Adalbert Stifter
Der Waldbrunnen

[638] Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt.

Das eine Mal ist es ein Zigeunermädchen gewesen, das andere Mal eine junge Frau. Die Sache ist so gekommen. Da ich schon in einem Amte war und eines Tages in Dienstessachen nach dem kleinen Orte Neukirchen fahren mußte, fand ich, da ich auf der Wirtshausgasse des Ortes aus dem Wagen stieg, dort ein Gedränge. Drei einspännige Wagen standen da, jeder mit einem mageren Pferde bespannt und mit einem Leinwanddache überwölbt, und zwischen ihnen lagen allerlei seltsame Dinge: bunte Stäbe, Pfannen, runde Krüge, krumme Hackmesser, Kesselpflöcke, zwei Handtrommeln und noch mehr anderes. Um diese Dinge trieben sich Zigeuner herum: Männer und Weiber so schwarz wie der Mohrenkönig auf alten Bildern der heiligen drei Könige, in Trachten verschiedener Zeiten und Länder gekleidet, feurig an Farbe, ganz oder zerrissen, und dabei schrien sie, als keiften sie, in der Angelegenheit des Abfahrens oder des Ankommens begriffen. Neben der Tür des Gasthauses aber, zu der ich mir mühsam einen Weg bahnte, um mir für die Zeit, wann ich mit meinem Amtsgeschäfte fertig sein würde, ein Mittagmahl zu bestellen, stand ruhig, als ginge sie das alles nichts an, ein Mädchen der Zigeuner, und ich, [638] der ich doch bereits in die reifenden Jahre trat, prallte fast zurück, als ich das Mädchen sah. Das war die schönste Menschengestalt, die sich je in meinen Augen gemalt hatte. Der Oberkörper war in ein rötlich braunes, ausgebleichtes Zeug gehüllt, das so dünn war, daß man alle Gestaltungen durch dasselbe verfolgen konnte, und aus dem noch überdies die Arme von den Achseln an ganz nackt herabgingen. Von den Hüften war ein Rock mit gelben und roten Streifen bis über die Kniee hinunter, der aber die Schwingungen der Gestalt vollkommen erkennen ließ. Die Füße waren nackt. Von dem wolkigen Stoffe des Oberkörpers hingen allerlei mit den grellsten Farben gefärbte Bänder und Schnüre und Flechtwerke herunter. Das Angesicht hatte die einfachsten Linien. Die Nase war gerade, die Lippen waren kräftig, die Augen waren sehr groß und so schwarz, wie weder schwarzer Sammet oder Kohle oder Rabengefieder oder irgend etwas anders in der Welt schwarz ist. Die Haare hatten dieselbe Farbe und schlangen sich in wunderlichen Knäueln mit Schleifen und hellen Flittern über den Nacken auf den Rücken hinunter. Die Farbe des Körpers, gelbbraun wie ältliches Erz, stand sehr gut zu den schreienden Farben der Bänder und zu dem Ebenmaße der Glieder, daß, wenn diese Gestalt genau, wie sie ist, gegossen gewesen wäre, sie das schönste menschliche Standbild geworden wäre, das hervorzubringen ist, und daß alle Völker in Bewunderung vor der Schönheit dieses Kunstwerkes hätten knieen müssen, obwohl in dem Abgusse der Glanz der Augen gefehlt hätte. Ein Maler wäre nicht im Stande gewesen, die Gestalt zu malen, weil er das sanfte Rund der Glieder nicht zuwege gebracht hätte. Ich dachte, da ich das Mädchen sah, daß keine Regelmäßigkeit der Kristalle, keine Pracht einer Pflanze, so herrlich sie sei, kein edles Tier, und wenn es das schlankste, kräftigste, feinste Wüstentier ist, so schön zu sein vermöge wie ein Mensch.

