Der Pokal

[185] [187]Vom großen Dom erscholl das vormittägige Geläute. Über den weiten Platz wandelten in verschiedenen Richtungen Männer und Weiber, Wagen fuhren vorüber und Priester gingen nach ihren Kirchen. Ferdinand stand auf der breiten Treppe, den Wandelnden nachsehend und diejenigen betrachtend, welche heraufstiegen, um dem Hochamte beizuwohnen. Der Sonnenschein glänzte auf den weißen Steinen, alles suchte den Schatten gegen die Hitze; nur er stand schon seit lange sinnend an einen Pfeiler gelehnt, in den brennenden Strahlen, ohne sie zu fühlen, denn er verlor sich in den Erinnerungen, die in seinem Gedächtnisse aufstiegen. Er dachte seinem Leben nach, und begeisterte sich an dem Gefühl, welches sein Leben durchdrungen und alle andern Wünsche in ihm ausgelöscht hatte. In derselben Stunde stand er hier im vorigen Jahre, um Frauen und Mädchen zur Messe kommen zu sehn; mit gleichgültigem Herzen und lächelndem Auge hatte er die mannigfaltigen Gestalten betrachtet, mancher holde Blick war ihm schalkhaft begegnet und manche jungfräuliche Wange war errötet; sein spähendes Auge sah den niedlichen Füßchen nach, wie sie die Stufen heraufschritten, und wie sich das schwebende Gewand mehr oder weniger verschob, um die feinen Knöchel zu enthüllen. Da kam über den Markt eine jugendliche Gestalt, in Schwarz, schlank und edel, die Augen sittsam vor sich hingeheftet, unbefangen schwebte sie die Erhöhung hinauf mit lieblicher Anmut, das seidene Gewand legte sich um den schönsten Körper und wiegte sich wie in Musik um die bewegten Glieder; jetzt wollte sie den letzten Schritt tun, und von ohngefähr erhob sie das Auge und traf mit dem blauesten Strahle in seinen Blick. Er ward wie von einem Blitz durchdrungen. Sie strauchelte, und so schnell er auch hinzusprang, konnte er doch nicht verhindern, daß sie nicht kurze Zeit in der reizendsten Stellung knieend vor seinen Füßen lag. Er hob sie auf, sie sah ihn nicht an, sondern war ganz Röte, antwortete auch nicht auf seine Frage, ob sie sich beschädiget habe. Er [187] folgte ihr in die Kirche und sah nur das Bildnis, wie sie vor ihm gekniet, und der schönste Busen ihm entgegengewogt. Am folgenden Tage besuchte er die Schwelle des Tempels wieder; die Stätte war ihm geweiht. Er hatte abreisen wollen, seine Freunde erwarteten ihn ungeduldig in seiner Heimat; aber von nun an war hier sein Vaterland, sein Herz war umgewendet. Er sah sie öfter, sie vermied ihn nicht, doch waren es nur einzelne und gestohlene Augenblicke; denn ihre reiche Familie bewachte sie genau, noch mehr ein angesehener eifersüchtiger Bräutigam. Sie gestanden sich ihre Liebe, wußten aber keinen Rat in ihrer Lage; denn er war fremd und konnte seiner Geliebten kein so großes Glück anbieten, als sie zu erwarten berechtiget war. Da fühlte er seine Armut; doch wenn er an seine vorige Lebensweise dachte, dünkte er sich überschwenglich reich, denn sein Dasein war geheiligt, sein Herz schwebte immerdar in der schönsten Rührung; jetzt war ihm die Natur befreundet und ihre Schönheit seinen Sinnen offenbar, er fühlte sich der Andacht und Religion nicht mehr fremd, und betrat dieselbe Schwelle, das geheimnisvolle Dunkel des Tempels jetzt mit ganz andern Gefühlen, als in jenen Tagen des Leichtsinns. Er zog sich von seinen Bekanntschaften zurück und lebte nur der Liebe. Wenn er durch ihre Straße ging und sie nur am Fenster sah, war er für diesen Tag glücklich; er hatte sie in der Dämmerung des Abends oftmals gesprochen, ihr Garten stieß an den eines Freundes, der aber sein Geheimnis nicht wußte. So war ein Jahr vorübergegangen.

Alle diese Szenen seines neuen Lebens zogen wieder durch sein Gedächtnis. Er erhob seinen Blick, da schwebte die edle Gestalt schon über den Platz, sie leuchtete ihm wie eine Sonne aus der verworrenen Menge hervor. Ein lieblicher Gesang ertönte in seinem sehnsüchtigen Herzen, und er trat, wie sie sich annäherte, in die Kirche zurück. Er hielt ihr das geweihte Wasser entgegen, ihre weißen Finger zitterten, als sie die seinigen berührte, sie neigte sich holdselig. Er folgte ihr nach, und kniete in ihrer Nähe. Sein ganzes Herz zerschmolz in Wehmut und Liebe, es dünkte ihm, als wenn aus den Wunden der Sehnsucht sein Wesen in andächtigen Gebeten dahinblutete; jedes Wort des Priesters durchschauerte ihn, jeder Ton der Musik goß Andacht in seinen Busen; seine Lippen bebten, als die Schöne das Kruzifix ihres Rosenkranzes an den brünstigen roten Mund drückte. Wie hatte er ehemals diesen Glauben und [188] diese Liebe so gar nicht begreifen können. Da erhob der Priester die Hostie und die Glocke schallte, sie neigte sich demütiger und bekreuzte ihre Brust; und wie ein Blitz schlug es durch alle seine Kräfte und Gefühle, und das Altarbild dünkte ihm lebendig und die farbige Dämmerung der Fenster wie ein Licht des Paradieses; Tränen strömten reichlich aus seinen Augen und linderten die verzehrende Inbrunst seines Herzens.

