihnen weder vollständige Zwietracht noch vollständiges Einvernehmen besteht.
Das Moskauer Leben in Hitze und Staub, jetzt, wo die Sonne nicht mehr frühlingsmäßig, sondern recht sommerlich schien und alle Bäume auf den Straßen schon längst Blätter bekommen hatten und diese Blätter schon mit Staub bedeckt waren, dieses Leben fanden Wronski und Anna beide unerträglich; aber statt nach Wosdwischenskoje überzusiedeln, wie sie das schon längst beschlossen hatten, blieben sie immer länger in dem ihnen beiden zuwider gewordenen Moskau wohnen, weil eben in der letzten Zeit zwischen ihnen keine Eintracht herrschte.
Die zwischen ihnen bestehende gereizte Stimmung hatte keine äußere Ursache, und alle Versuche einer gegenseitigen Aussprache dienten nicht zur Beseitigung dieser Stimmung, sondern im Gegenteil zu ihrer Verschärfung. Diese gereizte Stimmung kam von innen her und hatte bei Anna ihren Grund in dem Schwächerwerden seiner Liebe und bei Wronski in der Reue darüber, daß er sich um ihretwillen in eine so peinliche Lage gebracht habe, die sie ihm, statt sie ihm zu erleichtern, immer noch schwerer mache. Keiner von beiden sprach sich über den Grund seiner Gereiztheit aus; aber jeder von ihnen war überzeugt, daß der andere im Unrecht sei, und bemühte sich bei jedem Anlaß, es ihm zu beweisen.
Nach Annas Anschauung ließ sich sein ganzes Wesen, mit allen seinen Gewohnheiten, Gedanken und Wünschen, mit seinem ganzen seelischen und körperlichen Sein, auf einen einzigen Punkt zurückführen: auf Liebe zum andern Geschlecht, und diese Liebe sollte sich, nach ihrem Rechtsgefühl, ausschließlich auf ihre eigene Person richten. Seine Liebe zu ihr hatte sich vermindert; folglich mußte er nach ihrem Urteile einen Teil seiner Liebe anderen Frauen oder wenigstens einer anderen Frau zuwenden – und sie wurde eifersüchtig. Sie war nicht auf irgendeine bestimmte Frau eifersüchtig; ihre Eifersucht gründete sich nur auf die Tatsache der Verminderung seiner Liebe zu ihr. Da sie noch keinen Gegenstand für ihre Eifersucht hatte, so suchte sie nach einem solchen. Bei dem unbedeutendsten scheinbaren Anzeichen übertrug sie ihre Eifersucht von einem Gegenstand auf einen anderen. Bald war sie auf jene Frauenspersonen geringeren Standes eifersüchtig, mit denen in Beziehung zu treten ihm durch seine Verbindungen in der Welt der Junggesellen so [233] leicht war; dann wieder auf Damen der vornehmen Gesellschaft, mit denen er zusammentreffen konnte; dann auf ein Gebilde ihrer Phantasie, ein junges Mädchen, das er heiraten wolle, sobald er die Beziehungen zu ihr selbst werde abgebrochen haben. Und mit dieser Form der Eifersucht quälte sie sich am allermeisten, weil er selbst einmal in einem Augenblick der Offenherzigkeit unvorsichtigerweise zu ihr geäußert hatte, seine Mutter habe für sein Seelenleben so wenig Verständnis, daß sie sich erlaubt habe, ihm zu einer Heirat mit der Prinzessin Sorokina zuzureden.
Infolge dieser Eifersucht hatte Anna einen innerlichen Grimm gegen ihn gefaßt und suchte in all und jedem nach Anlässen, ihm zu zürnen. An allem, was ihre Lage Peinliches mit sich brachte, maß sie ihm die Schuld bei. Den qualvollen Zustand des Wartens, den sie, gleichsam zwischen Himmel und Erde schwebend, in Moskau durchmachte, Alexei Alexandrowitschs Langsamkeit und Unentschlossenheit, ihre Vereinsamung, alles legte sie ihm zur Last. Wenn er sie wirklich liebte, meinte sie, so würde er das Peinliche ihrer Lage in seinem ganzen Umfange begreifen und sie daraus erlösen. Daran, daß sie in Moskau und nicht auf dem Lande wohnte, war auch wieder er, nur er, schuld. Denn er, meinte sie, fühlte sich außerstande zu leben, wenn er sich auf dem Lande vergraben solle, während doch ein solches Leben ihrem eigenen Wunsche entspreche. Er verlange durchaus nach Geselligkeit und habe sie deshalb in diese schreckliche Lage gebracht, deren Peinlichkeit er nicht begreifen wolle. Und auch daran war er, er, schuld, daß sie für immer von ihrem Sohne getrennt war.
Selbst die seltenen Augenblicke der Zärtlichkeit, die in ihrem Zusammenleben vorkamen, dienten nicht dazu, Anna zu beruhigen; denn in seiner Zärtlichkeit gewahrte sie jetzt einen Unterton von Ruhe und Besitzgefühl, der früher nicht vorhanden gewesen war und von dem sie sich verletzt fühlte.
Die Abenddämmerung war schon angebrochen. Anna war allein zu Hause und wartete auf Wronskis Rückkehr von einem Junggesellenmahl, zu dem er gefahren war. Während sie in seinem Arbeitszimmer auf und ab ging (es war dies das Zimmer, wo der Straßenlärm am wenigsten zu hören war), überdachte sie in allen Einzelheiten den Hergang eines Streites, den sie gestern mit Wronski gehabt hatte. Indem sie von den beleidigenden Worten, die er bei dem Streite gebraucht hatte und die in ihrem Gedächtnisse hafteten, immer rückwärts schritt zu dem, was ihr Anlaß gewesen war, gelangte sie schließlich zu dem Ausgangspunkt des Gespräches. Sie konnte es lange nicht [234] glauben, daß der Streit von einem so harmlosen Gegenstande, der für keinen von ihnen beiden Herzenssache war, seinen Anfang genommen hatte. Und dennoch war es wirklich der Fall gewesen. Alles war daher gekommen, daß er über die Mädchengymnasien, die er für überflüssig hielt, gespottet hatte, während sie für diese Schulen eingetreten war. Er hatte sich über das gesamte weibliche Bildungswesen abfällig geäußert und gesagt, für Hanna, die kleine Engländerin, deren sich Anna angenommen hatte, seien physikalische Kenntnisse völlig entbehrlich.
Dadurch hatte sich Anna gekränkt gefühlt. Sie hatte darin eine geringschätzige Hindeutung auf ihre eigene Tätigkeit erblickt. Und sie hatte eine Erwiderung gesucht und ausgesprochen, die ihm eine Strafe für den Schmerz sein sollte, den er ihr zugefügt hatte.
»Ich erwarte nicht«, hatte sie gesagt, »daß Sie mich und meine Empfindungen mit solchem Zartgefühl behandeln, wie es jemand, der wahrhaft liebt, tun würde; aber ich hatte doch die einfachste Höflichkeit erwartet.«
Und er war wirklich vor Ärger rot geworden und hatte irgendeine unfreundliche Antwort gegeben. Sie erinnerte sich nicht mehr, was sie ihm darauf entgegnet hatte, sondern nur, daß er dann, offenbar in der Absicht, ihr gleichfalls weh zu tun, gesagt hatte:
»Ihre besondere Vorliebe für dieses junge Mädchen gefällt mir allerdings nicht; denn nach meiner Anschauung liegt darin etwas Gekünsteltes.«
Diese Grausamkeit, mit der er die kleine Welt zerstörte, die sie sich mit solcher Mühe aufgebaut hatte, um ihr drückendes Leben ertragen zu können, diese Ungerechtigkeit, mit der er sie der Heuchelei und Verstellung beschuldigte, hatten sie in Entrüstung versetzt.
»Ich bedaure lebhaft, daß Ihnen nur das Rohe und Äußere verständlich ist und natürlich erscheint«, hatte sie erwidert und dann das Zimmer verlassen.
Als er gestern abend zu ihr gekommen war, hatten sie des vorhergegangenen Streites keine Erwähnung mehr getan, aber beide gefühlt, daß dieser Streit zwar vorläufig beigelegt, aber nicht völlig erledigt sei.
Heute war er den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen, und in dem Bewußtsein, sich mit ihm veruneinigt zu haben, fühlte sie sich so vereinsamt und bedrückt, daß sie gern alles vergessen und verzeihen und sich mit ihm versöhnen und sich schuldig bekennen und ihn von aller Schuld freisprechen wollte.
[235] ›Ich bin schuld daran‹, sagte sie zu sich. ›Ich bin reizbar, ich bin in sinnloser Weise eifersüchtig. Ich will mich mit ihm versöhnen, und wir wollen auf das Land fahren; da werde ich ruhiger sein.‹
›Gekünstelt!‹ Sie erinnerte sich auf einmal an den Ausdruck, der ihr bei dem Streit am kränkendsten gewesen war, und zwar hatte sie sich nicht sosehr durch das Wort verletzt gefühlt wie durch die Absicht, ihr weh zu tun, die sie darin voraussetzte. ›Ich weiß, was er damit sagen wollte; er wollte sagen: wenn eine Frau, statt ihre eigene Tochter zu lieben, ein fremdes Kind liebt, so ist das etwas Gekünsteltes. Aber was versteht er denn von der Liebe einer Mutter zu ihren Kindern, von meiner Liebe zu meinem Sergei, den ich um seinetwillen geopfert habe? Und dann diese Absicht, mir weh zu tun! Nein, er liebt eine andere; es kann nicht anders sein.‹
Und als sie zu der Erkenntnis kam, daß, während sie doch danach strebte, ruhiger zu werden, sie dennoch wieder die sooft schon durchlaufene Kreisbahn zurückgelegt hatte und in die frühere gereizte Stimmung wieder hineingeraten war, da erschrak sie über sich selbst. ›Ist es denn wirklich nicht möglich? Kann ich denn wirklich nicht die Schuld auf mich nehmen?‹ fragte sie sich selbst und begann wieder von vorn. ›Er ist wahrheitsliebend, er ist ehrenhaft, er liebt mich. Ich liebe ihn; nächster Tage wird die Scheidung vollzogen werden. Was brauche ich denn noch weiter? Nur Ruhe brauche ich, und Vertrauen muß ich haben, und ich will die Schuld auf mich nehmen. Ja, jetzt gleich, sobald er nach Hause kommt, will ich ihm sagen, daß ich daran schuld war, obgleich ich in Wirklichkeit nicht schuld daran gewesen bin; und dann wollen wir von hier wegfahren.‹
Und um diese Gedanken loszuwerden und nicht wieder in die gereizte Stimmung zu verfallen, klingelte sie und befahl, die Koffer hereinzubringen, um die Sachen zur Rückkehr auf das Gut einzupacken.
Um zehn Uhr kam Wronski nach Hause.
»Nun, hast du dich gut unterhalten?« fragte sie; sie war ihm mit einer sanften Miene, in der die Bitte um Verzeihung lag, ins Vorzimmer entgegengegangen.
»Wie gewöhnlich«, antwortete er und merkte auf den ersten Blick, daß sie sich wieder einmal in guter Stimmung befand. Er [236] war an solche Übergänge bereits gewöhnt und freute sich heute darüber ganz besonders, weil er selbst sehr gut gelaunt war.
»Was sehe ich! Das ist recht!« sagte er, indem er auf die Koffer im Vorzimmer zeigte.
»Ja, wir müssen abfahren. Ich bin spazierengefahren, und es war so schön, daß ich eine wahre Sehnsucht nach dem Leben auf dem Lande bekam. Dich hält doch wohl hier nichts zurück?«
»Es ist mein sehnlichster Wunsch. Ich komme gleich; dann wollen wir näher darüber sprechen; ich will mich nur erst umkleiden. Laß nur immer den Tee bringen.«
Damit ging er nach seinem Zimmer.
Sie hatte sich durch seine Worte: »Das ist recht!« verletzt gefühlt: so rede man zu einem Kinde, wenn es aufgehört habe, eigensinnig zu sein. Und als eine noch größere Kränkung hatte sie den Gegensatz zwischen ihrem demütigen und seinem selbstbewußten Tone empfunden. So hatte sie denn einen Augenblick die Lust zu einem neuen Kampfe in ihrer Seele aufsteigen gefühlt. Aber sie hatte sich Gewalt angetan, dieses Verlangen unterdrückt und ihr freundliches, heiteres Benehmen gegen Wronski unverändert beibehalten.
Als er zu ihr ins Eßzimmer gekommen war, erzählte sie ihm teilweise mit den Worten, die sie sich vorher zurechtgelegt, wie sie den Tag verlebt hatte und von ihren Plänen über die Abreise.
»Weißt du, es kam ordentlich wie eine Eingebung über mich«, sagte sie. »Wozu soll ich hier auf die Scheidung warten? Ob wir hier oder auf dem Lande sind, das macht ja dabei gar keinen Unterschied. Aber dieser Zustand des Wartens ist mir überhaupt unerträglich; ich will auf nichts mehr hoffen, will von der Scheidung gar nichts mehr hören. Ich habe mir gesagt, daß dies auf mein weiteres Leben keinen Einfluß haben darf. Bist du nicht auch der Meinung?«
»O gewiß«, antwortete er und blickte beunruhigt in ihr aufgeregtes Gesicht.
»Was habt ihr denn da gemacht? Wer war denn da?« fragte sie nach einer kleinen Pause.
Wronski nannte die Teilnehmer an dem Diner. »Es war ausgezeichnet, auch die Ruderregatta und alles übrige war ganz nett; aber in Moskau geht es nun einmal ohne etwas Lächerliches nicht ab. Es trat da so eine Dame auf, die Schwimmlehrerin der Königin von Schweden, und zeigte ihre Künste.«
»Wie? Ist sie geschwommen?« fragte Anna mit finsterer Miene.
»Ja, in einem eigenartigen Badeanzug; es ist ein altes, häßliches Frauenzimmer. Also wann wollen wir denn nun abfahren?«
[237] »Welch alberner Einfall von dieser Person! Ist denn an ihrem Schwimmen et was Besonderes?« fragte Anna, ohne auf Wronskis Frage zu antworten.
»Durchaus nichts Besonderes. Ich sage ja auch, die Sache war furchtbar albern. Also wann beabsichtigst du denn zu reisen?«
Anna schüttelte mit dem Kopfe, wie wenn sie einen unangenehmen Gedanken verscheuchen wollte.
»Wann wir reisen wollen? Je früher, desto besser. Zu morgen werden wir nicht fertig. Also übermorgen.«
»Schön ... aber nein, warte einmal. Übermorgen ist Sonntag; da muß ich bei maman sein«, erwiderte Wronski; aber hier wurde er verlegen, denn sobald er seine Mutter erwähnt hatte, merkte er, daß Anna ihn mit argwöhnischem Blick unverwandt ansah. In seiner Verlegenheit fand sie eine Bestätigung ihres Verdachtes. Sie wurde dunkelrot und rückte von ihm ab. Jetzt stand ihr nicht mehr die Schwimmlehrerin der Königin von Schweden vor Augen, sondern die Prinzessin Sorokina, die mit der Gräfin Wronskaja zusammen nicht weit von Moskau auf deren Landgut wohnte.
»Du kannst ja morgen hinfahren!« sagte sie.
»Nein, doch nicht. In der Angelegenheit, in der ich hinfahren muß, werden die Kreditbriefe und das Geld morgen noch nicht zu bekommen sein«, versetzte er.
»Dann wollen wir lieber gar nicht reisen.«
»Aber warum denn nicht?«
»Später reise ich nicht. Entweder Sonntag oder nie.«
»Aber warum denn das?« fragte Wronski erstaunt. »Das hat ja doch keinen Sinn!«
»Für dich hat das keinen Sinn, weil ich dir ganz gleichgültig bin. Du willst mein Leben nicht verstehen. Das einzige, was mich hier beschäftigt, ist Hanna. Du sagst, das ist Heuchelei. Du hast mir ja gestern gesagt, ich liebte meine Tochter nicht und stellte mich, als liebte ich diese Engländerin, und das sei etwas Gekünsteltes. Ich möchte wohl wissen, wie ich es anfangen soll, hier ein unbefangenes, natürliches Leben zu führen.«
Einen Augenblick kam sie zur Besinnung und erschrak darüber, daß sie ihrem Vorsatz untreu geworden war. Aber obgleich sie wußte, daß sie sich dadurch selbst zugrunde richtete, war sie nicht imstande, sich zu beherrschen; sie mußte ihm zeigen, wie sehr er im Unrecht war; sie konnte sich ihm nicht unterordnen.
»Das habe ich nie gesagt; ich habe gesagt, daß diese plötzliche Liebe nicht nach meinem Geschmack ist.«
»Warum sagst du nicht die Wahrheit? Du rühmst dich ja doch immer deiner Aufrichtigkeit.«
[238] »Ich rühme mich niemals und rede niemals die Unwahrheit«, erwiderte er leise, bemüht, den in ihm aufsteigenden Zorn zurückzuhalten. »Es tut mir sehr leid, wenn ich deine Achtung ...«
»Die Achtung hat man nur erfunden, um die leere Stelle zu verbergen, wo die Liebe sein sollte ... Aber wenn du mich nicht mehr liebst, so wäre es besser und ehrlicher, es geradeheraus zu sagen.«
»Nein, das ist nicht mehr auszuhalten!« rief Wronski und stand vom Stuhle auf. Und vor sie hintretend, sagte er langsam: »Warum stellst du meine Geduld so auf die Probe?« Seine Miene ließ erkennen, daß ihm noch manches auf der Zunge lag; aber er beherrschte sich. »Auch meine Geduld hat ihre Grenzen.«
»Was wollen Sie damit sagen?« rief Anna; mit Entsetzen erkannte sie auf seinem ganzen Gesicht und namentlich in den hart und drohend blickenden Augen den unverhohlenen Ausdruck des Hasses.
»Ich will damit sagen ...«, begann er; aber er hielt inne. »Ich möchte nur fragen: was, wollen Sie, soll ich tun?«
»Was kann ich wollen? Ich kann nur wollen, daß Sie mich nicht verlassen, wie Sie es beabsichtigen«, erwiderte sie, da sie alles erriet, was er unausgesprochen gelassen hatte. »Und doch ist dies nicht eigentlich das, was ich will; das steht erst in zweiter Linie. Ich will Liebe, und die ist nicht da. Folglich ist alles zu Ende.«
Sie schritt zur Tür.
»Warte, warte!« rief Wronski; die finstere Falte zwischen seinen Brauen war nicht verschwunden; aber er ergriff Anna bei der Hand und hielt sie zurück. »Was liegt denn eigentlich vor? Ich habe gesagt, die Abreise müsse einen Tag weiter hinausgeschoben werden, als du es in Aussicht genommen hattest, und darauf hast du mir entgegnet, ich löge, ich sei ein unehrenhafter Mensch.«
»Ja, und ich wiederhole es«, erwiderte sie in Erinnerung an die bei dem früheren Streit vorgekommenen Ausdrücke, »wer mir vorhält, daß er mir alles zum Opfer gebracht hat, ist ein herzloser Mensch.«
»Nein, auch die Geduld hat ihre Grenzen!« rief er und ließ rasch ihre Hand los.
›Er haßt mich, das ist klar‹, dachte sie und ging schweigend, ohne sich umzusehen, unsicheren Schrittes aus dem Zimmer. ›Er liebt eine andere; das ist noch klarer‹, sagte sie zu sich selbst, als sie in ihr Zimmer trat. ›Ich will Liebe, und die ist nicht da. Folglich ist alles zu Ende‹, sagte sie noch einmal mit denselben Worten wie vorher, ›und es muß ein Ende gemacht werden.‹
[239] ›Aber wie?‹ fragte sie sich und setzte sich in einen Lehnsessel vor dem Spiegel.
Gedanken darüber, wohin sie jetzt gehen solle, ob zu der Tante, bei der sie erzogen worden war, oder zu Dolly, oder ob sie allein ins Ausland reisen solle, und was er wohl in diesem Augenblick allein in seinem Arbeitszimmer tue, und ob dieser Streit den Abschluß gebracht habe oder noch eine Versöhnung möglich sei, und was jetzt wohl alle ihre früheren Petersburger Bekannten von ihr sagen würden, und wie Alexei Alexandrowitsch die Sache ansehen werde, diese und viele andere Gedanken über das, was nun nach dem Bruche geschehen werde, gingen ihr durch den Kopf; aber sie überließ sich diesen Gedanken nicht mit ganzer Seele. In ihrer Seele war noch ein anderer, unklarer Gedanke vorhanden, der einzige, der sie wirklich anzog; aber sie vermochte zunächst nicht recht, ihn sich zum Bewußtsein zu bringen. Als jedoch ihre umherschweifenden Vorstellungen noch einmal zu Alexei Alexandrowitsch zurückkehrten, erinnerte sie sich auch an die Zeit ihrer Krankheit nach der Entbindung und daran, daß ein bestimmtes Gefühl sie damals fortwährend erfüllt hatte. Und nun kamen ihr auch ihre damaligen Worte und ihr damaliges Gefühl ins Gedächtnis zurück: ›Warum bin ich nicht gestorben?‹ Und plötzlich verstand sie den Gedanken, der in ihrer Seele vorhanden war. Ja, das war der Gedanke, der allein die Lösung des Knotens brachte. ›Ja, sterben! ...‹
›Alexei Alexandrowitschs und Sergeis Schmach und Schande und meine eigene entsetzliche Schande, alles wird durch den Tod wiedergutgemacht werden. Wenn ich gestorben bin, dann wird er auch Reue empfinden, er wird mich bemitleiden, mich lieben, sich um mich grämen.‹ Ein regungslos verharrendes Lächeln des Mitleids mit sich selbst lag auf ihrem Gesichte, während sie so auf dem Lehnsessel saß und die Ringe von ihrer linken Hand abstreifte und wieder ansteckte und sich Wronskis verschiedenartige Empfindungen nach ihrem Tode lebhaft vorstellte.
Schritte, die sich näherten, seine Schritte, ließen sie ihren Gedankengang unterbrechen. Wie wenn das Ordnen der Ringe ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nähme, wandte sie sich nicht einmal nach ihm um.
Er trat zu ihr heran, faßte sie bei der Hand und sagte leise:
»Anna, wir wollen übermorgen reisen, wenn du es so wünschst. Ich bin mit allem einverstanden.«
Sie schwieg.
[240] »Ist es dir recht?« fragte er.
»Du weißt es ja alles selbst«, antwortete sie, und in demselben Augenblicke brach sie, unfähig länger an sich zu halten, in Schluchzen aus:
»Sage dich von mir los! Verlaß mich!« brachte sie unter Tränen hervor. »Ich will morgen von dir weg ... Ich will noch mehr tun. Was bin ich? Ein sittenloses Weib. Ein Stein an deinem Halse. Ich will dich nicht länger quälen, nein, ich will es nicht! Ich werde dich von mir befreien. Du liebst mich nicht mehr, du liebst eine andere!«
Wronski flehte sie an, sich zu beruhigen, und beteuerte ihr, daß für sie auch nicht ein Schatten von Grund zur Eifersucht vorhanden sei, daß er nie aufgehört habe und nie aufhören werde, sie zu lieben, und sie mehr liebe als je vorher.
»Anna, warum quälst du in dieser Weise dich und mich?« sagte er und küßte ihre Hände. Seine Miene drückte jetzt Zärtlichkeit aus, und Anna glaubte an seiner Stimme zu hören, daß ihm die Tränen kamen, und fühlte sie feucht auf ihrer Hand. Und in einem Augenblicke ging Annas rasende Eifersucht in rasende, leidenschaftliche Zärtlichkeit über; sie umarmte ihn und bedeckte sein Gesicht, seinen Hals, seine Hände mit Küssen.
In dem Gefühl, daß die Aussöhnung vollständig gewesen sei, machte sich Anna am folgenden Morgen mit lebhaftem Eifer an die Vorbereitungen zur Abreise. Obgleich noch nicht entschieden war, ob sie am Sonntag oder am Montag reisen würden, da am vorhergehenden Tage jeder dem anderen hatte nachgeben wollen, so machte sich Anna doch vollständig zur Abreise fertig; indessen war es ihr jetzt ganz gleichgültig, ob sie einen Tag früher oder später reisten. Sie stand in ihrem Zimmer über eine geöffnete Truhe gebeugt und ordnete die darin befindlichen Sachen, als er, schon völlig angekleidet, früher als gewöhnlich bei ihr eintrat.
»Ich fahre jetzt gleich zu maman; sie kann mir das Geld durch Jegor schicken. Dann kann ich morgen abreisen«, sagte er.
So gut auch Annas Stimmung war, so fühlte sie bei seiner Mitteilung, daß er nach dem Landhause fahre, doch einen Stich im Herzen.
»Nein, ich werde bis dahin mit dem Packen selbst nicht fertig«, antwortete sie und dachte im selben Augenblicke: ›Also war es doch möglich, es mit der Abreise so einzurichten, wie ich [241] wünschte.‹ – »Nein«, sprach sie weiter, »mach es nur so, wie du gewünscht hattest. Geh ins Eßzimmer; ich komme auch gleich; ich möchte nur noch diese unnützen Sachen herausnehmen.« Und dabei legte sie ihrer Annuschka, die schon einen ganzen Berg von allerlei Zeug auf dem Arme liegen hatte, noch etwas oben darauf.
Wronski war dabei, sein Beefsteak zu essen, als sie ins Eßzimmer trat.
»Du glaubst gar nicht, wie mir diese Zimmer zuwider geworden sind«, sagte sie und setzte sich neben ihn zu ihrem Kaffee. »Es gibt nichts Schrecklicheres als diese möblierten Zimmer. Sie haben so gar kein eigenes Gesicht, keine Seele. Diese Uhr, diese Vorhänge und namentlich diese Tapeten wirken auf mich geradezu wie ein beängstigender Traum. Ich sehne mich nach Wosdwischenskoje wie nach dem Gelobten Lande. Schickst du die Pferde noch nicht weg?«
»Nein, die will ich nachkommen lassen. Hast du hier in Moskau noch irgendwelche Wege zu machen?«
»Ich wollte noch zu der Wilson fahren; ich muß ihr einige Kleider bringen. Also reisen wir bestimmt morgen?« fragte sie in heiterem Tone; aber auf einmal veränderte sich der Ausdruck ihres Gesichtes.
Wronskis Kammerdiener kam herein und bat um die Empfangsbescheinigung für ein Telegramm aus Petersburg. Es war an sich nichts Besonderes an der Tatsache, daß Wronski ein Telegramm erhalten hatte; aber es klang, als wenn er ihr etwas zu verbergen suchte, als er antwortete, die Bescheinigung liege in seinem Arbeitszimmer, und sich dann rasch zu ihr wandte:
»Ich werde bestimmt morgen mit allem fertig sein.«
»Von wem ist denn das Telegramm?« fragte sie, ohne auf ihn zu hören.
»Von Stiwa«, antwortete er mit sichtlichem Widerstreben.
»Warum hast du es mir denn nicht gezeigt? Was könnt ihr beide, du und Stiwa, denn vor mir für ein Geheimnis haben?«
Wronski rief den Kammerdiener zurück und befahl ihm, das Telegramm zu bringen.
»Ich wollte es dir nicht zeigen, weil Stiwa eine Leidenschaft für das Telegrafieren hat; was hat es denn für Zweck, zu telegrafieren, wenn noch keine Entscheidung erfolgt ist.«
»Wegen der Scheidung?«
»Ja, er meldet: ›Habe noch nichts erreichen können. Er versprach endgültige Antwort in einigen Tagen.‹ Da, lies selbst.«
Mit zitternden Händen nahm Anna das Telegramm hin und las dasselbe, was Wronski vorgelesen hatte. Am Schlusse war [242] noch hinzugefügt: »Wenig Hoffnung; werde alles mögliche und unmögliche tun.«
»Ich sagte dir ja gestern, daß es mir ganz gleichgültig ist, wann ich die Scheidung erreiche, ja sogar, ob ich sie überhaupt erreiche«, sagte sie errötend. »Es lag gar kein Anlaß vor, mir das Telegramm zu verheimlichen.« Und im stillen sagte sie sich: ›Ebenso kann er auch seine Briefe von anderen Frauen vor mir verheimlichen, und das tut er auch gewiß.‹
»Jaschwin wollte heute vormittag mit Woitow herkommen«, sagte Wronski. »Er scheint diesem Pjewzow im Spiel sein ganzes Vermögen abgewonnen zu haben, sogar mehr, als der überhaupt bezahlen kann, gegen sechzigtausend Rubel.«
»Nein«, sagte sie, gereizt dadurch, daß er durch diesen Wechsel des Gesprächsgegenstandes in so offensichtlicher Weise zeigte, daß er sie für gereizt halte und sie schonend behandeln wolle, »warum meinst du denn, diese Nachricht werde mich so aufregen, daß sie mir verheimlicht werden müßte? Ich habe gesagt, daß ich gar nicht daran denken will, und es wäre mir lieb, wenn du dich ebensowenig darüber aufregtest wie ich.«
»Mir ist die Sache wichtig, weil ich ein Freund klarer Verhältnisse bin«, antwortete er.
»Klarheit ist in der äußeren Form nicht so wesentlich wie in der Liebe«, erwiderte sie; sie geriet immer mehr und mehr in eine gereizte Stimmung, nicht infolge seiner Worte, sondern infolge des kühlen, ruhigen Tones, in dem er sprach. »Weshalb wünschst du das?«
›Mein Gott! Schon wieder die Liebe!‹ dachte er und runzelte die Stirn.
»Du weißt ja, weshalb: um deinetwillen und um der Kinder willen, die wir bekommen werden«, antwortete er.
»Wir werden keine Kinder mehr bekommen.«
»Das wäre sehr schade«, erwiderte er.
»Du wünschst das um der Kinder willen; aber an mich denkst du nicht?« sagte sie. Sie hatte ganz vergessen oder überhaupt nicht gehört, daß er gesagt hatte: »um deinetwillen und um der Kinder willen.«
Die Frage, ob sie noch mehr Kinder bekommen könnten und sollten, war schon seit längerer Zeit für die beiden ein Anlaß zu Streit, und Anna geriet bei solchen Gesprächen stets in Erregung. Seinen Wunsch, Kinder zu haben, faßte sie in dem Sinne auf, daß er auf ihre Schönheit nicht den gebührenden Wert lege.
»Aber ich habe ja doch gesagt: um deinetwillen. In erster Linie um deinetwillen«, antwortete er und zog, wie infolge [243] eines körperlichen Schmerzes, die Stirn kraus. »Denn nach meiner Überzeugung rührt deine Reizbarkeit zum großen Teil von der Unbestimmtheit deiner Lage her.«
›Aha, jetzt hat er aufgehört, sich zu verstellen, und sein ganzer kalter Haß gegen mich kommt zum Vor schein‹, dachte sie, indem sie gar nicht auf seine Worte hörte, sondern mit Schrecken nach dem kalten, grausamen Richter schaute, der mit dem Ausdruck des Spottes, wie sie meinte, aus seinen Augen blickte.
»Die Ursache ist eine andere«, erwiderte sie, »und ich verstehe gar nicht einmal, wie die Ursache meiner, wie du es nennst, Reizbarkeit darin liegen könnte, daß ich mich vollständig in deiner Gewalt befinde. Inwiefern wäre denn da meine Lage unbestimmt? Im Gegenteil.«
»Es tut mir sehr leid, daß du mich nicht verstehen willst«, unterbrach er sie in dem hartnäckigen Wunsche, seinen Gedanken klar auszusprechen. »Die Unbestimmtheit besteht darin, daß du meinst, ich wäre frei.«
»In dieser Hinsicht kannst du völlig beruhigt sein«, antwortete sie, wandte sich von ihm ab und begann ihren Kaffee zu trinken.
Sie hob die Tasse in die Höhe, wobei sie den kleinen Finger abspreizte, und führte sie zum Munde. Als sie einige Schlucke abgetrunken hatte, blickte sie ihn an und merkte an seiner Miene deutlich, daß ihm ihre Handhaltung und das Geräusch, das ihre Lippen hervorbrachten, widerwärtig waren.
»Es ist mir vollständig gleichgültig, was deine Mutter denkt und mit wem sie dich verheiraten will«, sagte sie und stellte die Tasse mit zitternder Hand hin.
»Aber davon wollen wir nicht reden.«
»Doch, gerade davon. Und du kannst mir glauben, daß ich für eine Frau ohne Herz, mag sie nun alt oder jung, deine Mutter oder eine Fremde sein, kein Interesse habe und sie nicht kennen will.«
»Anna, ich bitte dich, von meiner Mutter nicht ohne Achtung zu reden.«
»Eine Frau, die in ihrem Herzen keine Empfindung dafür hat, worin das Lebensglück und die Ehre ihres Sohnes besteht, besitzt kein Herz.«
»Ich wiederhole meine Bitte: sprich nicht respektlos von meiner Mutter, die ich hochachte«, sagte er, indem er die Stimme erhob und sie mit einem strengen Blick ansah.
Sie antwortete nicht. Die Augen starr auf ihn, auf sein Gesicht, auf seine Hände gerichtet, vergegenwärtigte sie sich mit allen Einzelheiten die Szene der gestrigen Versöhnung und seine [244] leidenschaftlichen Liebkosungen. ›Diese Liebkosungen, ganz dieselben Liebkosungen hat er auch anderen Frauen zuteil werden lassen und wird dies auch in Zukunft tun,‹ dachte sie.
»Du liebst deine Mutter gar nicht. Das sind alles nur leere Worte, Worte, Worte!« erwiderte sie und sah ihn mit einem haßerfüllten Blicke an.
»Wenn es so steht, dann müssen wir ...«
»Dann müssen wir einen Entschluß fassen, und ich habe meinen Entschluß gefaßt«, unterbrach sie ihn und wollte hinausgehen; aber in diesem Augenblick trat Jaschwin ins Zimmer. Anna begrüßte ihn und blieb stehen.
Warum sie, während in ihrer Seele ein furchtbarer Sturm tobte und sie fühlte, daß sie an einem Wendepunkt ihres Lebens stehe, wo ihr Entschluß die entsetzlichsten Folgen haben konnte, warum sie sich in diesem Augenblick vor einem fremden Menschen verstellen mußte, der früher oder später ja doch alles erfuhr, das wußte sie nicht; aber sie zwang sofort den Sturm in ihrem Innern zur Ruhe, setzte sich wieder und begann eine Unterhaltung mit Jaschwin.