[639] Den Ernst in den Mienen des Mädchens würde ich dem Ernste der sixtinischen Madonna vergleichen, wenn ich nicht eine Ungerechtigkeit beginge; denn das Mädchen war schöner als die raphaelische Madonna. In den Standbildern der Griechen, die auf uns gekommen sind, und auf den Tafeln aller Maler ist diese Gestalt nicht vorhanden. Von der Stimme des Mädchens konnte ich nichts vernehmen; denn es gab, während ich da war, keinen Laut von sich. Auch machte es keine Bewegung, und nur bei dem Blinken der Augen sah ich die Regung der Wimpern. Neben dem Mädchen stand in der Haustür der Wirt mit dem großen Bauche, der grünen Weste, der schwarzen Haube und den weißen Hemdärmeln, und fragte mich, was mir zu Befehl sei. Ich sagte ihm, daß ich um zwölf Uhr essen kommen werde, und daß er mir dann geben möge, was er habe. Ich sagte sonst nichts und betrachtete das Mädchen; aber nur kurz, denn da man mich hatte ankommen sehen, so sendete man mir sofort die Botschaft, die anderen Herren warteten schon auf mich in dem Pfarrhofe. Ich ging also in den Pfarrhof, und später an das, was in Neukirchen meines Amtes war. Um drei Uhr des Nachmittages kam ich erst in den Gasthof zurück; denn wir hatten sämtlich das Mittagessen bei dem Pfarrer einnehmen müssen. Der Platz vor dem Gasthause war jetzt ganz leer. Ich trank nun weniger des Durstes als des Wirtes wegen ein Glas Wein, fragte flüchtig um die Zigeuner, hörte, daß sie fort seien, ließ meine Pferde vor den Wagen spannen, saß ein, und rollte dann auf meinem Heimwege dahin, an die Gestalt des Mädchens denkend, und erwägend, ob sie denn so schön gewesen sei wie die der jungen Frau, welche ich vor Jahren auf dem Rigi gesehen hatte. Ich fuhr an grünen Bäumen und zwischen grünen Wiesen und Feldern meines Weges und kam nach Hause.

Ich erzählte meiner Frau von dem Vorfalle, und erzählte ihr auch von der jungen Frau.

[640] Ich war nämlich noch ein Schüler der Rechtsschule gewesen, als ich eines Tages mit einem Ränzlein auf dem Rücken, einer kleinen Haube auf dem Kopfe und einem Knotenstocke in der Hand den Rigi emporstieg. Es waren unser fünf, sämtlich aus derselben Schule und gleich ausgerüstet. Wir verbrachten die Nacht auf dem Berge, und am Morgen waren wir mit anderen Leuten auf einer Aussicht. Da stand eine Frau in einem schwarzen Gewande. Sie trug einen kleinen weißen Fächer in der Hand, am Halse ragte eine schmale weiße Krause aus dem schwarzen Gewande hervor, und auf dem Haupte hatte sie einen runden, gelben, sehr feinen Florentiner Strohhnt. Manche Menschen des Berges sahen auf die Frau. Die ungemein großen Augen waren schwärzer als das schwarze Gewand, so waren auch die reichen Haare unter dem Florentiner Hute, die Zähne waren weißer als die Krause und der Fächer, und für die Gestalt war nichts da, womit man sie hätte vergleichen können. Sie war hoch; aber wäre sie um eine Linie höher gewesen, so wäre sie nicht mehr so schön gewesen, und wäre sie um eine Linie niedriger gewesen, so wäre sie auch nicht mehr so schön gewesen. Damals waren Frauengestalten noch Gestalten, nicht wie jetzt häßliche Kleiderhaufen. Sanft baute sich die Gestalt empor, wenn sie sich regte, so war die Bewegung weich und geltend. Die Menschen sagten, ihre Augen erscheinen nur so leuchtend und ihre Zähne nur so weiß, weil die Farbe ihres Angesichtes ungewöhnlich dunkel sei, dunkler, als sich mit Schönheit verträgt; aber gerade, weil in das Rosenrot ihrer Wangen ein wenig Bräunlichschwarz gemischt war, glich die feine Wölbung dieser Wange so sehr der zarten Führung des schönsten uralten Standbildes. Bei dieser Frau war ein Mann, der nur wenig größer war als sie, und braune Augen und Haare hatte. Die Leute sagten, dieses Paar sei schon eine Woche in der Herberge des Rigi. Wir blieben den ganzen [641] Tag auf dem Berge, und an diesem Tage sahen wir und andere öfter auf die schwarze Frau, obwohl auch Mädchen da waren, von denen man sagen konnte, daß sie sehr schön seien. Ein alter Kaufmann aus Augsburg erzählte uns, daß er heraus habe, daß die Frau wunderbare kleine Gedichte mache; aber niemand habe eines dieser Gedichtchen gesehen oder gehört, und er auch nicht. Er zeigte uns ihren und ihres Mannes Namen in dem Einschreibbuche der Herberge. Der Name der Frau stand mit einer klaren Handschrift da; aber keines der wunderbaren Gedichtchen war dabei. Ich habe den Namen später wieder vergessen. An dem Tage, den wir auf dem Berge verbrachten, habe ich die Frau mit ihrem Gatten wandeln sehen, ich habe sie auf einem Steine sitzen sehen, ich habe sie in dem Gesellschaftssaale gesehen, und ich habe sie sprechen hören. Als der nächste Morgen graute, gingen wir fünf Wandergesellen wieder den Berg hinunter. Da sagte Froschhäuser, einer der Kameraden: »Diese schwarze Frau sollte man nach München schaffen, und dort sollte sie in Ton gebildet und dann in Erz gegossen und in Marmor gehauen werden, daß die Welt erführe, was Schönheit sei.«