Der Gottesdienst war geendigt. Er bot ihr wieder den Weihbrunnen, sie sprachen einige Worte und sie entfernte sich. Er blieb zurück, um keine Aufmerksamkeit zu erregen; er sah ihr nach, bis der Saum ihres Kleides um die Ecke verschwand. Da war ihm wie dem müden verirrten Wanderer, dem im dichten Walde der letzte Schein der untergehenden Sonne erlischt. Er erwachte aus seiner Träumerei, als ihm eine alte dürre Hand auf die Schulter schlug, und ihn jemand bei Namen nannte.

Er fuhr zurück, und erkannte seinen Freund, den mürrischen Albert, der von allen Menschen sich zurückzog, und dessen einsames Haus nur dem jungen Ferdinand geöffnet war. »Seid Ihr unsrer Abrede noch eingedenk?« fragte die heisere Stimme. »O ja«, antwortete Ferdinand, »und werdet Ihr Euer Versprechen heut noch halten?« »Noch in dieser Stunde«, antwortete jener, »wenn Ihr mir folgen wollt.«

Sie gingen durch die Stadt und in einer abgelegenen Straße in ein großes Gebäude. »Heute«, sagte der Alte, »müßt Ihr Euch schon mit mir in das Hinterhaus bemühn, in mein einsamstes Zimmer, damit wir nicht etwa gestört werden.« Sie gingen durch viele Gemächer, dann über einige Treppen; Gänge empfingen sie, und Ferdinand, der das Haus zu kennen glaubte, mußte sich über die Menge der Zimmer, so wie über die seltsame Einrichtung des weitläufigen Gebäudes verwundern, noch mehr aber darüber, daß der Alte, welcher unverheiratet war, der auch keine Familie hatte, es allein mit einem einzigen Bedienten bewohne, und niemals an Fremde von dem überflüssigen Raume hatte vermieten wollen. Albert schloß endlich auf und sagte: »Nun sind wir zur Stelle.« Ein großes hohes Zimmer empfing sie, das mit rotem Damast ausgeschlagen war, den goldene Leisten einfaßten, die Sessel waren von dem nämlichen Zeuge, und durch rote schwerseidne Vorhänge, welche niedergelassen waren, schimmerte ein purpurnes Licht.

»Verweilt einen Augenblick«, sagte der Alte, indem er in ein anderes Gemach ging. Ferdinand betrachtete indes einige Bücher, [189] in welchen er fremde unverständliche Charaktere, Kreise und Linien, nebst vielen wunderlichen Zeichnungen fand, und nach dem wenigen, was er lesen konnte, schienen es alchemistische Schriften; er wußte auch, daß der Alte im Rufe eines Goldmachers stand. Eine Laute lag auf dem Tische welche seltsam mit Perlmutter und farbigen Hölzern ausgelegt war und in glänzenden Gestalten Vögel und Blumen darstellte, der Stern in der Mitte war ein großes Stück Perlmutter, auf das kunstreichste in vielen durchbrochenen Zirkelfiguren, fast wie die Fensterrose einer gotischen Kirche, ausgearbeitet. »Ihr betrachtet da mein Instrument«, sagte Albert, welcher zurückkehrte, »es ist schon zweihundert Jahr alt, und ich habe es als Andenken meiner Reise aus Spanien mitgebracht. Doch laßt das alles, und setzt Euch jetzt.«

Sie setzten sich an den Tisch, der ebenfalls mit einem roten Teppiche bedeckt war, und der Alte stellte etwas Verhülltes auf die Tafel. »Aus Mitleid gegen Eure Jugend«, fing er an, »habe ich Euch neulich versprochen, Euch zu wahrsagen, ob Ihr glücklich wer den könnt oder nicht, und dieses Versprechen will ich in gegenwärtiger Stunde lösen, ob Ihr gleich die Sache neulich nur für einen Scherz halten wolltet. Ihr dürft Euch nicht entsetzen, denn, was ich vorhabe, kann ohne Gefahr geschehn und weder furchtbare Zitationen sollen von mir vorgenommen werden, noch soll Euch eine gräßliche Erscheinung erschrecken. Die Sache, die ich versuchen will, kann in zweien Fällen mißlingen: wenn Ihr nämlich nicht so wahrhaft liebt, als Ihr mich habt wollen glauben machen, denn alsdann ist meine Bemühung umsonst und es zeigt sich gar nichts; oder daß Ihr das Orakel stört und durch eine unnütze Frage oder ein hastiges Auffahren vernichtet, indem Ihr Euren Sitz verlaßt und das Bild zertrümmert; Ihr müßt mir also versprechen, Euch ganz ruhig zu verhalten.«

