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Die nachfolgende sehr alte symbolische Vision schließt sich wohl hier am passendsten an. Sie ist entnommen einer Aufzeichnung aus der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrh., welche sich in der Handschrift der ältesten Chronik des Klosters Rastede findet. Der oldenburgische Graf, von welchem die Vision handelt, ist vermutlich Konrad I., der Gründer des oldenburgischen Stadtrechts, der Schreiber ist ein Angehöriger des Klosters Rastede. – Es war einmal zu Oldenburg ein Graf, welcher durch seine Vögte den Bauern dieser Kirche sowohl in Stedingen als im Ammerlande gar manche Unbill zufügte. Auch säete er den Samen der Zwietracht zwischen Abt und Brüdern, ließ die Brüder, welche für den Nutzen und die Ehre der Kirche arbeiteten, gefangen setzen, und ging damit um, den Bauern Geld abzupressen. Und obwohl er von seinen vertrauten und getreuen Freunden öfter ermahnt wurde, abzustehen, gab er in seinem verstockten Gemüt seine Absicht doch nicht auf. Daher erbarmte sich die heilige Mutter Gottes, welche in allen Gefahren die getreueste Trösterin ist, der Diener dieses Ortes und beschwichtigte die Gewalttätigkeit des gedachten Grafen in solcher Art. – Es trug sich nämlich zu, daß ein frommer Priester, der aber nicht dieses Ortes war, zeitiger als gewöhnlich aufstand und seiner Andacht halber in die Kirche ging und dort vor Tagesanbruch seine Morgengebete sprach. Nach dem »Herr Gott dich loben wir« hielt er inne und verfiel auf seinem Sitze vor dem Altare in ein Sinnen. Wie er nun so da saß und über verschiedenes nachdachte, sah er drei Brüder unseres Klosters, die längst verstorben waren, in ihren Kapuzen herbeikommen, die stellten sich vor ihn und grüßten ihn bei Namen. Weil er aber allein war in der Kirche und wußte, daß jene längst tot waren, geriet er in nicht geringe Bestürzung. Nun sah er an der anderen Seite eben jenen[162] Grafen, mit köstlichen Kleidern angetan, auf einem Sessel neben dem Altare sitzen. Derselbe war umgürtet mit einem köstlichen Gürtel, und recht vor der Brust, wo der Gürtel geschlossen wurde, hatte er einen überaus köstlichen Stein, von dessen Glanze die ganze Kirche erleuchtet wurde. – Die Brüder schritten ehrerbietig und demütig vor den Altar, und einer von ihnen redete das Bildnis der heiligen Jungfrau, welches auf dem Altare stand, folgendermaßen an: »O Maria, die du bist die Mutter der Barmherzigkeit und die beständigste Helferin in aller Not, dir und deinem Sohne klage ich in der Bitternis meines Herzens und im Schmerze, daß jener Graf da unser Kloster in allen Dingen stört und hindert.« Der zweite Bruder aber sprach so: »O, Maria, Königin des Himmels und über alle Chöre der Engel wunderbar erhöht, dir klage ich, daß jener Graf unser Kloster in vielen Dingen geschädigt hat.« Der dritte Bruder aber sagte: »O Maria, die du aus deinem Schoße geboren, den alle Kreatur fürchtet, der Himmel und Erde und alles, was darinnen ist, geschaffen hat, dir klage ich, daß jener Graf da unser Kloster, das deinem Dienste und deiner Ehre bestimmt ist, also hindert und schädigt, daß es in kurzem, wenn nicht die Hand deiner Barmherzigkeit Hülfe bringt, vernichtet und zerstört werden muß.« Und das Bildnis antwortete und sprach also: »Ich will dieses Grafen Bosheit strafen!« Und es stieg von dem Altar, riß mit Heftigkeit jenen köstlichen Edelstein von der Brust des Grafen und schleuderte ihn auf das Pflaster der Kirche, daß er in tausend Stücke zersprang. Darob erhob sich der Graf; sein Antlitz wurde sofort schwarz und schauderhaft, und mit lautem Schrei und jämmerlichen Klagen schritt er aus der Kirche. Das Bildnis aber kehrte zurück und stellte sich auf den Altar. Hierauf verneigten die drei Brüder sich tief, sprachen demütig ihren Dank aus und schritten aus der Kirche, und nach ihrem Weggange schlugen die Türen der Kirche zu. – Der fromme Priester aber, welcher dies alles hörte und mit körperlichen Augen ansah, wurde in die größte Angst versetzt. Jener Graf aber fing sofort an zu kränkeln und ging binnen vierzehn Tagen in Raserei aus dieser Welt, ohne über das Heil seiner Seele irgend eine Bestimmung zu treffen. – Es hat uns jener Priester bei dem Leibe Christi, den er oft in seinen Händen getragen, geschworen, daß er dies alles, wie es niedergeschrieben ist, gesehen und gehört hat. Jene drei [163] Mönche aber, welche die Klagen über den Grafen vorbrachten, waren fromme und gottesfürchtige Männer gewesen und hatten in diesem Leben der heiligen Jungfrau mit großer Demut in diesem Kloster gedient. Und Gott weiß, daß wir alle ihr Leben kennen, dieweil sie in jedem guten Werke eifrige und treue Diener Gottes waren.