1. Die Berghalde
Veit Hugo Evaristus Almot war der einzige Sohn eines uralten, noch aus den Zeiten Laudons und Eugens stammenden Kriegers, der ebenfalls den Namen Veit Hugo führte, und welcher Krieger, nachdem er glücklich den Schwertern und Spießen der Türken entgangen war, zu letzt noch in bedeutend vorgerückten Jahren in die Gefangenschaft eines schönen Mädchens geriet, welcher er nicht entging; daher er das Mädchen zur Frau nahm, die selbe auf seinen Landsitz ins Hochgebirge führte und mit ihr sein Söhnlein Veit Hugo erzielte. Er lebte darnach noch eine Reihe von Jahren in die Zeit hinein, so daß ihm sogar sein liebes Weiblein, obgleich es viel jünger war als er, in die Ewigkeit vorausging, so wie ihm bereits alle Kameraden und Freunde vorausgegangen waren.
Ungleich vielen Kriegern seiner Zeit hatte er sich so viele wissenschaftliche und Staatsbildung eigen gemacht, als damals möglich war, und da er seinen Sohn selber unter richtete und erzog, weil er meinte, daß es niemand so gut zu tun vermöchte als er, so trug er alles, was er wußte, auf diesen über. Freilich wäre bei dem indessen vorgerückten Stande der Wissenschaften mancher andere gewesen, der den Unterricht weit besser hätte führen können als er; allein neben dem Unterrichte gab er seinem Sohne unversehens auch ein anderes Kleinod mit, welches ein Fremder nicht hatte geben können, nämlich sein eigenes einfältiges, metallstarkes, goldreines Männerherz, welches [119] Hugo unsäglich liebte und unbemerkt in sich sog, so daß er schon als Knabe etwas Eisenfestes und Altkluges an sich hatte, wie ein Obrist des vorigen Jahrhunderts, aber auch noch als Mann von zwanzig Jahren etwas so einsam Unschuldiges, wie es heut zu Tage selbst tief auf dem Lande kaum vierzehnjährige Knaben besitzen. Das Herz und seine Leidenschaften waren bei dem Vater schon entschlummert, daher blieben sie bei dem Sohne ungeweckt und ungebraucht in der Brust liegen, und er hatte von dem Vater sonst nichts geerbt als den Tag für Tag gleichen Frohsinn und die Freude an der Welt. Von der Mutter hatte er die ungewöhnliche Schönheit des Körpers und Antlitzes bekommen, die sie einst in ihrem Leben ausgezeichnet hatte, und diese Schönheit entwickelte sich an ihm, da er empor wuchs, so daß die Blicke aller Menschen mit Wohlgefallen an dem Knaben hafteten, und daß er als Jüngling, obgleich er selbst noch nichts anderes liebte als den Vater und die ganze Welt, doch an manchen Stellen, wohin der Himmel seines Auges leuchtete, bereits die heißeste Liebe entzündet hatte, davon er selber nie etwas wußte.
Als er auf diese Weise einundzwanzig Jahre alt geworden war, gab ihm der Vater ein Päckchen mit Goldstücken, einen Empfehlungsbrief, mehrere gute Lehren, und sagte, daß er mit allem diesem jetzt in die Hauptstadt gehen müsse.