»Nun, wie stehen Ihre Angelegenheiten? Haben Sie die Spielschuld bezahlt bekommen?« fragte sie den Gast.
»Nun, es geht; alles werde ich wohl kaum bekommen, und Mittwoch muß ich abreisen. Und wann reisen Sie?« fragte Jaschwin; er blinzelte Wronski mit halb zugekniffenen Augen an und hatte offenbar gemerkt, daß ein Streit vorhergegangen war.
»Wahrscheinlich übermorgen«, antwortete Wronski.
»Sie haben es ja auch schon lange vor.«
»Aber jetzt ist es beschlossene Sache«, sagte Anna und blickte Wronski gerade in die Augen, mit einem Blick, der ihm sagte, er möge jeden Gedanken an die Möglichkeit einer Versöhnung aufgeben.
»Tut Ihnen denn dieser unglückliche Pjewzow nicht leid?« fuhr sie in ihrem Gespräche mit Jaschwin fort.
»Ich habe mich noch nie gefragt, Anna Arkadjewna, ob jemand, der an mich verliert, mir leid tut oder nicht. Mein ganzes Vermögen steckt hier«, er zeigte auf seine Seitentasche, »und in diesem Augenblick bin ich ein reicher Mann; aber heute gehe ich wieder in den Klub und komme vielleicht als Bettler heraus. Wer sich mit mir zum Spiel hinsetzt, der will mich bis aufs Hemd ausplündern, geradeso wie ich ihn. Nun, da ringen wir eben miteinander, und darin besteht das Vergnügen.«
»Wenn Sie nun aber verheiratet wären, wie müßte dann Ihrer Frau zumute sein?« meinte Anna.
[245] Jaschwin lachte.
»Darum habe ich eben nicht geheiratet und es auch nie vorgehabt.«
»Und Helsingfors?« fragte Wronski, indem er sich gleichfalls an dem Gespräch beteiligte und Anna anblickte, die mit lächelndem Gesicht dasaß. Aber als Anna seinem Blick begegnete, nahm ihr Gesicht auf einmal einen kalten, strengen Ausdruck an, als ob sie zu ihm sagen wollte: ›Ich habe das Vorhergegangene nicht vergessen. Es ist alles, wie es war.‹
»Haben Sie sich wirklich nie verliebt?« sagte sie zu Jaschwin.
»Ach Gott, und wie oft! Aber achten Sie auf den Unterschied: der eine setzt sich an den Kartentisch, ist aber imstande, sofort aufzustehen, wenn die Zeit des Stelldicheins da ist; ich dagegen gebe mich mit der Liebe ab, aber nur so weit, daß ich abends zu meiner Spielpartie nicht zu spät komme. Das ist meine Stellung zu dieser Sache.«
»Aber nach dergleichen frage ich nicht, sondern nach etwas Wirklichem, Ernstem.« Sie wollte sagen »Helsingfors«; aber es widerstrebte ihr, das Wort zu gebrauchen, das Wronski ausgesprochen hatte.
In diesem Augenblick trat Woitow ein, der einen Hengst kaufen wollte; Anna stand auf und verließ das Zimmer.
Bevor Wronski von Hause wegfuhr, kam er noch einmal zu ihr. Sie wollte zuerst so tun, als suche sie etwas auf dem Tische; aber dann schämte sie sich einer solchen Heuchelei und schaute ihm mit einem kalten Blick gerade ins Gesicht.
»Was wünschen Sie?« fragte sie ihn auf französisch.
»Ich wollte Gambettas Stammbaum holen; ich habe ihn verkauft«, antwortete er in einem Tone, der klarer als alle Worte besagte: ›Ich habe keine Zeit zu weiteren Auseinandersetzungen, und es würde ja doch zu nichts führen.‹
›Ich fühle mich ihr gegenüber nicht schuldig‹, dachte er. ›Wenn sie sich selbst bestrafen will, um so schlimmer für sie.‹ Aber als er hinausging, war es ihm, als sagte sie etwas, und sein Herz zuckte plötzlich voll Mitleid mit ihr zusammen.
»Was sagtest du, Anna?« fragte er.
»Ich habe nichts gesagt«, antwortete sie ebenso kalt und ruhig wie vorher.
›Nun, wenn du nichts gesagt hast, dann um so schlimmer‹, dachte er, wieder kühl werdend, wandte sich um und ging weg. Beim Hinausgehen erblickte er im Spiegel ihr blasses Gesicht mit den zitternden Lippen. Er wollte stehenbleiben und ein tröstendes Wort zu ihr sagen; aber seine Füße hatten ihn aus dem Zimmer getragen, ehe er noch etwas hatte ausfindig machen [246] können, was er ihr sagen konnte. Diesen ganzen Tag verlebte er außer dem Hause, und als er spät abends heimkehrte, meldete ihm das Mädchen, Anna Arkadjewna habe Kopfschmerzen und lasse ihn bitten, nicht zu ihr zu kommen.
Noch nie hatte bei ihnen ein Streit einen ganzen Tag gedauert. Heute war dies zum ersten Male geschehen. Und das war nicht ein bloßer Streit gewesen, sondern ein offenes Bekenntnis völliger Erkaltung. Wie hatte er nur, fragte sich Anna, es fertigbringen können, sie so anzublicken, wie er sie angeblickt hatte, als er ins Zimmer gekommen war, um den Stammbaum zu holen? Sie anzublicken, zu sehen, daß ihr das Herz vor Verzweiflung brach, und schweigend mit diesem gleichmütigen, ruhigen Gesicht hinauszugehen? Er war nicht nur kalt gegen sie, sondern er haßte sie, weil er eine andere Frau liebte; das war sonnenklar, dachte Anna.
Und während sie sich alle die grausamen Worte ins Gedächtnis zurückrief, die er gesagt hatte, dachte sie sich dazu noch Worte aus, die er offenbar hatte sagen wollen und zu sagen fähig gewesen war, und geriet immer mehr und mehr in Erregung.
›Ich halte Sie nicht‹, hätte er sagen können. ›Sie können gehen, wohin Sie wollen. Sie haben sich von Ihrem Manne wahrscheinlich deswegen nicht scheiden lassen wollen, um nötigenfalls zu ihm zurückkehren zu können. Nun, kehren Sie also zu ihm zurück! Wenn Sie Geld brauchen, will ich Ihnen welches geben. Wieviel Rubel brauchen Sie?‹
Die grausamsten Worte, die ein roher Mensch nur überhaupt hätte sagen können, ließ sie ihn in ihrer Einbildung zu ihr sagen und verzieh sie ihm nicht, wie wenn er sie wirklich gesagt hätte.
›Aber hat er mir nicht erst gestern noch seine Liebe beteuert? Und er ist doch ein wahrheitsliebender, ehrenhafter Mann. Habe ich mich nicht schon oft unnötigerweise der Verzweiflung überlassen?‹ sagte sie sich trotzdem bald darauf.
Diesen ganzen Tag, mit Ausnahme einer zwei Stunden in Anspruch nehmenden Fahrt zu der Schneiderin Wilson, verbrachte Anna in Zweifeln, ob alles zu Ende sei oder noch Hoffnung auf eine Aussöhnung bestehe, und ob sie sofort wegfahren oder noch einmal mit ihm sprechen solle. Sie wartete den ganzen Tag auf ihn, und als sie am Abend auf ihr Zimmer ging und Befehl gab, ihm zu melden, daß sie Kopfschmerzen habe, suchte sie in folgender [247] Weise ins klare zu kommen: ›Wenn er trotz der Meldung des Mädchens kommt, so bedeutet das, daß er mich noch liebt. Kommt er nicht, so bedeutet das, daß alles zu Ende ist, und dann werde ich mich entscheiden, was ich zu tun habe! ...‹
Sie hörte am Abend das Geräusch, als sein Wagen vorfuhr und hielt, sein Klingeln, seine Schritte, und wie er mit dem Mädchen sprach. Er glaubte, was ihm gemeldet wurde, fühlte kein Bedürfnis, noch Weiteres in Erfahrung zu bringen, und begab sich auf sein Zimmer. Folglich war alles zu Ende.
Klar und deutlich stand ihr der Tod als das einzige Mittel vor Augen, um in seinem Herzen die Liebe zu ihr wieder zu erwecken, ihn zu bestrafen und den Sieg in dem Kampfe zu behaupten, den sie oder vielmehr der in ihrem Herzen hausende böse Geist mit diesem Manne führte.
Jetzt war es ganz gleich, ob sie nach Wosdwischenskoje fuhr oder nicht, ob sie von ihrem Manne die Scheidung erlangte oder nicht; all das war nicht von Wichtigkeit. Nur eines war wichtig und notwendig: er mußte bestraft werden.
Als sie sich die gewohnte Dosis Opium eingoß und überlegte, daß sie nur das ganze Fläschchen auszutrinken brauche, um zu sterben, da erschien ihr das als eine so leichte, einfache Sache, daß sie wieder mit einem gewissen Genuß daran dachte, wie er sich grämen und sein Verhalten bereuen und ihrer in Liebe gedenken werde, wenn es nun zu spät sein würde. Sie lag mit offenen Augen im Bett und blickte beim Licht einer einzigen, tief herabgebrannten Kerze nach den Stuckverzierungen der Zimmerdecke und nach dem Schatten des Bettschirms, der einen Teil der Decke verdunkelte, und stellte sich lebhaft seine Empfindungen vor, wenn sie nun nicht mehr leben und für ihn nur noch eine Erinnerung sein würde. ›Wie habe ich nur so grausame Worte zu ihr sprechen können?‹ würde er sagen. ›Wie habe ich aus dem Zimmer gehen können, ohne mit ihr zu sprechen. Aber jetzt ist sie dahin. Sie ist für allezeit von uns gegangen. Sie ist dort ...‹ Plötzlich begann der Schatten des Bettschirms zu schwanken und dehnte sich über das ganze Gesims und die ganze Zimmerdecke aus; andere Schatten liefen ihm von der anderen Seite her entgegen; für einen Augenblick huschten die Schatten wieder davon; aber dann rückten sie von neuem mit erhöhter Geschwindigkeit heran, zuckten hin und her, flossen zusammen, und alles wurde dunkel. ›Das ist der Tod!‹ dachte sie. Und es packte sie eine solche Angst, daß sie lange nicht darüber ins klare kommen konnte, wo sie eigentlich war, und lange nicht imstande war, mit den zitternden Händen die Streichhölzer zu finden und eine andere Kerze für die heruntergebrannte [248] und erloschene anzuzünden. ›Nein, alles, alles – nur leben, leben! Ich liebe ihn ja. Und er liebt mich ja auch. Dieser Streit ist abgetan und wird verklingen‹, sagte sie bei sich und fühlte, wie Tränen der Freude über die Rückkehr zum Leben über ihre Wangen liefen. Und um sich vor ihrer Angst zu retten, ging sie rasch zu ihm in sein Zimmer.
Er lag dort in festem Schlafe. Sie trat zu ihm heran, beleuchtete sein Gesicht von oben her und betrachtete es lange. Jetzt, wo er schlafend vor ihr lag, liebte sie ihn so, daß sie bei seinem Anblick Tränen der Zärtlichkeit nicht zurückhalten konnte; aber sie wußte, daß, wenn er jetzt aufwachte, er sie im Gefühl seines Rechtes mit kaltem Blick ansehen würde, und daß sie, bevor sie zu ihm von ihrer Liebe sprechen könnte, ihm zuerst würde beweisen müssen, wie sehr er ihr gegenüber im Unrecht sei. So kehrte sie, ohne ihn geweckt zu haben, in ihr Zimmer zurück und versank nach einer zweiten Dosis Opium gegen Morgen in einen schweren Halbschlaf, währenddessen sie sich ihrer selbst die ganze Zeit über bewußt blieb.
Ein schrecklicher Traum, der sich bei ihr schon mehrmals, noch vor der Verbindung mit Wronski, wiederholt hatte, ängstigte sie gegen Morgen wieder einmal und weckte sie auf: Ein altes Männchen mit wirrem Barte bückte sich über allerlei Eisenwerk und nahm damit irgend etwas vor, wobei er sinnlose französische Worte vor sich hinredete; und wie immer bei diesem Traume fühlte sie (und eben dies war das Beängstigende), daß dieser Mensch sie gar nicht beachtete, obwohl er seine furchtbare Tätigkeit an dem Eisen über ihrem Körper ausführte. Sie erwachte in kalten Schweiß gebadet.
Als sie aufstand, erinnerte sie sich an den gestrigen Tag nur wie durch einen Nebel.
›Es hat ein Streit stattgefunden. Dergleichen ist schon mehrmals vorgekommen. Ich habe ihm sagen lassen, ich hätte Kopfschmerzen, und er ist nicht mehr zu mir hereingekommen. Morgen reisen wir ab; ich muß mit ihm sprechen und mich zur Abreise fertigmachen‹, sagte sie zu sich selbst. Als sie erfuhr, daß er in seinem Zimmer sei, ging sie zu ihm hin. Während sie durch das Besuchszimmer ging, hörte sie, daß vor der Haustür ein Wagen anhielt; sie sah durch das Fenster und erblickte eine Kutsche, aus der sich ein junges Mädchen mit einem lila Hut herausbeugte; das junge Mädchen rief dem Diener, der die Klingel zog, einen Befehl zu. Nachdem im Hausflur ein paar Worte gewechselt waren, kam jemand herauf, und in dem an das Besuchszimmer anstoßenden Raum wurden Wronskis Schritte vernehmbar. Er ging eilig die Treppe hinab. Anna trat wieder [249] ans Fenster. Da kam er ohne Hut aus der Haustür heraus und trat zum Wagen. Das junge Mädchen mit dem lila Hut überreichte ihm ein Päckchen. Wronski sagte lächelnd einige Worte zu ihr. Der Wagen fuhr davon, und Wronski ging rasch wieder ins Haus zurück und stieg die Treppe hinauf.
Der Nebel, der in ihrer Seele alles bedeckt hatte, teilte sich plötzlich. Die gestrigen Gefühle preßten ihr mit neuem Schmerz das kranke Herz zusammen. Sie konnte jetzt nicht begreifen, wie sie sich hatte so weit entwürdigen können, nach dem Streit noch einen ganzen Tag mit ihm in seinem Hause zuzubringen. Sie trat zu ihm ins Zimmer, um ihm ihren Entschluß mitzuteilen.
»Da kam eben die Fürstin Sorokina mit ihrer Tochter vorgefahren und brachte mir von maman das Geld und die Papiere. Ich hatte sie gestern noch nicht bekommen können. Was macht dein Kopf? Geht es besser?« fragte er in ruhigem Ton; den düsteren, feierlichen Ausdruck ihres Gesichts wollte er nicht sehen und nicht verstehen.
Mitten im Zimmer stehend, blickte sie ihn stumm und unverwandt an. Er schaute nach ihr hin, machte für einen Augenblick ein finsteres Gesicht und fuhr dann fort, den Brief, den er erhalten hatte, zu lesen. Sie wandte sich um und ging langsam zur Tür. Noch konnte er sie zurückrufen; aber sie war schon bis zur Tür gelangt, und er schwieg immer noch, und es war nichts zu hören als das knisternde Geräusch beim Umwenden des Blattes.
»Ja, was ich noch sagen wollte«, sagte er in dem Augenblick, als sie schon in der Tür war, »es ist doch endgültig, daß wir morgen reisen? Nicht wahr?«
»Sie mögen wohl reisen, aber nicht ich«, erwiderte sie, sich ihm zuwendend.
»Anna, so können wir nicht weiterleben ...«
»Sie mögen wohl reisen, aber nicht ich«, sagte sie noch einmal.
»Das wird unerträglich!«
»Sie ... Sie werden es bereuen«, sagte sie und ging hinaus.
Erschrocken über den Ausdruck von Verzweiflung, mit dem sie diese Worte gesprochen hatte, sprang er auf und wollte ihr nacheilen; aber er besann sich und setzte sich mit fest zusammengepreßten Zähnen und gerunzelter Stirn wieder hin. Diese, wie er fand, unpassende Drohung mit irgend etwas empörte ihn. ›Ich habe alles mögliche versucht‹, dachte er. ›Es bleibt nur noch ein Mittel übrig: sich nicht darum zu kümmern.‹ Darauf machte er sich fertig, um in die Stadt und noch einmal zu seiner Mutter zu fahren, von der er sich noch die Unterschrift unter die Kreditbriefe geben lassen mußte.
[250] Sie hörte den Schall seiner Schritte in seinem Arbeitszimmer und im Eßzimmer. An der Tür des Besuchszimmers blieb er stehen. Aber er kam nicht zu ihr zurück, sondern gab nur Befehl, den Hengst in seiner Abwesenheit Woitow zu übergeben. Dann hörte sie, wie der Wagen vorfuhr, wie die Haustür geöffnet wurde und er hinausging. Aber da kam er wieder in den Flur zurück, und es lief jemand die Treppe hinauf. Es war der Kammerdiener, der die vergessenen Handschuhe holte. Sie trat ans Fenster und sah, wie er ohne hinzublicken die Handschuhe nahm, den Kutscher am Rücken berührte und ihm etwas sagte. Dann setzte er sich, ohne einen Blick nach den Fenstern zu werfen, in seiner gewöhnlichen Haltung, das eine Bein über das andere geschlagen, im Wagen zurecht und verschwand, mit dem Anziehen des einen Handschuhs beschäftigt, hinter der nächsten Straßenecke.
›Er ist weggefahren! Es ist alles aus!‹ sagte sich Anna, die am Fenster stand, und infolge einer eigenartigen Gedankenverbindung flossen mit diesem jähen Schmerz die Erinnerung an die Finsternis nach dem Erlöschen der Kerze und der Gedanke an den furchtbaren Traum in eins zusammen, und ihr Herz wurde von kaltem Entsetzen erfüllt.
»Nein, das kann nicht sein!« schrie sie auf, schritt hastig durch das Zimmer und klingelte stark. Es war ihr jetzt ein so ängstliches Gefühl, allein zu sein, daß sie, ohne das Herbeikommen des Dieners abzuwarten, ihm entgegenging.
»Erkundigen Sie sich, wohin der Graf gefahren ist«, sagte sie.
Der Diener antwortete, der Herr Graf sei nach den Ställen gefahren.
»Der Herr Graf hat befohlen zu melden, der Wagen werde sofort zurückkommen, für den Fall, daß es der gnädigen Frau gefällig wäre auszufahren.«
»Gut. Warten Sie. Ich will sofort ein paar Zeilen schreiben. Schicken Sie Michail damit nach den Ställen. So schnell wie möglich.«
Sie setzte sich hin und schrieb:
»Ich bin an allem schuld. Komm nach Hause; wir müssen uns miteinander aussprechen. Um Gottes willen, komm; ich ängstige mich.«
Sie steckte das Blatt in einen Umschlag, verschloß ihn und gab ihn dem Diener.
[251] Sie hatte jetzt Furcht vor dem Alleinsein und verließ unmittelbar nach dem Diener das Zimmer und ging in die Kinderstube.
›Was ist das? Das ist ja eine Verwechslung, das ist nicht er! Wo sind seine blauen Augen, sein hübsches, schüchternes Lächeln?‹ war ihr erster Gedanke, als sie statt Sergeis, den sie bei ihrer Gedankenverwirrung in der Kinderstube zu erblicken erwartet hatte, ihr dickes, rotbackiges Töchterchen mit dem schwarzen, krausen Haar vor sich sah. Die Kleine saß am Tisch, klopfte ausdauernd und kräftig mit einem Glasstöpsel auf ihm herum und sah die Mutter mit ihren dunklen Augen, die an schwarze Johannisbeeren erinnerten, gedankenlos an. Anna antwortete der Engländerin auf deren Frage, sie fühle sich ganz wohl und werde morgen aufs Land fahren, setzte sich zu der Kleinen und ließ den Stöpsel vor ihr umherkreiseln. Aber das laute, helle Lachen des Kindes und die Art, wie es dabei die Augenbrauen bewegte, erinnerten sie so lebhaft an Wronski, daß sie, ein aufsteigendes Schluchzen gewaltsam zurückhaltend, aufstand und hinausging. ›Ist wirklich alles zu Ende? Nein, es ist nicht möglich!‹ dachte sie. ›Er wird zurückkommen. Aber welche Erklärung wird er mir für dieses Lächeln geben und für diese eigentümliche Lebhaftigkeit, nachdem er mit ihr gesprochen hatte? Aber wenn er mir auch keine Erklärung dafür gibt, so will ich ihm doch vertrauen. Wenn ich ihm nicht mehr vertraue, dann bleibt mir nur eines übrig ... und das will ich nicht.‹
Sie sah nach der Uhr. Es waren zwölf Minuten vergangen. ›Jetzt hat er schon meinen Brief erhalten und kommt zurück. Es kann nicht mehr lange dauern, noch zehn Minuten ... Aber wie, wenn er nicht kommt? Nein, das ist nicht möglich. Er darf mich nicht mit verweinten Augen sehen. Ich will gehen und sie mir waschen. Ja, ja, habe ich mir denn schon das Haar gemacht oder nicht?‹ fragte sie sich, konnte sich aber nicht erinnern. Sie befühlte ihren Kopf mit der Hand. ›Ja, ich bin gekämmt; aber wann es geschehen ist, darauf kann ich mich wirklich nicht besinnen.‹ Sie traute sogar ihrer Hand nicht und trat vor den Spiegel, um zu sehen, ob sie wirklich gekämmt sei oder nicht. Sie war gekämmt und hatte keine Erinnerung daran, wann sie es getan habe. ›Wer ist das?‹ dachte sie, als sie im Spiegel ein gerötetes Gesicht mit seltsam glänzenden Augen erblickte, die sie erschrocken ansahen. ›Ach, das bin ich‹, sagte sie zu sich, plötzlich zu Verstand kommend; sie betrachtete im Spiegel ihre ganze Gestalt und fühlte auf einmal an sich seine Küsse und machte zusammenzuckend eine Bewegung mit den Schultern. Dann hob sie die Hand an die Lippen und küßte sie.
[252] ›Was ist das? Ich werde wahnsinnig‹, dachte sie und ging ins Schlafzimmer, wo Annuschka mit dem Aufräumen beschäftigt war.
»Annuschka«, sagte sie, indem sie vor ihr stehenblieb und sie ansah, ohne selbst zu wissen, was sie eigentlich zu ihr sagen wollte.
»Sie wollten zu Darja Alexandrowna fahren«, sagte Annuschka, die zu verstehen schien, was in der Seele ihrer Herrin vorging.
»Zu Darja Alexandrowna? Ja, da will ich hinfahren.«
›Fünfzehn Minuten hin, fünfzehn zurück. Er ist schon auf dem Rückwege, er wird gleich hier sein.‹ Sie zog ihre Uhr heraus und blickte auf das Zifferblatt. ›Aber wie hat er überhaupt wegfahren können, obgleich er doch sah, in welchem Zustand er mich zurückließ? Wie kann er es ertragen zu leben, ohne sich mit mir versöhnt zu haben?‹ Sie trat ans Fenster und sah auf die Straße. Der Zeit nach konnte er schon zurück sein. Aber ihre Berechnung war vielleicht unrichtig, und so begann sie denn aufs neue, aus der Erinnerung festzustellen, wann er weggefahren war, und die Minuten zusammenzuzählen.
Während sie vom Fenster weg zu der großen Uhr ging, um die ihrige mit ihr zu vergleichen, fuhr ein Wagen vor. Sie sah aus dem Fenster und erblickte Wronskis Kutsche. Aber es kam niemand die Treppe herauf, und unten hörte sie Stimmen. Es war der Bote, den sie abgeschickt hatte, und der nun in dem Wagen zurückgekommen war. Sie ging zu ihm hinunter.
»Ich habe den Herrn Grafen nicht mehr angetroffen. Der Herr Graf war nach dem Nischegoroder Bahnhof gefahren.«
»Was willst du noch? Was hast du da?« fragte sie den lustigen, rotbackigen Michail, der ihr ihren Brief wieder zurückgab.
›Ach ja, er hat ihn ja nicht bekommen‹, fiel ihr ein.
»Fahre mit diesem Briefe zu der Gräfin Wronskaja nach ihrem Landgute, du weißt es ja wohl? Und bringe mir sofort Antwort«, sagte sie zu dem Boten.
›Und ich? Was werde ich selbst unterdessen tun?‹ überlegte sie. ›Ja, ich will zu Dolly fahren, das ist wahr; sonst werde ich noch wahnsinnig. Ich kann ja auch noch an ihn telegrafieren.‹ Und sie schrieb ein Telegramm:
»Ich muß Sie notwendig sprechen; kommen Sie sogleich.«
Nachdem sie es abgesandt hatte, ging sie in ihr Zimmer, um sich anzukleiden. Als sie fertig war und den Hut auf dem Kopfe hatte, blickte sie noch einmal der braven, ruhigen Annuschka in die Augen (sie hatte sich vor einiger Zeit verheiratet und nun vollere Körperformen bekommen). Unverkennbares Mitgefühl sprach aus Annuschkas kleinen, gutmütigen, grauen Augen.
[253] »Annuschka, liebe Annuschka, was soll ich tun?« sagte Anna schluchzend und ließ sich hilflos auf einen Sessel sinken.
»Warum beunruhigen Sie sich so, Anna Arkadjewna! So etwas kommt ja überall vor. Fahren Sie aus; da werden Sie auf andere Gedanken kommen«, sagte die Dienerin.
»Ja, ich will ausfahren«, sagte Anna mit wiedergewonnener Fassung und stand auf. »Wenn in meiner Abwesenheit ein Telegramm kommen sollte, so soll es zu Darja Alexandrowna geschickt werden ... Oder nein, ich werde selbst bald zurück sein.«
›Ja, ich darf nicht denken, ich muß irgend etwas tun: ausfahren, vor allen Dingen aus diesem Hause herauskommen‹, sagte sie zu sich selbst und horchte voll Angst auf das furchtbare Pochen ihres Herzens. Sie ging rasch aus dem Hause und setzte sich in den Wagen.
»Wohin befehlen Sie?« fragte der Diener Peter, bevor er zum Kutscher auf den Bock stieg.
»Nach der Snamenka, zu Oblonskis.«
Das Wetter war heiter und klar. Den ganzen Morgen über war ein dichter, feiner Regen gefallen, und erst vor kurzem hatte es sich aufgehellt. Die Blechdächer, die Fußwegplatten, die Pflastersteine, die Räder und das Lederzeug und die Messing- und Blechteile an den Wagen, alles glänzte hell in den Strahlen der Maisonne. Es war drei Uhr, also die Zeit, wo es auf den Straßen am lebhaftesten zugeht.
In einer Ecke des sanft fahrenden Wagens sitzend, der sich bei dem schnellen Trabe der davorgespannten Grauen kaum in den schmiegsamen Federn schaukelte, ging Anna, trotz des unaufhörlichen Rasselns der Räder und des schnellen Wechsels der in der reinen Luft vorüberziehenden Bilder, von neuem die Ereignisse der letzten Tage in ihrem Gedächtnisse durch und gelangte jetzt zu einer ganz anderen Auffassung ihrer Lage als vorher zu Hause. Jetzt stand ihr der Gedanke an den Tod nicht mehr in so furchtbarer Klarheit vor Augen, und der Tod selbst erschien ihr nicht mehr unvermeidlich. Jetzt machte sie sich Vorwürfe wegen der Selbstdemütigung, zu der sie sich herbeigelassen hatte. ›Ich flehe ihn an, mir zu verzeihen. Ich habe mich ihm unterworfen, habe bekannt, daß ich an allem schuld bin. Warum? Kann ich denn ohne ihn nicht leben?‹ Und ohne sich eine Antwort auf die Frage zu geben, wie sie es anfangen wolle, ohne ihn zu leben, begann sie die Firmenschilder zu lesen.[254] ›Kontor und Niederlage. Zahnarzt ... Ja, ich will Dolly alles sagen. Sie kann Wronski nicht leiden. Ich werde mich dabei schämen müssen, und es wird mir ein großer Schmerz sein; aber trotzdem will ich ihr alles sagen. Sie hat mich gern, und ich will ihrem Rate folgen. Ich werde mich ihm nicht unterwerfen und nicht dulden, daß er den Versuch macht, mich zu erziehen. Filippow, Feinbäckerei. Es heißt, daß manche Bäcker Teig von hier nach Petersburg schicken. Das Moskauer Wasser ist vorzüglich. Ja, die Wasserleitung von Mütischtschi; daher auch die guten Pfannkuchen.‹ Und sie erinnerte sich, wie sie vor langer, langer Zeit (sie war damals erst siebzehn Jahre alt gewesen) mit ihrer Tante nach dem Troizakloster gefahren war. ›Damals fuhr man dorthin noch zu Wagen. War ich das wirklich, das Mädchen mit den roten Händen? Wie vieles von dem, was mir damals so schön und unerreichbar schien, hat sich als nichtig erwiesen, und das, was damals war, ist mir nun für ewig unerreichbar. Hätte ich wohl damals geglaubt, daß ich bis zu einem solchen Grade der Selbstdemütigung gelangen könnte? Wie stolz und zufrieden er sein wird, wenn er meinen Brief bekommt! Aber ich werde ihm beweisen ... Wie schlecht diese Farbe riecht. Warum die Leute nur immerzu bauen und anstreichen? Moden- und Putzgeschäft‹, las sie. Ein Mann grüßte sie. Es war Annuschkas Ehemann. ›Unsere Parasiten‹, sie erinnerte sich an diesen Ausdruck, den Wronski von solchen Anhängseln ihres Haushaltes gebraucht hatte. ›Unsere? Warum unsere? Es ist furchtbar, daß man die Vergangenheit nicht mit der Wurzel ausreißen kann. Sie zu vernichten ist nicht möglich; man kann nur die Erinnerung daran zudecken. Und ich werde sie zudecken.‹ Und nun erinnerte sie sich ihres früheren Zusammenlebens mit Alexei Alexandrowitsch und wie sie diese ganze Zeit aus ihrem Gedächtnisse weggewischt hatte. ›Dolly wird denken, daß ich nun schon den zweiten Mann verlasse und daß ich daher gewiß unrecht habe. Will ich denn recht haben? Ich kann es ja doch nicht!‹ sagte sie sich und war nahe daran zu weinen. Aber da fing sie plötzlich an zu überlegen, worüber wohl diese beiden jungen Mädchen da lächeln mochten. ›Gewiß über eine Liebesangelegenheit. Sie wissen nicht, wie trübe und erniedrigend das ist ... Da ist der Boulevard, eine Menge Kinder! Drei Knaben laufen da und spielen Pferdchen. Ach, Sergei! Und ich werde alles verlieren und meinen Sohn nicht wiederbekommen. Ja, alles ist verloren, wenn Wronski nicht zurückkommt. Möglicherweise ist er zum Zug zu spät gekommen und schon jetzt nach Hause zurückgekehrt. Du trägst wie der nach neuen Demütigungen Verlangen!‹ sagte sie zu sich [255] selbst. ›Nein, ich will zu Dolly gehen und ihr offen sagen: »Ich bin unglücklich; ich habe es verdient; ich bin selbst schuld daran. Aber bei alledem: ich bin unglücklich; hilf mir!« Diese Pferde, dieser Wagen – wie zuwider ich mir selbst in diesem Wagen bin; alles gehört ihm; aber ich werde das alles bald nicht mehr sehen.‹
Damit beschäftigt, sich die Worte zurechtzulegen, mit denen sie Dolly alles mitteilen wollte, wobei sie absichtlich in den Wunden ihres Herzens wühlte, stieg Anna die Treppe hinauf.
»Ist Besuch da?« fragte sie im Vorzimmer.
»Katerina Alexandrowna Ljewina«, antwortete der Diener.
›Kitty! Dieselbe Kitty, in die Wronski verliebt gewesen ist!‹ dachte Anna. ›Dieselbe, deren er oft noch in Liebe gedacht hat. Er bedauert, daß er sie nicht geheiratet hat. Aber an mich denkt er nur mit einem Gefühl des Hasses und bereut es, daß er sich mit mir verbunden hat.‹
Die beiden Schwestern führten, als Anna eintraf, gerade ein eifriges Gespräch über Säuglingsernährung. Dolly empfing den Besuch, der in diesem Augenblick ihr Gespräch störend unterbrach, allein im anstoßenden Zimmer.
»Ah, du bist noch nicht abgereist? Ich hatte selbst vor, zu dir zu kommen«, sagte sie. »Ich habe heute einen Brief von Stiwa erhalten.«
»Wir haben auch ein Telegramm von ihm bekommen«, erwiderte Anna und sah sich dabei um, ob Kitty nicht zu sehen sei.
»Er schreibt, er könne gar nicht begreifen, was Alexei Alexandrowitsch eigentlich wolle; aber er werde nicht abreisen, ehe er nicht eine klare Antwort erhalten habe.«
»Ich glaubte, du hättest Besuch. Kann ich den Brief lesen?«
»Ja, Kitty ist da«, antwortete Dolly verlegen. »Sie ist im Kinderzimmer geblieben. Sie ist sehr krank gewesen.«
»Ich habe davon gehört. Kann ich den Brief lesen?«
»Ich will ihn dir gleich holen. Aber Alexei Alexandrowitsch spricht ja keine Weigerung aus; im Gegenteil, Stiwa hat Hoffnung«, sagte Dolly, in der Tür stehenbleibend.
»Ich hoffe nichts mehr und wünsche nichts mehr«, versetzte Anna.
›Was bedeutet denn das?‹ dachte Anna, als sie allein geblieben war. ›Hält Kitty es ihrer für unwürdig, mit mir zusammenzutreffen? Vielleicht hat sie darin recht. Aber ihr, die in Wronski verliebt gewesen ist, steht es nicht an, mir ihre Geringschätzung zu zeigen, mag sie auch damit recht haben. Ich weiß, daß mich in meiner Lage keine anständige Frau empfangen kann. Ich [256] weiß auch, daß ich ihm von jenem ersten Augenblick an alles geopfert habe. Und das ist nun mein Lohn! Oh, wie ich ihn hasse! Und wozu bin ich hierhergekommen? Hier ist mir nur noch schlimmer zumute, hier fühle ich mich nur noch mehr niedergedrückt.‹ Sie hörte von dem anderen Zimmer her die Stimmen der Schwestern, die miteinander sprachen. ›Und was soll ich jetzt zu Dolly sagen? Soll ich Kitty damit eine Genugtuung bereiten, daß ich sie sehen lasse, wie unglücklich ich bin? Soll ich mich von ihr beschützen lassen? Nein, auch Dolly wird für meine Verfassung kein Verständnis haben, und ich weiß gar nicht, was ich ihr sagen könnte. Es würde mich nur interessieren, Kitty zu sehen und ihr zu zeigen, wie ich jetzt alle und alles verachte, wie gleichgültig mir jetzt alles ist.‹
Dolly kam mit dem Briefe wieder herein. Anna las ihn durch und reichte ihn ihr schweigend zurück.