Ferdinand gab das Wort, und der Alte wickelte aus den Tüchern das, was er mitgebracht hatte. Es war ein goldener Pokal von sehr künstlicher und schöner Arbeit. Um den breiten Fuß lief ein Blumenkranz mit Myrten und verschiedenem Laube und Früchten gemischt, erhaben ausgeführt mit mattem oder klarem Golde. Ein ähnliches Band, aber reicher, mit kleinen Figuren und fliehenden wilden Tierchen, die sich vor den Kindern fürchteten oder mit ihnen spielten, zog sich um die Mitte des Bechers. Der Kelch war schön gewunden, er bog sich [190] oben zurück, den Lippen entgegen, und inwendig funkelte das Gold mit roter Glut. Der Alte stellte den Becher zwischen sich und den Jüngling, und winkte ihn näher. »Fühlt Ihr nicht etwas«, sprach er, »wenn Euer Auge sich in diesem Glanz verliert?« »Ja«, sagte Ferdinand, »dieser Schein spiegelt in mein Innres hinein, ich möchte sagen, ich fühle ihn wie einen Kuß in meinem sehnsüchtigen Busen.« »So ist es recht!« sagte der Alte; »nun laßt Eure Augen nicht mehr herumschweifen, sondern haltet sie fest auf den Glanz dieses Goldes, und denkt so lebhaft wie möglich an Eure Geliebte.«

Beide saßen eine Weile ruhig, und schauten vertieft den leuchtenden Becher an. Bald aber fuhr der Alte mit stummer Gebärde, erst langsam, dann schneller, endlich in eilender Bewegung mit streichendem Finger um die Glut des Pokals in ebenmäßigen Kreisen hin. Dann hielt er wieder inne und legte die Kreise von der andern Seite. Als er eine Weile dies Beginnen fortgesetzt hatte, glaubte Ferdinand Musik zu hören, aber es klang wie draußen, in einer fernen Gasse; doch bald kamen die Töne näher, sie schlugen lauter und lauter an, sie zitterten bestimmter durch die Luft, und es blieb ihm endlich kein Zweifel, daß sie aus dem Innern des Bechers hervorquollen. Immer stärker ward die Musik, und von so durchdringender Kraft, daß des Jünglings Herz erzitterte und ihm die Tränen in die Augen stiegen. Eifrig fuhr die Hand des Alten in verschiedenen Richtungen über die Mündung des Bechers, und es schien, als wenn Funken aus seinen Fingern fuhren und zuckend gegen das Gold leuchtend und klingend zersprangen. Bald mehrten sich die glänzenden Punkte und folgten, wie auf einen Faden gereiht, der Bewegung seines Fingers hin und wider; sie glänzten von verschiedenen Farben und drängten sich allgemach dichter und dichter aneinander, bis sie in Linien zusammenschossen. Nun schien es, als wenn der Alte in der roten Dämmerung ein wundersames Netz über das leuchtende Gold legte, denn er zog nach Willkür die Strahlen hin und wider, und verwebte mit ihnen die Öffnung des Pokales ; sie gehorchten ihm und blieben, einer Bedeckung ähnlich, liegen, indem sie hin und wider webten und in sich selber schwankten. Als sie so gefesselt waren, beschrieb er wieder die Kreise um den Rand, die Musik sank wieder zurück und wurde leiser und leiser, bis sie nicht mehr zu vernehmen war, das leuchtende Netz zitterte wie beängstiget. Es brach im zunehmenden [191] Schwanken, und die Strahlen regneten tropfend in den Kelch, doch aus den niedertropfenden erhob sich wie eine rötliche Wolke, die sich in sich selbst in vielfachen Kreisen bewegte, und wie Schaum über der Mündung schwebte. Ein hellerer Punkt schwang sich mit der größten Schnelligkeit durch die wolkigen Kreise. Da stand das Gebild, und wie ein Auge schaute es plötzlich aus dem Duft, wie goldene Locken floß und ringelte es oben, und alsbald ging ein sanftes Erröten in dem wankenden Schatten auf und ab, und Ferdinand erkannte das lächelnde Angesicht seiner Geliebten, die blauen Augen, die zarten Wangen, den lieblich roten Mund. Das Haupt schwankte hin und her, hob sich deutlicher und sichtbarer auf dem schlanken weißen Halse hervor und neigte sich zu dem entzückten Jünglinge hin. Der Alte beschrieb immer noch die Kreise um den Becher, und heraus traten die glänzenden Schultern, und so wie sich die liebliche Bildung aus dem goldenen Bett mehr hervordrängte und holdselig hin und wider wiegte, so erschienen nun die beiden zarten, gewölbten und getrennten Brüste, auf deren Spitze die feinste Rosenknospe mit süß verhüllter Röte schimmerte. Ferdinand glaubte den Atem zu fühlen, indem das geliebte Bild wogend zu ihm neigte, und ihn fast mit den brennenden Lippen berührte; er konnte sich im Taumel nicht mehr bewältigen, sondern drängte sich mit einem Kusse an den Mund, und wähnte, die schönen Arme zu fassen, um die nackte Gestalt ganz aus dem goldenen Gefängnis zu heben. Alsbald durchfuhr ein starkes Zittern das liebliche Bild, wie in tausend Linien brach das Haupt und der Leib zusammen, und eine Rose lag am Fuß des Pokales, aus deren Röte noch das süße Lächeln schien. Sehnsüchtig ergriff sie Ferdinand, drückte sie an sei nen Mund, und an seinem brennenden Verlangen verwelkte sie, und war in Luft zerflossen.