»Dann wäre nicht vorhanden,« antwortete ich, »wie sie die schwarzen Augen gegen ihren Gemahl aufschlägt und klare Worte spricht.«

»Und ich«, sagte Kreidenberger, ein anderer der Wandergesellen, »würde auf einem Schermesser von Schwabach nach Rom reiten, wenn ich dadurch diese Frau, falls sie noch ein Mädchen wäre, zu meinem Weibe gewinnen könnte.«

»Und wenn du auf dem Schermesser von Schwabach nach Rom und von Rom nach Schwabach geritten wärest,« sagte Grünfeld, ein dritter der Wanderer, »so möchte sie dich nicht, wenn sie in den runden Kreis deines Angesichtes blickte.«

[642] »Wohl,« sagte Kreidenberger, »wenn ich meine Redegabe anwenden würde.«

»Streitet nicht,« sagte ich, »das ist jetzt gar nicht mehr anszumitteln.«

Aber sie stritten fort.

»Und wer weiß, was ich tue«, sprach Kreidenberger. »Ich suche die Frau auf, lasse meine Worte fliegen, und wende sie von ihrem Manne zu mir.«

»Schlagt ihn tot,« schrie Kindinger, der vierte der Wandergesellen, »jetzt ist er toll, und es kann ein Unglück geschehen.«

Und so stritten und redeten sie fort, und redeten viele Tage, da wir noch in manchen Gegenden der Schweiz herumgingen.

Was würde denn Froschhäuser, was Kreidenberger, was Grünfeld und Kindinger, die jetzt auch mit langen Amtsschriftenbündeln wirtschaften, wie ich, sagen, wenn sie das Zigeunermädchen gesehen hätten?

Meine Gattin bemerkte, ich hätte wirklich Unglück, da ich alle Male meine Götterbilder unter den Frauengestalten finde, deren Farbe an die des Glockenmetalles erinnere, wenn es nicht mehr ganz neu sei.

»Und doch habe ich das rosigste Mädchen mit der feinsten Farbe geehlicht,« antwortete ich, »das Mädchen, welches ich damals für das schönste in Wien erklärte.«

»Aber so schön doch nicht wie die Zigeunerin und wie die andere, welche vielleicht von Zigeunern abstammt?« fragte sie.

»Höre mich, mein holdes Kind«, antwortete ich. »In dem Baue der Glieder, denke ich, bist du nicht so schön wie das Zigeunermädchen und die schwarze Frau; aber sonst bist du weit schöner, und mir bist du die schönste und reizendste auf der Welt.«

»Und wie alt waren denn deine Schönheitsgrößen, als du sie erblicktest?« fragte sie.

[643] »Daran habe ich wirklich nicht gedacht«, antwortete ich. »So weit ich mich zurückerinnere, mochte die schwarze Frau damals auf dem Rigi zweiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt gewesen sein, sie mochte auch jünger gewesen sein; denn solche dunkle Frauen sehen in ihrer Jugend immer älter aus, und das Zigeunermädchen von heute möchte ungefähr siebenzehn Jahre alt sein.«

»Und was hast du denn mit dem Zigeunermädchen gesprochen?« fragte sie.