»Das habe ich alles gewußt«, sagte sie dann. »Und das alles ist für mich auch belanglos.«
»Aber warum denn? Ich meinerseits habe Hoffnung«, erwiderte Dolly und blickte Anna prüfend an. Sie hatte sie noch nie in einem so sonderbaren, gereizten Zustand gesehen. »Wann reist du denn ab?« fragte sie.
Anna blickte mit halb zugekniffenen Augen vor sich hin und antwortete nicht.
»Warum versteckt sich denn Kitty vor mir?« fragte sie mit einem Blick nach der Tür und errötete.
»Ach, Torheit! Sie nährt selbst, und das geht nicht recht vonstatten, und da habe ich ihr geraten ... Sie wird sich sehr freuen. Sie kommt sofort«, brachte Dolly in ungeschickter Weise heraus, da sie sich nicht darauf verstand, die Unwahrheit zu sagen. »Da ist sie ja schon.«
Als Kitty gehört hatte, daß Anna gekommen sei, hatte sie nicht zu ihr hereinkommen wollen; aber Dolly hatte sie doch dazu überredet. Sich zusammennehmend, kam Kitty herein, ging errötend auf Anna zu und reichte ihr die Hand.
»Ich freue mich sehr«, sagte sie mit zitternder Stimme.
Kitty war verlegen infolge des Kampfes, der in ihrer Seele zwischen der feindseligen Gesinnung gegen diese schlechte Frau und dem Wunsche, gegen sie Nachsicht zu üben, vorging; aber sobald sie Annas schönes, anziehendes Gesicht erblickte, war sofort alle Feindschaft verschwunden.
»Ich würde mich nicht gewundert haben, wenn Sie gewünscht hätten, mit mir nicht zusammenzutreffen. Ich bin an all dergleichen gewöhnt. Sie sind krank gewesen? Ja, Sie sehen recht verändert aus«, sagte Anna.
[257] Kitty fühlte, daß Annas auf sie gerichteter Blick etwas Feindseliges hatte. Sie erklärte sich diese Feindseligkeit durch die peinliche Lage, in der sich Anna, von der sie selbst früher Beistand angenommen hatte, ihr gegenüber jetzt befand, und empfand inniges Mitleid mit ihr.
Sie sprachen über Kittys Krankheit, über Kittys Kind, über Stiwa; aber Anna interessierte sich offenbar für das alles nicht.
»Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen«, sagte sie, indem sie aufstand.
»Wann reist ihr denn?«
Aber Anna gab wieder keine Antwort, sondern wandte sich zu Kitty.
»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen«, sagte sie lächelnd.
»Ich habe soviel über Sie von allen Seiten gehört, sogar aus dem Munde Ihres Mannes. Er hat mir einen Besuch gemacht und mir sehr gut gefallen«, fügte sie, offenbar in böser Absicht, hinzu. »Wo ist er denn jetzt?«
»Er ist aufs Land gefahren«, antwortete Kitty errötend.
»Grüßen Sie ihn von mir; bitte, vergessen Sie es nicht.«
»Ich werde es bestimmt nicht vergessen«, erwiderte Kitty harmlos und blickte ihr voll Mitleid in die Augen.
»Also dann leb wohl, Dolly!« Anna küßte Dolly, drückte Kitty die Hand und ging rasch hinaus.
»Sie ist immer noch dieselbe und immer noch ebenso anziehend. Eine sehr schöne Frau!« sagte Kitty, als sie mit ihrer Schwester wieder allein war. »Aber es ist etwas Mitleiderregendes an ihr, etwas entsetzlich Mitleiderregendes.«
»Ja, heute war sie ganz eigentümlich«, versetzte Dolly. »Als ich sie ins Vorzimmer hinausbegleitete, kam es mir vor, wie wenn sie losweinen wollte.«
Anna setzte sich nach diesem Besuche in schlimmerem Seelenzustande in den Wagen als beim Wegfahren von zu Hause. Zu ihren früheren Qualen war jetzt noch das Gefühl gekommen, das sie bei der Begegnung mit Kitty deutlich empfunden hatte: daß sie auch von dieser verachtet und verschmäht werde.
»Wohin befehlen Sie? Nach Hause?« fragte Peter.
»Ja, nach Hause«, antwortete sie mechanisch, ohne jetzt überhaupt daran zu denken, wohin sie fuhr.
›Wie Dolly und Kitty mich angesehen haben, wie etwas Schreckliches, Unbegreifliches, Staunenerregendes. Was kann denn der dem andern so eifrig zu schildern haben?‹ dachte sie [258] beim Anblick zweier Fußgänger. ›Kann man denn einem andern schildern, was man empfindet? Ich wollte Dolly alles auseinandersetzen; nur gut, daß ich es nicht getan habe. Wie sie sich über mein Unglück gefreut haben würde! Sie würde das ja nicht gezeigt haben; aber ihr hauptsächliches Gefühl wäre doch Freude darüber gewesen, daß ich nun meine Strafe hätte für die Genüsse, um die sie mich beneidet hat. Und Kitty, die würde sich noch mehr gefreut haben. Diese Kitty durchschaue ich ganz und gar! Sie weiß, daß ich gegen ihren Mann ungewöhnlich liebenswürdig gewesen bin. Und da ist sie nun eifersüchtig und haßt mich. Auch verachtet sie mich. In ihren Augen bin ich ein sittenloses Weib. Wäre ich ein sittenloses Weib, ich hätte ihren Mann in mich verliebt machen können, wenn ich es gewollt hätte. Und ein wenig habe ich es ja auch gewollt. Da, der ist mit sich zufrieden‹, dachte sie über einen dicken, rotbackigen Herrn, der ihr, in einem Wagen sitzend, begegnete; er hielt sie für eine ihm bekannte Dame, nahm den glänzenden Hut von dem kahlen, glänzenden Schädel und kam dann zu der Erkenntnis, daß er sich geirrt hatte. ›Er glaubte mich zu kennen. Und dabei kennt er mich ebensowenig, wie mich sonst irgend jemand auf der Welt kennt. Kenne ich mich doch nicht einmal selbst. Ich kenne nur mes appétits 1, wie die Franzosen sagen. Da, die Jungen da haben Appetit auf dieses unsaubere Fruchteis. Über diesen Wunsch sind sie mit sich im klaren‹, dachte sie beim Anblick zweier Jungen, die einen Eisverkäufer anhielten; der Eisverkäufer nahm seinen Kübel vom Kopfe und wischte sich mit einem Zipfel des Handtuchs den Schweiß vom Gesicht. ›Wir alle haben Appetit auf das, was süß ist und wohlschmeckt. Und wenn es nicht Konfekt sein kann, so nimmt man mit unsauberem Fruchteis fürlieb. Und so macht es Kitty auch: wenn nicht Wronski, dann Ljewin. Und sie beneidet mich. Und haßt mich. Und wir hassen uns alle wechselseitig. Ich hasse Kitty, und Kitty haßt mich. Ja, das ist wahr. Tjutkin, coiffeur‹, las sie an einem kleinen, schmierigen Geschäft. ›Je me fais coiffer par Tjutkin. 2 Das werde ich ihm sagen, wenn er nach Hause kommt‹, dachte sie und lächelte. Aber im selben Augenblick fiel ihr ein, daß sie ja jetzt niemanden mehr habe, dem sie etwas Lächerliches mitteilen könne. ›Es gibt ja auch nichts Lächerliches und Lustiges. Alles ist ekelhaft. Da wird zur Vesper geläutet, und dieser Kaufmann bekreuzt sich mit solcher Vorsicht, als ob er fürchtete, daß ihm dabei etwas hinfiele. Wozu sind diese Kirchen da und dieses Glockengeläute und diese ganze Lüge? Nur um zu verdecken, daß wir uns alle wechselseitig hassen, gerade wie diese Droschkenkutscher, die sich so wütend zanken. Jaschwin sagt: »Er will [259] mich bis aufs Hemd ausplündern, und ich ihn.« Ja, das ist wahr.‹
In diese Gedanken geriet sie so tief hinein, daß sie nicht einmal mehr an ihre Lage dachte und überrascht war, als der Wagen vor ihrer Haustür hielt. Als sie den Pförtner erblickte, der ihr aus dem Hause entgegenkam, da erinnerte sie sich erst, daß sie einen Brief und ein Telegramm abgesandt hatte.
»Ist Antwort gekommen?« fragte sie.
»Ich werde sofort nachsehen«, antwortete der Pförtner; er trat zu seinem Pult, warf einen Blick darauf, nahm ein in einem quadratischen, dünnen Umschlag steckendes Telegramm und übergab es ihr. »Ich kann nicht vor zehn Uhr zurückkommen. Wronski.« las sie.
»Ist der Bote noch nicht zurück?«
»Nein, noch nicht«, antwortete der Pförtner.
›Nun, wenn es so steht, dann weiß ich, was ich zu tun habe‹, sagte sie sich. Sie fühlte, wie in ihrer Seele ein unklarer Ingrimm aufstieg und ein Verlangen nach Rache rege wurde, und ging eilig hinauf. ›Ich werde selbst zu ihm fahren. Ehe ich für immer weggehe, will ich ihm alles sagen. Nie habe ich jemand so gehaßt wie diesen Menschen!‹ dachte sie. Als sie seinen Hut am Kleiderhalter sah, zuckte sie vor Abscheu zusammen. Sie erwog nicht, daß sein Telegramm die Antwort auf das ihrige war und daß er ihren Brief noch nicht erhalten hatte. Ihre Einbildungskraft stellte ihn ihr vor Augen, wie er sich in diesem Augenblick mit seiner Mutter und mit der Prinzessin Sorokina ruhig unterhielt und sich über ihre Qualen freute. ›Ja, ich muß so schnell wie möglich wegfahren‹, sagte sie sich, wußte aber noch nicht, wohin. Es verlangte sie danach, recht schnell von den Empfindungen loszukommen, die sie in diesem furchtbaren Hause peinigten. Die Dienerschaft, die Wände, die Möbel in diesem Hause, alles rief in ihrer Seele ein Gefühl des Abscheus und des Ingrimms hervor und drohte, sie wie eine schwere Last zu ersticken.
›Ja, ich muß nach dem Bahnhof bei dem Gute seiner Mutter fahren, und wenn ich da weder ihn noch eine Antwort vorfinde, so fahre ich nach dem Gute selbst und ertappe ihn auf frischer Tat.‹ Anna sah in einer Zeitung den Fahrplan nach. ›Ab abends acht Uhr zwei Minuten. Ja, den erreiche ich noch.‹ Sie gab Befehl, andere Pferde anzuspannen, und packte, was sie für einige Tage an Sachen nötig hatte, in ihre Reisetasche. Sie sagte sich, daß sie hierher nicht wieder zurückkehren werde. Viele Pläne gingen ihr durch den Kopf; sie faßte den noch sehr unklaren, nebelhaften Entschluß, nach den auf dem Bahnhof oder auf dem[260] Gute der Gräfin zu erwartenden Vorgängen womöglich auf der Nischegoroder Bahn bis zur nächsten Stadt zu fahren und dort zu bleiben.
Das Abendessen stand auf dem Tisch; sie trat heran und roch an dem Brot und dem Käse; aber nachdem sie sich überzeugt hatte, daß der Geruch alles Eßbaren ihr zuwider sei, ließ sie den Wagen vorfahren und ging hinaus. Das Haus warf seinen Schatten schon über die ganze Straße; es war ein klarer und in der Sonne noch warmer Abend. Sowohl Annuschka, die mit ihr hinausging und die Sachen trug, wie auch Peter, der die Sachen in den Wagen legte, und auch der augenscheinlich unzufriedene Kutscher, alle waren sie ihr widerwärtig und versetzten sie durch ihre Worte und Bewegungen in Erregung.
»Ich brauche dich nicht, Peter.«
»Soll ich nicht die Fahrkarte besorgen?«
»Nun, wie du willst; mir ganz gleich«, erwiderte sie ärgerlich.
Peter sprang auf den Bock, stemmte die Hände in die Seiten und wies den Kutscher an, nach dem Bahnhof zu fahren.
›Ja, da bin ich wieder im Wagen! Jetzt verstehe ich wieder alles!‹ sagte Anna zu sich, sobald der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte und schaukelnd über die kleinen Steine des Straßenpflasters dahinrasselte. Und wieder begannen allerlei Eindrücke sich in ihrem Geiste abzulösen.
›Ja, ich dachte doch zuletzt noch an etwas Hübsches; was war das nur?‹ fragte sie sich und gab sich Mühe, sich zu erinnern. ›Tjutkin, coiffeur? Nein, das war es nicht. Ach ja, ich dachte an das, was Jaschwin sagte: »Der Kampf ums Dasein und der Haß, das ist das einzige, was die Menschen miteinander verbindet.« Ach, es ist ganz zwecklos, daß ihr da hinausfahrt‹, sagte sie in Gedanken zu einer Gesellschaft in einem Vierspänner, die offenbar nach irgendeinem Lokale vor dem Tore fuhr, um sich dort zu vergnügen. ›Auch der Hund, den ihr mitgenommen habt, wird euch nichts nützen. Euch selbst könnt ihr doch nicht entfliehen.‹ Als sie einen Blick nach der Seite warf, wohin sich Peter umdrehte, sah sie einen sinnlos betrunkenen Fabrikarbeiter, der seinen Kopf kraftlos hin und her wackeln ließ und von einem Schutzmann weggeführt wurde. ›Da, von dem könnte man noch am ehesten sagen, daß er sich selbst entflohen ist‹, dachte sie. ›Aber ich und Graf Wronski, wir haben dieses Vergnügen ebensowenig kennengelernt wie die meisten anderen Menschen; und [261] doch hatten wir uns soviel davon versprochen.‹ Und Anna richtete jetzt zum ersten Male die scharfe Beleuchtung, in der sie nun alles sah, auf ihr Verhältnis zu ihm, über das sie früher vermieden hatte nachzudenken. ›Was hat er bei mir gesucht? Nicht sosehr Liebe wie Befriedigung seiner Eitelkeit.‹ Sie rief sich sein Benehmen in der ersten Zeit ihrer Beziehungen ins Gedächtnis zurück: seine Worte, seinen Gesichtsausdruck, der sie an einen gehorsamen Hühnerhund erinnert hatte. Und in allem fand sie eine Bestätigung ihrer jetzigen Auffassung. ›Ja, seine Eitelkeit war stolz auf den errungenen Sieg. Natürlich, es war auch Liebe dabei; aber das Hauptstück seiner Empfindung war Stolz auf den Erfolg. Er prahlte mit ihr. Das ist jetzt vorüber. Es ist nichts da, worauf er stolz sein könnte. Da ist kein Anlaß mehr, auf mich stolz zu sein, wohl aber sich meiner zu schämen. Er hat mir alles genommen, was er mir nehmen konnte, und jetzt hat er mich nicht mehr nötig. Er empfindet mich als Last und ist nur noch darauf bedacht, in seinem Verhältnis zu mir nicht zu einem Ehrlosen zu werden. Gestern sagte er unversehens ein Wort zuviel: er wünschte die Scheidung und die Ehe, um seine Schiffe hinter sich zu verbrennen. Er liebt mich; aber wie? The zest is gone. 1 Der da will alle Leute in Staunen versetzen und ist mit sich selbst sehr zufrieden‹, dachte sie beim Anblick eines rotbackigen Kommis, der auf einem Mietgaul ritt. ›Ja, ich sage ihm nicht mehr sonderlich zu. Wenn ich von ihm weggehe, wird er im Grunde seines Herzens darüber froh sein.‹
Und das war keine bloße Vermutung für sie, sondern sie erkannte das mit aller Klarheit in der scharfen Beleuchtung, in der sich ihr jetzt der Sinn des Lebens und der menschlichen Wechselbeziehungen erschloß.
›Meine Liebe wird immer leidenschaftlicher und selbstsüchtiger, und die seinige schwindet immer mehr dahin, und das ist der Grund, weshalb wir auseinandergeraten‹, fuhr sie in ihren Überlegungen fort. ›Und da ist nicht zu helfen. Mir ist er mein ein und alles, und ich verlange auch von ihm völlige Hingabe an mich. Sein Streben dagegen ist darauf gerichtet, sich immer mehr von mir loszulösen. Vor unserer Verbindung kamen wir einander entgegen; aber seitdem gehen wir unaufhaltsam nach entgegengesetzten Seiten auseinander. Und eine Änderung läßt sich darin nicht herbeiführen. Er sagt mir, ich sei von einer sinnlosen Eifersucht, und dasselbe habe auch ich mir gesagt. Aber es ist nicht wahr: ich bin nicht eifersüchtig, sondern unzufrieden. Aber ...‹ Sie öffnete den Mund und setzte sich im Wagen auf einen anderen Platz infolge der Aufregung, in die ein plötzlich in ihr auftauchender Gedanke sie versetzte. ›Ja, wenn ich[262] imstande wäre, etwas anderes zu sein als die Geliebte, die nur nach seinen Liebkosungen leidenschaftlich verlangt! Aber ich kann und will nichts anderes sein. Und durch dieses Verlangen nach Liebe errege ich bei ihm ein Gefühl der Abneigung, und dadurch wächst bei mir ein Ingrimm heran, und das ist gar nicht anders möglich. Ich weiß ja, daß er mich nicht hintergehen würde, daß er keine Absichten auf die Prinzessin Sorokina hat, daß er nicht in Kitty verliebt ist, daß er mir nicht untreu werden wird. Das weiß ich alles; aber dadurch wird mir nicht leichter ums Herz. Ist er, ohne mich zu lieben, zwar aus Pflichtgefühl gut und zärtlich gegen mich, fehlt aber dabei eben das, wonach ich verlange, so ist das schlimmer, tausendmal schlimmer als wechselseitiger Groll! Das ist die Hölle! Und geradeso ist es bei uns. Er liebt mich schon längst nicht mehr. Wo aber die Liebe aufhört, da beginnt der Haß ... Diese Straßen kenne ich ja gar nicht. Bergauf, bergab, und überall Häuser und Häuser ... Und in den Häusern überall Menschen und Menschen ... Wie viele Menschen gibt es da, endlos viele, und alle hassen sie einander. Nun, ich könnte mir ja einmal überlegen, was ich mir wohl wünschen möchte, um glücklich zu sein. Nun, was denn also? Ich erlange die Scheidung; Alexei Alexandrowitsch überläßt mir Sergei, und ich heirate Wronski.‹ Bei der Erinnerung an Alexei Alexandrowitsch glaubte sie ihn auf einmal mit außerordentlicher Deutlichkeit wie lebend vor sich zu sehen, mit seinen sanften, matten, halb erloschenen Augen, mit den blauen Adern auf den weißen Händen, mit dem eigentümlichen Tonfall seiner Stimme und dem Knacken seiner Finger; und als sie dabei an das Gefühl dachte, das zwischen ihnen bestanden hatte und das gleichfalls Liebe genannt worden war, da zuckte sie vor Ekel zusammen. ›Also ich erlange die Scheidung und werde Wronskis Frau. Ob mich Kitty dann wohl mit anderen Augen ansehen wird als heute? Nein. Und wird Sergei dann aufhören, sich danach zu erkundigen und darüber nachzudenken, welche Bewandtnis es mit meinen beiden Männern hat? Und welches neue Gefühl könnte ich mir dann zwischen mir und Wronski aussinnen? Ist denn irgendein, ich will gar nicht sagen Glück, sondern auch nur Freisein von Qual möglich? Nein und abermals nein!‹ gab sie sich selbst ohne das leiseste Schwanken zur Antwort. ›Es ist unmöglich! Wir werden lebenslänglich nach verschiedenen Seiten gehen, und ich werde ihn unglücklich machen und er mich, und weder er wird sich ändern lassen noch ich mich. Alle möglichen Versuche sind bereits angestellt; die Schraube ist überdreht ... Da sitzt eine Bettlerin mit einem kleinen Kinde; sie meint, sie werde Mitleid [263] erregen. Aber sind wir denn nicht allesamt in diese Welt hineingeworfen, nur um einander zu hassen und dadurch uns und anderen Qual zu bereiten? Da gehen Gymnasiasten; sie lachen. Und mein Sergei?‹ dachte sie dabei. ›Den habe ich ebenfalls zu lieben geglaubt und war ordentlich gerührt über meine eigene Zärtlichkeit. Und doch habe ich auch ohne ihn gelebt und habe ihn gegen eine andere Liebe hingegeben und diesen Tausch nicht bereut, solange mich jene andere Liebe befriedigte.‹ Und mit Abscheu erinnerte sie sich an das, was sie jene andere Liebe nannte. Und die Klarheit, mit der sie jetzt ihr eigenes Leben und das Leben aller Menschen sah und durchschaute, bereitete ihr Freude. ›So geht es mit mir, und mit Peter, und mit dem Kutscher Fjodor, und mit diesem Kaufmann da, und mit all den Menschen, die dort an der Wolga wohnen, auf der zu fahren diese Plakate der Dampfschiffahrtsgesellschaften einladen, und so geht es überall, überall‹, dachte sie, als sie bei dem niedrigen Bahnhofsgebäude der Nischegoroder Bahn vorfuhr und die Gepäckträger aus dem Bahnhof heraus an den Wagen gelaufen kamen.
»Befehlen Sie eine Fahrkarte nach Obiralowka?« fragte Peter.
Sie hatte ganz vergessen, wohin sie reisen wollte und zu welchem Zweck, und vermochte nur mit Anstrengung die Frage zu verstehen.
»Ja«, antwortete sie und reichte ihm ihr Geldtäschchen; dann nahm sie ihre kleine rote Reisetasche und stieg aus dem Wagen.
Während sie sich durch den Menschenschwarm hindurch nach dem Wartesaal erster Klasse begab, erinnerte sie sich nach und nach wieder an alle Einzelheiten ihrer Lage und an die Pläne, zwischen denen sie geschwankt hatte. Und wiederum wechselten in ihrem gequälten, entsetzlich zuckenden Herzen Hoffnung und Verzweiflung, und die alten, schmerzhaften Wunden wurden immer von neuem gereizt. Während sie in Erwartung des Zuges auf dem sternförmigen Sofa saß und die Ein- und Ausgehenden voll Widerwillen betrachtete (sie erschienen ihr alle abstoßend), dachte sie bald daran, wie sie auf dem Bahnhof ankommen, wie sie ihm ein paar Zeilen schreiben und was sie ihm schreiben werde, bald daran, wie er sich jetzt bei seiner Mutter über seine Lage beklage (er, der doch gar nicht wußte, was leiden heißt), und wie sie dann ins Zimmer treten und was sie ihm sagen werde. Bald wieder dachte sie daran, wie glücklich ihr Leben sich noch gestalten könne, und wie qualvoll sie ihn liebe und hasse, und wie furchtbar ihr Herz poche.
1 (engl.) Der Eifer ist erloschen.
Das erste Glockenzeichen ertönte. Einige junge Männer gingen vorüber, häßliche, freche Gesellen; sie hatten es eilig, achteten dabei aber doch darauf, welchen Eindruck sie wohl machten. Auch Peter, mit stumpfem, tierischem Gesichtsausdruck, kam in seiner Livree und seinen Gamaschen durch den Saal herbei und trat zu ihr, um sie zum Wagen zu geleiten. Die lärmenden jungen Männer wurden still, als sie auf dem Bahnsteig an ihnen vorüberging, und der eine flüsterte einem andern eine Bemerkung über sie zu, natürlich eine abscheuliche Bemerkung. Sie stieg am Wagen die hohe Stufe hinauf und setzte sich in einem Abteil allein auf das mit Sprungfedern versehene, beschmutzte, ehemals weiß gewesene Sofa. Die Reisetasche, die zuerst auf den Sprungfedern hin und her gezittert hatte, legte sich zur Seite. Peter mit seinem dummen Lächeln lüftete vor dem Fenster zum Zeichen des Abschieds seinen betreßten Hut; der freche Schaffner schlug die Tür zu und schloß die Klinke. Eine häßliche Dame mit einer Turnüre (Anna entkleidete dieses Weib in Gedanken und entsetzte sich über ihre schlechte Gestalt) und ein paar junge Mädchen, die geziert lachten, gingen unten schnell vorüber.
»Er ist bei Katerina Andrejewna; er ist immerzu bei ihr, ma tante!« rief das eine der jungen Mädchen.
›So ein junges Ding, und auch schon so verdorben und so kokett‹, dachte Anna. Um nur niemand zu sehen, stand sie schnell auf und setzte sich in dem leeren Abteil an das gegenüberliegende Fenster. Ein häßlicher Arbeitsmann in schmutzigem Rock, mit einer Dienstmütze, unter der das wirre Haar heraushing, ging an dem Fenster, an dem sie saß, vorüber und bückte sich zu den Rädern des Wagens hinunter. ›Dieser garstige Arbeiter hat irgend etwas Bekanntes an sich‹, dachte Anna. Da fiel ihr ihr Traum ein, und zitternd vor Angst ging sie vom Fenster weg nach der gegenüberliegenden Tür. Der Schaffner öffnete die Tür in diesem Augenblick und ließ einen Herrn mit seiner Frau herein.
»Wünschen Sie auszusteigen?«
Anna antwortete nicht. Der Schaffner und die beiden eingestiegenen Reisenden bemerkten unter dem Schleier nicht den Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht. Sie kehrte in ihre Ecke zurück und setzte sich wieder. Das Ehepaar nahm ihr gegenüber Platz und musterte aufmerksam, aber verstohlen Annas Kleidung. Beide, der Mann wie die Frau, machten auf Anna einen widerwärtigen Eindruck. Der Mann fragte, ob sie [265] ihm erlaube zu rauchen, augenscheinlich nicht sosehr in der Absicht zu rauchen, wie um eine Unterhaltung anzuknüpfen. Als er ihre Erlaubnis er halten hatte, begann er mit seiner Frau auf französisch ein inhaltlich so ödes Gespräch, daß Anna dadurch mehr belästigt wurde als durch das Rauchen. Sie redeten in gezierter Weise lauter Dummheiten, nur damit sie es hören sollte. Anna erkannte deutlich, wie diese beiden Gatten bereits einer des andern überdrüssig geworden waren und wie sie sich wechselseitig haßten. Auch war es ja gar nicht anders möglich, als daß man so klägliche Geschöpfe haßte.
Das zweite Glockenzeichen wurde gegeben, und gleich darauf hörte man das Vorbeifahren des Gepäcks nach dem Gepäckwagen, Lärm, Rufen und Lachen. Daß kein Mensch irgendwelchen Anlaß habe sich zu freuen, darüber war sich Anna so klar, daß dieses Lachen in schmerzhafter Weise ihre Nerven reizte und sie sich am liebsten die Ohren zugestopft hätte, um es nicht zu hören. Endlich ertönte das dritte Glockenzeichen, die Lokomotive pfiff und schnaufte, die Ketten zwischen den Wagen zogen sich unter Gerassel straff, und der Ehemann in Annas Abteil bekreuzte sich. ›Es wäre interessant, ihn zu fragen, was er sich eigentlich dabei denkt‹, dachte Anna und warf ihm einen zornigen Blick zu. Dann blickte sie an der Dame vorüber durch das Fenster nach den Menschen, die Abreisenden das Geleite gegeben hatten und nun, auf dem Bahnsteig stehend, rückwärts zu gleiten schienen. Taktmäßig an den Fugen der Schienen anstoßend, rollte der Wagen, in dem Anna saß, am Bahnsteig vorüber, an einer Steinwand, an der Signalscheibe und an anderen Wagen; nun rollten die Räder glatter und sanfter mit leisem Klang auf den Schienen dahin; das Fenster erglänzte im hellen Schein der Abendsonne, und ein leiser Wind spielte mit dem Vorhang. Anna vergaß ganz ihre Nachbarn im Abteil, und indem sie begierig die frische Luft einsog, überließ sie sich bei dem leisen Schaukeln, das durch die Fahrt hervorgerufen wurde, wieder ihren Gedanken.
›Ja, wobei war ich doch stehengeblieben? Dabei, daß ich mir keine Lage aussinnen kann, in der das Leben nicht eine Qual wäre, und daß wir alle dazu geschaffen sind, um Qualen zu erleiden, und daß wir das alle wissen und alle uns Mittel erdenken, um uns selbst zu betrügen. Sobald man aber die Wahrheit erkennt, was bleibt einem dann zu tun übrig?‹
»Dazu ist dem Menschen die Vernunft gegeben, damit er sich von dem befreie, was ihn beunruhigt«, sagte die Dame auf französisch; sie war mit dieser leeren Redensart offenbar sehr zufrieden und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
[266] Diese Worte bildeten beinahe eine Antwort auf Annas Gedanken.
›Damit er sich von dem befreie, was ihn beunruhigt‹, wiederholte Anna bei sich. Sie sah den rotbackigen Gatten und seine hagere Frau an und sagte sich, daß die kränkliche Gattin sich gewiß für eine unverstandene Frau halte und der Mann sie hintergehe und sie dadurch in ihrer Selbstbeurteilung bestärke. Anna meinte, die ganze Lebensgeschichte der beiden und alle Winkel ihrer Seelen deutlich vor sich zu sehen, indem sie gleichsam einen hellen Lichtstrahl darauf richtete. Aber bemerkenswert war dabei eigentlich nichts, und so fuhr sie denn in ihrem Gedankengange fort.
›Ja, ich fühle eine große Beunruhigung, und dazu ist uns die Vernunft gegeben, damit wir uns davon frei machen; folglich muß ich das eben tun. Warum soll man denn eine Kerze nicht auslöschen, wenn doch nichts mehr da ist, was man sehen möchte, und man sich ekelt, alles das, was man um sich hat, weiter anzusehen? Und wie ekelhaft ist alles! Weshalb ist dieser Schaffner auf dem Trittbrett entlanggelaufen? Weshalb schreien diese jungen Leute da im anderen Wagen? Weshalb reden sie, weshalb lachen sie? Alles ist Unwahrhaftigkeit, alles ist Betrug, alles ist Schlechtigkeit ...‹
Als der Zug die Station erreicht hatte, stieg Anna mit einem Schwarm anderer Fahrgäste aus, sonderte sich aber dann von ihnen ab, als ob es Aussätzige wären, und blieb in einiger Entfernung von ihnen auf dem Bahnsteig stehen. Sie suchte sich zu erinnern, warum sie hierhergefahren sei und was sie zu tun beabsichtigt habe. Es wurde ihr so schwer, alles das, was ihr vorher als möglich erschienen war, sich jetzt zurechtzulegen, namentlich da der lärmende Haufen aller dieser gräßlichen Menschen sie nicht in Ruhe ließ. Bald kamen Gepäckträger zu ihr hingelaufen, um ihr ihre Dienste anzubieten; bald belästigten junge Leute, die, in lauter Unterhaltung begriffen, mit ihren Absätzen auf den Bohlen des Bahnsteigs umherpolterten, sie mit ihren Blicken; bald wichen Begegnende ihr nicht nach der richtigen Seite aus. Als ihr einfiel, daß sie nach dem Landgute hatte weiterfahren wollen, wenn keine Antwort da wäre, hielt sie einen Gepäckträger an und fragte ihn, ob nicht ihr Kutscher da sei, der dem Grafen Wronski einen Brief habe bringen sollen.
»Graf Wronski? Vom Grafen Wronski habe ich in diesem Augenblick einen Wagen gesehen, der die Fürstin Sorokina und ihre Tochter abholen sollte. Wie sieht denn der Kutscher aus?«
Während sie noch mit dem Gepäckträger sprach, trat der rotbackige, lustige Kutscher Michail in seiner dunkelblauen, vornehmen [267] Jacke mit der Uhrkette an sie heran und übergab ihr einen Brief, offenbar stolz darauf, ihren Auftrag so gut ausgeführt zu haben. Sie öffnete den Brief, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, noch ehe sie ihn gelesen hatte.
»Es tut mir sehr leid, daß der Brief mich nicht mehr in Moskau erreicht hat. Ich werde um zehn Uhr zu Hause sein«, schrieb Wronski mit flüchtiger Schrift.
»Nun ja! Das hatte ich erwartet!« sagte sie zu sich selbst mit einem bösen Lächeln.
»Es ist gut. Fahr nur nach Hause«, sagte sie mit leiser Stimme zu Michail. Sie sprach leise, weil das schnelle Klopfen des Herzens sie am Atmen hinderte. ›Nein, ich werde mich nicht von dir quälen lassen‹, dachte sie, wandte sich aber mit diesen drohenden Worten nicht an Wronski, auch nicht an sich selbst, sondern an den, der ihr beschieden hatte, sich zu quälen, und ging auf dem Bahnsteig am Stationsgebäude entlang.
Zwei Dienstmädchen, die auf dem Bahnsteig auf und ab gingen, drehten die Köpfe nach ihr um, betrachteten sie und machten laute Bemerkungen über ihre Kleidung. »Die sind echt«, sagten sie über die Spitzen, die Anna trug. Jene jungen Männer ließen sie auch hier nicht in Ruhe; sie gingen wieder an ihr vorüber, sahen ihr ins Gesicht und schwatzten unter Lachen in gekünstelter Sprache. Der Bahnhofsvorsteher fragte sie im Vorbeigehen, ob sie mitfahren wolle. Ein Knabe, der Kwaß verkaufte, verwandte kein Auge von ihr. ›Mein Gott, wo soll ich hin?‹ dachte sie, während sie auf dem Bahnsteig immer weiter und weiter ging. An seinem Ende blieb sie stehen. Ein paar Damen und Kinder, die einen Herrn mit Brille abgeholt hatten und dort laut lachten und sprachen, sahen sie, als sie in ihre Nähe gekommen war, neugierig an und verstummten. Mit beschleunigtem Schritt ging sie von ihnen weg an den vorderen Rand des Bahnsteigs. Ein Güterzug kam heran. Die Bohlen des Bahnsteigs zitterten, und sie hatte die Empfindung, als fahre sie wieder.