»Du hast schlecht dein Wort gehalten«, sagte der Alte verdrüßlich, »du kannst dir nur selber die Schuld beimessen.« Er verhüllte seinen Pokal wieder, zog die Vorhänge auf und eröffnete ein Fenster; das helle Tageslicht brach herein, und Ferdinand verließ wehmütig und mit vielen Entschuldigungen den murrenden Alten.

Er eilte bewegt durch die Straßen der Stadt. Vor dem Tore setzte er sich unter den Bäumen nieder. Sie hatte ihm am Morgen gesagt, daß sie mit einigen Verwandten abends über Land [192] fahren müsse. Bald saß, bald wanderte er liebetrunken im Walde; immer sah er das holdselige Bild, wie es mehr und mehr aus dem glühenden Golde quoll; jetzt erwartete er, sie herausschreiten zu sehn im Glanze ihrer Schönheit, und dann zerbrach die schönste Form vor seinen Augen, und er zürnte mit sich, daß er durch seine rastlose Liebe und die Verwirrung seiner Sinne das Bildnis und vielleicht sein Glück zerstört habe.

Als nach der Mittagsstunde der Spaziergang sich allgemach mit Menschen füllte, zog er sich tiefer in das Gebüsch zurück; spähend behielt er aber die ferne Landstraße im Auge, und jeder Wagen, der durch das Tor kam, wurde aufmerksam von ihm geprüft.

Es näherte sich dem Abende. Rote Schimmer warf die untergehende Sonne, da flog aus dem Tor der reiche vergoldete Wagen, der feurig im Abendglanze leuchtete. Er eilte hinzu. Ihr Auge hatte das seinige schon gesucht. Freundlich und lächelnd lehnte sie den glänzenden Busen aus dem Schlage, er fing ihren liebevollen Gruß und Wink auf; jetzt stand er neben dem Wagen, ihr voller Blick fiel auf ihn, und indem sie sich weiterfahrend wieder zurückzog, flog die Rose, welche ihren Busen zierte, heraus, und lag zu seinen Füßen. Er hob sie auf und küßte sie, und ihm war, als weissage sie ihm, daß er seine Geliebte nicht wiedersehn würde, daß nun sein Glück auf immer zerbrochen sei.


Auf und ab lief man die Treppen, das ganze Haus war in Bewegung, alles machte Geschrei und Lärmen zum morgenden großen Feste. Die Mutter war am tätigsten so wie am freudigsten; die Braut ließ alles geschehn, und zog sich, ihrem Schicksal nachsinnend, in ihr Zimmer zurück. Man erwartete noch den Sohn, den Hauptmann mit seiner Frau und zwei ältere Töchter mit ihren Männern; Leopold, ein jüngerer Sohn, war mutwillig beschäftigt, die Unordnung zu vermehren, den Lärmen zu vergrößern, und alles zu verwirren, indem er alles zu betreiben schien. Agathe, seine noch unverheiratete Schwester, wollte ihn zur Vernunft bringen und dahin bewegen, daß er sich um nichts kümmere, und nur die andern in Ruhe lasse; aber die Mutter sagte: »Störe ihn nicht in seiner Torheit, denn heute kommt es auf etwas mehr oder weniger nicht an; nur darum biete ich euch alle, da ich schon auf so viel zu denken [193] habe, daß ihr mich nicht mit irgend etwas behelligt, was ich nicht höchst nötig erfahren muß; ob sie Porzellan zerbrechen, ob einige silberne Löffel fehlen, ob das Gesinde der Fremden Scheiben entzweischlägt, mit solchen Possen ärgert mich nicht, daß ihr sie mir wiedererzählt. Sind diese Tage der Unruhe vorüber, dann wollen wir Rechnung halten.«

»Recht so, Mutter!« sagte Leopold, »das sind Gesinnungen eines Regenten würdig! Wenn auch einige Mägde den Hals brechen, der Koch sich betrinkt und den Schornstein anzündet der Kellermeister vor Freude den Malvasier auslaufen oder aussaufen läßt, Sie sollen von dergleichen Kindereien nichts erfahren. Es müßte denn sein, daß ein Erdbeben das Haus umwürfe; Liebste, das ließe sich unmöglich verhehlen.«

»Wann wird er doch einmal klüger werden!« sagte die Mutter; »was werden nur deine Geschwister denken, wenn sie dich ebenso unklug wiederfinden, als sie dich vor zwei Jahren verlassen haben.«

»Sie müssen meinem Charakter Gerechtigkeit widerfahren lassen«, antwortete der lebhafte Jüngling, »daß ich nicht so wandelbar bin wie sie oder ihre Männer, die sich in wenigen Jahren so sehr, und zwar nicht zu ihrem Vorteile verändert haben.«

Jetzt trat der Bräutigam zu ihnen, und fragte nach der Braut. Die Kammerjungfer ward geschickt, sie zu rufen. »Hat Leopold Ihnen, liebe Mutter, meine Bitte vorgetragen?« fragte der Verlobte.