»Gesprochen? Ich habe mit dem Mädchen gar nicht gesprochen,« antwortete ich, »daran habe ich auch nicht gedacht, ich habe nur die Gestalt angeschaut und um ihr Wesen mich nicht bekümmert; denn an Seele gibt es nichts Schöneres als dich, und da suche ich nicht weiter herum.«

»Nun, so sei dir, wenn es so ist, verziehen,« erwiderte sie, »daß du unter Zigeunern und Malaien schönere Gestalten findest, als deine Frau ist.«

Und ein recht freundlicher Kuß, um den ich bat, bekräftigte die Verzeihung.

Und wie es in der Welt Ereignisse gibt: eine Zeit nach diesem Versöhnungskusse erfuhr ich folgende Begebenheit.

Einmal fuhr ein alter Mann mit zwei jungen Begleitern in einem leichten Wagen sitzend auf der Straße, welche von Passau mitternachtwärts gegen den Ort Freiung fahrt, dem genannten Orte und dem bairischen Walde entgegen. Nicht weit von Freiung ließ er den Wagen an einem einzeln gelegenen Gasthofe halten und stieg mit seinen Begleitern aus. Er bestellte für Menschen und Pferde ein Mittagmahl, und sagte dann: »Jetzt, Kinder, gehen wir ein wenig im Grünen herum, bis unser Essen in Bereitschaft ist.«

Und sie gingen von der Straße einen Rain entlang, der zwischen die Felder führte.

[644] Die drei Menschen waren der alte Mann, ein Knabe und ein Mädchen. Der alte Mann hatte einen grauen Filzhut, einen grauen Rock und graue Beinkleider, der Knabe einen grauen Strohhut und eine grauleinene Bekleidung, das Mädchen ein graues Strohhütlein und ein graues Faltenröcklein aus Ziegenhaaren. Der alte Mann hatte weiße Haare, braune Augen, ein gut gefärbtes Angesicht und einen weißen Stutzbart. Die Kinder hatten braune Locken und braune Augen und rosige Angesichter, die fast eins wie das andere waren.

»Siehst du, Franz, und siehst du, Katharina,« sagte der alte Mann, da sie an dem Felde hin gingen, »ich habe absichtlich dieses Gasthaus Fendelsberg zu unserem Mittagsessen erwählt, damit ich euch den Wald, zu dem wir fahren, zeigen kann, weil man ihn auf unserem Wege nirgends so gut sieht. Da liegt er nun vor uns. Wenn die Sonne so lieblich scheint wie heute, seht nur, wie blau er nach einander dahin geht an dem lichteren und noch blaueren Himmel, und wie so schön die Felder und Wiesen und die Wäldchen herwärts von ihm gegen uns schreiten und so hold gefärbt sind. Alles ist still in dem sanften Dufte, und so geht er dort links, wohin wir nicht mehr sehen können, noch immer fort, daß du zehn oder fünfzehn oder zwanzig Tage wandern könntest, Franz, ehe du ihn auswandertest. Und so liebe weiße Häuschen, wie das ist, in welches ich euch führen will, liegen an der ganzen langen Länge hin, und auch andere sind dort, nicht weiß, sondern braun, weil sie aus Tannenholz gemacht sind, das sich in der Sonne so gefärbt hatte. Und auf den Dächern der Häuschen liegen große graue Steine. Und noch kleinere Häuschen sind dort, winzig kleine, in denen sehr arme Leute wohnen. Wir können hier keines der Häuschen sehen, weil der ferne blaue Wald so groß ist und die Häuschen so klein. Der große Wald geht, weil er so entfernt ist, so stumm dahin und dahin.«

[645] »Fahren wir da gerade auf den Wald zu?« fragte der Knabe.

»Nein, mein Kind,« antwortete der alte Mann, »siehst du dort rechts hinter dem Berge einen Turm hervorragen? Das ist der Kirchenturm eines großen Ortes, den man Waldkirchen nennt. Auf diesen Ort fahren wir zu. Und siehst du weit hinter Waldkirchen den Bühel von dem Rande des blauen Waldes emporragen?«

»Ich sehe ihn, Großvater«, sagte der Knabe.