Auf einmal kam ihr der Mann ins Gedächtnis, der an dem Tag ihrer ersten Begegnung mit Wronski überfahren worden war, und nun wußte sie, was sie zu tun hatte. Mit schnellen, leichten Schritten stieg sie die Stufen hinab, die von der Wasserstelle zu den Schienen führten, und blieb neben dem dicht an ihr vorüberfahrenden Zuge stehen. Sie blickte nach dem unteren Teile der Wagen, nach den Schrauben, den Ketten und den hohen, gußeisernen Rädern des langsam dahinrollenden ersten Wagens und suchte nach dem Augenmaß die Sekunde abzupassen, wo der Zwischenraum zwischen den Vorder- und den Hinterrädern gerade vor ihr sein werde.
[268] ›Dorthin!‹ sagte sie zu sich selbst, indem sie in den Schatten blickte, den der Wagen warf, und ihre Augen auf den mit Kohlen vermischten Sand richtete, mit dem die Schwellen bedeckt waren. ›Dorthin, gerade in den Zwischenraum; so werde ich ihn bestrafen und mich von allen und von mir selbst befreien.‹
Sie wollte sich unter den ersten Wagen werfen, dessen Mitte in diesem Augenblick gerade an ihr vorüberkam; aber die rote Reisetasche, die sie vom Arm nehmen wollte, hielt sie auf, und es war schon zu spät: der Zwischenraum zwischen den Rädern war bereits an ihr vorüber. Sie mußte auf den folgenden Wagen warten. Es überkam sie ein ähnliches Gefühl, wie wenn sie sich beim Baden anschickte, ins Wasser hineinzugehen, und sie bekreuzte sich. Die gewohnte Bewegung bei der Ausführung des Kreuzzeichens rief in ihrer Seele eine ganze Reihe von Erinnerungen aus ihrer Mädchen- und Kinderzeit wach, und plötzlich zerriß die Finsternis, die ihr bisher alles verborgen hatte, und ihr vergangenes Leben stand einen Augenblick lang mit allen seinen hellschimmernden Freuden vor ihrem geistigen Blicke. Aber sie wandte die Augen nicht von den Rädern des herankommenden zweiten Wagens. Und genau in dem Augenblick, wo der Raum zwischen den Rädern ihr gegenüber war, warf sie die rote Reisetasche von sich, drückte den Kopf zwischen die Schultern, ließ sich unter den Wagen auf die Hände fallen und kniete mit einer leichten Bewegung, als ob sie vorhätte, sogleich wieder aufzustehen, nieder. Aber im gleichen Augenblick erschrak sie über das, was sie tat. ›Wo bin ich? Was tue ich? Weshalb?‹ Sie wollte sich erheben, sich zurückwerfen; aber etwas Gewaltiges, Unerbittliches stieß gegen ihren Kopf und schleppte sie am Rücken mit fort. »Herrgott, vergib mir alles!« murmelte sie, da sie fühlte, daß ein Widerstand unmöglich sei. Das Männchen wirtschaftete mit dem Eisenwerk herum und redete dabei etwas vor sich hin. Und die Kerze, bei der sie das von soviel Sorgen, Betrug, Kummer und Schlechtigkeit erfüllte Buch des Lebens gelesen hatte, leuchtete in hellerem Scheine auf als je, erhellte ihr alles, was bisher für sie in Finsternis verborgen gewesen war, knisterte, wurde dunkel und erlosch für immer.
Fast zwei Monate waren vergangen. Schon war die Mitte dieses heißen Sommers herangekommen, und erst jetzt schickte sich Sergei Iwanowitsch an, Moskau zu verlassen.
In Sergei Iwanowitschs Lebensgang hatten sich während dieser Zeit wichtige Ereignisse zugetragen. Schon vor einem Jahre hatte er sein Buch, die Frucht sechsjähriger Arbeit, zum Abschluß gebracht; es führte den Titel: Versuch einer Übersicht der Grundgedanken und Formen des Staatswesens in Europa und in Rußland. Einige Abschnitte dieses Buches und die Einleitung waren schon vorher in Zeitschriften gedruckt worden, und andere Teile hatte Sergei Iwanowitsch Männern seines Bekanntenkreises vorgelesen, so daß die in diesem Werke enthaltenen Ideen dem Lesepublikum nicht mehr etwas völlig Neues sein konnten; aber dennoch hatte Sergei Iwanowitsch erwartet, daß das Erscheinen seines Buches bei den Gebildeten ein gewisses Aufsehen erregen und wenn auch nicht eine Umwälzung in der Wissenschaft, so doch auf jeden Fall starke Beachtung in der Gelehrtenwelt hervorrufen werde.
Das Buch war, nachdem es mit größter Sorgfalt die letzte Feile erhalten hatte, im vorigen Jahre erschienen und an die Buchhändler versandt worden.
Sergei Iwanowitsch fragte zwar niemanden nach seinem Buch, beantwortete Fragen seiner Freunde nach dessen Absatz nur ungern und mit erheuchelter Gleichgültigkeit und erkundigte sich nicht einmal bei den Buchhändlern danach, ob es viel gekauft werde; aber dennoch wartete er mit scharfem Blick und gespannter Aufmerksamkeit auf den ersten Eindruck, den sein Buch in der gebildeten Gesellschaft und in der Presse hervorbringen werde.
Aber es verging eine Woche, eine zweite, eine dritte, und es war keinerlei Eindruck in der Gesellschaft wahrzunehmen. Mit ihm befreundete Fachmänner und Gelehrte fingen manchmal an, offenbar aus Höflichkeit, von dem Buch zu reden; seine sonstigen Bekannten dagegen, die sich mit Büchern gelehrten [270] Inhalts nicht beschäftigten, sprachen überhaupt nicht davon; und in der Gesellschaft, die besonders in jener Zeit mit ganz anderen Dingen zu tun hatte, zeigte sich äußerste Gleichgültigkeit. Auch in der Presse war einen ganzen Monat lang von dem Buche nicht mit einer Silbe die Rede gewesen.
Sergei Iwanowitsch berechnete genau die Zeit, die nach seiner Ansicht zur Abfassung einer Besprechung erforderlich war; aber es verging nach dem ersten noch ein zweiter Monat, und immer noch dauerte das Stillschweigen fort.
Nur in der »Nordischen Biene« waren in einem humoristischen Aufsatz über den Sänger Drabanti, der seine Stimme verloren hatte, gelegentlich ein paar geringschätzige Bemerkungen über Kosnüschews Buch gebracht worden, die darauf hindeuteten, daß alle schon längst über dieses Buch den Stab gebrochen hätten und es allgemeinem Gelächter verfallen sei.
Endlich im dritten Monat erschien in einer wissenschaftlichen Zeitschrift eine Besprechung. Sergei Iwanowitsch kannte auch den betreffenden Rezensenten; er hatte ihn einmal bei Golubzow getroffen.
Der Rezensent war ein sehr junger, kränklicher Literat, recht gewandt mit der Feder, aber nur sehr mangelhaft gebildet und im persönlichen Verkehr linkisch.
Obwohl Sergei Iwanowitsch ihn außerordentlich gering einschätzte, machte er sich doch voller Achtung vor der Besprechung daran, sie zu lesen. Sie war geradezu entsetzlich.
Offenbar hatte der junge Literat das ganze Buch in einer Weise aufgefaßt, in der es nicht aufgefaßt werden konnte und durfte. Aber er hatte die daraus angeführten Teile so geschickt zusammengestellt, daß es allen, die es nicht gelesen hatten (und augenscheinlich hatte es so gut wie niemand gelesen), völlig klar sein mußte, daß dieses ganze Buch nichts anderes war als eine Sammlung hochtönender leerer Worte, und noch dazu mißbräuchlich verwendeter (worauf die beigesetzten Fragezeichen hinwiesen) und daß dem Verfasser alles tiefere Wissen völlig abging. Und alles das war so scharfsinnig ausgeführt, daß sogar Sergei Iwanowitsch selbst auf einen solchen Scharfsinn stolz gewesen wäre; aber gerade das war ja eben an dieser Kritik das Entsetzliche.
Obgleich Sergei Iwanowitsch sich eigentlich vorgenommen hatte, die Richtigkeit der Beschuldigungen des Rezensenten mit aller Gewissenhaftigkeit zu prüfen, so hielt er sich doch in Wirklichkeit keinen Augenblick bei den Mängeln und Irrtümern auf, über die jener gespottet hatte, sondern ging unwillkürlich sofort dazu über, sich seine Begegnung und sein Gespräch mit dem [271] Verfasser dieser Besprechung bis in die kleinsten Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen.
›Habe ich ihn vielleicht durch irgend etwas beleidigt?‹ fragte er sich.
Und als er sich erinnerte, daß er bei jener Begegnung dem jungen Menschen eine Redewendung verbessert hatte, durch die dieser einen argen Mangel an Kenntnissen verraten hatte, da konnte Sergei Iwanowitsch nicht daran zweifeln, daß er damit die Erklärung für die gehässige Haltung des Aufsatzes gefunden habe.
Nach dieser Beurteilung wurde nirgends mehr, weder in der Presse noch gesprächsweise, über das Buch auch nur ein Wort geäußert, und Sergei Iwanowitsch konnte sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß dieses Werk, an dem er sechs Jahre lang mit soviel Liebe und Fleiß gearbeitet hatte, spurlos vorübergegangen war.
Als eine weitere Unannehmlichkeit seiner jetzigen Lage empfand es Sergei Iwanowitsch, daß nun, nach Beendigung seines Buches, die stille Arbeit am Schreibtisch für ihn wegfiel, die in diesen Jahren einen großen Teil seiner Zeit ausgefüllt hatte.
Sergei Iwanowitsch war ein kluger, gebildeter, gesunder, arbeitsfreudiger Mensch und wußte nicht, worauf er nun seine Tätigkeit richten sollte. Gespräche und Auseinandersetzungen in den Salons, in Vereinen, Versammlungen, auf Tagungen, kurz überall, wo überhaupt geredet werden konnte, nahmen einen Teil seiner Zeit in Anspruch; aber als langjähriger Stadtbewohner mochte er nicht ganz und gar in solchen Gesprächen und Verhandlungen aufgehen, wie das sein unerfahrener Bruder tat, wenn er zu Besuch in Moskau war; es blieb ihm noch viel freie Zeit und Geisteskraft übrig.
Es traf sich für ihn glücklich, daß gerade in dieser Zeit, wo er sich wegen des Mißerfolges seines Buches unbehaglich fühlte, jene Fragen, die bisher im Vordergrund des gesellschaftlichen Lebens gestanden hatten, nämlich die Fragen, die die Andersgläubigen, die amerikanischen Freunde, die Hungersnot im Gouvernement Samara, die Ausstellung, den Spiritismus und anderes betrafen, von einer anderen Frage abgelöst wurden, von der slawischen Frage, die bis dahin in Rußland nur geglimmt hatte; und Sergei Iwanowitsch, der schon früher mit anderen eifrig bemüht gewesen war, diese Frage zu hellerer Glut anzufachen, widmete sich ihr nun mit seiner ganzen Kraft.
In dem Gesellschaftskreise, dem er angehörte, redete und schrieb man damals von nichts anderem als vom serbischen Kriege. Alles, was die müßige Menge für gewöhnlich tut, um [272] die Zeit totzuschlagen, wurde jetzt zum Besten der slawischen Brüder getan. Bälle, Konzerte, Festmähler, Tischreden, Biertrinken, Wirtshausbesuche: alles zeugte von dem Mitgefühl mit den Stammesgenossen.
Mit vielem, was hierüber geredet und geschrieben wurde, war Sergei Iwanowitsch nicht in allen Einzelheiten einverstanden. Er sah, daß die slawische Frage zur Mode geworden war, wie denn solche Moden immer, eine die andere ablösend, der vornehmen Gesellschaft zum Zeitvertreib dienen; er sah auch, daß nicht wenige lediglich mit selbstsüchtigen Absichten und ehrgeizigen Bestrebungen sich dieser Sache zu wandten. Er verhehlte sich nicht, daß die Zeitungen viel Unnützes und Übertriebenes druckten, nur in der Absicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und andere zu überschreien. Er sah, daß bei dieser allgemeinen Begeisterung der Bevölkerung allerlei Leute, die bisher nicht zur Geltung gekommen waren und sich gekränkt fühlten, sich vordrängten und lauter schrien als die anderen: Oberbefehlshaber ohne Armeen, Minister ohne Ministerien, Journalisten ohne Zeitungen, Parteiführer ohne Anhänger. Er sah, daß dabei viel Hohlheit und Lächerlichkeit mit unterlief; aber er sah auch mit Genugtuung eine zweifellos echte, immer wachsende Begeisterung, in der alle Gesellschaftsklassen sich zusammenfanden und der man seine Anteilnahme nicht versagen konnte. Die Niedermetzelung der slawischen Glaubens- und Stammesgenossen erweckte Mitleid mit den Märtyrern und Entrüstung gegen die Bedrücker. Und die Heldenhaftigkeit der Serben und Montenegriner, die für die große Sache kämpften, erzeugte beim ganzen Volke ein Verlangen, den Brüdern nicht mehr nur mit Worten, sondern mit der Tat beizustehen.
Damit verband sich noch eine andere Erscheinung, über die Sergei Iwanowitsch große Freude empfand. Dies war das Entstehen einer öffentlichen Meinung. Das Volk bekundete in klarer Form, was es wollte und wünschte. Die Volksseele war sichtbar in Erscheinung getreten, wie sich Sergei Iwanowitsch ausdrückte. Und je mehr er sich mit diesem Gegenstand beschäftigte, um so mehr fühlte er sich in der Überzeugung befestigt, daß dies eine Sache war, der beschieden sei, eine gewaltige Ausdehnung zu gewinnen und einen neuen Abschnitt der Weltgeschichte herbeizuführen.
Er weihte dem Dienst dieser großen Sache seine gesamte Kraft und hörte auf, an sein Buch zu denken.
Seine ganze Zeit war jetzt besetzt, so daß er außerstande war, auf alle an ihn gerichteten Briefe und Begehren zu antworten.
[273] Nachdem er den ganzen Frühling über und noch während eines Teiles des Sommers mit angespannter Kraft angestrengt gearbeitet hatte, schickte er sich erst im Juli an, zu seinem Bruder aufs Land zu fahren.
Er unternahm diese Reise, um sich vierzehn Tage zu erholen, aber auch, um in dem eigentlichen Heiligtum der Nation, beim weltabgeschiedenen Landvolk, sich am Anblick jenes Aufschwungs der Volksseele zu erfreuen, von dessen tatsächlichem Vorhandensein er mit allen Bewohnern der Residenz und der übrigen Städte fest überzeugt war. Katawasow, der schon längst vorgehabt hatte, das Versprechen, das er Ljewin gegeben hatte, zu erfüllen und ihn zu besuchen, reiste mit ihm.
Sergei Iwanowitsch und Katawasow waren in Moskau soeben bei dem an diesem Tage besonders belebten Kursker Bahnhof vorgefahren, sie waren aus ihrem Wagen ausgestiegen und hatten sich nach dem Diener umgesehen, der ihnen in einem anderen Wagen das Gepäck nachbrachte, als vier Droschken mit Freiwilligen angefahren kamen. Damen mit Blumensträußen bewillkommneten die Freiwilligen und gingen mit ihnen, von der nachströmenden Volksmenge begleitet, in das Bahnhofsgebäude hinein.
Eine der Damen, die den Freiwilligen diesen Empfang bereitet hatten, kam zufällig wieder aus dem Wartesaal heraus und wandte sich an Sergei Iwanowitsch.
»Sind Sie auch hergekommen, um ihnen das Geleite zu geben?« fragte sie ihn auf französisch.
»Nein, ich reise selbst ab, Fürstin. Ich möchte mich bei meinem Bruder ein bißchen erholen. Aber Sie haben wohl fortwährend damit zu tun, abreisenden Freiwilligen das Geleite zu geben?« sagte Sergei Iwanowitsch mit einem ganz leisen Lächeln.
»Allerdings, ich kann mich dem nicht entziehen!« antwortete die Fürstin. »Ist es wahr, daß von uns hier schon achthundert Mann abgegangen sind? Malwinski wollte es mir nicht glauben.«
»Mehr als achthundert. Und wenn man die mitrechnet, die nicht aus Moskau selbst abgegangen sind, dann kommen schon mehr als tausend heraus«, erwiderte Sergei Iwanowitsch.
»Sehen Sie wohl! Das habe ich ja gesagt!« fiel die Dame erfreut ein. »Und es ist doch auch richtig, daß jetzt etwa eine Million Rubel gespendet ist?«
»Mehr, Fürstin, mehr!«
[274] »Nun, und was sagen Sie zu der heutigen Nachricht? Die Türken sind wieder geschlagen worden.«
»Ja, ich habe es gelesen«, erwiderte Sergei Iwanowitsch. Dies bezog sich auf die letzte Meldung, die bestätigte, daß die Türken drei Tage hintereinander an allen Punkten geschlagen und geflohen seien und daß für morgen die Entscheidungsschlacht erwartet werde.
»Ach ja, wissen Sie, da hat sich ein netter junger Mann gemeldet. Ich weiß nicht, warum ihm Schwierigkeiten gemacht werden. Ich wollte Sie bitten (denn ich kenne ihn), schreiben Sie ein paar Zeilen zur Empfehlung für ihn. Er ist von der Gräfin Lydia Iwanowna geschickt.«
Sergei Iwanowitsch fragte die Fürstin eingehend nach allem, was sie über den jungen Mann, der sich gemeldet hatte, wußte, begab sich dann in den Wartesaal erster Klasse, verfaßte ein kurzes Empfehlungsschreiben an die entscheidende Persönlichkeit und ging wieder hinaus, um es der Fürstin zu übergeben.
»Wissen Sie, Graf Wronski, der bekannte Wronski, fährt auch mit diesem Zuge«, sagte die Fürstin mit einem triumphierenden, vielsagenden Lächeln, als er sie wiedergefunden und ihr den Brief eingehändigt hatte.
»Ich habe gehört, daß er auch nach dem Kriegsschauplatze abgehen werde; aber ich wußte nicht, wann. Also mit diesem Zuge?«
»Ja, ich habe ihn gesehen. Er ist hier. Nur seine Mutter gibt ihm das Geleite und fährt eine Strecke mit ihm. Das ist jedenfalls das beste, was er tun konnte.«
»Ja, gewiß, selbstverständlich.«
Während sie sprachen, drängte die Menge an ihnen vorüber dem Tische zu, wo zu Mittag gegessen wurde. Sie schlossen sich dieser Bewegung an und hörten bald die laute Stimme eines Herrn, der, ein Glas Wein in der Hand, eine Ansprache an die Freiwilligen richtete. »Ihr sollt kämpfen für den Glauben, für die Menschlichkeit, für unsere Brüder«, sagte der Herr, indem er seine Stimme immer mehr erhob. »Zu eurem Kampfe für die große Sache gibt euch unser Mütterchen Moskau ihren Segen. Zivio!« schloß er laut und vor Rührung beinah weinend.
Alle riefen Zivio. Ein neuer Menschenstrom drängte in den Saal hinein und hätte die Fürstin beinah umgestoßen.
»Nun, Fürstin, was sagen Sie dazu?« sagte Stepan Arkadjewitsch, der auf einmal mitten in der Menge auftauchte, mit freudestrahlendem Lächeln. »Nicht wahr? Das war wundervoll gesprochen, und mit welcher Wärme! Bravo! Sie auch da, Sergei Iwanowitsch! Wissen Sie, Sie sollten auch etwas sagen, nur so [275] ein paar Worte, wissen Sie, zur Ermunterung; Sie verstehen das so wunderschön«, fügte er mit einem zärtlichen, achtungsvollen, feinen Lächeln hinzu und schob Sergei Iwanowitsch leise am Arm.
»Nein, ich fahre gleich ab.«
»Wohin denn?«
»Aufs Land zu meinem Bruder«, antwortete Sergei Iwanowitsch.
»Da werden Sie auch meine Frau treffen. Ich habe an sie geschrieben; aber Sie werden sie vorher zu sehen bekommen; bitte, sagen Sie ihr doch, daß Sie mich gesehen haben, und ich hätte gesagt: all right. Das wird sie schon verstehen. Und dann seien Sie doch so gut und sagen Sie ihr, ich hätte jetzt meine Ernennung zum Komiteemitglied der Vereinigten ... na, sie wird es schon verstehen! Wissen Sie, das sind so les petites misères de la vie humaine 1«, fügte er, zur Fürstin gewendet, gleichsam sich entschuldigend, hinzu. »Und die Mjachkaja, nicht Lisa, sondern Bibiche, schickt auch tausend Gewehre und zwölf Barmherzige Schwestern hin. Habe ich Ihnen das schon er zählt?«
»Ja, ich habe es schon gehört«, erwiderte Kosnüschew in etwas gezwungenem Tone.
»Jammerschade, daß Sie wegfahren«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Morgen veranstalten wir ein Abschiedsessen für zwei ins Feld ziehende Freiwillige: für Diemer-Bartnjanski aus Petersburg und unsern Wasenka Weslowski. Die fahren beide hin. Weslowski hat sich vor kurzem verheiratet. Er ist ein tüchtiger Kerl! Nicht wahr, Fürstin?« wandte er sich an die Dame.
Die Fürstin blickte, ohne ihm zu antworten, Kosnüschew an. Aber daß Sergei Iwanowitsch und die Fürstin ihn, wie es schien, loszuwerden wünschten, dadurch ließ sich Stepan Arkadjewitsch in keiner Weise in Verlegenheit setzen. Er blickte lächelnd bald nach der Feder auf dem Hute der Fürstin, bald zur Seite, als suche er sich auf etwas zu besinnen. Als er eine vorübergehende Dame mit einer Sammelbüchse bemerkte, rief er sie an und tat einen Fünfrubelschein hinein.
»Solange ich Geld in der Tasche habe, kann ich diese Sammelbüchsen nicht ruhig mit ansehen«, bemerkte er dabei. »Aber was sagen Sie zu der heutigen Meldung? Forsche Kerle, diese Montenegriner!«
»Was Sie sagen!« rief er, als die Fürstin ihm mitteilte, daß Wronski mit diesem Zuge fahre. Einen Augenblick drückte Stepan Arkadjewitschs Gesicht Betrübnis und Trauer aus; aber einen Augenblick darauf, als er, seinen Backenbart zurechtstreichend und mit seinem besonderen Gang bei jedem Schritt [276] ein klein wenig aufhüpfend, in das Zimmer trat, in dem Wronski sich befand, da hatte Stepan Arkadjewitsch sein verzweifeltes Schluchzen bei der Leiche seiner Schwester bereits völlig vergessen und sah in Wronski nur den Helden und den alten Freund.
»Trotz all seiner Schwächen muß man ihm doch Gerechtigkeit widerfahren lassen«, sagte die Fürstin zu Sergei Iwanowitsch, sobald Oblonski von ihnen weggegangen war. »Er ist eben eine echt russische, slawische Natur! Ich fürchte nur, daß es Wronski unangenehm sein wird, mit ihm zusammenzutreffen. Man mag sagen, was man will, mich rührt das Schicksal dieses Mannes. Sprechen Sie doch unterwegs mit ihm.«
»Ja, vielleicht, wenn es sich so macht.«
»Ich habe ihn nie gern gemocht. Aber sein jetziges Verhalten macht vieles wieder gut. Er geht jetzt nicht nur selbst hin, sondern nimmt auch eine ganze Schwadron mit, die er auf seine Kosten ausgerüstet hat.«
»Ja, ich habe davon gehört.«
Die Glocke wurde angeschlagen. Alle drängten sich zur Tür.
»Da ist er«, sagte die Fürstin und deutete auf Wronski, der, in einem langen Überzieher und mit einem schwarzen, breitkrempigen Hute, seine Mutter am Arm führend, vorüberkam. Neben ihm ging Oblonski und sprach lebhaft auf ihn ein.
Wronski blickte mit finsterer Miene vor sich hin, als wenn er auf das, was Stepan Arkadjewitsch sagte, gar nicht hinhörte.
Wahrscheinlich von Oblonski aufmerksam gemacht, wandte er seine Augen nach der Seite, wo die Fürstin und Sergei Iwanowitsch standen, und lüftete schweigend den Hut. Sein gealtertes Gesicht, das den Ausdruck tiefen Leides trug, sah wie versteinert aus.
Nachdem Wronski und seine Mutter auf den Bahnsteig hinausgetreten waren, ließ er zuerst schweigend seine Mutter einsteigen und verschwand dann selbst im Wagen.
Auf dem Bahnsteig wurde gesungen: »Gott erhalte den Zaren«; dann ertönten die Rufe: »Hurra!« und »Zivio!« Einer der Freiwilligen, ein hochaufgeschossener, sehr junger Mensch mit eingesunkener Brust, machte sich beim Abschiednehmen ganz besonders bemerkbar, indem er seinen Filzhut und einen Blumenstrauß über seinem Kopfe schwenkte. Hinter ihm beugten sich zwei Offiziere und ein schon bejahrter Mann mit großem Barte und schmieriger Uniformmütze aus dem Fenster heraus und grüßten gleichfalls zum Abschied.
1 (frz.) die kleinen Beschwerlichkeiten des menschlichen Lebens.
Nachdem Sergei Iwanowitsch sich von der Fürstin verabschiedet hatte, stieg er mit Katawasow, der sich wieder zu ihm gesellt hatte, in einen überfüllten Wagen ein, und der Zug setzte sich in Bewegung.
Auf der Station Zarizün wurde der Zug von einer Anzahl junger Männer empfangen, die in wohltönendem Chorgesange »Sei stolz« sangen. Wieder beugten sich die Freiwilligen aus dem Fenster und grüßten; aber Sergei Iwanowitsch schenkte ihnen weiter keine Aufmerksamkeit: er hatte mit Freiwilligen schon so viel zu tun gehabt, daß er ihr gemeinsames Wesen zur Genüge kannte und solche Bilder ihn nicht mehr fesselten. Katawasow dagegen, der bei seinen vielen gelehrten Arbeiten keine Gelegenheit gehabt hatte, die Freiwilligen aus der Nähe zu beobachten, beschäftigte sich sehr mit ihnen und erkundigte sich eingehend über sie bei Sergei Iwanowitsch.
Sergei Iwanowitsch riet ihm, zu ihnen in die zweite Klasse zu gehen und selbst mit ihnen zu reden. Auf der nächsten Station befolgte Katawasow diesen Rat.
Er begab sich in den Wagen zweiter Klasse und suchte die Freiwilligen kennenzulernen. Sie saßen in einer Ecke des Abteils, unterhielten sich sehr laut und waren sich offenbar dessen bewußt, daß die Aufmerksamkeit der übrigen Reisenden sowie des hinzugekommenen Katawasow ausschließlich auf sie gerichtet war. Am lautesten von allen sprach der hochaufgeschossene Jüngling mit der eingefallenen Brust. Er war augenscheinlich betrunken und erzählte eine tolle Geschichte, die sich auf einer Lehranstalt, als er dort Schüler war, zugetragen hatte. Ihm gegenüber saß ein nicht mehr junger Offizier in der kurzen Uniformjacke der österreichischen Garde. Er hörte lächelnd dem Erzähler zu und unterbrach ihn mitunter. Ein dritter, in Artillerieuniform, saß neben ihnen auf einem Koffer. Ein vierter schlief.
Katawasow ließ sich mit dem jungen Mann in ein Gespräch ein und erfuhr, daß er ein ehemals reicher Moskauer Kaufmann war, der schon vor seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr ein großes Vermögen durchgebracht hatte. Er mißfiel Katawasow wegen seines weichlichen, verzärtelten Wesens und seiner schwachen Gesundheit. Er war offenbar überzeugt, namentlich jetzt, wo er betrunken war, daß er eine heldische Tat vollbringe, und prahlte in widerwärtigster Weise.
Der zweite, ein gewesener Offizier, machte gleichfalls auf Katawasow einen unangenehmen Eindruck. Es war dies, wie [278] sich herausstellte, ein Mensch, der schon alles mögliche unternommen hatte. Er war Eisenbahnbeamter gewesen, und Gutsverwalter, und hatte selbst Fabriken angelegt, und redete über alles, wobei er ohne jeden Anlaß und an ganz falscher Stelle gelehrte Ausdrücke anwendete.
Der dritte dagegen, der Artillerist, gefiel Katawasow recht gut. Er war ein bescheidener, stiller Mensch, auf den der Rang eines gewesenen Gardeoffiziers und die heldenmütige Selbstaufopferung des Kaufmanns offenbar großen Eindruck machten, und der von sich selbst gar nicht sprach. Als Katawasow ihn fragte, was ihn denn dazu veranlaßt habe, nach Serbien zu gehen, antwortete er bescheiden:
»Das ist doch ganz natürlich; es gehen ja alle hin. Man muß doch auch das Seinige tun, um den Serben zu helfen. Sie tun einem doch leid.«
»Ja, namentlich fehlt es dort an Ihrer Truppe, an Artilleristen«, bemerkte Katawasow.
»Ich habe nicht lange bei der Artillerie gedient; vielleicht komme ich auch zur Infanterie oder zur Kavallerie.«
»Wie wird man Sie denn zur Infanterie nehmen, während doch gerade an Artilleristen am meisten Mangel ist?« erwiderte Katawasow, der aus dem Lebensalter des Artilleristen folgerte, daß er schon einen ziemlich hohen Rang haben müsse.
»Ich habe nicht lange bei der Artillerie gedient; ich bin Fahnenjunker außer Dienst«, antwortete er und setzte dann auseinander, warum er die Prüfung nicht bestanden habe.
Was Katawasow von den Freiwilligen sah und hörte, machte alles zusammengenommen auf ihn einen unangenehmen Eindruck, und als sie auf der nächsten Station ausstiegen, um etwas zu trinken, wollte er gern im Gespräch mit irgend jemandem den empfangenen ungünstigen Eindruck auf seine Richtigkeit untersuchen. Ein mitreisender bejahrter Mann in einem Militärmantel hatte die ganze Zeit über Katawasows Gespräch mit den Freiwilligen angehört. Als sie nun beide miteinander allein geblieben waren, wandte sich Katawasow an ihn.
»Ja, wie verschiedenartig doch die Lebensstellungen all der Leute sind, die sich dorthin begeben«, begann Katawasow mit einem allgemein gehaltenen Satze, in der Absicht, im weiteren Verlaufe des Gespräches seine eigene Meinung auszusprechen und zugleich die Meinung des Alten in Erfahrung zu bringen.
Der Alte war ein Militär, der zwei Feldzüge mitgemacht hatte. Er wußte, was zu einem Soldaten gehört, und nach der äußeren Erscheinung und den Reden dieser Herren, auch nach der Tapferkeit, mit der sie unterwegs der Flasche zu Leibe gegangen waren, [279] hielt er sie für schlechte Soldaten. Außerdem hätte er gern erzählt, daß aus der Kreisstadt, in der er wohnte, ein auf unbestimmte Zeit beurlaubter Soldat, ein Trunkenbold und Dieb, den niemand mehr als Arbeiter annehmen wollte, gleichfalls mitgegangen sei. Aber da er aus Erfahrung wußte, daß es bei der jetzigen Volksstimmung gefährlich sei, eine mit der herrschenden Meinung im Widerspruch stehende Meinung auszusprechen und namentlich sich über die Freiwilligen mißfällig zu äußern, so wollte er gleichzeitig erst Katawasow aushorchen.
»Das tut nichts; man braucht dort Leute«, antwortete er und lachte mit den Augen. Die beiden unterhielten sich nun miteinander über die letzte Nachricht vom Kriegsschauplatz, und einer suchte vor dem anderen seine Unwissenheit darüber zu verbergen, mit wem denn nun eigentlich für den folgenden Tag eine Schlacht erwartet wurde, da doch der letzten Nachricht zufolge die Türken an allen Punkten geschlagen waren. Und so trennten sich schließlich die beiden, ohne ihre Ansichten ausgesprochen zu haben.
Als Katawasow wieder in seinen Wagen zurückgekehrt war, erzählte er seinem Reisegenossen Sergei Iwanowitsch seine Wahrnehmungen über die Freiwilligen unwillkürlich in gefälschter Färbung, so daß als Ergebnis herauskam, daß es vortreffliche Leute seien.
Auf dem großen Bahnhof der Gouvernementsstadt wurden die Freiwilligen wieder mit Gesang und Hurrarufen begrüßt; wieder erschienen Herren und Damen mit Sammelbüchsen; Damen überreichten den Freiwilligen Blumensträuße und geleiteten sie zum Schanktisch. Aber die Tonart des Ganzen war doch schon erheblich ruhiger und schwächer als in Moskau.
Während des Aufenthalts auf dem Bahnhof der Gouvernementsstadt ging Sergei Iwanowitsch nicht in den Wartesaal, sondern spazierte auf dem Bahnsteig auf und ab.
Als er das erstemal an Wronskis Abteil vorüberkam, bemerkte er, daß der Fenstervorhang zugezogen war. Aber beim zweitenmal erblickte er die alte Gräfin am Fenster. Sie rief ihn zu sich heran.
»Ja, sehen Sie wohl, da reise ich nun und begleite ihn bis Kursk«, sagte sie.
»Ja, ich habe davon gehört«, erwiderte Sergei Iwanowitsch, indem er an ihrem Fenster stehenblieb und hineinsah. »Welch [280] schöne Handlungsweise von ihm!« fügte er hinzu, nachdem er sich überzeugt hatte, daß Wronski nicht im Abteil anwesend war.
»Ja, was sollte er nach seinem Unglück anderes tun?«
»Ein schreckliches Ereignis!« sagte Sergei Iwanowitsch.