»Veit,« sagte er, »du hast nun von mir genug gelernt, ich weiß nichts mehr weiter. Du mußt nun in die Welt gehen und auch das Deine tun. Gib diesen Brief da dem alten Feldobristen, auf den er lautet, er wird dir, wenn er noch lebt, an die Hand gehen; schau auf das Geld, wir haben nicht viel, aber was ein ehrlicher Mann braucht, werde ich dir immer senden; sieh zu, daß du noch etwas lernest, das dir gut tut, denn jetzt braucht man viel mehr als ehedem, weil die Welt aufgeklärter geworden ist; [120] dann, wenn du ausgelernt hast, mußt du auch, wie ich dir immer gesagt habe, auf der Erde etwas wirken – es sei, was es wolle, ich rede dir da nichts ein, aber gut muß es sein, und so viel, daß es einer Rede wert ist, wenn man einmal abends bei seinem eigenen Ofenfeuer beisammen sitzt, hörst du, Veit! – Dann kannst du in dein Haus zurückkommen, es trägt schon so viel, daß davon ein strenger Mann leben kann, und sein Weib auch, und eine Handvoll Kinder auch noch und mancher Gast dazu, der zu dir übers Gebirge steigt. So – jetzt geh und lasse den gesattelten Rappen nicht zu lange warten, ich konnte das nie leiden, mein Bruder, der Franz, dein Oheim, hat es immer getan, darum haben sie ihn auch bei Karlowitz niedergeschossen, weil er wieder zu spät aufgebrochen ist, wie sonst. Schreib oft, Veit, wenigstens jeden Monat einmal, und vergiß mich nicht, und sei kein Narr, wenn du einmal hörst, daß ich gestorben bin.«
Nach diesen Worten stand der Knabe, der schon wußte, daß er jetzt fort ziehen werde, und bereits dazu vollkommen ausgerüstet war, auf und ging an der Hand des Vaters, der ihn führte, aus dem Hause hinaus. Sie gingen rückwärts durch den Garten und an den Blumenbeeten entlang. Der Rappe stand am Gitter, von dem traurigen Knechte gehalten. Der alte Krieger wollte grimmig darein schauen, um sich selber zu Hilfe zu kommen; aber wie er dem Sohne, der bisher stumm und standhaft den Schmerz nieder gekämpft hatte, die Hand gab, und nun sah, daß dessen gute, junge und unschuldige Augen plötzlich voll Wasser anliefen, so kam auch in die starren, eisengrauen Züge des alten Mannes ein so plötzliches Zucken, daß er es nicht mehr zurück halten konnte. Er sagte nur die ganz verstümmelten Worte: »Dummer Hasenfuß«, und kehrte sich um, indem er heftig mit den Armen schlagend in den Garten zurück ging. Hugo sah es nicht mehr, wie der verlassene Mann, um sich seinem [121] Anblicke zu entziehen, in die allererste Laube hinein ging und dort die Hände über dem Haupte zusammen schlug: sondern er ließ sich von dem Knechte den Steigbügel halten, schwang sich auf und ritt mit fester Haltung den Berg hinab, weil er meinte, der Vater sche ihm nach; aber als er unten angekommen war und die Haselgesträuche ihn deckten, ließ er dem Herzen Luft und wollte sich halb tot weinen vor ausgelassenem Schmerze. Er hörte noch das Dorfglocklein klingen, wie es in die Frühmesse läutete, und neben ihm rauschte das grüne, klare Wasser des Gebirgsbaches. Das Glöcklein klang, wie es ihm zwanzig Jahre geklungen, der Bach rauschte, wie er zwanzig Jahre gerauscht – und beide Klänge gossen erst recht das heiße Wasser in seine Augen.
»Ob es denn«, sagte er gleichsam halblaut zu sich, »in der ganzen Welt einen so lieben Ort und einen so lieben Klang geben könne, und ob ich denn nur noch einmal in meinem Leben diesen Klang wieder hören werde!«
Das Glöcklein hörte endlich auf, nur der Bach hüpfte neben ihm her und rauschte und plauderte fort.
»Grüße mir den Vater und das Grab der Mutter,« sagte er, »du liebes Wasser.«
Aber er bedachte nicht, daß ja die Wellen nicht zurückflossen, sondern mit ihm denselben Weg hinaus in die Länder der Menschen gingen. – –
Fuhrleute mit krachenden Wägen begegneten ihm auf der Straße, der graue Gebirgsjäger mit dem Gemsbarte ging über den Weg. Herdenglocken klangen, der Tau glänzte auf den Bergen – Hugo ritt langsam aus einem Tale in das andere, und aus jedem derselben kam ihm ein Bächlein nach, und alle vereinten sich und zogen als größerer Bach mit ihm des Weges weiter – der Himmel wurde immer blauer, die Sonne immer kräftiger, und das Herz des Reisenden mit. Nachmittags, als ihm die straffe Gebirgsluft schon längst die letzte Träne von dem Auge [122] getrocknet hatte und seine Gedanken schon weit und breit wieder ihre Wege gingen, dauerte doch noch eine gewisse Weichheit und Sehnsucht fort, die ihm sonst fremd gewesen waren. Er suchte daher, als er seine erste Nachtherberge erreicht hatte, sogleich sein Lager, und entschlummerte todmüde, während in seinen Ohren Heimatglocken klangen und Heimatsbäche rauschten. In der ganzen Nacht hing das Bild des abwesenden Vaters vor den zugemachten Augen.