»Daß ich nicht wüßte«, sagte diese; »in der Unordnung hier im Hause kann man keinen vernünftigen Gedanken fassen.«

Die Braut trat herzu, und die jungen Leute begrüßten sich mit Freuden. »Die Bitte, deren ich erwähnte«, fuhr dann der Bräutigam fort, »ist, daß Sie es nicht übel deuten mögen, wenn ich Ihnen noch einen Gast in Ihr Haus führe, das für diese Tage nur schon zu sehr besetzt ist.«

»Sie wissen es selbst«, sagte die Mutter, »daß, so geräumig es auch ist, sich schwerlich noch Zimmer einrichten lassen.«

»Doch«, rief Leopold, »ich habe schon zum Teil dafür gesorgt, ich habe die große Stube im Hinterhause aufräumen lassen.«

»Ei, die ist nicht anständig genug«, sagte die Mutter, »seit Jahren ist sie ja fast nur zur Polterkammer gebraucht.«

»Prächtig ist sie hergestellt«, sagte Leopold, »und der Freund, [194] für den sie bestimmt ist, sieht auch auf dergleichen nicht, dem ist es nur um unsre Liebe zu tun; auch hat er keine Frau und befindet sich gern in der Einsamkeit, so daß sie ihm gerade recht sein wird. Wir haben Mühe genug gehabt, ihm zuzureden und ihn wieder unter Menschen zu bringen.«

»Doch wohl nicht euer trauriger Goldmacher und Geisterbanner?« fragte Agathe.

»Kein andrer als der«, erwiderte der Bräutigam, »wenn Sie ihn einmal so nennen wollen.«

»Dann erlauben Sie es nur nicht, liebe Mutter«, fuhr die Schwester fort; »was soll ein solcher Mann in unserm Hause? Ich habe ihn einigemal mit Leopold über die Straße gehen sehn, und mir ist vor seinem Gesicht bange geworden; auch besucht der alte Sünder fast niemals die Kirche, er liebt weder Gott noch Menschen, und es bringt keinen Segen, dergleichen Ungläubige bei so feierlicher Gelegenheit unter das Dach einzuführen. Wer weiß, was daraus entstehn kann!«

»Wie du nun sprichst!« sagte Leopold erzürnt, »weil du ihn nicht kennst, so verurteilst du ihn, und weil dir seine Nase nicht gefällt, und er auch nicht mehr jung und reizend ist, so muß er, deinem Sinne nach, ein Geisterbanner und verruchter Mensch sein.«

»Gewähren Sie, teure Mutter«, sagte der Bräutigam, »unserm alten Freunde ein Plätzchen in Ihrem Hause, und lassen Sie ihn an unserer allgemeinen Freude teilnehmen. Er scheint, liebe Schwester Agathe, viel Unglück erlebt zu haben, welches ihn mißtrauisch und menschenfeindlich gemacht hat, er vermeidet alle Gesellschaft, und macht nur eine Ausnahme mit mir und Leopold; ich habe ihm viel zu danken, er hat zuerst meinem Geiste eine bessere Richtung gegeben, ja ich kann sagen, er allein hat mich vielleicht der Liebe meiner Julie würdig gemacht.«

»Mir borgt er alle Bücher«, fuhr Leopold fort, »und, was mehr sagen will, alte Manuskripte, und, was noch mehr sagen will, Geld, auf mein bloßes Wort, er hat die christlichste Gesinnung, Schwesterchen, und wer weiß, wenn du ihn näher kennenlernst, ob du nicht deine Sprödigkeit fahrenlässest, und dich in ihn verliebst, so häßlich er dir auch jetzt vorkommt.«

»Nun so bringen Sie ihn uns«, sagte die Mutter, »ich habe schon sonst so viel aus Leopolds Munde von ihm hören müssen, daß ich neugierig bin, seine Bekanntschaft zu machen.

[195] Nur müssen Sie es verantworten, daß wir ihm keine bessere Wohnung geben können.«

Indem kamen Reisende an. Es waren die Mitglieder der Familie; die verheirateten Töchter, so wie der Offizier, brachten ihre Kinder mit. Die gute Alte freute sich, ihre Enkel zu sehn; alles war Bewillkommnung und frohes Gespräch, und als der Bräutigam und Leopold auch ihre Grüße empfangen und abgelegt hatten, entfernten sie sich, um ihren alten mürrischen Freund aufzusuchen.

Dieser wohnte die meiste Zeit des Jahres auf dem Lande, eine Meile von der Stadt, aber eine kleine Wohnung behielt er sich auch in einem Garten vor dem Tore. Hier hatten ihn zufälligerweise die beiden jungen Leute kennengelernt. Sie trafen ihn jetzt auf einem Kaffeehause, wohin sie sich bestellt hatten. Da es schon Abend geworden war, begaben sie sich nach einigen Gesprächen in das Haus zurück.