»Ach, was ich durchgemacht habe! Aber kommen Sie doch herein ... Ach, was ich durchgemacht habe!« sagte sie noch einmal, als Sergei Iwanowitsch hereingekommen war und neben ihr auf dem Sofa Platz genommen hatte. »Davon kann sich kein Mensch eine Vorstellung machen! Sechs Wochen lang hat er mit niemand geredet, und wenn er etwas essen sollte, mußte ich ihn immer erst flehentlich bitten. Und nicht einen Augenblick durften wir ihn allein lassen. Wir hatten alles entfernt, womit er sich umbringen konnte; wir wohnten im unteren Stock; aber alles konnte man natürlich doch nicht vorhersehen. Sie wissen ja, er hat schon einmal um ihretwillen auf sich geschossen«, sagte sie, und die Augenbrauen der alten Dame zogen sich bei dieser Erinnerung finster zusammen. »Ja, sie hat geendet, wie eine solche Frau eben enden mußte. Selbst die Todesart, die sie sich ausgesucht hat, hatte so etwas Gemeines, Unwürdiges.«
»Es steht uns nicht zu, hier zu richten, Gräfin«, versetzte Sergei Iwanowitsch seufzend. »Aber ich kann verstehen, wie schrecklich das alles für Sie gewesen sein muß.«
»Ach, das läßt sich gar nicht sagen! Ich wohnte auf meinem Gute, und er war gerade bei mir. Da wurde ihm ein Brief gebracht. Er schrieb eine Antwort und sandte sie ab. Wir wußten nicht, daß diese Frau selbst am Bahnhof war. Am Abend hatte ich mich eben in mein Zimmer zurückgezogen, da erzählte mir meine Mary, beim Bahnhof hätte sich eine Dame unter einen Zug geworfen. Das gab mir ordentlich einen Schlag vor den Kopf. Ich wußte sofort: das ist sie gewesen! Das erste, was ich sagte, war: ›Daß ja keiner es ihm sagt!‹ Aber es war ihm bereits mitgeteilt worden. Sein Kutscher war dabei gewesen und hatte alles mit angesehen. Als ich zu ihm ins Zimmer stürzte, war er wie von Sinnen; er bot einen entsetzlichen Anblick. Kein Wort sprach er; er warf sich auf ein Pferd und jagte dorthin. Was dort vorgegangen ist, weiß ich nicht; aber sie brachten ihn mir nach Hause wie einen Toten. Ich hätte ihn gar nicht erkannt. Prostration complète 1, sagte der Arzt. Dann begann er geradezu zu toben. Ach, ich mag gar nicht davon reden!« sagte die Gräfin mit einer müden, traurigen Handbewegung. »Es war eine furchtbare Zeit. Nein, man mag sagen, was man will, aber sie war eine schlechte Frau. Was war das bei ihr für eine maßlose Leidenschaft! Das soll alles etwas Besonderes vorstellen. Und [281] da ist es denn auch etwas Besonderes geworden; sie hat sich selbst und zwei vortreffliche Menschen zugrunde gerichtet: ihren Mann und meinen unglücklichen Sohn.«
»Was macht denn ihr Mann?« fragte Sergei Iwanowitsch.
»Er hat ihre Tochter zu sich genommen. Mein Sohn war in der ersten Zeit mit allem einverstanden. Aber jetzt ist es ihm ein tiefer Schmerz, daß er einem fremden Menschen seine Tochter überlassen hat. Aber sein Wort zurücknehmen, das kann er nicht. Karenin kam zur Beerdigung. Aber wir trafen Vorsorge, daß er mit meinem Sohne nicht zusammentraf. Für ihn, als den Ehegatten, ist das Ganze immer noch leichter zu ertragen; sie hat ihn durch ihren Tod nun wieder frei gemacht. Aber mein armer Sohn hatte sich ihr mit Leib und Seele hingegeben. Alles hatte er ihr zum Opfer gebracht: auf seine Laufbahn verzichtet, sich von seiner Mutter losgesagt; und doch hatte die Frau kein Mitleid mit ihm, sondern richtete ihn mit Vorbedacht völlig zugrunde. Nein, da mag man sagen, was man will, selbst ihr Tod zeigt, daß sie eine schändliche Frau war, eine Frau ohne alle Religion. Gott verzeihe es mir, aber ich kann nur mit Haß an sie denken, wenn ich sehe, was sie aus meinem Sohne gemacht hat.«
»Und wie ist er jetzt?«
»Gott hat uns geholfen, indem er uns diesen serbischen Krieg gesandt hat. Ich bin eine alte Frau und verstehe von Politik nichts; aber für meinen Sohn ist das eine Gnade Gottes. Natürlich, für mich als Mutter ist es furchtbar; und was die Hauptsache ist: es heißt, ce n'est pas très bien vu à Petersbourg 2. Aber was ist zu tun! Das war das einzige, was ihn wieder in die Höhe bringen konnte. Sein Freund Jaschwin hatte sein ganzes Geld verspielt und beschloß nun, nach Serbien zu gehen; der suchte meinen Sohn vorher noch auf und überredete ihn, es auch zu tun. Nun hat er daran etwas, was ihn beschäftigt und interessiert. Bitte, reden Sie doch ein bißchen mit ihm; im wünsche so sehr, ihm eine Zerstreuung, eine Ablenkung zu verschaffen. Er ist so gedrückt. Und unglücklicherweise hat er auch noch Zahnschmerzen. Aber Sie wiederzusehen, wird ihm eine große Freude sein. Bitte, reden Sie ein bißchen mit ihm; er geht auf dieser Seite auf und ab.«
Sergei Iwanowitsch erwiderte, es sei ihm eine große Freude, das zu tun, und begab sich nach der anderen Seite des Zuges.
In dem schrägen, abendlichen Schatten einer Menge von Säcken, die auf dem Bahnsteig aufgeschichtet war, ging Wronski in seinem langen Mantel, den Hut tief in die Augen gedrückt, die Hände in den Taschen, wie ein wildes Tier im Käfig auf und ab; immer nach zwanzig Schritten wendete er scharf um. Sergei Iwanowitsch glaubte, als er sich ihm näherte, Wronski sähe ihn und tue nur so, als ob er ihn nicht bemerke. Aber dadurch ließ sich Sergei Iwanowitsch nicht abschrecken. Über persönliche Empfindlichkeiten war er bei Wronski erhaben.
In diesem Augenblick war Wronski in Sergei Iwanowitschs Augen ein wichtiger Mitarbeiter an einer großen Sache, und er hielt es für seine Pflicht, mit ihm zu reden und ihm seine Anerkennung auszusprechen. Er trat an ihn heran.
Wronski blieb stehen und blickte ihn an; sobald er ihn erkannt hatte, kam er ihm einige Schritte entgegen und drückte ihm kräftig die Hand.
»Vielleicht ist es Ihnen nicht erwünscht, mit mir zu sprechen«, sagte Sergei Iwanowitsch. »Aber kann ich Ihnen nicht irgendwie nützlich sein?«
»Mit niemandem kann mir ein Gespräch so wenig unangenehm sein wie mit Ihnen«, erwiderte Wronski. »Nehmen Sie mir das nicht übel; Angenehmes gibt es für mich im Leben nicht mehr.«
»Ich verstehe das und wollte Ihnen auch nur meine Dienste anbieten«, sagte Sergei Iwanowitsch und blickte Wronski in das Gesicht, dem das Leid seinen Stempel aufgeprägt hatte. »Können Sie einen Brief an Ristitsch oder Milan brauchen?«
»Danke, nein!« antwortete Wronski, der anscheinend das Anerbieten nur mit Mühe verstanden hatte. »Wenn es Ihnen recht ist, so wollen wir auf und ab gehen. In den Wagen ist eine so stickige Luft. Einen Brief? Nein, ich danke Ihnen; um zu sterben, dazu braucht man keine Empfehlungen. Oder höchstens eine an die Türken ...«, fügte er hinzu und lächelte dabei, aber nur mit dem Munde; die Augen behielten ihren grimmig schmerzerfüllten Ausdruck.
»Das wohl, aber mit den leitenden Persönlichkeiten in Verbindung zu treten, was für Sie doch unumgänglich notwendig ist, würde Ihnen doch vielleicht leichter werden, wenn sie darauf vorbereitet sind. Indes, ganz wie Sie wünschen. Ich habe mich sehr gefreut, als ich von Ihrem Entschlusse hörte. Es werden bereits so viele Anklagen gegen die Freiwilligen gerichtet, daß es sehr erwünscht ist, wenn ein solcher Mann wie Sie sie wieder in der öffentlichen Meinung hebt.«
[283] »Als Kämpfer«, erwiderte Wronski, »besitze ich insofern eine brauchbare Eigenschaft, als das Leben für mich keinen Wert mehr hat. Und daß genug körperliche Kraft in mir steckt, um ein Karree zu sprengen und niederzustampfen oder zu fallen, das weiß ich. Ich freue mich, daß etwas da ist, wofür ich mein Leben hingeben kann, mein Leben, das mir wertlos, ja geradezu zuwider geworden ist. So hat doch wenigstens irgend jemand einen Nutzen davon.« Er machte eine ungeduldige Bewegung mit der Kinnlade wegen des unaufhörlichen dumpfen Zahnschmerzes, der ihn sogar hinderte, mit einer solchen Klangfärbung zu sprechen, wie er es wollte.
»Sie werden wieder zu neuem Leben erwachen, das sage ich Ihnen voraus«, sagte Sergei Iwanowitsch nicht ohne Rührung. »Die Erlösung der Stammesbrüder vom Joche der Knechtschaft ist ein Ziel, das in gleicher Weise wert ist, dafür zu sterben und dafür zu leben. Gott gebe Ihnen äußeren Erfolg und inneren Frieden«, fügte er hinzu und streckte ihm die Hand hin.
Wronski drückte kräftig die Hand, die ihm Sergei Iwanowitsch reichte.
»Ja, als Waffe kann ich noch zu etwas nütze sein; aber als Mensch bin ich eine Ruine«, sagte er stockend.
Der bohrende Schmerz in dem kräftigen Zahn füllte ihm den Mund mit Speichel und hinderte ihn am Sprechen. Er verstummte und betrachtete die Räder des langsam und glatt über die Schienen dahinrollenden Tenders.
Und plötzlich ließ ihn ein ganz anderes Gefühl, nicht ein akuter Schmerz, sondern eine dumpfe, seine ganze Seele erfüllende Qual für einen Augenblick den Zahnschmerz vergessen. Beim Anblick des Tenders und der Schienen und unter der Einwirkung des Gesprächs mit einem Bekannten, mit dem er nach seinem Unglück noch nicht zusammengewesen war, erinnerte er sich plötzlich an sie, an Anna, das heißt an das, was von ihr noch übrig gewesen war, als er wie ein Rasender in den Dienstraum des Bahnhofs gestürzt war: auf einem Tisch in diesem Raum lag ausgestreckt, schmählich den Blicken fremder Leute preisgegeben, der blutige Leib, anscheinend noch erfüllt von dem Leben, das kurz vorher aus ihm entwichen war; der unversehrt gebliebene Kopf mit den schweren Flechten und dem krausen Haar an den Schläfen war nach hinten zurückgesunken, und auf dem reizenden Gesicht mit dem halb geöffneten Mund war ein seltsamer Ausdruck erstarrt, der um die Lippen etwas Mitleiderregendes, in den offen gebliebenen Augen etwas Furchtbares hatte und die entsetzlichen Worte: er werde es bereuen, zu wiederholen schien, die sie ihm bei dem Streit zugerufen hatte.
[284] Und er gab sich Mühe, sich ihr Bild in der Gestalt ins Gedächtnis zurückzurufen, wie er sie zum ersten Male, auch auf einem Bahnhof, gesehen hatte, geheimnisvoll, reizend, liebend, Glück suchend und Glück spendend, nicht grausam und rachsüchtig, wie sie ihm von dem letzten Augenblick her in der Erinnerung war. Er gab sich Mühe, an die schönsten mit ihr verlebten Augenblicke zu denken; aber die Erinnerung an diese Augenblicke war für immer vergiftet. Er erinnerte sich nur an ihre triumphierende Drohung, daß er es bereuen werde; und diese Drohung war in Erfüllung gegangen, und nun war sie da, diese Reue, die niemandem nützte und unauslöschbar in seiner Seele brannte. Er fühlte den Zahnschmerz nicht mehr, und ein unbezwingliches Schluchzen verzerrte sein Gesicht.
Nachdem sie zweimal schweigend an den Säcken hin und her gegangen waren und Wronski seine Fassung wiedergewonnen hatte, wandte er sich in ruhigem Tone an Sergei Iwanowitsch.
»Haben Sie neuere Telegramme nach dem gestrigen erhalten? Sie sind zum dritten Male geschlagen worden; aber für morgen wird die Entscheidungsschlacht erwartet.«
Sie sprachen noch ein Weilchen über Milans Ausrufung zum Könige und über die gewaltigen Folgen, die dieser Schritt haben könne, und trennten sich dann beim zweiten Glockenzeichen, um jeder in seinen Wagen zu steigen.
Da Sergei Iwanowitsch nicht gewußt hatte, wann es ihm möglich sein werde, von Moskau wegzureisen, so hatte er seinem Bruder nicht telegrafiert, daß er ihn von der Station abholen lassen möchte. Und so war denn Ljewin nicht zu Hause, als Katawasow und Sergei Iwanowitsch in einem Mietwagen, den sie sich auf der Station genommen hatten, von Staub schwarz wie die Mohren, um zwölf Uhr mittags vor der Tür des Gutshauses in Pokrowskoje vorfuhren. Kitty, die mit ihrem Vater und ihrer Schwester auf dem Balkon saß, erkannte ihren Schwager und lief hinunter, um ihn zu bewillkommnen.
»Schämen Sie sich, daß Sie uns nicht vorher benachrichtigt haben«, sagte sie, gab Sergei Iwanowitsch die Hand und hielt ihm die Stirn zum Kusse hin.
»Wir sind, auch ohne Ihnen Umstände zu machen, sehr gut hergelangt«, antwortete Sergei Iwanowitsch. »Ich bin dermaßen bestaubt, daß ich mich fürchte, Sie zu berühren. Ich hatte so viel zu tun, daß ich nicht wußte, wann ich mich würde losmachen [285] können. Aber Sie und Konstantin«, sagte er lächelnd, »genießen hier in Ihrer stillen Bucht, fern von den unruhigen Strömungen, ganz wie immer ein stilles Glück. Und hier unser Freund Michail Semjonowitsch hat sich auch endlich einmal auf die Reise gemacht.«
»Glauben Sie aber nicht, daß ich ein Neger bin; wenn ich mich gewaschen habe, werde ich wieder wie ein Mensch aussehen«, sagte Katawasow in seiner gewöhnlichen scherzhaften Art, indem er Kitty die Hand reichte und lächelte, wobei seine Zähne aus dem schmutzigen Gesicht besonders auffällig herausglänzten.
»Konstantin wird sich sehr freuen. Er ist auf das Vorwerk gegangen, muß aber bald zurück sein.«
»Immer ist er in seiner Wirtschaft tätig. Es ist wirklich hier wie in einer geschützten Bucht«, sagte Katawasow. »Wir in der Stadt bekommen jetzt nichts anderes zu hören als vom serbischen Kriege. Nun, wie stellt sich denn mein Freund dazu? Wahrscheinlich nicht so wie andere Leute?«
»O doch, ziemlich ebenso wie alle«, antwortete Kitty etwas verlegen und blickte sich dabei nach Sergei Iwanowitsch um. »Ich will hinschicken und ihn rufen lassen. Bei uns ist auch Papa zu Besuch. Er ist erst vor kurzem aus dem Ausland zurückgekommen.«
Sie sorgte durch die nötigen Anordnungen dafür, daß Ljewin geholt wurde und daß die bestaubten Gäste zu Waschgelegenheiten geführt wurden, der eine in Ljewins Arbeitszimmer, der andere in Dollys bisheriges Zimmer, und daß für die Gäste ein Frühstück angerichtet wurde; dann lief sie, sich des wiedergewonnenen Rechtes auf schnelle Bewegungen bedienend, auf die sie während ihrer Schwangerschaft hatte verzichten müssen, auf den Balkon.
»Sergei Iwanowitsch und der Professor Katawasow sind angekommen«, sagte sie.
»Na, das wird bei der Hitze eine schwere Aufgabe!« meinte der Fürst.
»Nein, Papa, auch der Professor ist ein sehr netter Mensch, und Konstantin hat ihn sehr gern«, erwiderte Kitty lächelnd, als sie einen spöttischen Ausdruck im Gesicht ihres Vaters bemerkte; es klang, als ob sie ihn um etwas bitten wolle.
»Aber ich habe ja gar nichts gesagt.«
»Geh du zu ihnen, liebe Dolly«, wandte sich Kitty an ihre Schwester, »und unterhalte sie. Sie haben Stiwa in Moskau auf dem Bahnhof getroffen; er ist gesund und munter. Ich muß schnell zu meinem kleinen Dmitri. Unglücklicherweise hat er, [286] seit wir Tee getrunken haben, nicht mehr die Brust bekommen. Er wird jetzt aufgewacht sein und sicherlich schreien.« Sie fühlte einen Andrang der Milch und ging schnellen Schrittes nach dem Kinderzimmer.
Und wirklich, sie erriet nicht nur (ihre Verbindung mit dem Kinde war noch nicht unterbrochen), sondern erkannte zuverlässig aus dem Andrang der Milch bei ihr das Bedürfnis nach Nahrung bei ihm.
Sie wußte, daß der Kleine schrie, noch ehe sie sich dem Kinderzimmer näherte. Und er schrie wirklich; jetzt hörte sie schon seine Stimme und beschleunigte ihren Schritt. Aber je schneller sie ging, um so lauter schrie er. Es war eine gute, gesunde Stimme, nur hungrig und ungeduldig.
»Schreit er schon lange?« fragte Kitty eilig die Kinderfrau, setzte sich auf einen Stuhl und traf die nötigen Anstalten, um dem Kinde die Brust zu geben. »So geben Sie ihn mir doch schnell her! Ach, was sind Sie langweilig; das Häubchen können Sie ihm doch auch nachher noch zubinden!«
Der Kleine schrie in seiner Gier, als ob er bersten wollte.
»Aber das muß doch sein, Mütterchen«, sagte Agafja Michailowna, die fast stets auch im Kinderzimmer anwesend war. »Er muß doch ordentlich angezogen werden. Eiapopeia!« sang sie, sich über ihn beugend, ohne sich um die Wünsche der Mutter zu kümmern.
Die Kinderfrau trug das Kind zur Mutter hin. Agafja Michailowna ging hinterher; ihr Gesicht zerging fast vor Zärtlichkeit.
»Er kennt mich, er kennt mich! Glauben Sie mir, bei Gott, Mütterchen Katerina Alexandrowna, er hat mich erkannt!« rief Agafja Michailowna sehr laut, um sich trotz des Geschreies des Kindes verständlich zu machen.
Aber Kitty hörte nicht darauf, was sie sagte. Ihre Ungeduld stieg ebenso wie die des Kindes.
Vor beiderseitiger Ungeduld konnte die Sache längere Zeit nicht in Ordnung kommen. Das Kind erfaßte nicht das, was es erfassen sollte, und wurde ärgerlich.
Endlich, nach verzweifeltem Schreien, wobei das Kind zu ersticken drohte, und nach leeren Schluckbewegungen ordnete sich alles nach Wunsch, und Mutter und Kind fühlten sich gleichzeitig beruhigt und wurden beide still.
»Aber der arme kleine Bursche ist ja wie in Schweiß gebadet«, sagte Kitty flüsternd, indem sie das Kind befühlte. »Woher meinen Sie, daß er Sie erkennt?« fügte sie hinzu und schielte nach den Augen des Kindes, die unter dem ins Gesicht gerutschten Häubchen schelmisch, wie es ihr vorkam, hervorschauten, [287] nach den taktmäßig sich aufblähenden Bäckchen und nach dem auf der Innenseite roten Händchen, mit dem das Kind kreisförmige Bewegungen ausführte.
»Das ist nicht möglich! Wenn er überhaupt schon jemanden erkennen könnte, so würde er doch zunächst mich erkennen«, erwiderte Kitty auf Agafja Michailownas Beteuerungen und lächelte dabei.
Der Grund ihres Lächelns war dieser: obgleich sie gesagt hatte, er könne niemand erkennen, so war sie doch in tiefster Seele überzeugt, daß er nicht nur Agafja Michailowna erkenne, sondern schon alles mögliche wisse und verstehe und sogar vieles wisse und verstehe, was sonst niemand wisse und was sie, die Mutter, selbst erst durch ihn kennengelernt habe und zu verstehen anfange. Für Agafja Michailowna, für die Kinderfrau, für den Großvater, sogar für den Vater war Dmitri ein lebendes Wesen, das nur körperliche Pflege verlangte; aber für die Mutter war er schon längst ein beseeltes Wesen, zu dem sie bereits eine ganze Menge geistiger Beziehungen hatte.
»Wenn er aufwacht, werden Sie es, so Gott will, schon selbst sehen. Wenn ich nur so mache, dann strahlt er nur so, das süße Kerlchen. Er strahlt nur so, ordentlich wie der helle Tag«, sagte Agafja Michailowna.
»Na, schön, schön, wir wollen nachher mal sehen«, flüsterte Kitty. »Jetzt gehen Sie nur; er schläft ein.«
Agafja Michailowna ging auf den Fußspitzen hinaus; die Kinderfrau ließ die Vorhänge herunter, jagte die Fliegen aus den Musselinvorhängen des Bettchens hinaus und verscheuchte einen Brummer, der fortwährend gegen die Fensterscheiben stieß; dann setzte sie sich und wedelte mit einem verwelkten Birkenzweige über den Köpfen der Mutter und des Kindes.
»Nein, diese Hitze, diese Hitze!« stöhnte sie. »Wenn Gott nur ein bißchen Regen schicken wollte!«
»Ja, ja, sch-sch-scht ...«, antwortete Kitty nur. Sie wiegte sich leise hin und her und drückte zärtlich Dmitris dickes, an der Handwurzel wie von einem Faden umwickeltes Ärmchen, das der Kleine immer sachte bewegte, wobei er die Augen bald auf, bald zu machte. Über die Bewegungen dieses Ärmchens beunruhigte sich Kitty; sie wollte dieses Ärmchen küssen, fürchtete sich aber, es zu tun, um das Kind nicht aufzuwecken. Endlich hörte das Ärmchen auf, sich zu bewegen, und die Augen [288] schlossen sich. Nur von Zeit zu Zeit setzte das Kind seine Saugtätigkeit noch einmal fort, hob die langen, gebogenen Wimpern in die Höhe und blickte die Mutter mit seinen feuchten, im Halbdunkel schwarz erscheinenden Augen an. Die Kinderfrau hörte auf zu fächeln und schlief ein. Von oben her hörte man die kräftige Stimme des alten Fürsten und Katawasows Lachen.
›Die Unterhaltung ist offenbar auch ohne mich in Gang gekommen‹, dachte Kitty, ›aber es ist doch schade, daß Konstantin nicht da ist. Er ist gewiß wieder nach dem Bienenstand gegangen. Obgleich es mir leid tut, daß ihn dies sooft von Hause fern hält, so freue ich mich doch auch darüber. Das zerstreut ihn. Er ist jetzt viel heiterer geworden und fühlt sich viel wohler als im Frühjahr. Sonst war er so düster und quälte sich so mit seinen Gedanken, daß mir ordentlich bange um ihn wurde. Aber was ist er doch für ein seltsamer Mensch!‹ dachte sie lächelnd.
Sie wußte, was ihren Mann quälte. Es war sein Unglaube. Zwar, wenn man sie gefragt hätte, ob sie meine, daß er im zukünftigen Leben wegen seines Unglaubens der Verdammnis anheimfallen werde, so hätte sie einräumen müssen, daß er allerdings werde verdammt werden; aber trotzdem machte sein Unglaube sie nicht unglücklich. Und obgleich sie sich zu der Lehre bekannte, wonach für einen Ungläubigen keine Rettung möglich sei, und die Seele ihres Mannes mehr als alles in der Welt liebte, so dachte sie doch an seinen Unglauben mit einem Lächeln und sagte zu sich selbst, daß er ein eigenartiger Mensch sei.
›Wozu liest er das ganze Jahr hindurch allerlei philosophische Bücher?‹ dachte sie. ›Wenn in diesen Büchern die Wahrheit geschrieben stände, so würde er es doch verstehen können und zur Ruhe kommen; wenn aber Unwahrheit darin steht, was hat es dann für Zweck, diese Bücher zu lesen? Er sagt selbst, es sei sein Wunsch zu glauben. Warum glaubt er dann also nicht? Doch wohl, weil er zuviel denkt? Und daß er soviel denkt, das kommt von seinem einsamen Leben her. Immer ist er allein, immer allein. Mit uns kann er nicht über alles sprechen. Ich glaube, diese Gäste werden ihm angenehm sein, besonders Katawasow. Er unterhält sich gern mit ihm‹, dachte sie, überlegte sich aber im nächsten Augenblick, wie sie wohl Katawasow am besten unterbringen könne, ob er allein schlafen solle oder mit Sergei Iwanowitsch zusammen. Und da schoß ihr auf einmal ein Gedanke durch den Kopf, der sie vor Aufregung zusammenfahren ließ; dadurch wurde sogar Dmitri beunruhigt, so daß er sie dafür mit einem strengen Blick ansah. ›Die Waschfrau [289] hat ja wohl noch nicht die Wäsche gebracht, und was an Bettwäsche vorhanden war, ist schon für die bisherigen Gäste herausgegeben. Wenn ich nicht das Nötige anordne, wird Agafja Michailowna für Sergei Iwanowitsch und den Professor Wäsche geben, wie sie von der Bleiche kommt.‹ Der bloße Gedanke daran trieb ihr das Blut ins Gesicht.
›Ja, ich werde das Nötige anordnen‹, sagte sie sich, und zu ihren früheren Gedanken zurückkehrend, erinnerte sie sich, daß sie eine wichtige seelische Frage noch nicht bis zu Ende durchgedacht hatte, und sie suchte sich zu besinnen, welche Frage es gewesen sei. ›Ja, über Konstantins Unglauben!‹ Sie lächelte, als ihr das wieder einfiel.
›Nun ja, ungläubig! Mag er lieber immer ein solcher Ungläubiger bleiben, als ein Gläubiger von der Art werden, wie es Madame Stahl war oder wie ich es damals im Auslande werden wollte. Nein, heucheln, das wird er niemals.‹
Dabei kam ihr lebhaft ins Gedächtnis, in welch schöner Weise sich unlängst Ljewins Herzensgüte geäußert hatte. Vor vierzehn Tagen hatte Dolly einen reuigen Brief von Stepan Arkadjewitsch erhalten. Er hatte sie darin angefleht, seine Ehre zu retten und ihr Gut zu verkaufen, um seine Schulden zu bezahlen. Dolly war in Verzweiflung gewesen und hatte nicht gewußt, ob sie ihren Mann mehr haßte oder verachtete oder bedauerte; sie hatte beschlossen, sich scheiden zu lassen, ihm seine Bitte abzuschlagen; aber es hatte dann doch damit geendet, daß sie einwilligte, einen Teil ihres Gutes zu verkaufen. Und nun erinnerte sich Kitty, unwillkürlich vor Rührung lächelnd, wie verlegen sich ihr Mann nach diesem Entschlusse Dollys benommen hatte, wie er mehrmals ungeschickten Anlauf zu dem Vorschlag, der ihn beschäftigte, gemacht hatte und wie er schließlich (es war dies das einzige Mittel gewesen, das er hatte ersinnen können, um Dolly zu helfen, ohne ihr Ehrgefühl zu verletzen) Kitty dazu angeregt hatte, den Teil des Gutes, der ihr gehörte, ihrer Schwester zu überlassen, eine edle Tat, auf die sie selbst vorher gar nicht verfallen war.
›Und er wäre ein Ungläubiger? Mit seinem Herzen, mit dieser Furcht, irgend jemandem, und wäre es auch nur ein Kind, wehe zu tun! Alles für andere, nichts für sich. Sergei Iwanowitsch ist geradezu der Ansicht, das sei Konstantins Pflicht, für ihn die Verwaltung des Gutes zu führen. Und ebenso Konstantins Schwester. Jetzt hat sich Dolly mit ihren Kindern unter seine Obhut gestellt. Und alle die Bauern, die Tag für Tag zu ihm kommen, als ob er verpflichtet wäre, ihnen allerlei Dienste zu erweisen!‹
[290] »Ja, werde du nur so, wie dein Vater ist; so werde du nur«, murmelte sie vor sich hin, indem sie den kleinen Dmitri der Kinderfrau hingab und mit den Lippen sein Bäckchen berührte.
Von dem Augenblick an, wo Ljewin beim Anblick seines lieben, todkranken Bruders zum ersten Male die Fragen des Lebens und Todes durch die Brille jener neuen, wie er es nannte, Überzeugungen betrachtet hatte, die, ohne daß er sich dessen selbst bewußt geworden war, während der Zeit zwischen seinem zwanzigsten und seinem vierunddreißigsten Lebensjahre in seiner Seele den Platz ausgefüllt hatten, den in seiner Kindheit und in seinem Jünglingsalter der Glaube eingenommen hatte, von diesem Augenblick an empfand er eine entsetzliche Furcht nicht so sehr vor dem Tode wie vor einem Leben, bei dem er nicht die geringste Kenntnis davon hatte, woher es stamme, wozu und warum es da sei und was es eigentlich sei. Der Organismus, seine Vernichtung, die Unzerstörbarkeit der Materie, das Gesetz der Erhaltung der Kraft, die Entwicklung: das waren die Worte, die bei ihm an die Stelle des früheren Glaubens getreten waren. Diese Worte und die damit verbundenen Begriffe waren ja für die Zwecke verstandesmäßigen Denkens gut und nützlich; aber für das praktische Leben halfen sie ihm nichts, und Ljewin hatte eine ähnliche Empfindung, als wenn jemand einen warmen Pelz gegen einen Anzug aus Musselin hingäbe und nun zum erstenmal bei starker Kälte in unzweifelhafter Weise, nicht durch Überlegung, sondern durch das Gefühl an seinem ganzen Leibe, zu der Überzeugung käme, daß er so gut wie nackt sei und mit Notwendigkeit kläglich umkommen müsse.
Von jenem Augenblick an empfand Ljewin, obwohl er sich keine klare Rechenschaft davon gab und in seiner früheren Weise weiterlebte, unausgesetzt diese Angst wegen seiner Unwissenheit.
Außerdem hatte er die dunkle Empfindung, daß das, was er seine Überzeugungen nannte, nicht nur ein Zustand der Unwissenheit, sondern auch eine Geistesverfassung sei, die es ihm unmöglich mache, zur Kenntnis dessen zu gelangen, was er zu erkennen begehrte.
In der ersten Zeit waren diese Gedanken durch seine Verheiratung und durch die neuen Freuden und Pflichten, die er kennenlernte, ganz in den Hintergrund gedrängt worden; aber in der letzten Zeit, als er nach der Entbindung seiner Frau ohne [291] rechte Tätigkeit in Moskau lebte, trat ihm diese Frage, die gelöst zu werden verlangte, immer häufiger und immer aufdringlicher vor die Seele.
Die Frage gestaltete sich für ihn folgendermaßen: ›Wenn ich die Antworten, die mir das Christentum auf die Fragen meines Lebens gibt, ablehne, welche Antworten erkenne ich dann als richtig an?‹ Aber in dem ganzen Bereich seiner Überzeugungen vermochte er schlechterdings keine Antworten zu finden, ja überhaupt nichts, was mit einer Antwort auch nur Ähnlichkeit gehabt hätte.
Es war gerade, wie wenn er in einem Spielwarenladen oder in einer Waffenhandlung hätte Lebensmittel kaufen wollen.
Unwillkürlich und ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, achtete er jetzt bei jedem Buche, das er las, bei jedem Menschen, mit dem er in ein Gespräch kam, darauf, welche Stellung sie zu diesen Fragen einnähmen und wie sie sie zu lösen versuchten.
Ganz besonders wunderte und verstimmte ihn, daß die meisten seiner Standes- und Altersgenossen, die, früher gläubig wie er, ihren Glauben mit denselben neuen Überzeugungen vertauscht hatten wie er, darin gar keinen Nachteil fanden, sondern durchaus ruhig und zufrieden waren. Daher quälten ihn außer jener Hauptfrage noch andere Fragen: ob diese Leute aufrichtig seien, ob sie sich auch nicht etwa verstellten oder ob sie ein anderes, klareres Verständnis als er für die Antworten hätten, die die Wissenschaft auf die ihn beschäftigenden Fragen gebe. Und er studierte sorgsam die Ansichten dieser Menschen und die Bücher, in denen diese Antworten enthalten waren.
Eines, was er erkannt hatte, seit diese Fragen angefangen hatten, ihn zu beschäftigen, war dies: daß er in einem Irrtum befangen gewesen war, wenn er, in Erinnerung an seinen jugendlichen Umgangskreis auf der Universität, angenommen hatte, die Religion habe sich bereits überlebt und es gebe gar keine Religion mehr. Alle guten Menschen, die ihm im Leben nahestanden, waren gläubig: so der alte Fürst, und Lwow, zu dem er eine große Zuneigung gefaßt hatte, und Sergei Iwanowitsch, und alle Frauen in der Verwandtschaft; seine eigene Frau war so gläubig, wie er selbst es in seiner frühesten Kindheit gewesen war; und neunundneunzig Prozent des russischen Volkes, die ganze Volksschicht, deren Leben ihm die größte Achtung einflößte, waren gläubig.
Und dann ein zweiter Punkt: Beim Durcharbeiten zahlloser Bücher überzeugte sich Ljewin, daß die Leute, die mit ihm die gleichen verneinenden Anschauungen hatten, eines festen Untergrundes für diese Ablehnung ermangelten und, ohne etwas zu [292] erklären, lediglich die Fragen ablehnten, ohne deren Beantwortung er, wie er fühlte, nicht leben konnte, und sich bemühten, ganz andere, ihn nicht beschäftigende Fragen zu lösen, zum Beispiel die Fragen nach der Entwicklung der Lebewesen, nach einer mechanischen Erklärung der Seele und anderem.
Außerdem hatte sich bei der Entbindung seiner Frau mit ihm etwas für ihn Ungewöhnliches begeben. Er, der Ungläubige, hatte gebetet und in dem Augen blick, wo er betete, auch wirklich geglaubt. Aber jener Augenblick war vorübergegangen, und Ljewin vermochte dieser damaligen Seelenstimmung keine Stelle in seiner geistigen Entwicklung zuzuweisen.
Er konnte nicht zugeben, daß er damals die Wahrheit erkannt hätte und sich jetzt irre; denn sobald er wieder angefangen hatte, ruhig darüber nachzudenken, war alles wieder in Trümmer gefallen. Aber auch das konnte er nicht zugeben, daß er damals in einem Irrtum befangen gewesen wäre; denn seine damalige Seelenstimmung erschien ihm als etwas Hohes, und wenn er sie jetzt als die Wirkung einer Schwäche aufgefaßt hätte, so hätte er das als eine Entweihung jenes Augenblicks empfunden. Er befand sich in einer peinlichen Uneinigkeit mit sich selbst und spannte alle Kräfte seines Geistes an, um aus ihr herauszukommen.
Diese Gedanken quälten und peinigten ihn bald mehr, bald weniger, ohne ihn jemals ganz zu verlassen. Er las und dachte nach; aber je mehr er las und nachdachte, um so ferner fühlte er sich von dem Ziele, dem er zustrebte.