Desohngeachtet erwachte er am andern Morgen gestärkter und ruhiger, und jeder Tag, der da folgte, legte sein Körnlein dazu, bis er am Abende des sechsten Tages wohlgemut und staunend in die Herrlichkeit der Hauptstadt einritt.
Hier wußte er nun nicht, was er gleich beginnen sollte. Der einzige Empfehlungsbrief, den er mit bekommen hatte, nämlich der an den alten Feldobristen, war ihm unnütz; denn der Feldobrist war schon längstens gestorben, und so war er also mit sich allein. Das erste, was er vornehmen wollte, bestand darin, daß er sich irgendwo ein Stübchen miete, in dem er lebe, und die Dinge ansähe, wie sie hier sind, damit er erfahre, was er dann weiter zu erringen habe.
Mit dem Pferde, welches er mitgebracht hatte, war er gleich anfangs in eine große Verlegenheit gekommen. Es war zur Zeit, als er von Hause ging, nicht mehr Sitte, zu Pferde zu reisen, sondern der Reitpferde bediente man sich nur im Heere zum Dienste, und außer demselben, vorzüglich in der Stadt, bloß zu dem einen oder dem andern Spazierritte. Er war daher häufig angeschaut worden, wenn er so auf seinem Rappen die Straße dahin zog, und als er in die Hauptstadt gekommen war, waren alle Reitpferde schöner, waren alle ganz anders gesattelt und gezäumt als das seine, und überall, wo er um ein Zimmer für sich fragte, war kein Stall, in welchen er seinen Rappen hatte tun können. Er gab daher denselben, der [123] noch immer in dem Gasthofe, in welchem er abgestiegen war, weil er ihm von den Fuhrleuten seiner Gegend, die alle dort einkehren, empfohlen wurde, gestanden war, einem Fuhrmanne mit, der in das Tal seines Vaters zurück kehrte, und trug ihm auf, daß er den Rappen hinten an seinen Wagen anhängen, sehr gut auf ihn schauen und ihn von dem Wirtshause des letzten Dorfes aus nach dem Hause der Gebirgshalde senden möge, wo der Vater ist. Der Fuhrmann versprach alles, und Hugo nahm Abschied von dem Tiere.
In der ersten Woche seines Aufenthaltes in der großen Stadt hatte er eine Stube gefunden, wie er sie wünschte. Sie war zum Studieren abgelegen, und ihre zwei Fenster sahen doch auf ein paar grüne Bäume, wie er sie liebte, obgleich jenseits derselben sogleich wieder Mauern anfingen, die ihm zuwider waren. In diese Stube brachte er seine Sachen und richtete sich ein. Hier wollte er nun eine Tätigkeit anfangen, von der er wußte, daß sie seinem Vater eine große Freude machen könnte. Die Sache war so: als sie, nämlich er und sein Vater, zu lernen angefangen hatten und Hugo bereits schon bedeutende Fortschritte machte, brach die französische Revolution aus. Es bereiteten sich gemach die erschütternden Begebenheiten vor, die dann auf ein Vierteljahrhundert hinaus den Frieden der Welt zerstören sollten. Der alte Veit lebte gleichsam wieder jugendlich auf und ließ sich alle nur denkbaren Zeitungen auf das alte Gebirgshaus bringen. Der Knabe mußte sie ihm vorlesen, sie lebten Jahr nach Jahr diese Bewegungen durch, und als sie auf jene Zeit kamen, in welcher der fremde Eroberer unser Vaterland in Fesseln schlug und Hugo bereits zu einem Jünglinge aufzublühen begann – da entstand in beiden derselbe Gedanke, daß nämlich eines Tages die gesamte deutsche Jugend aufstehen werde, wie ein Mann, um die deutsche Erde gänzlich zu befreien.