Die Mutter nahm den Fremden sehr freundschaftlich auf; die Töchter hielten sich etwas entfernt, besonders war Agathe schüchtern und vermied seine Blicke sorgfältig. Nach den ersten allgemeinen Gesprächen war das Auge des Alten aber unverwandt auf die Braut gerichtet, welche später zur Gesellschaft getreten war; er schien entzückt und man bemerkte, daß er eine Träne heimlich abzutrocknen suchte. Der Bräutigam freute sich an seiner Freude, und als sie nach einiger Zeit abseits am Fenster standen, nahm er die Hand des Alten und fragte ihn: »Was sagen Sie von meiner geliebten Julie? Ist sie nicht ein Engel?« – »O mein Freund«, erwiderte der Alte gerührt, »eine solche Schönheit und Anmut habe ich noch niemals gesehn; oder ich sollte vielmehr sagen, (denn dieser Ausdruck ist unrichtig) sie ist so schön, so bezaubernd, so himmlisch, daß mir ist, als hätte ich sie längst gekannt, als wäre sie, so fremd sie mir ist, das vertrauteste Bild meiner Imagination, das meinem Herzen stets einheimisch gewesen.«

»Ich verstehe Sie«, sagte der Jüngling; »ja das wahrhaft Schöne, Große und Erhabene, so wie es uns in Erstaunen und Verwunderung setzt, überrascht uns doch nicht als etwas Fremdes, Unerhörtes und Niegesehenes, sondern unser eigenstes Wesen wird uns in solchen Augenblicken klar, unsre tiefsten Erinnerungen werden erweckt, und unsre nächsten Empfindungen lebendig gemacht.«

Beim Abendessen nahm der Fremde an den Gesprächen nur [196] wenigen Anteil; sein Blick war unverwandt auf die Braut geheftet, so daß diese endlich verlegen und ängstlich wurde. Der Offizier erzählte von einem Feldzuge, dem er beigewohnt hatte, der reiche Kaufmann sprach von seinen Geschäften und der schlechten Zeit, und der Gutsbesitzer von den Verbesserungen, welche er in seiner Landwirtschaft angefangen hatte.

Nach Tische empfahl sich der Bräutigam, um zum letztenmal in seine einsame Wohnung zurückzukehren; denn künftig sollte er mit seiner jungen Frau im Hause der Mutter wohnen, ihre Zimmer waren schon eingerichtet. Die Gesellschaft zerstreute sich, und Leopold führte den Fremden nach seinem Gemach. »Ihr entschuldigt es wohl«, fing er auf dem Gange an, »daß Ihr etwas entfernt hausen müßt, und nicht so bequem, als die Mutter wünscht; aber Ihr seht selbst, wie zahlreich unsre Familie ist, und morgen kommen noch andre Verwandte. Wenigstens werdet Ihr uns nicht entlaufen können, denn Ihr findet Euch gewiß nicht aus dem weitläufigen Gebäude heraus.«

Sie gingen noch durch einige Gänge; endlich entfernte sich Leopold und wünschte gute Nacht. Der Bediente stellte zwei Wachskerzen hin, fragte, ob er den Fremden entkleiden solle, und da dieser jede Bedienung verbat, zog sich jener zurück, und er befand sich allein. »Wie muß es mir denn begegnen«, sagte er, indem er auf und nieder ging, »daß jenes Bildnis so lebhaft heut aus meinem Herzen quillt? Ich vergaß die ganze Vergangenheit und glaubte sie selbst zu sehn. Ich war wieder jung und ihr Ton erklang wie damals; mir dünkte, ich sei aus einem schweren Traum erwacht; aber nein, jetzt bin ich erwacht, und die holde Täuschung war nur ein süßer Traum.«

Er war zu unruhig, um zu schlafen, er betrachtete einige Zeichnungen an den Wänden und dann das Zimmer. »Heute ist mir alles so bekannt«, rief er aus, »könnt ich mich doch fast so täuschen, daß ich mir einbildete, dieses Haus und dieses Gemach seien mir nicht fremd.« Er suchte seine Erinnerungen anzuknüpfen, und hob einige große Bücher auf, welche in der Ecke standen. Als er sie durchblättert hatte, schüttelte er mit dem Kopfe. Ein Lautenfutteral lehnte an der Mauer; er eröffnete es und nahm ein altes seltsames Instrument heraus, das beschädigt war und dem die Saiten fehlten. »Nein, ich irre mich nicht«, rief er bestürzt: »diese Laute ist zu kenntlich, es ist die spanische meines längst verstorbenen Freundes Albert; dort stehn seine magischen Bücher, dies ist das Zimmer, in [197] welchem er mir jenes holdselige Orakel erwecken wollte; verblichen ist die Röte des Teppichs, die goldene Einfassung ermattet, aber wundersam lebhaft ist alles, alles aus jenen Stunden in meinem Gemüt; darum schauerte mir, als ich hieherging, auf jenen langen verwickelten Gängen, welche mich Leopold führte; o Himmel, hier auf diesem Tische stieg das Bildnis quellend hervor, und wuchs auf wie von der Röte des Goldes getränkt und erfrischt; dasselbe Bild lachte hier mich an, welches mich heut abend dorten im Saale fast wahnsinnig gemacht hat, in jenem Saale, in welchem ich so oft mit Albert in vertrauten Gesprächen auf und nieder wandelte.«

Er entkleidete sich, schlief aber nur wenig. Am Morgen stand er früh wieder auf, und betrachtete das Zimmer von neuem; er eröffnete das Fenster, und sah dieselben Gärten und Gebäude vor sich, wie damals, nur waren indes viele neue Häuser hinzugebaut worden. »Vierzig Jahre sind seitdem verschwunden«, seufzte er, »und jeder Tag von damals enthielt längeres Leben als der ganze übrige Zeitraum.«

Er ward wieder zur Gesellschaft gerufen. Der Morgen verging unter mannigfaltigen Gesprächen, endlich trat die Braut in ihrem Schmucke herein. Sowie der Alte ihrer ansichtig ward, geriet er wie außer sich, so daß keinem in der Gesellschaft seine Bewegung entging. Man begab sich zur Kirche und die Trauung ward vollzogen. Als sich alle wieder im Hause befanden, fragte Leopold seine Mutter: »Nun, wie gefällt Ihnen unser Freund, der gute mürrische Alte?«