In der letzten Zeit in Moskau und dann auf dem Lande hatte er, da er zu der Überzeugung gelangt war, daß er bei den Materialisten keine befriedigende Antwort finden werde, Plato, Spinoza, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer teils zum ersten Male, teils von neuem gelesen, also Philosophen, die das Leben nicht in materialistischer Weise erklären.
Die Gedanken, die er dort fand, erschienen ihm fruchtbar, solange er streitbare Einwände gegen andere Lehren, besonders gegen die materialistische, las oder auch selbst aussann; aber sobald er Lösungsversuche jener Fragen las oder selbst erdachte, wiederholte er sich immer ein und dasselbe. Wenn er den Auseinandersetzungen über den Sinn unklarer Worte wie Geist, Wille, Freiheit, Substanz folgte und sich absichtlich in jene Wortfalle hineinbegab, die ihm die Philosophen oder auch er sich selbst aufstellten, so schien es ihm, als fange er an, etwas zu [293] verstehen. Aber er brauchte nur diesen kunstvollen Gedankengang zu vergessen und dann vom wirklichen Leben her zu dem zurückzukehren, was ihn bei der Denktätigkeit, bei der Verfolgung des gegebenen Fadens befriedigt hatte – und auf einmal fiel dieser ganze kunstvolle Bau wie ein Kartenhaus zusammen, und es wurde ihm klar, daß dieser Bau ohne Rücksicht auf etwas, was im Leben noch wichtiger ist als die Vernunft, lediglich durch eine Umstellung ein und derselben Worte errichtet war.
Eine Zeitlang, als er Schopenhauer las, setzte er an die Stelle dessen, was bei diesem Wille heißt, die Liebe, und diese neue Philosophie befriedigte ihn ein paar Tage lang, solange er sich nicht aus ihrem Bannkreise entfernte; aber sie stürzte ganz ebenso wie die anderen Systeme zusammen, als er nun vom Leben aus seinen Blick auf sie richtete, und erwies sich als ein Musselinanzug, der nicht wärmte.
Sein Bruder Sergei Iwanowitsch hatte ihm geraten, Chomjakows theologische Schriften zu lesen. Ljewin las den zweiten Band von Chomjakows Werken, und obgleich ihn anfangs der streitbare, gezierte, witzige Ton abstieß, so machte doch die darin enthaltene Auseinandersetzung über das Wesen der Kirche großen Eindruck auf ihn. Es imponierte ihm anfangs der Gedanke, daß die Erkenntnis der göttlichen Wahrheiten dem einzelnen Menschen nicht vergönnt sei, wohl aber einer Gemeinschaft von Menschen, die durch die Liebe verbunden sei, das heißt der Kirche. Es erfreute ihn der Gedanke, daß es ja doch leichter sei, an die zweifellos bestehende, jetzt lebendige Kirche zu glauben, die alle Glaubenssätze fertig darbiete und Gott zu ihrem Oberhaupte habe und darum heilig und unfehlbar sei, und von ihr den Glauben an Gott, an die Schöpfung, an den Sündenfall und an die Erlösung hinzunehmen, als von Gott anzufangen, diesem fernen, geheimnisvollen Gotte, und von der Schöpfung und so weiter. Als er dann aber die Kirchengeschichte eines römisch-katholischen Schriftstellers und die Kirchengeschichte eines rechtgläubigen Schriftstellers gelesen und daraus ersehen hatte, daß die beiden Kirchen, die doch ihrem Wesen nach unfehlbar sein sollten, sich gegenseitig nicht gelten ließen, da kam er auch von Chomjakows Auffassung des Wesens der Kirche ab, und dieses Gebäude zerfiel ebenso in Staub wie die philosophischen Lehren.
Während dieses ganzen Frühjahrs war er völlig verstört und durchlebte schreckliche Augenblicke.
›Ohne zu wissen, was ich bin und wozu ich da bin, kann ich nicht leben. Aber zu diesem Wissen kann ich nicht gelangen; folglich kann ich nicht leben‹, sagte sich Ljewin.
[294] ›In der unendlichen Zeit löst sich in der Unendlichkeit der Materie in dem unendlichen Raume ein organisches Bläschen ab, und dieses Bläschen besteht eine Weile und platzt dann, und dieses Bläschen bin ich.‹
Dies war eine qualvolle Unwahrheit; aber es war das einzige, letzte Ergebnis der jahrhundertelangen Denktätigkeit des Menschengeschlechts nach dieser Richtung hin.
Dies war der letzte Glaubenssatz, auf dem sich, auf fast allen Gebieten, alle Forschungen des menschlichen Denkens aufbauten. Dies war die herrschende Überzeugung, und Ljewin hatte unter allen Erklärungsarten unwillkürlich und ohne selbst zu wissen, wann und wie, sich diese als die immerhin noch klarste zu eigen gemacht.
Aber dies war nicht nur eine Unwahrheit, dies war der grausame Hohn einer bösen, feindlichen Macht, einer Macht, der man sich nicht unterwerfen durfte.
Von dieser Macht mußte man sich befreien. Und die Möglichkeit, sich von ihr zu befreien, hatte ein jeder in der Hand. Dieser Abhängigkeit vom Bösen mußte ein Ende gemacht werden. Und dazu gab es nur ein einziges Mittel: den Tod.
Und Ljewin, dieser glückliche Familienvater, dieser kerngesunde Mensch, war einige Male dem Selbstmord so nahe, daß er einen Strick versteckte, um nicht in Versuchung zu kommen, sich daran aufzuhängen, und sich fürchtete, mit einem Gewehr auszugehen, um sich nicht zu erschießen.
Aber Ljewin erschoß sich nicht und erhängte sich nicht, sondern lebte weiter.
Wenn Ljewin darüber nachdachte, was er sei und wozu er lebe, so fand er auf diese Fragen keine Antwort und geriet in Verzweiflung; sobald er aber aufhörte, sich diese Fragen vorzulegen, hatte er die Vorstellung, als wisse er wirklich, was er sei und wozu er lebe; denn er bewies in seiner ganzen Handlungs- und Lebensweise Festigkeit und Sicherheit; in dieser letzten Zeit sogar in noch höherem Grade als früher.
Als er Anfang Juni wieder aufs Land gezogen war, war er auch zu seinen gewohnten Beschäftigungen zurückgekehrt. Die Landwirtschaft, die Beziehungen zu den Bauern und Nachbarn, die Hauswirtschaft, die in seinen Händen liegenden Angelegenheiten seiner Schwester und seines Bruders, das Verhältnis zu seiner Frau und zu den Verwandten, die Sorge um das Kind, die neue Leidenschaft für die Bienenzucht, die er seit diesem Frühjahr eifrig betrieb, all das füllte seine Zeit aus.
[295] Diese Beschäftigungen erfüllten ihn nicht deswegen, weil er sie vor sich selbst durch irgendwelche allgemeinen Gesichtspunkte gerechtfertigt hätte, wie er das früher zu tun pflegte; im Gegenteil, einerseits enttäuscht durch das Mißlingen seiner früheren gemeinnützigen Unternehmungen, anderseits zu sehr in Anspruch genommen durch seine Gedanken und die Menge von Arbeit, die sich von allen Seiten her für ihn aufhäufte, hatte er jetzt alle Gedanken an das Gemeinwohl völlig fallengelassen, und diese Beschäftigungen erfüllten ihn nur deswegen, weil er meinte, es sei seine Pflicht, das zu tun, was er tat, und er könne gar nicht anders.
Früher (und diese Erfahrung hatte fast schon in seiner Kindheit begonnen und sich bis zu seinem vollen Mannesalter immer mehr gesteigert), wenn er sich bemühte, irgend etwas zu tun, was allen, das heißt der ganzen Menschheit oder dem russischen Vaterlande oder dem ganzen flachen Lande, zum Heile gereichen sollte, hatte er die Wahrnehmung gemacht, daß die Gedanken daran sehr vergnüglich waren, die Tätigkeit selbst aber immer ihr Unangenehmes hatte und nicht recht gelingen wollte; es hatte ihm die volle Überzeugung von der unbedingten Notwendigkeit dieser Tätigkeit gemangelt, und die Tätigkeit selbst, die ihm anfangs als etwas so Hohes und Großartiges erschienen, war in seinen Augen immer unbedeutender und nichtiger geworden. Jetzt aber, wo er nach seiner Verheiratung sich mehr und mehr darauf beschränkte, sich selbst zu leben, empfand er zwar keine besondere Freude mehr bei dem Gedanken an seine Tätigkeit, aber er hatte die Überzeugung, daß sie notwendig war, und sah, daß sie weit besser vonstatten ging als früher und immer wichtiger und bedeutsamer wurde.
Jetzt wühlte er sich, beinahe gegen seinen Willen, wie ein Pflug immer tiefer und tiefer in die Erde hinein, so daß er sich nicht mehr herausarbeiten konnte, ohne die Furche zu verderben.
Daß die Familie so lebe, wie die Väter und Großväter zu leben gewohnt waren, das heißt auf der gleichen Bildungshöhe, und daß die Erziehung der Kinder dem entspreche, das erachtete Ljewin für eine unzweifelhafte Notwendigkeit; das war gerade ebenso notwendig, wie Mittagbrot zu essen, wenn man hungrig geworden ist. Und wie zu diesem Zwecke notwendig ist, daß das Mittagbrot zubereitet werde, so war es gleicherweise notwendig, die Wirtschaftsmaschine in Pokrowskoje derart in Gang zu halten, daß Einnahmen erzielt wurden. Und wie man eine Schuld zurückzahlen muß, so mußte man gleicherweise das ererbte Land in einem solchen Zustand erhalten, daß der[296] Sohn, der es erben würde, dem Vater ebenso dankbar dafür sein konnte, wie Ljewin seinem Großvater für alles, was dieser gebaut und gepflanzt hatte, dankbar war. Und zu diesem Zwecke war es notwendig, daß er das Land nicht verpachtete, sondern es selbst bewirtschaftete, Vieh hielt, die Äcker düngte und Wald anpflanzte.
Der Angelegenheiten Sergei Iwanowitschs und der Schwester und der Bauern, die zu ihm kamen, um sich Rat zu holen, und sich daran schon völlig gewöhnt hatten, dieser Angelegenheiten sich weiter nicht mehr anzunehmen, war für Ljewin gerade so unmöglich, wie es unmöglich ist, ein Kind hinzuwerfen, das man schon auf den Armen hält. Es war notwendig, daß er für die Bequemlichkeit der bei ihm auf Besuch befindlichen Schwägerin und ihrer Kinder und für die Bequemlichkeit seiner eigenen Frau und seines Kindes sorgte, und es war unumgänglich, daß er wenigstens einen kleinen Teil des Tages in ihrer Gesellschaft zubrachte.
Alle diese Beschäftigungen, im Verein noch mit der Jagd und der neuen Leidenschaft für Bienenzucht, füllten Ljewins ganzes Leben aus, eben das Leben, das für ihn keinen Wert hatte, sobald er darüber nachdachte.
Aber Ljewin wußte nicht nur mit Sicherheit, was er tun mußte, sondern er wußte auch ganz ebenso, wie er alles das tun mußte und welche Tätigkeit wichtiger war als eine andere.
Er wußte, daß man die Arbeiter zu möglichst niedrigem Lohne mieten mußte; aber sie gegen einen Vorschuß als Fronarbeiter annehmen, wobei sie dann erheblich weniger Geld erhielten als ihre Arbeit wert war, das durfte man nicht, obgleich es sehr vorteilhaft war. Bei Futtermangel Stroh an die Bauern nur gegen Bezahlung abgeben, das durfte man, wenn sie einem auch leid taten; aber die Herberge und die Schenke mußte man beseitigen, obgleich sie eine Einnahmequelle bildeten. Das Abhauen und Stehlen von Bäumen im Walde mußte aufs strengste bestraft werden; aber für hineingetriebenes Vieh sollte man keine Geldstrafen nehmen; und obgleich diese Nachsicht die Waldhüter verdroß und die Furcht der Frevler verminderte, sollte man doch das hineingetriebene Vieh nicht zurückbehalten.
Dem Bauern Peter, der dem Wucherer zehn Prozent monatlich zahlte, mußte man ein Darlehen geben, um ihn aus solchen Händen zu retten; aber den Bauern, die mit der Zahlung ihrer Abgaben saumselig waren, etwas ablassen oder Stundung gewähren, das durfte man nicht. Man durfte es dem Verwalter nicht durchgehen lassen, daß eine kleine Wiese nicht gemäht war und das Gras ungenutzt zugrunde ging; aber man durfte [297] auch nicht achtzig Deßjatinen abmähen, auf denen junger Wald gepflanzt war. Man durfte nicht großmütig sein gegen einen Arbeiter, mochte er einem auch noch so leid tun, der mitten in der arbeitsreichsten Zeit in seine Heimat zurückkehrte, weil sein Vater gestorben war, sondern man mußte ihm für die versäumten wertvollen Arbeitsmonate einen Abzug vom Lohne machen; aber anderseits durfte man alten, zu nichts mehr tauglichen Gutsknechten eine monatliche Gabe von Lebensmitteln nicht verweigern.
Ljewin wußte auch, daß, wenn er nach Hause zurückkam, er zuerst zu seiner Frau gehen mußte, die mitunter nicht wohl war, und daß die Bauern, die schon drei Stunden lang auf ihn gewartet hatten, auch noch ein bißchen länger warten konnten; und er wußte, daß, obwohl ihm das Einfangen eines Bienenschwarms außerordentlich viel Vergnügen machte, er auf dieses Vergnügen verzichten, das Einfangen des Schwarmes ohne seine Beteiligung seinem alten Bienenwärter überlassen und hingehen und mit den Bauern reden mußte, die ihn auf dem Bienenstande aufsuchten.
Ob er dabei gut oder schlecht handelte, das wußte er nicht, auf eine Beweisführung ließ er sich jetzt nicht ein, ja, er vermied es sogar, mit anderen darüber zu sprechen und bei sich darüber nachzudenken.
Solche Überlegungen machten ihn nur zweifelnd und hinderten ihn, zu erkennen, was er tun mußte und nicht tun mußte. Wenn er dagegen nicht nachdachte, sondern einfach nur lebte, so fühlte er fortwährend in seiner Seele die Anwesenheit eines unfehlbaren Richters, der die Entscheidung darüber abgab, welche von zwei möglichen Handlungsweisen den Vorzug verdiene, und sobald er einmal nicht so handelte, wie er handeln mußte, fühlte er das sofort.
So lebte er, ohne zu wissen, was er eigentlich sei und wozu er auf der Welt lebe und ohne daß er eine Möglichkeit gesehen hätte, zu dieser Kenntnis zu gelangen; und diese Unwissenheit quälte ihn dermaßen, daß er fürchtete, er würde noch eines Tages Selbstmord begehen. Dabei aber bahnte er sich doch mit aller Festigkeit seinen besonderen, bestimmten Weg im Leben.
Der Tag, an dem Sergei Iwanowitsch nach Pokrowskoje gekommen, war für Ljewin ganz besonders reich an Mühe und quälenden Gedanken.
[298] Es war die Zeit im Jahre, wo mit der allergrößten Eile gearbeitet werden muß, die Zeit, wo beim ganzen Volke eine so außerordentliche, aufopfernde Anspannung aller Kräfte für die Arbeit in Erscheinung tritt, wie sie in anderen Lebensverhältnissen nicht vorkommt, eine Anstrengung, die sehr hoch bewertet werden würde, wenn die Menschen, die diese trefflichen Eigenschaften an den Tag legen, sie selbst zu schätzen verständen, und wenn sich der gleiche Vorgang nicht alle Jahre wiederholte, und wenn die Ergebnisse dieser Anspannung nicht gar so einfacher Natur wären.
Den Roggen und den Hafer zu schneiden und einzufahren, die Wiesen zu mähen, die Brache aufzuackern, das Korn zu dreschen und die Wintersaat auszusäen, all das sieht so einfach und gewöhnlich aus; aber um mit alledem rechtzeitig fertig zu werden, muß die gesamte Bevölkerung eines Dorfes, alt und jung, diese drei, vier Wochen ohne Unterbrechung dreimal soviel wie gewöhnlich arbeiten, sich dabei von Kwaß, Zwiebeln und Schwarzbrot nähren, bei Nacht die Garben ausdreschen und das Stroh fortschaffen und sich nicht mehr als zwei bis drei Stunden Schlaf für den Tag gönnen. Und so spielt sich das alljährlich in ganz Rußland ab.
Ljewin, der den größten Teil seines Lebens auf dem Lande und in enger Berührung mit dem Landvolke verbracht hatte, fühlte jedesmal in dieser Arbeitszeit, daß die allgemeine Aufregung des Volkes sich auch ihm mitteilte.
Am frühen Morgen dieses Tages war er zur ersten Roggensaat hinausgeritten und zum Hafer, der in Schober zusammengefahren wurde. Dann war er nach Hause zurückgekehrt, hatte mit seiner Frau und mit seiner Schwägerin, die inzwischen aufgestanden waren, Kaffee getrunken und war darauf zu Fuß nach dem Vorwerk gegangen, wo die neu aufgestellte Dreschmaschine zur Gewinnung des Saatkorns in Gang gesetzt werden sollte.
Diesen ganzen Tag über dachte Ljewin, während er mit dem Verwalter und den Bauern und zu Hause mit seiner Frau und mit Dolly und mit ihren Kindern und mit seinem Schwiegervater sprach, immer an den einen Gegenstand, der ihn in dieser Zeit neben seinen wirtschaftlichen Sorgen beschäftigte, und suchte in allem eine Beziehung zu seiner Frage: ›Was bin ich denn? Und wo bin ich? Und wozu bin ich hier?‹
Ljewin stand in dem kühlen Raum der neugedeckten Getreidedarre mit dem noch nicht abgeblätterten, noch duftenden Laubwerk der Dünnlatten aus Hasel, die auf den frisch abgeschälten espenen Sparren des Strohdaches ruhten, und blickte bald durch [299] das offene Tor, in dem der trockene, bittere Staub vom Dreschen umherflog, auf das von der heißen Sonne beschienene Gras der Tenne und auf das frische, soeben aus der Scheune herausgebrachte Stroh, bald nach den buntköpfigen, weißbrüstigen Schwalben, die pfeifend unter das Dach geflogen kamen und mit den Flügeln flatternd in der freien Öffnung des Tores einen Augenblick auf einem Fleck schwebten, bald nach den Menschen, die sich in der dunklen, staubigen Darre umherbewegten; und es kamen ihm seltsame Gedanken:
›Wozu geschieht das alles?‹ dachte er. ›Wozu stehe ich hier und halte sie zur Arbeit an? Warum tummeln sie sich alle so geschäftig und bemühen sich, in meiner Gegenwart ihren Eifer zu zeigen? Warum müht sich diese alte Matrona, meine gute Bekannte, so ab? (Ich habe sie geheilt, als bei dem Brande ihres Hauses ein Balken auf sie gefallen war)‹, dachte er, indem er nach einer hageren alten Frau blickte, die, mit der Harke das Korn heranholend, eifrig mit den bloßen, von der Sonne schwarzgebrannten Füßen auf dem unebenen, harten Dreschboden hin und her ging. ›Damals ist sie noch wieder gesund geworden; aber wenn nicht heute oder morgen, so doch in zehn Jahren wird man sie einscharren, und es wird nichts von ihr übrigbleiben; auch von dieser geputzten Dirne da im roten Rock; die mit so geschickten, weichen Bewegungen die Ähren aus der Spreu zurückwirft, wird einmal nichts übrigbleiben, auch sie wird man einscharren, und diesen scheckigen Wallach, und den sehr bald‹, dachte er, indem er auf das schwer an seinem Bauche tragende und hastig mit aufgeblähten Nüstern atmende Pferd blickte, das unablässig auf das abschüssige, unter seinem Gewichte sich bewegende Tretrad trat. ›Auch dieses Tier wird man einscharren, und auch den Zureicher Fjodor wird man einscharren, mit seinem krausen Bart, der ganz voll Spreu sitzt, und mit seinem Hemd, das auf seiner weißen Schulter ein Loch hat. Und jetzt reißt er da die Garben auf und kommandiert und schreit die Weiber an und schiebt mit einer schnellen Bewegung den Riemen auf dem Schwungrad zurecht. Und was die Hauptsache ist: nicht nur sie, sondern auch mich wird man einscharren, und es wird nichts von mir übrigbleiben. Wozu also all das?‹
Diesen Gedanken gab er sich hin und blickte gleichzeitig auf die Uhr, um zu berechnen, wieviel in einer Stunde gedroschen würde. Er mußte das wissen, um danach die Arbeitsmenge für den Tag festzusetzen.
›Sie dreschen schon fast eine Stunde und haben erst den dritten Haufen angefangen‹, dachte Ljewin, trat zu dem Zureicher und [300] befahl ihm, indem er das Rasseln der Maschine zu übertönen versuchte, loser zuzureichen.
»Du gibst zuviel auf einmal, Fjodor! Siehst du, es verstopft sich, und dann schafft es nicht ordentlich. Du mußt es gleichmäßiger machen!«
Fjodor, ganz schwarz von dem Staube, der ihm an dem schweißigen Gesicht klebte, schrie irgend etwas zur Erwiderung, machte es aber nicht so, wie Ljewin es wollte.
Ljewin ging an die Trommel heran, schob Fjodor zur Seite und fing selbst an zuzureichen.
Nachdem er bis zum Mittagessen der Bauern gearbeitet hatte, bis zu dem es nicht mehr lange gewesen war, verließ er mit dem Zureicher zusammen die Getreidedarre und knüpfte mit ihm ein Gespräch an; sie waren neben einem Schober von gelben Roggengarben stehengeblieben, der auf dem Dreschboden zu Saatkorn sorgsam aufgebaut war.
Der Zureicher war in einem entfernten Dorf zu Hause, in demselben Dorf, wo Ljewin früher Land auf genossenschaftlicher Grundlage abgegeben hatte. Jetzt war das Land an den Herbergswirt verpachtet.
Ljewin sprach mit dem Zureicher Fjodor über dieses Land und fragte ihn, ob nicht vielleicht Platon, ein reicher, braver Bauer aus diesem Dorfe, Lust haben werde, es für das nächste Jahr zu pachten.
»Der Preis ist zu hoch, Konstantin Dmitrijewitsch; so viel kann Platon nicht herausarbeiten«, antwortete der Bauer und suchte die Ähren hervor, die ihm an der schweißigen Brust unter das Hemd geraten waren.
»Aber wie stellt es denn Kirillow an, daß er es herauswirtschaftet?«
»Mitjucha« (so nannte der Bauer verächtlich den Herbergswirt Dmitri Kirillow), »wie wird denn der nicht soviel herausschlagen, Konstantin Dmitrijewitsch! Der preßt die Leute aus und versteht sich auf seinen Vorteil. Der hat kein Erbarmen mit einem Christenmenschen. Dagegen Onkel Fokanütsch« (so nannte er den alten Platon), »der zieht keinem das Fell über die Ohren. Mal kreditiert er, mal läßt er etwas ab. Auch hält er nach der Ernte nicht Nachlese. Er hat ein menschliches Herz.«
»Aber warum läßt er denn etwas ab?«
»Ja, er tut es eben. Wissen Sie, die Menschen sind verschieden. Der eine lebt nur für seinen eigenen Vorteil, wie dieser Mitjucha, und stopft sich nur seinen Bauch voll; aber Fokanütsch, das ist ein rechtschaffener alter Mann. Er lebt für seine Seele. Er hat Gott vor Augen.«
[301] »Was heißt das: er hat Gott vor Augen, er lebt für seine Seele?« fragte Ljewin; er schrie die Frage beinahe heraus.
»Nun, ganz einfach: er lebt nach der Gerechtigkeit, nach Gottes Gebot. Die Menschen sind eben verschieden. Um gleich Sie zu nehmen, Sie werden ja doch auch niemandem zu nahe treten ...«
»Na ja, na ja, also adieu!« sagte Ljewin, der vor Aufregung kaum atmen konnte; er drehte sich um, nahm seinen Stock und ging schnell fort auf dem Wege nach seinem Hause. Bei den Worten des Bauern, daß Fokanütsch für seine Seele lebe, nach der Gerechtigkeit, nach Gottes Gebot, hatte er die Empfindung gehabt, als ob eine Menge unklarer, aber wichtiger Gedanken aus irgendeinem verschlossenen Raum in seinem Innern hervorbräche und als ob diese Gedanken dann, alle nach ein und demselben Ziel strebend, in seinem Kopf umherwirbelten und ihn mit ihrem Lichte blendeten.
Ljewin ging mit großen Schritten auf der Landstraße hin und richtete dabei seine Aufmerksamkeit nicht sosehr auf seine Gedanken (diese vermochte er noch nicht zu entwirren) wie auf seinen Seelenzustand; denn einen derartigen Seelenzustand hatte er früher noch nie durchgemacht.
Die Worte, die der Bauer gesprochen, hatten in seiner Seele die Wirkung eines elektrischen Funkens hervorgebracht und einen ganzen Schwarm zerstreuter, kraftloser, vereinzelter Gedanken, die eigentlich niemals aufgehört hatten, ihn zu beschäftigen, umgestaltet und zu einem Ganzen verbunden. Diese Gedanken hatten ihn, ohne daß er sich dessen selbst bewußt gewesen wäre, auch in dem Augenblick beschäftigt, als er von der Verpachtung des Landes sprach.
Er fühlte, daß in seiner Seele etwas Neues entstanden war, und tastete mit Genuß an diesem Neuen herum, ohne noch zu wissen, was dieses Neue eigentlich sei.
,Nicht für seinen Vorteil leben, sondern für Gott. Für was für einen Gott? Und kann man etwas Sinnloseres sagen als das, was er gesagt hat? Er hat gesagt, man müsse nicht für seinen Vorteil leben, das heißt, man müsse nicht für das leben, was uns verständlich ist, wozu es uns hinzieht, was wir gern haben, sondern man müsse für etwas Unbegreifliches leben, für Gott, den doch niemand zu begreifen oder zu bestimmen vermag. Und doch: habe ich etwa diese sinnlosen Worte Fjodors nicht verstanden? Oder habe ich sie zwar verstanden, aber an ihrer [302] Richtigkeit gezweifelt? Habe ich sie für töricht, undeutlich, unzutreffend gehalten?
Nein, ich habe verstanden, was er sagte, und ganz in der Weise, wie er selbst es versteht; ich habe es vollständiger und klarer verstanden, als ich irgend etwas im Leben verstehe, und nie in meinem Leben habe ich daran gezweifelt und werde auch nie daran zweifeln können. Und so geht es nicht mir allein, sondern allen, der ganzen Welt; das ist das einzige, was alle vollständig verstehen, das einzige, woran niemand zweifelt, das einzige, worüber alle einig sind.
Und ich habe nach Wundern verlangt, ich habe es beklagt, daß ich kein Wunder gesehen habe, weil ich meinte, ein Wunder würde mich überzeugt haben. Aber an einem stofflichen Wunder hätte ich Anstoß genommen. Und hier ist ein Wunder, das einzig mögliche, stets vorhandene, das mich von allen Seiten umgibt, und ich habe es nicht bemerkt!
Fjodor sagt, der Herbergswirt Kirillow lebe für seinen Bauch. Daß er so lebt, ist begreiflich; es entspricht der Vernunft. Wir alle, als vernunftbegabte Wesen, können nicht anders leben als für den Bauch. Und nun sagt auf einmal dieser selbe Fjodor, es sei etwas Schlechtes, für den Bauch zu leben, man müsse für die Gerechtigkeit, für Gott leben, und ich verstehe aus dieser bloßen Andeutung, was er meint! Und ich und die Millionen von Menschen, die all diese Jahrhunderte her gelebt haben und jetzt leben, die Bauern, die geistig Armen und die Weisen, die darüber nachgedacht und darüber geschrieben haben und in ihrer unklaren Sprache dasselbe sagen: wir alle sind in diesem einen Punkte einig: wozu wir leben müssen und was das Gute sei. Ich und alle anderen Menschen, wir besitzen nur ein einziges, sicheres, zweifelloses, klares Wissen; und dieses Wissen kann nicht durch die Vernunft erklärt werden; denn es liegt außerhalb der Vernunft, es hat keine Ursachen und kann keine Folgen haben.
Wenn das Gute eine Ursache hat, so ist es nicht mehr das Gute; wenn es eine Folge hat, einen Lohn, so ist es ebenfalls nicht das Gute. Somit steht das Gute außerhalb der Kette der Ursachen und Folgen.
Und dieses Gute kenne ich, und wir alle kennen es.
Was kann es denn noch für ein Wunder geben, das größer wäre als dieses?
›Habe ich wirklich die Lösung der ganzen Frage gefunden? Haben wirklich meine Leiden jetzt ein Ende?‹ dachte Ljewin, während er auf der staubigen Landstraße dahinschritt und weder von Hitze noch von Müdigkeit etwas merkte, sondern nur das Gefühl der Linderung eines langen Leidens hatte. Dieses [303] Gefühl war so wonnig, daß er gar nicht recht daran glauben wollte. Vor Erregung konnte er kaum atmen; er fühlte sich nicht imstande weiterzugehen, bog vom Wege ab in den Wald und setzte sich im Schatten der Espen auf das noch ungemähte Gras. Er nahm den Hut von dem schweißbedeckten Kopfe und legte sich, auf den Ellbogen gestützt, auf das saftige, breithalmige Waldgras.
›Ja, ich muß mir das klarmachen und zum vollen Verständnis bringen‹, dachte er, indem er unverwandt auf das unzerdrückte Gras blickte, das er vor sich hatte, und die Bewegungen eines grünen Käferchens verfolgte, das an einem Queckenhalm emporkroch und in seinem Aufsteigen durch ein Bärenklaublatt gehindert wurde. ›Was habe ich denn entdeckt?‹ fragte er sich, drehte das Bärenklaublatt beiseite, damit es den Käfer nicht weiter behindere, und bog einen anderen Halm heran, damit der Käfer auf diesen übergehe. ›Was freut mich denn so? Was habe ich entdeckt?
Ich habe nichts entdeckt. Ich habe nur erkannt, was ich immer schon wußte. Ich habe die Kraft begriffen, die mir nicht nur in der Vergangenheit das Leben gegeben hat, sondern mir auch jetzt das Leben gibt. Ich habe mich von der Täuschung frei gemacht; ich habe meinen Herrn erkannt.
Früher sagte ich, daß in meinem Körper und in dem Körper dieses Grashalmes und dieses Käfers (er hat nicht auf den anderen Halm hinüberkriechen wollen, sondern hat seine Flügel ausgebreitet und ist weggeflogen) sich nach physikalischen, chemischen und physiologischen Gesetzen ein Wechsel des Stoffes vollziehe. Und in uns allen, auch in den Espen und in den Wolken und in den Nebelflecken, vollziehe sich eine Entwicklung. Eine Entwicklung aus welchem Zustande und in welchen Zustand? Eine endlose Entwicklung, ein endloses Ringen ... Als ob es im Unendlichen irgendwelche Richtung und irgendwelchen Kampf geben könnte! Und ich habe mich gewundert, daß, trotz der größten Anstrengung meines Denkens auf diesem Wege, sich mir doch der Zweck des Lebens, das Ziel meines inneren Dranges und Strebens nicht erschließen wollte. Jetzt aber sage ich: ich kenne den Zweck meines Lebens: für Gott leben, für die Seele leben. Und dieser Zweck ist, seiner Klarheit unbeschadet, geheimnisvoll und wunderbar. Und denselben Zweck hat alles, was besteht. Ja, es war bei mir Hochmut‹, sagte er zu sich, drehte sich auf den Bauch herum und begann Grashalme zusammenzuknoten, ohne sie einzuknicken.
›Und nicht nur Hochmut des Verstandes, sondern auch Torheit des Verstandes. Und vor allen Dingen: eine Spitzbüberei [304] des Verstandes, geradezu eine Spitzbüberei des Verstandes, geradezu ein Gaunerstreich des Verstandes‹, sagte er ein über das andere Mal.
Und er wiederholte sich in Kürze den ganzen Gang seiner Gedanken während dieser letzten zwei Jahre, dessen Ausgangspunkt der klare, deutliche Gedanke an den Tod beim Anblick des geliebten, hoffnungslos erkrankten Bruders gewesen war.
Als er damals zum ersten Male klar erkannt hatte, daß einem jeden Menschen, und auch ihm selbst, die Zukunft nichts weiter biete als Leiden, Tod und ewiges Vergessensein, da hatte er sich mit aller Entschiedenheit gesagt, so könne er nicht leben; entweder müsse er zu einer solchen Auffassung seines Lebens gelangen, daß es ihm nicht als der boshafte Hohn irgendeines Teufels erscheine, oder er müsse sich erschießen.
Aber er hatte weder das eine noch das andere getan, sondern weiter gelebt, gedacht und gefühlt und hatte sich sogar gerade in dieser Zeit verheiratet und viele Freuden kennengelernt und war glücklich gewesen, wenn er nicht gerade über die Bedeutung seines Lebens nachdachte.
Wie war das zugegangen? Das war so zugegangen: sein Leben war gut gewesen, aber sein Denken schlecht.
Er hatte (ohne sich dessen bewußt zu sein) gelebt auf der Grundlage jener geistigen Wahrheiten, die er mit der Muttermilch eingesogen hatte; aber wenn er begonnen hatte zu denken, hatte er diese Wahrheiten verleugnet und geflissentlich umgangen.
Jetzt nun war es ihm klargeworden, daß er nur dank jener Glaubenswahrheiten, in denen er erzogen war, leben könne.
›Was würde ich denn für ein Mensch sein, und wie würde ich mein Leben zubringen, wenn ich diese Glaubenswahrheiten nicht hätte, nicht wüßte, daß man für Gott leben muß und nicht für den eigenen Vorteil? Ich würde rauben, lügen, morden. Nichts von dem, was die größten Freuden meines Lebens ausmacht, würde für mich dasein.‹ Und selbst mit äußerster Anstrengung seiner Einbildungskraft vermochte er sich nicht das tierische Wesen vorzustellen, das er selbst sein würde, wenn er nicht wüßte, wozu er lebte.
›Ich habe eine Antwort auf meine Frage gesucht. Aber eine Antwort auf meine Frage konnte mir das Denken nicht geben; es ist mit dieser Frage nicht zu messen. Das Leben selbst hat mir die Antwort gegeben durch mein Wissen darüber, was gut und was schlecht ist. Aber dieses Wissen habe ich durch nichts erworben, sondern es ist mir wie allen anderen Menschen gegeben worden, gegeben, weil ich es eben nirgendwo hätte hernehmen können.