»Das ist der Fels der drei Sessel, der über alle Bäume emporragt,« sagte der alte Mann, »und von diesem Felsen gerade herab, wo der Wald aufhört, ist die Stelle, zu der wir gehen.«

»Kommen wir noch heute hin, Großvater?« fragte das Mädchen.

»Nach fünf Stunden, wenn wir von diesem Gasthause weggefahren sind,« antwortete der alte Mann, »und da bekommt ihr unter Weges noch eine gute Milch in einem Hause, das Jandelsbrunn heißt.«

»Wie freue ich mich auf die Milch und auf den blauen Wald,« sagte das Mädchen, »ich habe noch gar keinen blauen Wald gesehen.«

»Wenn du hinkommst, ist er grün«, sagte der alte Mann. »Alle Wälder sind ja grün, Katharina«, sagte der Knabe. »So schimmert er nur blau?« fragte das Mädchen.

»Wie alle Höhen in der Ferne«, sagte der alte Mann. »Und der Wald, wenn ihr in ihm herumgehen werdet, hat köstliche Dinge in sich. Da ist der ganze Boden, auf dem er steht, ein ungeheurer zerklüfteter Stein, ein Stein, der Hunderte von Meilen lang ist, viele Meilen breit und manche Meile tief. Er hat Risse und Spalten und Gänge und Öffnungen, in welche die Wurzeln der Bäume eindringen, und über welchen der schwarze Boden liegt, auf dem die Gräser und Blumen und Beeren des Waldes wachsen. Und das Wasser, welches von den Wolken des Himmels [646] niederregnet, sinkt hinein und sinkt immer tiefer, und sinkt tiefer, und reinigt sich und sammelt sich in dem Steine wie in einem blanken Kruge, weil der Stein fest ist wie eine glatte Schale. Und dann quillt es irgendwo hervor und macht ein kleines Bächlein, oder in der Steinmulde ein Brünnlein, so hellen Wassers, daß du nicht weißt, wo die Luft aufhört und das Wasser anfängt, und ein Wasserfädlein rinnt von der Mulde fort, und tausend Wasserfädlein rinnen, und überall rieselt es emsig und still, und das Rieselnde findet sich zusammen, und es rauscht dann in der Tiefe, und die vielen, vielen Bäche gehen in die Länder hinab. Und dieses Wasser gibt allen Wesen, selbst den Gräsern, Fröhlichkeit und Gesundheit, was das Wasser in den Ländern draußen, wo allerlei unreiner Boden ist, nicht geben kann. Und die Luft ist in den Höhen, die der Wald einnimmt, reiner, weil sie in allen Höhen reiner ist, und sie wird durch das Harz des Waldes und durch das Atmen seiner Millionen Blätter und Nadeln noch anmutiger und balsamreicher, daß sie eben so Fröhlichkeit und Gesundheit bringt wie das Wasser. Und wer beides, Fröhlichkeit und Gesundheit, verloren hat, der erhält sie wieder, wenn er von diesem Wasser trinkt und von dieser Luft atmet. Darum gehe ich mit euch zu einem Brunnen, den ich in dem Walde weiß, und in die Luft, die um den Brunnen fließt.«

»Großvater, haben wir denn die Gesundheit und Fröhlichkeit verloren?« fragte das Mädchen.

»Du, meine Katharina, hast beides, und ich glaube, auch Franz hat beides«, sagte der alte Mann.

»Und hast du beides nicht, Großvater?« fragte der Knabe. »Ich glaube, ich habe es nicht«, sagte der Großvater.

»Und wodurch hast du denn die Fröhlichkeit und die Gesundheit verloren?« fragte der Knabe.

»Ich werde sie durch manche Dinge verloren haben, mein Kind,« antwortete der alte Mann, »die du nicht verstehst. [647] Ich bin freiwillig in ein Amt gegangen und bin dadurch schon in einer Zeit zu viel an einem Tische gesessen, als noch euer Vater und eure Mutter im Grase fröhlich herumsprangen, ich habe Kummer erlebt und werde Gesundheit und Fröhlichkeit auch verloren haben, weil ich Mangel an Liebe litt.«

»Daran hast du ja nicht Mangel,« sagte Franz, »dich lieben alle Menschen, und sagen es auch, dich lieben unsere Dienstleute, und sagen es auch, dich lieben die alten Männer, die oft zu uns kommen, darum kommen sie, dich lieben unsere Lehrer, sie haben es zu uns gesagt, und ich und Katharina lieben dich auch, so gut dich Susanna und Ludmilla lieben.«

»Die lieben mich alle, und ihr liebt mich auch,« sagte der Großvater, »und ich bin euch für eure Liebe sehr dankbar. Ihr habt diese, und ihr gebt mir die, die ihr habt.«

»Ja, das tun wir«, sagte Katharina.