[124]»Dieses Geschlecht«, sagte der alte Veit, »hat den Krieg noch nicht gesehen, es weiß also jetzt, da er da ist, nichts mit ihm anzufangen. Wenn ich nur nicht so alt wäre. Sie merken die große Schande nicht, daß sie immer geschlagen werden, und der Feind, der auch lange keinen Krieg gehabt hat, ist ebenfalls so töricht, diese Schande immer zu mehren und mit Worten größer zu machen, weil er sie für einen Triumph hält. Aber es kann nicht lange so dauern; wenn das Kraut fort wachsen wird, dann wird er sich über die Blume wundern, die ganz oben stehen wird. Sie muß Ingrimm heißen, diese Blume, und alle alten Sünden müssen getilgt werden, wenn es mit rechten Dingen zugehen soll. Wenn auch die Sünder selber nicht mehr leben, um auszubessern, so wird es die nachwachsende Jugend tun. – Wie wir damals mit dem alten und schon schwachen Eugenius an den Rhein rückten, unser sechzig, unser siebenzig Tausend, lauter blutjunge Bursche! – hätten sie uns damals Von Seite des Heiligen Römischen Reiches nicht so im Stiche gelassen – der alte Eugenius hat ohnehin mit uns Wunder gewirkt. Ich glaube, wenn solche sechzig oder siebenzig Tausend im Felde stünden, sie würden den Feind über die Grenze zurück werfen. Macht er es in seinem Übermute nur immer so fort, so werden schon mehrere aufstehen, man wird nicht wissen, woher sie gekommen sind, es werden ihrer mehr als sechzig und siebenzig Tausend sein, diese werden Taten tun – es wird eine Zeit sein, du kannst sie noch erleben, ich schwerlich –, sie werden es nicht mehr ertragen können, und der jetzt an der Zeche sitzt, der wird sehr bald und sehr fürchterlich dafür bezahlen müssen. Merke dir das, daß ich es gesagt habe, wenn es geschieht, und ich vielleicht schon im Grabe liege.«
Durch solche und ähnliche Worte entzündete er das arme Herz des Knaben, daß es sich in heimlicher und einsamer Glut abarbeitete, und dies um so mehr, da es sich von [125] den Dingen der Wirklichkeit auch keine entfernt ähnliche Vorstellung zu machen verstand. Als nach ein paar Jahren darauf der Krieg über ganz Deutschland flutete, obwohl man auf der Berghalde nie einen Feind gesehen hatte und das alte Haus wie manch andere Stelle im Gebirge gleichsam als eine Insel aus der Flut heraus ragte: faßte Hugo den Entschluß, wenn der Zeitpunkt gekommen wäre, daß sich Deutschlands Jugend gegen den Feind erhebe, auch hinaus zu gehen und sich in die Reihe der Krieger zu stellen. Er sagte zu seinem Vater nichts von diesem Gedanken. Denn wie die andern mit den kleinen Lastern und Begierden ihres Herzens, so war Hugo verschämt mit der Schönheit des seinigen. Jede Zeile, die er lernte, jeden veralteten Handgriff, den ihm sein Vater beibrachte, berechnete er schon auf jene Zeit. Als er nun von dem Hause Abschied nahm, in die Stadt reiste und die von ihm gemietete abgelegene Stube bezog, nahm er sich vor, in derselben alle kriegerischen Wissenschaften zu betreiben, nebstbei die Bekanntschaft von Männern aus dem Kriegerstande zu suchen, daß sie ihm an die Hand gingen, daß er sich nicht nur aus den Büchern wissenschaftlich, sondern durch Erlernung aller Handgriffe und Übungen auch tatsächlich unterrichtete – und wenn dann der Zeitpunkt der Erhebung gekommen wäre, von dem er eben so fest überzeugt war, daß er kommen müsse, wie sein Vater, würde er demselben schreiben, daß er sich seither für den Kriegerstand gebildet habe, und daß er sich nun dem Aufstande anschließe. Wenn dann die Tat der Befreiung, dachte er, von den vielen hunderttausend deutschen Jünglingen versucht worden und gelungen wäre, dann wolle er nach Hause gehen und wolle dem alten Vater alles auseinander setzen, was er gelernt habe, wie er sich vorbereitet habe, wie er eingetreten sei, was er getan habe, – und dann wolle er ihn fragen, ob dieses der Rede wert sei, wenn man abends einmal bei dem Ofenfeuer [126] beisammensitze – oder ob er noch hinaus gehen müsse, und noch etwas tun.