[305] Woher habe ich dieses Wissen? Bin ich etwa durch den Verstand zu der Überzeugung gelangt, daß man seinen Nächsten lieben und nicht erwürgen müsse? Nein, sondern man hat mir das in meiner Kindheit gesagt, und ich habe es freudig geglaubt, weil man mir das sagte, was schon von vornherein in meiner Seele vorhanden war. Und wer hat das entdeckt? Nicht der Verstand. Der Verstand hat den Kampf ums Dasein entdeckt und das Gesetz, das verlangt, daß ich alle erwürgen soll, die mich an der Befriedigung meiner Wünsche hindern. Das ist das Ergebnis des Verstandes. Aber den Satz, daß man einen anderen Menschen lieben solle, den hat der Verstand nicht entdecken können, weil dieser Satz dem Verstande zuwiderläuft.‹
Hier erinnerte sich Ljewin an einen Vorfall, der sich vor kurzem mit Dolly und ihren Kindern zugetragen hatte. Die Kinder, die allein geblieben waren, hatten angefangen, Himbeeren über den Kerzen zu schmoren und sich gegenseitig Milch wie aus einem Brunnenrohr in den Mund zu gießen. Die Mutter hatte sie dabei betroffen und ihnen in Ljewins Gegenwart vorgehalten, wieviel Arbeit es die Erwachsenen gekostet habe, das herzustellen, was sie da vergeudeten, und daß diese Arbeit um ihretwillen geleistet werde, und daß, wenn sie die Tassen entzwei machten, sie nichts haben würden, um daraus Tee zu trinken, und wenn sie die Milch vergössen, sie keine Nahrung haben und vor Hunger umkommen würden.
Es hatte Ljewin überrascht, mit welchem stillen, trüben Unglauben die Kinder diese Lehren der Mutter anhörten. Es hatte ihnen nur leid getan, daß ihr lustiges Spiel nun zu Ende war, und sie hatten kein Wort von dem geglaubt, was die Mutter gesagt hatte. Sie hatten es auch nicht glauben können, weil sie nicht imstande waren, den ganzen Umfang dessen, wovon sie Nutzen zogen, zu ermessen, und sich darum auch nicht vorstellen konnten, daß das, was sie da zerstörten, dasselbe sei, wovon sie lebten.
›Das ist alles von selbst da‹, dachten sie, ›und daran ist nichts Besonderes und Wichtiges; denn das ist immer dagewesen und wird immer dasein. Und es ist immer ein und dasselbe. Darüber brauchen wir nicht nachzudenken; das ist immer ohne weiteres so da; aber wir möchten uns gern etwas Eigenes, Neues ausdenken. Da haben wir uns nun ein Spiel erfunden, Himbeeren in eine Tasse zu tun und sie über dem Lichte zu schmoren und [306] einander die Milch von oben in einem Strahle gerade in den Mund zu gießen. Das ist lustig und etwas Neues und doch gewiß nicht eine schlechtere Handlung, als aus den Tassen zu trinken.
Tun wir denn nicht dasselbe, habe ich denn nicht dasselbe getan, als ich mit dem Verstande das Wesen der Naturkräfte und den Zweck des menschlichen Lebens zu erkennen suchte?‹ dachte er weiter.
›Und tun denn nicht alle philosophischen Lehren dasselbe, wenn sie den Menschen auf einem seltsamen Gedankenwege, der seinem Charakter gar nicht entspricht, zu der Erkenntnis dessen führen, was er schon lange weiß und mit solcher Sicherheit weiß, daß er ohne dieses Wissen überhaupt nicht leben könnte? Merkt man es nicht bei jedem Philosophen der Darlegung seiner Lehre deutlich an, daß er ebenso zweifellos wie der Bauer Fjodor (aber keineswegs mit größerer Klarheit als dieser) den Hauptzweck des Lebens im voraus kennt und nur auf dem zweifelhaften Wege des Verstandes wieder zu dem zurückkehren will, was allen von vornherein bekannt ist?
Nun wohl, man versetze einmal die Kinder in die Lage, daß sie sich alles allein beschaffen müßten, sich selbst das Geschirr herstellen, selbst die Milch melken müßten und so weiter. Würden sie dann Mutwillen treiben? Sie würden Hungers sterben. Nun wohl, man lasse uns leben mit unseren Leidenschaften und Gedanken, aber ohne eine Vorstellung von einem einzigen Gotte und Schöpfer oder ohne eine Vorstellung davon, was das Gute ist, ohne ein Verständnis für das sittlich Schlechte!
Nun schön, baut einmal ohne diese Begriffe etwas auf!
Wir verfallen nur deswegen darauf, zu zerstören, weil wir in geistigem Sinne satt sind. Die reinen Kinder!
Woher habe ich diese freudige, mit dem Bauern gemeinsame Erkenntnis, das einzige, was mir die Ruhe der Seele verleiht? Wo habe ich sie herbekommen?
Ich, der ich mit der Vorstellung von Gott erzogen bin und mein ganzes Leben mit den geistigen Gütern erfüllt habe, die mir das Christentum gegeben hat, und völlig erfüllt von diesen Gütern bin und durch sie lebe, ich zerstöre sie, wie die Kinder, weil ich kein Verständnis für sie habe, das heißt, ich will das zerstören, wodurch ich lebe. Aber sobald in meinem Leben ein wichtiger Augenblick kommt, dann gehe ich, wie die Kinder, wenn sie frieren und hungrig sind, zu Ihm hin, und habe in noch geringerem Grade als die Kinder, die die Mutter für ihre kindlichen Unarten schilt, eine Empfindung dafür, daß meine kindischen Versuche, vor lauter Wohlbefinden Tollheiten zu treiben, mir verziehen werden.
[307] Ja, ja, was ich weiß, weiß ich nicht durch den Verstand, sondern es ist mir gegeben, mir geoffenbart, und ich weiß es mit dem Herzen, weiß es durch den Glauben an das wichtigste Stück von dem, was die Kirche bekennt.‹
»Die Kirche? Die Kirche!« sagte Ljewin mehrmals vor sich hin. Er drehte sich auf eine andere Seite und blickte, auf den Arm gestützt, in die Ferne, nach der Herde, die am gegenüberliegenden Ufer zum Flusse hinabstieg.
›Aber kann ich alles das glauben, was die Kirche bekennt?‹ dachte er, indem er sich selbst prüfte und alles erwog, wodurch seine jetzige Ruhe gestört werden könnte. Er rief sich absichtlich jene Glaubenssätze der Kirche ins Gedächtnis zurück, die ihm immer am seltsamsten erschienen waren und am meisten Anstoß gegeben hatten. ›Die Schöpfung? Aber wodurch habe ich denn meinerseits das Sein erklärt? Durch das Sein? Durch nichts? ... Der Teufel und die Sünde. Aber wodurch erkläre ich denn das Böse? ... Der Erlöser? ...
Aber ich weiß nichts, nichts weiß ich und kann weiter nichts wissen als eben nur das, was mir wie allen anderen Menschen gesagt worden ist.‹
Und es schien ihm jetzt, daß es unter den Glaubenssätzen der Kirche keinen einzigen gebe, der dem wichtigsten Stücke widerstritte: dem Glauben an Gott, dem Glauben an das Gute als einzige Bestimmung des Menschen.
Unter jeden Glaubenssatz der Kirche konnte man den Glaubenssatz schreiben, daß man der Gerechtigkeit dienen müsse und nicht dem eigenen Vorteil. Und keiner jener kirchlichen Glaubenssätze widerstritt diesem Satze, ja es war vielmehr ein jeder von ihnen unumgänglich notwendig, damit sich jenes größte, beständig auf der Erde sichtbare Wunder vollziehe, das darin besteht, daß es einem jeden, im Verein mit Millionen verschiedenartiger Menschen, Weisen und Narren, Kindern und Greisen, mit allen, mit Bauern, mit Lwow, mit Kitty, mit Bettlern und Kaisern, möglich ist, in unzweifelhafter Weise ein und dasselbe zu verstehen und das Seelenleben zu führen, um dessentwillen allein das Leben lebenswert ist und das allein in Achtung bei uns steht.
Auf dem Rücken liegend, blickte er jetzt hinauf nach dem hohen, wolkenlosen Himmel. ›Weiß ich etwa nicht, daß dies ein unendlicher Raum und nicht ein rundes Gewölbe ist? Aber wie sehr ich auch die Augen zusammenkneifen und meine Sehkraft anstrengen mag, ich kann ihn immer nur als rund und begrenzt sehen; und obwohl ich weiß, daß ich einen unendlichen Raum vor mir habe, handle ich unzweifelhaft richtig, wenn ich [308] mich begnüge, ein festes, blaues Gewölbe zu sehen, richtiger, als wenn ich mich anstrenge, über dieses Gewölbe hinauszublicken.‹
Ljewin hörte nun auf zu denken und lauschte gleichsam nur auf die geheimnisvollen Stimmen in seinem Innern, die in freudiger Erregung miteinander Zwiesprache hielten.
›Ist das wirklich Glaube?‹ dachte er und fürchtete sich, an sein Glück zu glauben. »Mein Gott, ich danke dir!« murmelte er, indem er das aufsteigende Schluchzen unterdrückte und mit beiden Händen die Tränen wegwischte, mit denen sich seine Augen gefüllt hatten.
Ljewin starrte vor sich hin und erblickte die Herde, dann sah er sein Wägelchen mit dem vorgespannten »Raben« und den Kutscher, der an die Herde heranfuhr und mit dem Hirten ein paar Worte wechselte; darauf hörte er schon ganz nahe das Geräusch der Räder und das Schnauben des wohlgenährten Pferdes; aber er war so in seine Gedanken vertieft, daß er überhaupt nicht überlegte, warum der Kutscher zu ihm herangefahren kam.
Dies fragte er sich erst, als der Kutscher schon dicht bei ihm war und ihn anrief.
»Die gnädige Frau schickt mich. Ihr Herr Bruder ist angekommen und noch ein Herr.«
Ljewin setzte sich auf den Wagen und ergriff die Zügel.
Als wenn er eben aus dem Schlafe erwacht wäre, konnte er lange nicht zur Besinnung kommen. Er betrachtete das kräftige Pferd, das zwischen den Schenkeln und am Halse, wo der Zügel rieb, von weißem Schaum bedeckt war; er betrachtete den Kutscher Iwan, der neben ihm saß, und es fiel ihm ein, daß er seinen Bruder schon seit einiger Zeit erwartet hatte und daß seine Frau sich wahrscheinlich schon über sein langes Ausbleiben beunruhige, und er versuchte zu erraten, was das wohl für ein Gast sein möge, der mit seinem Bruder zusammen angekommen sei. Sowohl sein Bruder wie auch seine Frau und der unbekannte Gast stellten sich ihm jetzt in anderer Weise dar als vorher. Es schien ihm, als würde jetzt sein Verhältnis zu allen Menschen anders sein.
›Meinem Bruder werde ich nun nicht mehr so fremd gegenüberstehen wie bisher immer, und Streitigkeiten werden nicht mehr vorkommen; mit Kitty werde ich mich nie mehr veruneinigen; gegen den Gast, wer es auch sein mag, werde ich [309] gut und freundlich sein; auch gegen die Leute, gegen Iwan; es wird jetzt alles ein anderes Wesen haben.‹
Während er mit straffen Zügeln das ungeduldig schnaubende und nach einer schnelleren Gangart verlangende brave Pferd zurückhielt, blickte Ljewin nach dem neben ihm sitzenden Iwan hin, der nicht wußte, was er mit seinen nun unbeschäftigten Händen anfangen sollte, und der fortwährend sein sich aufbauschendes Hemd an die Brust drückte, und suchte nach einem Anlaß, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Er wollte sagen, daß Iwan den Deichselriemen nicht hätte so hoch zu ziehen brauchen; aber das hätte wie ein Vorwurf geklungen, und er wünschte doch gerade ein freundschaftliches Gespräch. Etwas anderes aber wollte ihm nicht einfallen.
»Bitte, halten Sie nach rechts; da ist ein Baumstrunk«, sagte der Kutscher und verbesserte zugreifend Ljewins Zügelführung.
»Sei so gut, nicht anzufassen und mich nicht zu belehren!« erwiderte Ljewin, der sich über diese Einmischung des Kutschers nicht wenig ärgerte. Geradeso wie sonst immer brachte ihn auch jetzt diese Einmischung in Harnisch, und er merkte sofort zu seinem Leidwesen, wie irrig seine Annahme gewesen sei, daß durch seine Seelenstimmung bei der Berührung mit der Außenwelt in seinem Verhalten sofort eine Änderung werde herbeigeführt werden.
Als er etwa noch eine Viertelwerst von seinem Hause entfernt war, erblickte er Grigori und Tanja, die ihm entgegengelaufen kamen.
»Onkel Konstantin! Mama kommt auch, und Großpapa, und Sergei Iwanowitsch, und noch jemand«, berichteten sie ihm, während sie auf den Wagen kletterten.
»Wer ist es denn?«
»Ganz schrecklich sieht er aus! Und er macht immer so mit den Armen«, sagte Tanja, indem sie sich im Wagen aufrichtete und Katawasows Gesten nachahmte.
»Ist er alt oder jung?« fragte lachend Ljewin, den Tanjas schauspielerische Leistung an jemand erinnerte.
›Nun, wenn es nur kein unangenehmer Mensch ist!‹ dachte er.
Kaum war er um eine Biegung des Weges herumgefahren und hatte die ihm Entgegenkommenden erblickt, als er auch schon Katawasow mit seinem Strohhute erkannte, und wirklich bewegte der Professor im Gehen seine Arme geradeso, wie Tanja es nachgemacht hatte.
Katawasow sprach mit besonderer Vorliebe über Philosophie, obwohl er seine Kenntnisse auf diesem Gebiet nur anderen Naturforschern verdankte, die sich gleichfalls nie mit Philosophie [310] beschäftigt hatten, und in Moskau hatte Ljewin in der letzten Zeit viel mit ihm gesprochen.
Und eine derartige Auseinandersetzung, bei der Katawasow offenbar geglaubt hatte, den Sieg davongetragen zu haben, war das erste, woran sich Ljewin bei seinem Anblick erinnerte.
›Nein‹, dachte er, ›unter keinen Umständen werde ich künftig wieder mit ihm streiten und meine Gedanken ohne genaue Überlegung vorbringen.‹
Als Ljewin aus dem Wagen gestiegen war und seinen Bruder und Katawasow begrüßt hatte, erkundigte er sich nach seiner Frau.
»Sie hat den kleinen Dmitri in den Hain gebracht«, sagte Dolly (mit dem Ausdruck »der Hain« wurde ein einzeln stehendes Wäldchen nicht weit vom Hause bezeichnet). »Sie meinte, da wäre es für ihn am besten; denn im Hause ist es gar zu heiß.« Ljewin hatte seiner Frau immer davon abgeraten, das Kind in den Wald zu bringen, weil er es für gefährlich hielt; so berührte ihn denn diese Nachricht unangenehm.
»Sie schleppt ihn immer von einem Ort zum andern umher«, sagte der Fürst lächelnd. »Ich habe ihr geraten, ihn versuchsweise einmal in den Eiskeller zu tragen.«
»Sie wollte dann nach dem Bienengarten gehen; sie dachte, daß du dort wärst. Wir waren auch gerade auf dem Wege dahin«, sagte Dolly.
»Nun, was treibst du denn jetzt?« fragte Sergei Iwanowitsch, der hinter den anderen ein wenig zurückgeblieben war und nun neben seinem Bruder herging.
»Nichts Besonderes. Ich beschäftige mich wie immer mit der Wirtschaft«, antwortete Ljewin. »Nun, und du? Du bleibst doch hoffentlich längere Zeit hier? Wir haben dich schon lange erwartet.«
»Etwa vierzehn Tage möchte ich bleiben. Ich habe in Moskau sehr viel zu tun.«
Bei diesen Worten begegneten sich die Blicke der beiden Brüder, und trotz seines steten und gerade jetzt besonders lebhaften Wunsches nach einem freundschaftlichen und namentlich ungezwungenen Verhältnis zu seinem Bruder fühlte Ljewin, daß es ihm unbehaglich war, ihn anzusehen. Er schlug die Augen nie der und wußte nicht, was er sagen sollte.
Er suchte nach einem Gesprächsstoff, der seinem Bruder angenehm wäre und ihn von den Erörterungen über den serbischen Krieg und die slawische Frage ablenken könnte, auf die er hingedeutet hatte, als er seine vielen Geschäfte in Moskau erwähnte. Endlich begann er von Sergei Iwanowitschs Buch zu reden.
[311] »Nun, wie steht es? Sind Besprechungen deines Buches erschienen?« fragte er.
Sergei Iwanowitsch lächelte über die Absichtlichkeit der Frage.
»Niemand beschäftigt sich jetzt mit diesem Gegenstand, und ich noch weniger als alle anderen«, erwiderte er. »Sehen Sie einmal dahin, Darja Alexandrowna, wir werden Regen bekommen«, fügte er hinzu und zeigte mit dem Schirm nach einigen weißen Wolken, die über den Wipfeln der Espen sichtbar wurden.
Und diese Worte genügten, um jenes zwar nicht feindselige, aber doch kühle wechselseitige Verhältnis zwischen den Brüdern, das Ljewin so lebhaft zu vermeiden wünschte, wieder hervorzurufen.
Ljewin trat zu Katawasow heran.
»Das war ein guter Gedanke von Ihnen, uns zu besuchen«, sagte er zu ihm.
»Ich hatte es schon lange vor. Nun wollen wir aber einmal ordentlich miteinander disputieren; passen Sie mal auf. Haben Sie Spencer gelesen?«
»Nein, ich bin damit nicht bis zu Ende gekommen«, antwortete Ljewin. »Übrigens bedarf ich seiner jetzt nicht.«
»Wieso? Das ist mir interessant zu hören. Weshalb denn nicht?«
»Ich bin nämlich zu der endgültigen Überzeugung gelangt, daß ich die Lösung der Fragen, die mich beschäftigen, bei ihm und seinesgleichen doch nicht finden werde. Jetzt ...«
Aber auf einmal wurde er auf Katawasows ruhigen, vergnügten Gesichtsausdruck aufmerksam; auch um seine eigene gute Stimmung war es ihm leid, die er sich durch dieses Gespräch sicherlich verderben würde. So brach er denn, des vorhin gefaßten Vorsatzes eingedenk, ab.
»Aber davon wollen wir später sprechen«, fügte er hinzu. »Wenn wir nach dem Bienengarten gehen wollen, müssen wir hier gehen, diesen Fußweg«, sagte er, zu allen gewendet.
Als sie auf dem schmalen Fußpfade zu einer ungemähten Waldwiese gelangt waren, die an der einen Seite dicht mit hellen Stiefmütterchen bedeckt war, zwischen denen vielfach hohe, dunkle Büsche von Nieswurz hervorwuchsen, ließ Ljewin seine Gäste in dem dichten, frischen Schatten der jungen Espen auf einer Bank und auf Holzklötzen Platz nehmen, die dort eigens für solche Besucher des Bienengartens an gebracht waren, die sich vor den Bienen fürchteten, und ging selbst zur Einfriedigung hin, um für die Kinder und die Erwachsenen Brot, Gurken und frischen Honig zu holen.
[312] Indem er sich Mühe gab, sich möglichst ruhig und langsam zu bewegen, und nach den immer häufiger an ihm vorbeifliegenden Bienen hinhorchte, gelangte er auf dem Fußwege bis zu dem Blockhause. Dicht am Hausflur verwickelte sich eine Biene in seinem Bart und fing zornig zu summen an; aber er machte sie behutsam los.
Nachdem er in den schattigen Flur getreten war, nahm er sein Netz von der Wand, das dort an einem Holzpflock hing, zog es über, steckte die Hände in die Taschen und ging in den eingefriedigten Bienenstand hinein, wo in regelmäßigen Reihen, mit Bast an Pfählen angebunden, mitten auf einem abgemähten Fleck die alten Bienenstöcke standen, die ihm alle wohlbekannt waren und von denen ein jeder seine besondere Geschichte hatte. An den Wänden des geflochtenen Zaunes entlang standen die jungen, erst in diesem Jahre aufgestellten Stöcke. Vor den Fluglöchern der Bienenstöcke flimmerten, teils umherschwirrend, teils an einer Stelle sich zusammendrängend, spielende Bienen und Drohnen, und zwischen ihnen hindurch flogen, alle in derselben Richtung nach dem Walde hin zu der blühenden Linde und zurück zu den Stöcken, die Arbeitsbienen, die einen mit Ladung heimkehrend, die anderen ausziehend, um Ladung zu holen.
In den Ohren ertönten einem fortwährend eine Menge verschiedenartiger Geräusche, bald von den eifrigen, eilig vorbeifliegenden Arbeitsbienen, bald von den blasenden, müßigen Drohnen, bald von den aufgeregten Wächterbienen, die ihr Besitztum gegen Feinde zu verteidigen willens waren und sich fertigmachten zu stechen. Auf der anderen Seite des Zaunes schnitzte der alte Bienenwärter an einem Reifen, ohne Ljewin zu bemerken. Ljewin rief ihn nicht an und blieb in der Mitte des Bienenstandes stehen.
Er freute sich über diese Gelegenheit, einen Augenblick allein zu sein, um sich von den Begebnissen der Wirklichkeit wieder zu sammeln, durch die seine gehobene Stimmung bereits wieder so stark herabgedrückt war.
Er sagte sich, daß er sich inzwischen bereits über Iwan geärgert, sich gegen seinen Bruder kühl benommen und mit Katawasow in unüberlegter Weise zu reden angefangen hatte.
›Ist das wirklich nur eine augenblickliche Stimmung gewesen, die, ohne eine Spur zu hinterlassen, vorübergeht?‹ dachte er.
Aber in demselben Augenblick kehrte er auch wieder zu seiner gehobenen Stimmung zurück und wurde sich mit Freude bewußt, daß doch etwas Neues und Wichtiges in seinem Innern vorgegangen war. Die Außenwelt hatte nur für kurze Zeit die [313] seelische Ruhe, die er gefunden hatte, verdeckt; aber diese Ruhe war in seiner Seele unversehrt geblieben.
Ebenso wie die ihn jetzt umschwirrenden, ihn bedrohenden und seine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmenden Bienen ihn eines Teiles seiner körperlichen Ruhe beraubten und ihn zwangen, sich schmal zu machen, um ihnen auszuweichen, genauso hatten auch die Sorgen, die ihn von dem Augenblick an umringt hatten, als er in das Wägelchen gestiegen war, seine seelische Freiheit beeinträchtigt; aber das hatte nur so lange gedauert, wie er mitten unter ihnen war. Wie er trotz der Bienen im vollen Besitz seiner Körperkraft geblieben war, so war auch seine seelische Kraft, deren er sich jetzt von neuem bewußt wurde, unversehrt.
»Weißt du auch, Konstantin, mit wem Sergei Iwanowitsch bei der Reise hierher in demselben Zuge gefahren ist?« fragte Dolly, nachdem sie Gurken und Honig unter die Kinder verteilt hatte. »Mit Wronski! Er geht nach Serbien!«
»Und nicht er allein für seine Person, sondern er führt eine ganze Schwadron auf seine Kosten mit!« fügte Katawasow hinzu.
»Das sieht ihm ähnlich«, sagte Ljewin. »Ziehen denn immer noch Freiwillige hin?« fuhr er fort und blickte dabei Sergei Iwanowitsch an.
Sergei Iwanowitsch nahm, ohne zu antworten, vorsichtig mit einem Messerrücken aus einer Untertasse, auf der eine weiße Honigscheibe lag, eine noch lebende Biene heraus, die in dem herausgeflossenen Honig klebengeblieben war.
»Und ob! Sie hätten nur sehen sollen, was gestern auf dem Bahnhof in Moskau für ein Treiben war!« erwiderte Katawasow und biß geräuschvoll in eine Gurke hinein.
»Wie soll man das eigentlich auffassen? Erklären Sie mir doch, um des Himmels willen, Sergei Iwanowitsch, wohin ziehen denn alle diese Freiwilligen? Mit wem führen sie Krieg?« fragte der alte Fürst, offenbar in Fortsetzung eines Gesprächs, das schon vor Ljewins Anwesenheit angefangen hatte.
»Mit den Türken«, erwiderte Sergei Iwanowitsch mit ruhigem Lächeln. Er hatte nun die vom Honig dunkel gewordene Biene, die hilflos mit den Beinchen umherarbeitete, glücklich befreit und setzte sie mit dem Messer auf ein festes Espenblatt.
»Aber wer hat denn den Türken den Krieg erklärt? Etwa Iwan Iwanowitsch Ragosow und die Gräfin Lydia Iwanowna und Madame Stahl?«
[314] »Den Krieg hat ihnen niemand erklärt. Die Leute haben eben Mitleid mit den Leiden ihrer Mitmenschen und möchten ihnen helfen«, antwortete Sergei Iwanowitsch.
»Aber der Fürst spricht nicht vom bloßen Helfen«, bemerkte Ljewin, der für seinen Schwiegervater eintrat, »sondern vom Kriegführen. Der Fürst meint, daß Privatpersonen ohne Genehmigung der Regierung sich nicht an einem Kriege beteiligen dürfen.«
»Konstantin, sieh nur, da ist eine Biene! Sie werden uns wahrhaftig noch ganz zerstechen«, sagte Dolly, indem sie eine Wespe wegscheuchte.
»Aber das ist ja keine Biene; das ist eine Wespe«, erwiderte Ljewin.
»Na aber, was haben Sie da für eine wunderliche Theorie?« sagte Katawasow lächelnd zu Ljewin; er wollte ihn offenbar zu einem Streite herausfordern. »Warum sollten Privatpersonen dazu kein Recht haben?«
»Meine Anschauung ist die: erstens ist der Krieg etwas so Tierisches, Grausames und Schreckliches, daß kein Mensch, geschweige denn ein Christ es persönlich verantworten kann, einen Krieg zu beginnen; das kann nur die dazu berufene Regierung, wenn sie sich unvermeidlich zum Kriege gedrängt sieht. Und zweitens verzichten, wie das sowohl die theoretische Wissenschaft wie auch der gesunde Menschenverstand verlangt, die Bürger in Staatsangelegenheiten und namentlich im Punkte des Krieges auf ihren persönlichen Willen.«
Sergei Iwanowitsch und Katawasow begannen gleichzeitig, die Erwiderungen, die ihnen schon auf der Zunge geschwebt hatten, vorzubringen.
»Darin liegt ja eben die Schwierigkeit, liebster Freund«, sagte Katawasow, »daß Fälle vorkommen können, wo die Regierung den Willen der Bürger nicht erfüllt, und dann bekundet die Bevölkerung ihren Willen.«
Aber Sergei Iwanowitsch war mit dieser Erwiderung augenscheinlich nicht einverstanden. Er machte zu Katawasows Worten ein finsteres Gesicht und äußerte sich in anderer Weise.
»Du hast die Frage nicht richtig gestellt. Um eine Kriegserklärung handelt es sich hier überhaupt nicht, sondern einfach um den Ausdruck menschlichen, christlichen Empfindens. Man mordet unsere Brüder, die mit uns desselben Blutes sind, denselben Glauben haben. Nun, setzen wir sogar den Fall, es wären nicht Stammes- und Glaubensgenossen, sondern einfach Kinder, Frauen und Greise: auch dann empört sich das Gefühl darüber, und russische Männer eilen hin, um zur Beendigung dieser [315] Greuel mitzuwirken. Stelle dir vor, du gingest auf der Straße und sähest, daß ein Betrunkener eine Frau oder ein Kind schlägt; ich meine, du würdest dann nicht erst fragen, ob diesem Menschen der Krieg erklärt ist oder nicht, sondern würdest dich auf ihn stürzen und den Mißhandelten schützen.«
»Aber ich würde ihn nicht töten«, versetzte Ljewin.
»Doch, du würdest ihn töten.«
»Das weiß ich denn doch nicht. Wenn ich dergleichen sähe, so würde ich mich von meinem unmittelbaren Gefühl bestimmen lassen; aber vorhersagen läßt sich so etwas nicht. Ein derartiges unmittelbares Gefühl ist jedoch wegen der Unterdrückung der Slawen nicht da und kann auch gar nicht da sein.«
»Vielleicht nicht bei dir; aber bei anderen ist es vorhanden«, erwiderte Sergei Iwanowitsch und runzelte unzufrieden die Stirn. »Im Volke sind noch die Überlieferungen von den Rechtgläubigen lebendig, die unter dem Joche der ›grimmen Muselmänner‹, wie es in den Liedern heißt, gelitten haben. Das Volk hat von den Leiden seiner Brüder gehört und seine Stimme erhoben.«
»Mag sein«, antwortete Ljewin nachgiebig. »Aber ich merke es nicht; ich gehöre doch auch zum Volke und habe diese Empfindung nicht.«
»Na, und ich habe sie auch nicht«, fiel der alte Fürst ein. »Als ich im Ausland war und dort die Zeitungen las, da habe ich, offen gestanden, noch vor den bulgarischen Greueln schlechterdings nicht begreifen können, weshalb alle Russen auf einmal ihre slawischen Brüder so liebgewonnen hatten und ich für meine Person gar keine Liebe zu ihnen empfand. Ich war sehr verdrossen und glaubte, ich wäre ein Ungeheuer oder das wäre bei mir die Wirkung von Karlsbad. Aber als ich wieder hierher nach Rußland kam, beruhigte ich mich; ich sehe, daß es auch außer mir noch Leute gibt, die sich nur für Rußland einsetzen und nicht auch für die slawischen Brüder. So unter anderen auch unser Konstantin hier.«
»Individuelle Ansichten können hier nichts besagen«, versetzte Sergei Iwanowitsch. »Auf individuelle Ansichten kommt es nicht an, wenn ganz Rußland, das ganze Volk seinen Willen zum Ausdruck gebracht hat.«
»Verzeihen Sie, davon merke ich nichts. Das Volk hat von diesen Dingen keine Ahnung«, sagte der Fürst.
»Aber nicht doch, Papa ... Wie sollte das Volk nichts davon wissen? Denk doch nur an den letzten Sonntag in der Kirche«, sagte Dolly, die das Gespräch mit angehört hatte. »Gib mir, bitte, ein Handtuch«, wandte sie sich an den alten Bienenwärter, [316] der lächelnd die Kinder betrachtete. »Es ist ja unmöglich, daß alle ...«
»Nun, was ist denn am letzten Sonntag in der Kirche geschehen? Der Geistliche war angewiesen worden, etwas vorzulesen. Und da hat er es denn vorgelesen. Die Leute verstanden nichts davon und seufzten wie bei jeder Predigt«, fuhr der Fürst fort. »Dann wurde ihnen gesagt, es würde in der Kirche gesammelt werden und es sei dem Seelenheile förderlich, etwas zu geben; na, da holten sie jeder eine Kopeke heraus und gaben sie; aber wozu sie Geld gaben, das wußten sie selbst nicht.«
»Es ist nicht möglich, daß das Volk das nicht wüßte. Das Bewußtsein seiner Mission ist allezeit im Volke vorhanden und wird ihm in Augenblicken wie den jetzigen besonders deutlich«, sagte Sergei Iwanowitsch mit Ernst und Nachdruck und sah dabei den alten Bienenwärter an.
Der schöne alte Mann mit dem schwarz und grau gesprenkelten Barte und dem dichten, silberweißen Haupthaar stand da, ohne sich zu rühren, und blickte, eine Schüssel mit Honig in der Hand haltend, freundlich und ruhig von der Höhe seines Wuchses auf die Herrschaften herab, von deren Gespräch er offenbar nichts verstand und nichts zu verstehen wünschte.
»Ganz gewiß«, sagte er, bedeutsam mit dem Kopfe nickend, auf Sergei Iwanowitschs Worte.
»Nun, dann fragt ihn doch einmal. Er weiß nichts davon und denkt nichts darüber«, sagte Ljewin. »Hast du wohl vom Kriege gehört, Michailütsch?« wandte er sich an den Alten. »Ich meine, was in der Kirche vorgelesen wurde? Wie denkst du darüber? Müssen wir für die Christen in den Krieg ziehen?«
»Wozu brauchen wir darüber nachzudenken? Unser Kaiser Alexander Nikolajewitsch hat bisher für uns gedacht und wird auch weiter für uns in allen Dingen denken. Er versteht das besser ... Soll ich noch ein bißchen Brot bringen? Vielleicht noch für das junge Herrchen?« wandte er sich an Darja Alexandrowna und wies auf Grigori, der dabei war, den Rest seiner Brotrinde zu verzehren.
»Ich brauche da nicht erst zu fragen«, sagte Sergei Iwanowitsch. »Hunderte und Hunderte von Menschen haben wir gesehen und sehen wir noch täglich, die alles stehen- und liegenlassen, um der gerechten Sache zu dienen, die von allen Enden Rußlands herbeikommen und offen und klar ihre Gedanken und ihre Absichten aussprechen. Sie bringen ihren Geldbetrag oder ziehen selbst mit und sagen frei und offen, warum sie das tun. Woher kommt das alles?«
[317] »Meiner Ansicht nach«, erwiderte Ljewin, der nun anfing, hitzig zu werden, »kommt das daher, daß sich in einem Volke von achtzig Millionen immer nicht nur Hunderte wie jetzt, sondern viele, viele Tausende von Menschen finden werden, die ihre soziale Stellung eingebüßt haben, Ausweglose, die immer zu allem bereit sind: in eine Pugatschewsche Bande einzutreten oder nach Chiwa oder Serbien ins Feld zu ziehen ...«
»Aber ich kann dir sagen, daß es sich nicht um einige Hunderte handelt und nicht um Ausweglose, sondern um die besten Vertreter des Volkes!« versetzte Sergei Iwanowitsch in einer Erregung, als ob er das letzte Stück seines Besitztums verteidigte. »Und die Geldspenden? Da liegt es doch auf der Hand, daß das ganze Volk seinen Willen bekundet.«
»›Volk‹ ist ein sehr unbestimmter Begriff«, entgegnete Ljewin. »Die Gemeindeschreiber, die Lehrer und von den Bauern vielleicht einer unter tausend, die mögen wissen, worum es sich handelt. Die übrigen achtzig Millionen dagegen, so wie mein Michailütsch da, bekunden ihren Willen nicht, ja sie haben überhaupt nicht den geringsten Begriff davon, worüber sie ihren Willen bekunden sollen. Welches Recht haben wir also, zu sagen, daß das der Wille des Volkes sei?«
Mit der ihm eigenen Gewandtheit im Reden leitete Sergei Iwanowitsch, ohne etwas auf die Behauptung des Gegners zu erwidern, sofort das Gespräch auf ein anderes Gebiet hinüber.