»Ich bin auch einmal so ein Kind gewesen, wie ihr seid,« entgegnete der alte Mann, »und bin herangewachsen und habe mir Gespielen gesucht, und habe ihnen Gutes getan, indem ich mich aufopferte, und sie haben gedankt und sind fröhlich gewesen, und sind in die weite Welt gegangen. Ich habe eure Großmutter kennen gelernt, welche die Mutter eures Vaters gewesen ist, sie ist meine Ehefrau geworden, und hat mich sehr geliebt. Ich hatte ihr alles gegeben, was ich gehabt habe, ich habe ihr aufgeopfert, was mir lieb war, sie war mir sehr dankbar, ich wurde ihr Teuerstes auf der Welt; aber sie konnte nie tun, was gegen ihren Sinn und ihr Gemüt war, sie wußte es nicht, und kränkte mich. Endlich starb sie und nahm noch mit brechenden Augen von mir Abschied. Euer Vater ging zu eurer Mutter und hing sein Herz an sie. Beide sind viel zu jung gestorben. In meinem Amte sagten die Vorsteher oft, dieses und jenes sollte ich anders und besser tun, bis ich von dem Amte fortging. Und dann begannet [648] ihr heran zu wachsen und waret heiter und fröhlich um mich.«

»Und das hat dich doch nicht gekränkt, lieber Großvater?« sagte Katharina.

»Lasse das jetzt, mein Mädchen,« sagte der alte Mann, »und gehen wir nun zu dem Mittagessen. Sie werden euch etwas Gutes bereitet haben; denn ich habe es ihnen dringend aufgetragen.«

»Ja, gehen wir zu dem Essen«, sagte das Mädchen.

Und sie wendeten sich auf dem Raine um und betraten den Rückweg in das Gastbaus.

Nach einer Stunde waren auch die Pferde in Bereitschaft, sie wurden vor den Wagen gespannt, die Reisenden saßen ein, der Kutscher kletterte auf seinen Sitz, und sie fuhren auf der Straße weiter.

In einer kleinen Entfernung von dem Gasthause in Fendelsberg lenkte der Wagen von der großen Straße ab und fuhr rechts auf einem kleineren Wege gegen den Ort Waldkirchen. Sie fuhren durch Waldkirchen gegen Morgen, die Kinder bekamen in Jandelsbrunn die versprochene Milch, der Wagen rollte wieder weiter, abermals gegen Morgen, und nachdem noch zwei Stunden vergangen waren, hielt er vor einem Gasthause, auf welches der breite Wald in der Nachmittagssonne blau-schwarz dämmernd und viel größer als früher hiernieder sah.

»Wir sind an dem Ende unseres Fahrens, Kinder,« sagte der Großvater, »jetzt müssen wir ein wenig gehen.«

Sie stiegen aus. Der alte Mann machte die Anordnung, wohin das Gepäcke des Wagens gebracht werden sollte, und ging mit den Kindern fort. Sie gingen hinter dem Gasthause auf dem Pfade einer Wiese, die so weich wie Sammet war und in der Sonne glänzte, langsam empor. Sie gingen dem breiten Walde immer näher und sahen viele Wäldchen, welche wie Kinder des großen Waldes um ihn herum waren. Und hie und da stand ein Häuschen, [649] welches weiß war, wie der Großvater gesagt hatte, oder ein größeres Haus, oder auch ein braunes Holzhäuschen, oder ein winziges, wie es der Großvater beschrieben hatte. Kirschbäume standen an dem Wege, und auch sonst hie und da, andere Bäume standen überall herum, besonders Ahorne und Tannen, die Wanderer sahen in Rinnen hinab, in denen Wässer rauschten, und auf einem sehr grünen Flecke stand ein weißes Häuschen mit breitem Giebel und flachem Dache, auf welchem große Steine lagen.