So wie Hugo mußten sich damals viele vereinzelte Jünglingsherzen, wenn auch nicht tatsächlich wie er, doch durch Erwägung der Frage, die zu jener Zeit noch ein Unding schien, vorbereitet haben, weil, da gleichwohl die Lösung derselben eintrat, die Flamme nicht ein Herz nach dem andern ergriff, sondern von allen, als hätte sie schon lange darinnen geglimmt, auf einmal und mit einer einzigen Lohe empor schlug.
Seinem Entschlusse gemäß begann nun Hugo in der gemieteten Stube seine wissenschaftlichen Arbeiten. Gleich in den ersten Tagen, in denen er sehr oft herum ging und öffentliche Orte besuchte, um etwa einen Bekannten zu erwerben, wie er ihn wünschte, machte er wirklich die Bekanntschaft eines Kriegers, die ihm von großem Vorteile war; denn derselbe gab Hugo nicht nur die Werke an, nach denen er seine Bildung beginnen solle, sondern er vermittelte auch bei seinen Obern und Vorgesetzten, daß Hugo nicht nur allen kriegerischen Übungen beiwohnen, sondern auch dieselben, wo es anging, persönlich mitmachen konnte. Hiedurch kam er in die Bekanntschaft fast aller höheren in der Hauptstadt befindlichen Krieger. Er sagte keinem von ihnen seinen eigentlichen Plan, sondern teilte nur das Allgemeine desselben mit, daß er sich nämlich zum Kriege gegen den Landesfeind vorbereite. Ob es einzelne gab, die ihn errieten, oder ob mehrere aus ihnen schon selber an eine Entscheidung der Art dachten, wie sie erst nach mehreren Jahren wirklich eintrat, können wir nicht sagen, weil er trotz des Umganges mit diesen Männern so einsam war, als säße er beständig und ausschließlich in seinem Stübchen, daher ihm der Aufenthalt in der Hauptstadt auch nicht im geringsten anzusehen war, als wäre er erst gestern abends von der Gebirgshalde gekommen.
[127] Das erkannte er gleich, daß er hier noch sehr vieles lernen müsse, und schrieb es auch dem Vater. Er schrieb ihm dazu, daß er die Kriegswissenschaften betreibe und sich auf diesem Felde auch tatsächlich und, wenn er diese Dinge heute oder morgen etwa einmal brauchen könnte. Der Vater antwortete in einem Schreiben, daß er über das, was der Sohn treibe, kein Urteil abgebe, daß er schon gesagt habe, er hätte Freiheit zu tun, wie er wolle, nur gut müsse es sein und einer Abendrede wert. Was ihm sonst Veit schriebe, wie man die Kriegsdinge jetzt anders betreibe, so sehe er wohl ein, daß die Wissenschaft des Krieges fortgeschritten sei und jetzt vieles besser ins Werk gestellt werden würde als zu seiner Zeit, aber die Manneszucht und die Tapferkeit sei heute nicht mehr so wie in seinen Tagen, das könne er durchaus nicht glauben.