»Ich habe ihn mir«, antwortete diese, »nach euren Beschreibungen viel abschreckender gedacht, er ist ja mild und teilnehmend, man könnte ein rechtes Zutrauen zu ihm gewinnen.«

»Zutrauen?« rief Agathe aus, »zu diesen fürchterlich brennenden Augen, diesen tausendfachen Runzeln, dem blassen eingekniffenen Mund, und diesem seltsamen Lachen, das so höhnisch klingt und aussieht? Nein, Gott bewahr mich vor solchem Freunde! Wenn böse Geister sich in Menschen verkleiden wollen, müssen sie eine solche Gestalt annehmen.«

»Wahrscheinlich doch eine jüngere und reizendere«, antwortete die Mutter; »aber ich kenne auch diesen guten Alten in deiner Beschreibung nicht wieder. Man sieht, daß er von heftigem Temperament ist, und sich gewöhnt hat alle seine Empfindungen in sich zu verschließen; er mag, wie Leopold sagt, viel Unglück erlebt haben, daher ist er mißtrauisch geworden, [198] und hat jene einfache Offenheit verloren, die hauptsächlich nur den Glücklichen eigen ist.«

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, weil die übrige Gesellschaft hinzutrat. Man ging zur Tafel, und der Fremde saß neben Agathe und dem reichen Kaufmanne. Als man anfing die Gesundheiten zu trinken, rief Leopold: »Haltet noch inne, meine werten Freunde, dazu müssen wir unsern Festpokal hier haben, der dann rundum gehn soll!« Er wollte aufstehen, aber die Mutter winkte ihm, sitzen zu bleiben; »du findest ihn doch nicht«, sagte sie, »denn ich habe alles Silberzeug anders gepackt.« Sie ging schnell hinaus, um ihn selber zu suchen. »Was unsre Alte heut geschäftig und munter ist«, sagte der Kaufmann, »so dick und breit sie ist, so behende kann sie sich doch noch bewegen, obgleich sie schon sechzig zählt; ihr Gesicht sieht immer heiter und freudig aus, und heut ist sie besonders glücklich, weil sie sich in der Schönheit ihrer Tochter wieder verjüngt.« Der Fremde gab ihm Beifall, und die Mutter kam mit dem Pokal zurück. Man schenkte ihn voll Weins, und oben vom Tisch fing er an herumzugehn, indem jeder die Gesundheit dessen ausbrachte, was ihm das Liebste und Erwünschteste war. Die Braut trank das Wohlsein ihres Gatten, dieser die Liebe seiner schönen Julie, und so tat jeder nach der Reihe. Die Mutter zögerte, als der Becher zu ihr kam. »Nur dreist!« sagte der Offizier etwas rauh und voreilig, »wir wissen ja doch, daß Sie alle Männer für ungetreu und keinen einzigen der Liebe einer Frau würdig halten; was ist Ihnen also das Liebste?« Die Mutter sah ihn an, indem sich über die Milde ihres Antlitzes plötzlich ein zürnender Ernst verbreitete. »Da mein Sohn«, sagte sie, »mich so genau kennt, und so strenge meine Gemütsart tadelt, so sei es mir auch erlaubt, nicht auszusprechen, was ich jetzt eben dachte, und suche er nur dasjenige, was er als meine Überzeugung kennen will, durch seine ungefälschte Liebe unwahr zu machen.« Sie gab den Becher, ohne zu trinken, weiter, und die Gesellschaft war auf einige Zeit verstimmt.

»Man erzählt sich«, sagte der Kaufmann leise, indem er sich zum Fremden neigte, »daß sie ihren Mann nicht geliebt habe, sondern einen andern, der ihr aber ungetreu geworden ist; damals soll sie das schönste Mädchen in der Stadt gewesen sein.«

Als der Becher zu Ferdinand kam, betrachtete ihn dieser mit Erstaunen, denn es war derselbe, aus welchem ihm Albert ehemals [199] das schöne Bildnis hervorgerufen hatte. Er schaute in das Gold hinein und in die Welle des Weines, seine Hand zitterte; es würde ihn nicht verwundert haben, wenn aus dem leuchtenden Zaubergefäße jetzt wieder jene Gestalt hervorgeblüht wäre und mit ihr seine entschwundene Jugend. »Nein«, sagte er nach einiger Zeit halblaut, »es ist Wein, was hier glüht!« »Was soll es anders sein?« sagte der Kaufmann lachend, »trinken Sie getrost!« Ein Zucken des Schrecks durchfuhr den Alten, er sprach den Namen Franziska heftig aus, und setzte den Pokal an die brünstigen Lippen. Die Mutter warf einen fragenden und verwundernden Blick hinüber. »Woher dieser schöne Becher?« sagte Ferdinand, der sich seiner Zerstreuung schämte. »Vor vielen Jahren schon«, antwortete Leopold, »noch ehe ich geboren war, hat ihn mein Vater zugleich mit diesem Hause und allen Mobilien von einem alten einsamen Hagestolz gekauft, einem stillen Menschen, den die Nachbarschaft umher für einen Zauberer hielt.« Ferdinand mochte nicht sagen, daß er jenen gekannt hatte, denn sein Dasein war ihm zu sehr zum seltsamen Traum verwirrt, um auch nur aus der Ferne die übrigen in sein Gemüt schauen zu lassen.