Der Großvater wies auf das Häuschen und sagte: »Dort werden wir wohnen. Ich werde in dem glänzenden weißen Häuschen ein Zimmer haben, Franz wird ein Zimmerchen haben, Katharina wird ein Zimmerchen haben, und die Frau, welche uns bedienen wird, hat jetzt schon die Hinterstube. Ich habe niemanden als euch mitgenommen, daß wir gar nichts von der großen Stadt bei uns haben. Das Wasser des Waldes und die Luft des Waldes werden gut wirken. Eure Wangen werden noch rosiger und eure Augen werden noch glänzender werden.«

»Großvater, wirst du dann auch noch jemand haben, der dich liebt?« fragte Katharina.

»Das weiß ich nicht, mein Mädchen«, antwortete der alte Mann.

Sie waren zu dem Häuschen gekommen und in dasselbe gegangen. Es war, wie der Großvater gesagt hatte; die drei Zimmer waren mit Geräten versehen, und waren nett und reinlich. Die Kinder freuten sich darüber, und freuten sich, daß sie in die Wohnung gehen konnten, ohne über eine Treppe zu steigen. Die Frau, welche hier ihre Magd sein sollte, stand schon in weißer Schürze da. Das Gepäcke der Reisenden wurde gebracht und ausgepackt, die Abendsuppe wurde auf den runden Tisch gestellt, und der Großvater zeigte nur noch, ehe es [650] dämmerte, den Kindern den schönen Wasserstrahl, der hinter dem Häuschen gleichsam mitten aus dem Felsen wie Glas hervorschoß und sich in einem Felsenbecken sammelte, von dem dann ein winziges Bächlein weiter rann, dann wurde die Haustür gesperrt, die Fenstervorhänge wurden zugezogen, und alle gingen zur Ruhe.

Des andern Tages am frühesten Morgen, als sie die Milch und das Wasser, das ihnen von der Frau gebracht worden war, getrunken hatten, gingen die drei neuen Bewohner des Häuschens auf dem weißen Wege, der von unendlich vielen Sandkörnern glitzerte, neben dem tauigen Grase in das freie, weite Tal dahin. Der Großvater führte die Kinder gegen das Schulhaus der Waldhäuser, welches auf dem Anger unter lauter Kirschbäumen stand und auf allen Seiten von oben bis unten mit Schindeln bedeckt war. Sie hatten eine halbe Stunde bis dahin zu gehen gehabt. Der Unterricht hatte noch nicht begonnen. Der alte Mann führte die Kinder in die Stube des Lehrers und sagte zu diesem: »Ich bin Stephan Heilkun, der Besitzer von Heilkun und Thanau, und diese zwei sind meine Enkel, die Kinder meines verstorbenen Sohnes. Ich bin in diesen Wald gegangen, um hier im Sommer Luft, Wasser und Aussicht zu genießen. Der Schreiner, welcher sich abseits der Klafferstraße das größere Haus gebaut hat, ist so freundlich gewesen, mir das kleinere, in dem er früher gewohnt hat, für eine Zeit zu überlassen. Seine Muhme Crescentia ist meine Magd. Ich bin zu Euch gekommen, verehrter Herr Lehrer, weil Ihr der Schreiber der Waldgemeinde seid, Euch meine Ankunft und die Absicht meines Aufenthaltes dahier anzuzeigen. Den Vorsteher werde ich übermorgen am Sonntage besuchen, da ich bis dahin geordnet bin und den etwas weiten Weg zu ihm ohne Zeitversäumnis werde antreten können.«

»Mein hochedler und mein hochverehrter Herr,« antwortete [651] der Lehrer, »ich danke für die Anzeige und werde sie sogleich eintragen. Möge Euch und den Kindern der Aufenthalt in dieser wilden Gegend recht lieb sein.«

»Den Unterricht meiner Enkel werde ich selber fortsetzen,« erwiderte der alte Stephan, »sollte ich Eures Rates hier je bedürfen, so werde ich Euch darum bitten.«

»Mein Rat wird bei so lieben und schönen und wohlerzogenen Kindern kaum nötig sein,« entgegnete der Lehrer, »aber wo ich dienen kann, diene ich gern. Leider sind meine Gaben klein, und sie sind noch kleiner geworden, weil mich meine Vorgesetzten so lange in diesem unwirtbaren Waldwinkel bei so rohen Menschen gelassen haben.«

»Und könnt Ihr die Kinder dieser Leute nicht verbessern und veredeln?« fragte Stephan.