Hugo richtete sich seine Stube zu seinen Zwecken ein. Das Vorstübchen war ganz leer, lag über dem Schwibbogen eines Tores und war daher zu den Fechtübungen sehr tauglich, die er sehr häufig mit seinem Meister und oft auch mit einem Kameraden anstellte. In der Stube selber hingen seine Scheibengewehre, seine andern Waffen und, wo noch Platz war, die Landkarten. Auf den vielen Tischen lagen die Bücher, die Pläne, Karten und andern Papiere. Bald, als er den Rappen nach Hause geschickt hatte, kaufte er sich ein anderes Pferd, weil ihm die Übungen in der Reitschule auf den Pferden des Bereiters nicht genügten, sondern weil er sie auf einem edlen, kräftigen, feurigen Pferde, das ihm eigen wäre, selber machen wollte, und weil er einen Rest seiner Zeit in die Pflege eines solchen edlen Pferdes teilen wollte. Er mietete einen Stall dafür, und obwohl es sein Diener in der Obhut hatte, ging er doch täglich hin und leitete die Wartung desselben. Der früheste Morgen – denn Hugo stand schon wenige Stunden nach Mitternacht auf – war den Studien gewidmet. Seine Zeit war strenge eingeteilt, dies hatte er [128] von dem Vater gelernt, und nur im Laufe des Vormittags und des Abends war eine Stunde oder etwas darüber zum Spazierengehen und zur Erholung bestimmt.
So lebte Hugo ein und ein halbes Jahr fort. Er dachte, er könne mit seinen Erwerbungen auf dem betretenen Felde zufrieden sein, als ein Brief kam und ihm den Tod seines Vaters meldete. Derselbe hatte also nicht mehr erlebt, daß ihm der Sohn die Freude mache, den geliebten Gedanken, den er im hohen Alter noch mit Jugendfeuer ausdachte, aus freiem Antriebe verwirklichen zu helfen, und wenn der Sohn in die Zukunft dachte und sich selber seine Pläne entwickelte, so war oft der Gedanke da, was der Vater dazu sagen werde, aber daß der Tod dieses Vaters eintreten könnte, das war nie in Rechnung gebracht. Hugo konnte also jetzt nichts tun, als auf der eingeschlagenen Bahn fort zu gehen, und wenn die Tat getan sei und sein Herz noch unter den Lebendigen schlage, auf das Grab des Vaters zu gehen, dort die Waffen nieder zu legen und zu fragen, ob die Tat einer Abendrede wert sei – schlägt aber das Herz nicht mehr unter den Lebendigen, dann, hoffe er, würde er doch auch an einen Ort kommen, wo er dem Vater selber sagen könnte, was er getan.
Er hatte das alte Haus geerbt mit den Erträgnissen der dazu gehörigen Felder, Wiesen und Wälder. Das Haus trug er dem noch lebenden Altknechte seines Vaters zur Verwaltung auf, bis er selber kommen werde. In der Stube hingen mehrere verrostete Waffen, die er befahl, daß man sie unberührt und unvermischt hängen lassen solle. Mit dem Briefe, der ihm den Tod des Vaters angezeigt hatte, war zugleich in einem Futterale ein altes Siegel angekommen, über das der Vater verordnet hatte, daß man es sogleich nach seinem Tode dem Sohne einhändigen solle. Er hatte zu Lebzeiten das Siegel immer bei allen seinen Briefen und bei allen andern Papieren und Urkunden, die eines Petschaftes bedurften, geführt. In [129] dem Fache des Siegels lag ein Blättchen Papier mit der eigenen Handschrift des Vaters beschrieben. Das Feld des Siegels, dessen Stiel von kunstreicher Arbeit in Stahl war, trug mit sehr schönen klaren Buchstaben im Halbkreise herum die Worte: ›Servandus tantummodo honos‹, unterhalb des Bogens der Buchstaben war ein ganz blankes Schild, um die Reinheit der Ehre anzuzeigen. Denn die Familie Almot war nicht von Adel und hatte kein Wappen. Auf dem dem Siegel beigelegten Papiere stand, daß ihm der Vater hier das Siegel Übergebe, das man immer in der Familie geführt habe, und daß er ihm die Worte, die darauf stünden, auf das beste empfehle; denn so lange der Sinnspruch desselben befolgt werde, ist nichts verloren, und man steht vor sich selber und den anderen gerechtfertigt und untadelig da.