»Ja, wenn du den Volksgeist auf arithmetischem Wege erkennen willst, so wird es dir selbstverständlich sehr schwer sein, zum Ziele zu gelangen. Eine allgemeine Abstimmung ist bei uns nicht eingeführt, und es wäre auch zwecklos, sie einzuführen, da sie den Willen des Volkes nicht zum Ausdruck bringt. Aber um diesen zu erkennen, dafür gibt es andere Wege. Das spürt man in der Luft, das fühlt man mit dem Herzen. Ich will jetzt gar nicht einmal von jenen Strömungen reden, die sich in den tieferen Schichten unseres sonst einem ruhigen Meere gleichenden Volkes in Bewegung gesetzt haben und die niemandem, der frei von Voreingenommenheit ist, entgehen können; aber blicke auf das hin, was man im engeren Sinne die Gesellschaft nennt. Alle die so verschiedenartigen Parteien, die es in den Schichten der Gebildeten gibt und die sich früher so arg befehdeten, sind jetzt in eins zusammengeflossen. Aller Hader hat aufgehört; [318] alle Zeitungen der gebildeten Gesellschaft sagen ein und dasselbe; alle spüren sie die unmittelbare Gewalt, die sie erfaßt hat und sie alle in einer Richtung dahinträgt.«
»Ja, die Zeitungen sagen alle ein und dasselbe«, sagte der Fürst. »Das ist schon richtig. Alle stimmen sie dasselbe Lied an, wie die Frösche vor dem Gewitter. Bei dem Lärm, den sie vollführen, ist gar nichts anderes mehr zu hören.«
»Nun, über die Ähnlichkeit mit den Fröschen will ich nicht streiten; ich gebe keine Zeitungen heraus und fühle mich nicht berufen, sie zu verteidigen; aber ich rede von der Einmütigkeit der gesamten gebildeten Bevölkerung«, sagte Sergei Iwanowitsch, zu seinem Bruder gewendet. Ljewin wollte etwas entgegnen; aber der alte Fürst kam ihm zuvor.
»Na, über diese Einmütigkeit ließe sich so manches sagen«, bemerkte er. »Sehen Sie, da habe ich einen Schwiegersohn, Stepan Arkadjewitsch; Sie kennen ihn ja. Der bekommt jetzt eine Stelle als Komiteemitglied der Kommission ... na, und so weiter, ich habe es nicht im Kopfe. Zu tun hat er dabei gar nichts (ach was, Dolly, es ist ja kein Geheimnis); aber das Gehalt beträgt achttausend Rubel. Nun machen Sie einmal den Versuch und fragen Sie ihn, ob sein Amt irgendwelchen Nutzen bringt; und er wird Ihnen beweisen, daß es im höchsten Grade notwendig ist. Und er ist ein wahrheitsliebender Mann; aber achttausend Rubel muß eben jeder Mensch für etwas Nützliches halten.«
»Ja, er hat mich gebeten, Darja Alexandrowna mitzuteilen, daß er diese Stelle erhalten hat«, sagte Sergei Iwanowitsch mißvergnügt; denn er war der Ansicht, daß das, was der Fürst gesagt hatte, gar nicht herpaßte.
»Dieselbe Sache ist es auch mit der Einmütigkeit der Zeitungen. Man hat mir das so auseinandergesetzt: wenn es Krieg gibt, steigen ihre Einnahmen auf das Doppelte. Wie sollten sie da nicht der Ansicht sein, daß die Sendung des russischen Volkes und der Slawen ... und in diesem Stile weiter.«
»Auch mir sind nicht wenige Zeitungen unangenehm; aber diese Unterstellung ist doch ungerecht«, erwiderte Sergei Iwanowitsch.
»Ich würde nur eine einzige Forderung stellen«, fuhr der Fürst fort. »Alphonse Karr hat sich darüber vor dem Kriege mit Preußen in einer seiner Veröffentlichungen ganz vortrefflich geäußert: ›Ihr seid der Ansicht, daß der Krieg notwendig ist? Schön. Diejenigen, die den Krieg predigen, sollen ein besonderes Bataillon des Vordertreffens bilden und beim Sturm, bei der Attacke allen voran sein.‹«
[319] »Die Zeitungsschreiber werden dabei einen schönen Anblick bieten!« meinte Katawasow laut lachend, da er sich die Schriftleiter seiner Bekanntschaft als Krieger in diesem auserlesenen Bataillon vorstellte.
»Ach ja, sie werden davonlaufen«, sagte Dolly. »Sie werden nur hinderlich sein.«
»Wenn sie zum Davonlaufen Neigung zeigen, dann soll man mit Kartätschen geladene Geschütze oder Kosaken mit Knuten hinter ihnen aufstellen«, sagte der Fürst.
»Das ist ein Scherz, und kein guter Scherz; nehmen Sie es mir nicht übel, Fürst«, sagte Sergei Iwanowitsch.
»Ich sehe nicht ein, weshalb es ein Scherz sein sollte, daß ...«, begann Ljewin; aber sein Bruder unterbrach ihn.
»Jedes Mitglied der Gesellschaft hat den Beruf, die Tätigkeit auszuüben, die seinem ganzen Wesen entspricht«, sagte er. »Und die Männer der Feder erfüllen ihren Beruf dadurch, daß sie die Meinung des Volkes zum Ausdruck bringen. Daß die einmütige Meinung des Volkes vollständig zum Ausdruck gelangt, ist ein Verdienst der Presse und zugleich eine in hohem Grade erfreuliche Erscheinung. Vor zwanzig Jahren wären wir stumm geblieben; aber jetzt erschallt laut und vernehmlich die Stimme des russischen Volkes, das bereit ist, sich wie ein Mann zu erheben, bereit, sich für seine bedrängten Brüder zu opfern. Das ist ein großer Fortschritt und ein deutliches Zeichen unserer Kraft.«
»Aber man opfert ja nicht nur etwas, sondern tötet auch die Türken«, antwortete Ljewin schüchtern. »Das Volk opfert, und opfert gern, um seine Seele zu retten, aber nicht damit gemordet werde«, fügte er hinzu, indem er unwillkürlich diesen Gesprächsstoff mit den Gedanken in Verbindung setzte, die ihn so lebhaft beschäftigten.
»Was meinen Sie damit: um seine Seele zu retten? Seele, das ist ein Ausdruck, mit dem ein Naturforscher nichts Rechtes anzufangen weiß. Was ist denn eigentlich die Seele?« sagte Katawasow lächelnd.
»Ach, das wissen Sie ja!«
»Nein, wirklich, ich habe nicht den geringsten Begriff davon!« erwiderte Katawasow laut lachend.
»›Ich habe nicht den Frieden gebracht, sondern das Schwert‹, sagt Christus«, entgegnete auch Sergei Iwanowitsch, indem er einfach, als wäre das die verständlichste Sache von der Welt, gerade die Stelle aus dem Evangelium anführte, mit der Ljewin immer am allerwenigsten hatte zurechtkommen können.
»Ganz gewiß«, sagte der alte neben ihnen stehende Bienenwärter [320] wieder als Antwort auf einen Blick, der sich zufällig auf ihn richtete.
»Nein, liebster Freund, Sie sind geschlagen, geschlagen, völlig geschlagen!« rief Katawasow vergnügt.
Ljewin wurde ganz rot vor Ärger, nicht darüber, daß er angeblich geschlagen war, sondern darüber, daß er sich nicht hatte beherrschen können und sich auf eine Auseinandersetzung eingelassen hatte.
›Nein, ich kann nicht mit ihnen streiten‹, dachte er. ›Sie haben einen undurchdringlichen Panzer an, und ich bin nackt.‹
Er erkannte, daß sein Bruder und Katawasow nicht zu überzeugen waren, und sah noch weniger eine Möglichkeit, ihnen zuzustimmen. Was sie predigten, war derselbe Hochmut des Verstandes, der ihn selbst beinahe zugrunde gerichtet hätte. Er konnte einigen Dutzend Menschen, zu denen auch sein Bruder gehörte, nicht das Recht zuerkennen, nach dem, was ihnen ein paar hundert nach der Hauptstadt gekommene großmäulige Freiwillige erzählt hatten, zu behaupten, daß sie und die Zeitungen den Willen und die Meinung des Volkes zum Ausdruck brächten, und zwar eine Meinung, die auf Rache und Morden abzielte. Ein solches Recht konnte er ihnen nicht zuerkennen, weil ihm aus dem Volke, in dessen Mitte er lebte, keine Äußerung dieser Meinung entgegentrat und er diese Meinung auch in seinem eigenen Innern nicht vorfand (und er konnte sich doch für nichts anderes halten als für einen der Menschen, die zusammen das russische Volk bildeten), und namentlich weil er, ebenso wie das Volk, zwar nicht wußte und nicht wissen konnte, worin das Gemeinwohl bestehe, aber so viel mit aller Sicherheit wußte, daß die Erreichung dieses Gemeinwohls nur durch strenge Erfüllung jenes allen Menschen geoffenbarten Gesetzes des Guten möglich sei, und weil er aus diesem Grunde außerstande war, einen Krieg herbeizuwünschen und andere zum Kriege aufzufordern, was auch immer dessen Ziele für die Gesamtheit sein mochten.
Mit dem alten Bienenwärter Michailütsch und mit dem Volke, das der Überlieferung zufolge seine Meinung bei der Herbeirufung der Waräger ausgesprochen hatte, sagte auch Ljewin: »›Seid unsere Fürsten und herrscht über uns. Freudig geloben wir euch völligen Gehorsam. Alle Arbeit, alle Erniedrigung, alle Opfer nehmen wir auf uns; aber richten und beschließen, das möge nicht unsere Sache sein.‹ Und jetzt hatte nun, nach Sergei Iwanowitschs Behauptungen, das Volk auf dieses so teuer erkaufte Recht, aller Beschlußfassung überhoben zu sein, verzichtet?«
[321] Gern hätte er noch folgendes gesagt: ›Wenn die Meinung der Bevölkerung ein unfehlbarer Richter ist, warum werden dann Revolution und Kommune nicht für ebenso gesetzlich erachtet wie die Bewegung zugunsten der slawischen Brüder?‹ Aber all das waren Gedanken, durch die doch keine Entscheidung der Streitfrage herbeigeführt werden konnte. Eines aber erkannte er mit Sicherheit: daß sich Sergei Iwanowitsch in diesem Augenblicke durch den Streit in gereizter Stimmung befand und deshalb eine Fortsetzung der Auseinandersetzung bedenklich war. So schwieg Ljewin denn und lenkte die Aufmerksamkeit seiner Gäste darauf hin, daß die Wolken sich zusammengezogen hatten und es wegen des zu erwartenden Regens geraten sei, nach Hause zurückzukehren.
Der Fürst und Sergei Iwanowitsch stiegen in das Wägelchen und fuhren ab; die übrige Gesellschaft wanderte zu Fuß mit beschleunigtem Schritt nach Hause.
Aber die teils weiß, teils schwarz aussehende Gewitterwolke rückte so schnell heran, daß man noch schneller gehen mußte, um noch vor dem Regen nach Hause zu kommen. Der Hauptwolke voran zogen kleinere, niedrig gehende Wolken, schwarz wie mit Ruß vermischter Rauch, und liefen mit gewaltiger Schnelligkeit über den Himmel dahin. Bis zum Hause fehlten noch zweihundert Schritt, und schon hatte sich der Wind erhoben, und jeden Augenblick war ein furchtbarer Regenguß zu erwarten.
Die Kinder liefen mit ängstlichem, freudigem Gekreische voraus.
Darja Alexandrowna, mühsam mit ihren Röcken kämpfend, die sich ihr eng um die Beine legten, ging schon nicht mehr, sondern lief und hatte dabei immer ihre Augen auf die Kinder gerichtet. Die Herren hielten ihre Hüte fest und gingen mit großen Schritten. Sie waren bereits dicht an der Haustür, als ein großer Tropfen auf den Rand der blechernen Dachrinne niederschlug und auseinanderspritzte. Die Kinder und ihnen folgend die Erwachsenen liefen mit fröhlichen Scherzworten unter das schützende Dach.
»Wo ist Katerina Alexandrowna?« fragte Ljewin seine alte Wirtschafterin Agafja Michailowna, die ihnen im Flur mit Tüchern und Reisedecken entgegenkam.
»Wir dachten, sie wäre bei Ihnen«, antwortete sie.
»Und Dmitri?«
[322] »Dann sind sie gewiß im Hain; die Kinderfrau ist auch bei ihnen.«
Ljewin ergriff ein paar Decken und lief nach dem Hain.
In dieser kurzen Zwischenzeit hatte sich die Gewitterwolke mit ihrem Kern schon so weit über die Sonne geschoben, daß es so dunkel geworden war wie bei einer Sonnenfinsternis. Der Wind schien eigensinnig seinen Willen durchsetzen und Ljewin zurückhalten zu wollen; und indem er Blätter und Blüten von den Linden abriß und in häßlicher, seltsamer Weise die weißen Äste der Birken entblößte, bog er alles nach einer Seite hin: die Akaziensträucher, die Blumen, die großen Klettenblätter, das Gras und die Wipfel der Bäume. Ein paar Bauernmädchen, die im Garten arbeiteten, liefen kreischend unter das Dach des Gesindehauses. Der weiße Vorhang, den der strömende Regen bildete, hatte sich schon über den ganzen fernen Wald und über die Hälfte des nahe gelegenen Feldes hingezogen und rückte schnell auf den Hain zu. Die Feuchtigkeit des in kleine Tropfen zerstobenen Regens war bereits in der Luft zu spüren.
Den Kopf ganz nach vorn gebeugt und gegen den Wind ankämpfend, der ihm die Tücher entreißen wollte, näherte sich Ljewin eilends dem Haine und meinte schon hinter der Eiche etwas Weißes zu erblicken, als plötzlich alles aufflammte, die ganze Erde zu brennen und über seinem Kopfe das Himmelsgewölbe zu bersten schien. Als Ljewin seine geblendeten Augen wieder öffnete, sah er durch den dichten Regenschleier, der ihn jetzt vom Hain trennte, früher als alles andere mit Entsetzen, daß der grüne Wipfel der ihm wohlbekannten Eiche in der Mitte des Haines seine Haltung in sonderbarer Weise verändert hatte. ›Ist wirklich der Blitz hineingefahren?‹ dachte Ljewin; aber in demselben Augenblicke neigte sich der Wipfel der Eiche, seine Bewegung immer mehr und mehr beschleunigend, verschwand hinter den anderen Bäumen, und Ljewin hörte das Krachen des auf die anderen Bäume niederstürzenden Baumriesen.
Das Licht des Blitzes, der Ton des Donners und das Gefühl einer seinen Körper augenblicklich überlaufenden Kälte flossen für Ljewin in eine einzige Empfindung des Schreckens zusammen.
»Mein Gott, mein Gott, nur nicht auf sie!« murmelte er.
Und obwohl er sich sofort dessen bewußt wurde, wie sinnlos seine Bitte war, daß sie nicht von der Eiche erschlagen werden möchten, die jetzt doch schon gefallen war, so wiederholte er sie doch, in dem Gefühl, daß er etwas, was besser wäre als dieses sinnlose Gebet, nicht tun könnte.
Als er auf den Platz, wo sie sich gewöhnlich aufhielten, gelaufen kam, fand er sie nicht dort.
[323] Sie waren am anderen Ende des Hains unter einer alten Linde und riefen ihn. Zwei Gestalten in dunklen Kleidern (sie hatten vorher helle getragen) standen dort und beugten sich, über etwas. Es waren Kitty und die Kinderfrau. Als Ljewin laufend zu ihnen gelangt war, hatte der Regen bereits aufgehört, und es begann wieder hell zu werden. Bei der Kinderfrau war die Unterkleidung trocken geblieben; aber Kittys Kleidung war durch und durch naß geworden und klebte ihr überall am Leibe. Obgleich es nicht mehr regnete, standen sie immer noch in derselben Stellung da wie beim Ausbruch des Gewitters: beide beugten sie sich über das Wägelchen mit dem grünen Schirmdach.
»Ihr lebt? Ihr seid unversehrt? Gott sei Dank!« rief er und schlurfte mit seinen arg zugerichteten, voll Wasser gelaufenen Halbstiefeln durch die tiefen Lachen zu ihnen hin.
Kitty wendete ihm ihr rotwangiges, nasses Gesicht zu und lächelte ihn unter dem Hute hervor, der seine Form verändert hatte, schüchtern an.
»Aber was machst du für Geschichten! Ich begreife nicht, wie du so unvorsichtig sein kannst!« schalt er seine Frau ärgerlich.
»Ich kann wirklich nichts dafür. Wir wollten gerade nach Hause gehen, als er etwas verrichtete. Wir mußten ihm die Wäsche wechseln. Wir wollten gerade ...«, begann Kitty sich zu rechtfertigen.
Dmitri war unversehrt; er war vom Regen nicht getroffen worden und schlief ruhig weiter.
»Nun, Gott sei Dank! Ich weiß gar nicht, was ich rede.«
Die nassen Windeln wurden zusammengesucht; die Kinderfrau nahm den Kleinen aus dem Wagen und trug ihn. Ljewin ging neben seiner Frau und drückte ihr, damit sie ihm seine ärgerliche Aufwallung verzeihen möchte, von der Kinderfrau unbemerkt, die Hand.
Ljewin hatte zwar mit der Umwandlung, die mit ihm hätte vorgehen sollen, eine Enttäuschung erlebt; aber diesen ganzen Tag über, auch während der sehr verschiedenartigen Gespräche, an denen er sich gleichsam nur mit der Außenseite seines Verstandes beteiligte, empfand er trotzdem dauernd mit hoher Freude, wie voll sein Herz war.
Nach dem Regen war es zu naß, als daß man hätte spazierengehen können; zudem waren immer noch Gewitterwolken am Horizont sichtbar und zogen bald hier, bald dort, bedrohlich durch ihre schwarze Färbung und ihr Donnern, am Rand des [324] Himmels hin. Die ganze Gesellschaft verbrachte den übrigen Teil des Tages im Hause.
Streitfragen wurden nicht mehr aufgeworfen; vielmehr befanden sich alle nach dem Mittagessen in bester Laune.
Katawasow brachte zunächst die Damen durch jene besondere Art von Späßchen zum Lachen, die immer bei der ersten Bekanntschaft mit ihm soviel Beifall fanden; dann aber erzählte er auf Sergei Iwanowitschs Aufforderung von seinen sehr interessanten Beobachtungen über die Unterschiede im Wesen und selbst im Aussehen der Männchen und Weibchen der Stubenfliege sowie über ihre Lebensweise. Auch Sergei Iwanowitsch war sehr vergnügt und setzte beim Tee, von seinem Bruder dazu angeregt, seine Ansichten über die zukünftige Gestaltung der orientalischen Frage auseinander, und zwar in einer so einfachen, hübschen Weise, daß alle ihm mit Vergnügen zuhörten.
Nur Kitty konnte seine Darlegungen nicht bis zu Ende mit anhören, da sie abgerufen wurde, um den kleinen Dmitri zu baden.
Einige Minuten nachdem Kitty hinausgegangen war, wurde auch Ljewin gebeten, zu ihr ins Kinderzimmer zu kommen.
Bedauernd, daß er im Anhören der fesselnden Darstellung unterbrochen wurde, und zugleich voll Unruhe, weshalb er wohl gerufen werde, da dies nur aus wichtigen Ursachen zu geschehen pflegte, ließ Ljewin seinen Tee stehen und ging nach dem Kinderzimmer.
Obgleich Sergei Iwanowitschs Plan, den er nicht bis zu Ende hatte mit anhören können, als etwas ihm vollständig Neues sein größtes Interesse erregte (nämlich der Plan, wie das befreite, vierzig Millionen umfassende Slawenland mit Rußland zusammen einen neuen Zeitabschnitt der Weltgeschichte beginnen sollte) und obwohl er von Neugier und Unruhe erfüllt war, weshalb man ihn wohl rufen möge, so kamen ihm dennoch, sobald er das Zimmer verlassen hatte und allein war, sofort wieder die Gedanken in den Sinn, mit denen er sich am Morgen beschäftigt hatte. Und alle diese Überlegungen über die Bedeutung des Slawentums in der Weltgeschichte erschienen ihm so nichtig im Vergleich mit dem, was in seiner Seele vorging, daß er dies alles augenblicklich vergaß und sich wieder in dieselbe Stimmung zurückversetzt fühlte, in der er sich am Morgen dieses Tages befunden hatte.
Er rief sich jetzt nicht, wie das früher seine Gewohnheit war, seinen ganzen Gedankengang ins Gedächtnis zurück; dessen bedurfte er jetzt nicht. Er versetzte sich mit einem Schlage in jenes Gefühl hinein, das ihn geleitet hatte und das mit diesen [325] Gedanken verknüpft war, und fand, daß dieses Gefühl sich in seiner Seele zu noch größerer Stärke und Bestimmtheit entwickelt hatte als vorher. Jetzt widerfuhr ihm nicht, was ihm bei früheren kunstvoll ausgesonnenen Versuchen der Selbstberuhigung oft begegnet war, wo er den ganzen Gedankengang wieder hatte zurückverfolgen müssen, um das beruhigende Gefühl zu finden. Jetzt war ganz im Gegenteil das Empfinden der Freude und Beruhigung in seiner Seele lebendiger als vorher, und das Denken konnte mit dem Fühlen nicht Schritt halten.
Er ging über die Terrasse und blickte zu zwei Sternen hinauf, die an dem bereits dunkel gewordenen Himmel hervortraten, und auf einmal fiel ihm ein: ›Ja, als ich zum Himmel hinaufsah, da überlegte ich, daß das Gewölbe, das ich sehe, keine Unwahrheit ist, und dabei dachte ich irgendeinen Gedanken nicht zu Ende, ich verbarg etwas vor mir selbst‹, sagte er bei sich. ›Aber was es auch gewesen sein mag, eine Widerlegung des gewonnenen Ergebnisses kann es nicht sein. Ich brauche nur darüber nachzudenken, so wird mir alles klarwerden.‹
Unmittelbar vor der Tür des Kinderzimmers fiel ihm ein, was das gewesen war, was er vor sich selbst verborgen hatte. Es war die Frage gewesen: Wenn der Hauptbeweis für das Dasein Gottes darin besteht, daß er uns offenbart hat, was das Gute ist, warum beschränkt sich dann diese Offenbarung allein auf die christliche Kirche? Welche Beziehung zu dieser Offenbarung haben die Religionen der Buddhisten, der Mohammedaner, die doch auch das Gute als Ziel des menschlichen Handelns bekennen und das Gute tun?
Er glaubte, eine Antwort auf diese Frage zu haben; aber er hatte noch nicht Zeit gehabt, dieser Antwort eine feste Form zu geben, als er schon ins Kinderzimmer trat.
Kitty stand mit aufgestreiften Ärmeln an der Badewanne, über das darin herumplätschernde Kind gebeugt; als sie die Schritte ihres Mannes hörte, wendete sie ihm ihr Gesicht zu und rief ihn durch ein Lächeln zu sich heran. Mit der einen Hand hielt sie unter dem Kopf den auf dem Rücken schwimmenden und mit den Beinchen strampelnden dicken, kräftigen Kleinen, mit der anderen drückte sie, die Muskeln gleichmäßig anspannend, den Schwamm über ihm aus.
»Nun sieh nur, sieh nur mal!« sagte sie, als ihr Mann zu ihr trat. »Agafja Michailowna hat recht: er erkennt.«
Es handelte sich darum, daß Dmitri seit dem heutigen Tage augenscheinlich und zweifellos alle die Seinigen erkannte.
Als Ljewin an die Badewanne herantrat, wurde ihm sofort ein Versuch vorgeführt, und der Versuch gelang vollkommen. [326] Die Köchin, die eigens zu diesem Zwecke hereingerufen wurde, beugte sich über den Kleinen. Er machte ein finsteres Gesicht und schüttelte verneinend mit dem Kopfe. Nun beugte sich Kitty über ihn: da überzog ein strahlendes Lächeln sein Gesicht, er stemmte sich mit den Händchen gegen den Schwamm und brachte, mit den Lippen prustend, einen so sonderbaren Laut der Zufriedenheit hervor, daß nicht nur Kitty und die Kinderfrau, sondern auch Ljewin überrascht und entzückt waren.
Das Kind wurde auf einer Hand aus der Wanne gehoben, mit Wasser übergossen, in ein Leintuch gehüllt, abgetrocknet und nach durchdringendem Schreien der Mutter übergeben.
»Nun, ich freue mich, daß du anfängst, ihn liebzuhaben«, sagte Kitty zu ihrem Manne, nachdem sie sich mit dem Kinde an der Brust ruhig auf ihren gewohnten Platz gesetzt hatte. »Ich freue mich recht darüber. Ich fing auch schon an, mich darüber zu ärgern. Du sagtest, daß du nichts für ihn empfändest.«
»Aber nein, das habe ich doch nicht gesagt, daß ich nichts für ihn empfände. Ich habe nur gesagt, ich wäre enttäuscht.«
»Was meinst du damit? Du bist von ihm enttäuscht gewesen?«
»Ich bin nicht eigentlich von ihm enttäuscht gewesen, sondern von meinem Gefühle; von meinem Vatergefühle hatte ich mir eine größere Vorstellung gemacht. Ich hatte erwartet, es werde sich in ganz überraschender Weise in meinem Innern ein neues, wohltuendes Gefühl wie eine Blume erschließen. Und nun fühlte ich statt dessen nur Mitleid und eine Art von Widerwillen ...«
Sie hörte ihm über das Kind hinweg aufmerksam zu und steckte dabei die Ringe, die sie abgelegt hatte, um Dmitri zu baden, wieder an die schlanken Finger.
»Und die Hauptsache war«, fuhr Ljewin fort, »daß ich weit mehr Angst und Mitleid empfand als Vergnügen. Aber heute, nach dieser Angst bei dem Gewitter, da habe ich gemerkt, wie lieb ich ihn habe.«
Über Kittys Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus.
»Bist du sehr erschrocken gewesen?« fragte sie. »Ich auch; aber jetzt, wo es vorbei ist, erscheint es mir noch furchtbarer. Ich will morgen hingehen und mir die Eiche ansehen. Und was für ein liebenswürdiger Mensch Katawasow ist! Und überhaupt hat der ganze Tag einen so angenehmen Verlauf gehabt. Und du verträgst dich so nett mit Sergei Iwanowitsch, wenn du nur willst ... Nun, dann geh nur wieder zu ihnen. Nach dem Baden ist es hier immer heiß und ein feuchter Dunst ...«
Sobald Ljewin das Kinderzimmer verlassen hatte und allein war, kam ihm sofort wieder jener Gedanke in den Sinn, der noch eine gewisse Unklarheit enthielt.
Statt in das Wohnzimmer zu gehen, aus dem die Stimmen zu ihm herübertönten, blieb er auf der Terrasse stehen und betrachtete, auf das Geländer gestützt, den Himmel.
Es war schon ganz dunkel geworden, und der Süden, wohin er blickte, war frei von Gewitterwolken; sie standen nur noch auf der entgegengesetzten Seite. Von dorther leuchteten Blitze auf und ertönte ferner Donner. Ljewin horchte auf die Tropfen, die gleichmäßig von den Linden im Garten herabfielen, und betrachtete das ihm wohlbekannte Sternendreieck und die mitten hindurch ziehende Milchstraße mit ihren Verzweigungen. Bei jedem Aufflammen eines Blitzes verschwanden nicht nur die Milchstraße, sondern auch die hellen Sterne; aber sobald der Blitz erlosch, leuchteten sie wieder, wie von einer treffsicheren Hand dorthin geworfen, an denselben Stellen auf.
›Was macht mir denn noch Schwierigkeit?‹ fragte sich Ljewin und fühlte im voraus, daß die Lösung seiner Zweifel, obgleich sie ihm noch nicht bekannt war, doch schon in seiner Seele bereitlag.
›Ja, das einzige, wodurch die Gottheit in deutlicher, zweifelsfreier Form in Erscheinung getreten ist, das sind die Gesetze des Guten, die der Welt durch Offenbarung kundgegeben sind und die ich in mir fühle und durch deren Anerkennung ich, auch wenn ich diese Vereinigung nicht ausdrücklich selbst vollziehe, doch, ob ich will oder nicht, mit anderen Menschen zu einer Gemeinschaft von Gläubigen vereinigt bin, die man Kirche nennt. Nun, und die Juden, die Mohammedaner, die Anhänger des Konfutse, die Buddhisten, was sind denn die?‹ fragte er sich; das war jene Frage, die ihm so gefährlich erschienen war. ›Bleiben diese Hunderte von Millionen Menschen wirklich jenes höchsten Gutes unteilhaftig, ohne das das Leben keinen Wert hat?‹ Er wurde nachdenklich, wies sich aber alsbald zurecht. ›Aber wonach frage ich da?‹ sagte er zu sich selbst. ›Ich frage, in welcher Beziehung alle die verschiedenartigen Religionen der Menschheit zur Gottheit stehen. Ich frage danach, was die gemeinsame Form sei, in der Gott für die ganze Welt samt allen diesen Nebelflecken in Erscheinung tritt. Was tue ich denn? Mir persönlich, meiner Seele ist in unzweifelhafter Weise eine Kenntnis offenbart worden, die durch den Verstand nicht erreichbar ist, und da will ich hartnäckig diese Kenntnis durch den Verstand und durch Worte ausdrücken!‹
[328] ›Ich weiß ja, daß die Sterne nicht einherwandeln‹, sagte er zu sich selbst und blickte zu einem hellen Stern hinauf, der bereits seine Stellung bei dem höchsten kleinen Zweige einer Birke verändert hatte. ›Und doch kann ich, wenn ich die Bewegung der Sterne betrachte, mir nicht vorstellen, daß es die Erde ist, die sich dreht, und ich habe recht, wenn ich sage, daß die Sterne einherwandeln.
Und hätten etwa die Astronomen irgend etwas verstehen und berechnen können, wenn sie alle die schwierigen, verschiedenartigen Bewegungen der Erde mit berücksichtigt hätten? Alle ihre staunenswerten Folgerungen über die Entfernungen, das Gewicht, die Bewegungen und Abirrungen der Himmelskörper gründen sich nur auf die scheinbare Bewegung der Gestirne um die unbewegliche Erde, auf eben die Bewegung, die ich jetzt vor mir habe und die so vielen Millionen von Menschen die Jahrhunderte hindurch ebenso erschienen ist, die immer die gleiche war und sein wird und immer überprüft werden kann. Und wie die Folgerungen der Astronomen unzuverlässig und nichtig wären, wenn sie sich nicht auf die Beobachtungen des scheinbaren Himmels mit der Festsetzung eines einzigen Meridians und eines einzigen Horizontes gründeten, so würden auch meine Folgerungen unzuverlässig und nichtig sein, wenn sie sich nicht auf jenen Begriff des Guten gründeten, der für alle immer der gleiche war und sein wird und der mir durch das Christentum offenbart ist und immer in meiner Seele nachgeprüft werden kann. Die Frage aber nach den anderen Religionen und ihren Beziehungen zur Gottheit zu entscheiden, dazu habe ich kein Recht und keine Möglichkeit.‹
»Ach, du bist noch nicht hineingegangen?« hörte er auf einmal Kitty sagen, die auf demselben Wege nach dem Wohnzimmer ging. »Was ist dir? Du bist doch nicht verstimmt?« fragte sie und blickte ihm beim Licht der Sterne forschend ins Gesicht.
Aber sie hätte sein Gesicht doch nicht deutlich erkennen können, wenn es nicht wieder von einem Blitz, der die Sterne verschwinden ließ, beleuchtet worden wäre. Beim Licht des Blitzes erblickte sie deutlich sein ganzes Gesicht, und als sie sah, daß er ruhig und froh war, lächelte sie ihm zu.
›Sie versteht mich‹, dachte er, ›sie weiß, woran ich denke. Soll ich ihr alles sagen oder nicht? Ja, ich will es ihr sagen.‹ Aber in demselben Augenblick, wo er anfangen wollte zu sprechen, begann sie gleichfalls zu reden.
»Was ich noch sagen wollte, Konstantin! Tu mir doch den Gefallen«, sagte sie, »geh in das Eckzimmer und sieh zu, ob [329] auch alles für Sergei Iwanowitsch in Ordnung gebracht ist. Für mich schickt sich das nicht recht. Ob auch der neue Waschtisch hineingestellt ist.«
»Schön, ich werde hingehen, du kannst dich darauf verlassen«, antwortete Ljewin, indem er sich aufrichtete, und küßte sie.
›Nein, ich will es ihr doch lieber nicht sagen‹, dachte er, während sie vor ihm herging. ›Das ist ein Geheimnis, das nur mich allein angeht, nur für mich allein wichtig ist und sich mit Worten nicht ausdrücken läßt.
Dieses neue Gefühl hat mich nicht plötzlich umgewandelt, beseligt, erleuchtet, wie ich das in meinen Träumereien erhofft hatte; es ist damit geradeso gegangen wie mit meinem Gefühle für meinen Sohn. Es ist auch nicht wie eine Überraschung über mich gekommen. Sondern dieses Gefühl (ob man es nun Glauben nennen will oder nicht; ich weiß nicht, was es eigentlich ist), dieses Gefühl ist ebenso unmerklich wie jenes unter Leiden in meine Seele eingezogen und hat dort seinen festen, dauernden Wohnsitz genommen.
Ich werde mich auch in Zukunft ebenso wie bisher über den Kutscher Iwan ärgern; ich werde mich ebenso streiten und zur Unzeit meine Gedanken aussprechen; es wird ebenso eine Scheidewand zwischen dem Allerheiligsten meiner Seele und anderen Menschen, selbst meiner Frau, bestehen bleiben; ich werde ihr ebenso für meine eigene Angst Vorwürfe machen und dies dann bereuen; ich werde ebensowenig mit dem Verstand begreifen, warum ich bete, und werde trotzdem beten. Aber mein Leben, mein ganzes Leben, wie auch immer es sich äußerlich gestalten mag, jeder Augenblick meines Lebens wird jetzt nicht zwecklos sein wie bisher, sondern zu seinem alleinigen, bestimmten Zweck das Gute haben. Denn das liegt jetzt in meiner Macht: meinem Leben die Richtung auf das Gute zu geben!‹
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