Nach aufgehobener Tafel war er mit der Mutter allein, weil die jungen Leute sich zurückgezogen hatten, um Anstalten zum Balle zu treffen. »Setzen Sie sich neben mich«, sagte die Mutter, »wir wollen ausruhen, denn wir sind über die Jahre des Tanzes hinweg, und wenn es nicht unbescheiden ist zu fragen, so sagen Sie mir doch, ob Sie unsern Pokal schon sonstwo gesehn haben, oder was es war, was Sie so innerlichst bewegte.«

»O gnädige Frau«, sagte der Alte, »verzeihen Sie meiner törichten Heftigkeit und Rührung; aber seit ich in Ihrem Hause bin, ist es, als gehöre ich mir nicht mehr an, denn in jedem Augenblicke vergesse ich es, daß mein Haar grau ist, daß meine Geliebten gestorben sind. Ihre schöne Tochter, die heute den frohesten Tag ihres Lebens feiert, ist einem Mädchen, das ich in meiner Jugend kannte und anbetete, so ähnlich, daß ich es für ein Wunder halten muß; nicht ähnlich, nein, der Ausdruck sagt zu wenig, sie ist es selbst! Auch hier im Hause bin ich viel gewesen, und einmal mit diesem Pokal auf die seltsamste Weise bekannt geworden.« Er erzählte ihr hierauf sein Abenteuer. »An dem Abend dieses Tages«, so beschloß er, »sah ich draußen im Park meine Geliebte zum letztenmal, indem sie über Land fuhr. Eine Rose entfiel ihr, diese habe ich aufbewahrt; sie [200] selbst ging mir verloren, denn sie ward mir ungetreu und bald darauf vermählt.«

»Gott im Himmel!« rief die Alte und sprang heftig bewegt auf, »du bist doch nicht Ferdinand?«

»So ist mein Name«, sagte jener.

»Ich bin Franziska«, antwortete die Mutter.

Sie wollten sich umarmen, und fuhren schnell zurück. Beide betrachteten sich mit prüfenden Blicken, beide suchten aus dem Ruin der Zeit jene Lineamente wieder zu entwickeln, die sie ehemals aneinander gekannt und geliebt hatten, und wie in dunkeln Gewitternächten unter dem Fluge schwarzer Wolken einzeln in flüchtigen Momenten die Sterne rätselhaft schimmern, um schnell wieder zu erlöschen, so schien ihnen aus den Augen, von Stirn und Mund jezuweilen der wohlbekannte Zug vorüberblitzend, und es war, als wenn ihre Jugend in der Ferne lächelnd weinte. Er bog sich nieder und küßte ihre Hand, indem zwei große Tränen herabstürzten, dann umarmten sie sich herzlich.

»Ist deine Frau gestorben?« fragte die Mutter.

»Ich war nie verheiratet«, schluchzte Ferdinand.

»Himmel!« sagte die Alte, die Hände ringend, »so bin ich die Ungetreue gewesen! Doch nein, nicht ungetreu. Als ich vom Lande zurückkam, wo ich zwei Monden gewesen war, hörte ich von allen Menschen, auch von deinen Freunden, nicht bloß den meinigen, du seist längst abgereist und in deinem Vaterlande verheiratet, man zeigte mir die glaubwürdigsten Briefe, man drang heftig in mich, man benutzte meine Trostlosigkeit, meinen Zorn, und so geschah es, daß ich meine Hand dem verdienstvollen Manne gab; mein Herz, meine Gedanken blieben dir immer gewidmet.«

»Ich habe mich nicht von hier entfernt«, sagte Ferdinand, »aber nach einiger Zeit vernahm ich deine Vermählung. Man wollte uns trennen, und es ist ihnen gelungen. Du bist glückliche Mutter, ich lebe in der Vergangenheit, und alle deine Kinder will ich wie die meinigen lieben. Aber wie wunderbar, daß wir uns seitdem nie wiedergesehen haben.«

»Ich ging wenig aus«, sagte die Mutter, »und mein Mann, der bald darauf einer Erbschaft wegen einen andern Namen annahm, hat dir auch jeden Verdacht dadurch entfernt, daß wir in derselben Stadt wohnen könnten.«

»Ich vermied die Menschen«, sagte Ferdinand, »und lebte [201] nur der Einsamkeit; Leopold ist beinah der einzige, der mich wieder anzog und unter Menschen führte. O geliebte Freundin, es ist wie eine schauerliche Geistergeschichte, wie wir uns verloren und wiedergefunden haben.«

Die jungen Leute fanden die Alten in Tränen aufgelöst und in tiefster Bewegung. Keines sagte, was vorgefallen war, das Geheimnis schien ihnen zu heilig. Aber seitdem war der Greis der Freund des Hauses, und der Tod nur schied die beiden Wesen, die sich so sonderbar wiedergefunden hatten, um sie kurze Zeit nachher wieder zu vereinigen.

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TextGrid Repository (2012). Tieck, Ludwig. Erzählungen und Märchen. Die Märchen aus dem Phantasus. Der Pokal. Der Pokal. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-56E0-4