›Ja‹, dachte Hugo, ›das will ich unabänderlich befolgen: so lange ich lebe, soll kein Makel an mein Herz und meine Ehre kommen, es soll kein einziger sein, der etwas Schimpfliches über mich zu sagen wüßte, und vor allen andern soll ich selber nicht der einzige sein, der eine geheime Schuld hätte und sich dieselbe erzählen könnte. Ich will eine große und nützliche Tat tun helfen, und erst dann, wenn ich mein eigenes Gewissen befragt habe, ob es genug sei, und wenn mein eigenes Gewissen geantwortet hat: wenn der Vater lebte, würde er es einer Rede des Abends für wert halten – dann werde ich nach Hause gehen, das alte Haus in meine Obsorge nehmen und alle die behüten, die mir untergeben sind und ein Recht haben auf meinen Schutz und meine Verwaltung.‹
Mit dem großen Schmerze in dem Herzen ging er an die Fortsetzung seiner Arbeiten und Bestrebungen. Sie zeigten ihm bald eine neue Seite. Waren sie ihm früher nur Beruf und Mittel zum Ziele gewesen, so wurden sie ihm nun eine Art Trost, gleichsam ein unsichtbares Band mit dem Verstorbenen, der auch diesem Stande angehört hat [130] und den Kreis dieser Dinge bald ganz, bald zum Teile gleichsam mit hinüber in die Ewigkeit gezogen hat. Er arbeitete sehr fleißig, und erst jetzt setzte er seine Studien mit der wahren und rechten Begeisterung fort.
Fast zwei Jahre waren seit dem Tode des Vaters wieder verflossen. Hugo blieb in der Stadt rein und stark, wie eine Jungfrau; denn in dessen Busen ein Gott ist, der wird von den Niedrigkeiten, die die Welt hat, nicht berührt. Obwohl er nun schon im vierten Jahre in der großen Stadt war, lag ihm das Herz noch so einsam in seiner Brust, wie einst auf der Gebirgshalde – nur daß es ihn zuweilen, wenn er auf den Höhen um die große Stadt herum schweifte, wie Heimweh überkam, oder wie eine traurige Sehnsucht. Er hielt es für Tatendurst; in Wahrheit aber war es, wenn er so die Landschaft übersah, ein sanftes Anpochen seines Herzens, das da fragte: ›Wo in dieser großen Weite hast du denn die Sache, die du lieben kannst?‹ – – Aber die Sache hatte er nicht, der Mahnung achtete er nicht, und so schleiften die Stunden hin, höchstens, daß er in solchen Augenblicken nieder saß und an seinem Tagebuche schrieb, das, sonderbar genug, in lauter Briefen an den toten Vater bestand. Anders wußte sich seine Liebe nicht zu helfen; wie hold Mutterliebe sei, hatte er nie erfahren, und wie süß die andere, davon ahnete ihm noch nichts, oder, wenn man es so nimmt, die Briefe an den Vater sind mißgekannte Versuche derselben.
Zu der Zeit, von der wir reden, übrigte er sich täglich auch ein paar Stunden ab, in denen er die schönen Wissenschaften trieb und Dichter und Geschichtschreiber las. Er las aber nur lauter heidnische Alte. Er hatte einen Mann kennen gelernt, der ein inniger Freund des mit Hugo gleiche Wege gehenden Körner war, von dem ihm damals nicht ahnete, daß er ihn so bald durch den Tod verlieren würde. Dieser Mann war ein schwärmender Verehrer [131] der Sprache der Griechen und Römer und führte Hugo in die Gebiete derselben ein und unterrichtete ihn sogar zum Teile darinnen. Hugos feste Einfalt, die er auf der Gebirgshalde bekommen hatte, stimmte vortrefflich mit der der Alten, er pries dieselben unsäglich und sagte: er wolle nun vorerst in dem Reiche derselben verbleiben, bis er es erschöpft und in sein Blut aufgenommen habe. Dann wolle er in das der Neueren übergehen und sehen, was denn diese auf demselben Felde hervorgebracht hätten.