»Ja, wenn die Eltern nicht wieder alles verdürben,« antwortete der Lehrer, »die Kinder lernen Halsstarrigkeit und Bosheit. Da habe ich sogar ein Mädchen in der Schule, das aus Rohheit und Bosheit, obwohl es meiner Lehre schon fast entwächst, bisher noch kein Wort in der Schule gesprochen hat.«

»Das sollte doch kaum möglich sein«, sagte Stephan.

»Es ist möglich,« antwortete der Lehrer, »das Kind sitzt auf der zweiten Bank, und wenn ich es frage und liebreich zu ihm rede, zeigt es die Zähne und schaut mich mit häßlichen Augen an, und sagt gar nichts, und wenn ich seine Schrift oder sein Buch oder seine Rechnungstafel will, so hält es die Hand darauf und blickt noch abscheulicher. Ich will als vernünftiger Mann nicht Gewalt brauchen, sonst kömmt das Kind gar nicht mehr in die Schule und geht ganz zu Grunde. Auf der Gasse stößt und schlägt es die andern Kinder, oftmals steht es auf einem Felsen und streckt den Arm aus den Lumpen hervor und predigt, oder schreit sonst etwas, wenn auch gar [652] niemand dabei ist, der es hört, ja dann schreit es sogar am lautesten. Nicht einmal bei seiner Mutter will das Mädchen bleiben, die doch noch die ehrbarste ist, sondern hockt bei der verwahrlosten Großmutter in dem hölzernen Loche hinter der Hütte und höhnt die Großmutter, indem es ihr Tannenreiser in die weißen Haare steckt, oder Preißelbeeren, oder ihr einen Busch von Hahnenfedern auf das Haupt bindet. Es rennt oft in den Gräben herum und zerreißt Gebüsche und Kräuter. Öfter singt es mit der Großmutter.«

»Und hat denn dieses Kind in der Schule etwas gelernt?« fragte der alte Stephan.

»Ich sehe es mitlesen, wenn gelesen wird,« sagte der Lehrer, »wenigstens rührt es die Lippen, die Kinder sagen, daß es die Buchstaben recht macht und die Rechnungen aufschreibt. Sonst geht es aus Bosheit in die Schule, um da wild zu sein und zu trotzen. Selbst zu dem hochwürdigen geistlichen Herrn hat es noch kein Wort gesprochen.«

»Wer sind denn seine Angehörigen?« fragte Stephan.

»Hergelaufene Menschen«, antwortete der Lehrer. »Es sind die früheren Besitzer der Hütte ausgestorben, und da kamen weitläufige Anverwandte, zwei Schwestern, davon eine die Mutter des Mädchens, die andere aber eine unverheiratete Person ist. Diese besorgen die Hütte, die zwei Kühe, die Ziegen und die kleinen Flecke Grundes und gehen in Arbeit. Dann ist noch die Großmutter, welche die Mutter der zwei Weibspersonen ist, und das wilde Kind. Von einem Vater dieses Kindes habe ich nie etwas gehört.«

»Ihr werdet mir doch erlauben, daß ich Eure Schule einmal besuche«, sagte Stephan.

»Ich werde eine Freude und Ehre daran haben«, antwortete der Lehrer.

Darauf beurlaubte sich der alte Mann, Franz verbeugte [653] sich, wie er es gelernt hatte, Katharina knickste, und sie verließen die Stube.

Dann ging der alte Mann noch mit den Kindern, ehe die Mittagszeit kam, von dem Schulhause über grünen Rasen empor, dann zwischen kleinen Feldern, dann durch einen Laubgraben, in welchem Wasser rauschte, dann durch Wiesen, auf denen ungeheure Steine lagen, in den großen Wald hinauf, den sie bei ihrer Ankunft wie ein dunkles Band vor sich gehabt hatten. Er führte sie im Walde herum, so weit er gangbar war, oder der eine oder der andere Pfad hier hin und dorthin lenkte. Er zeigte ihnen die großen Buchen und Tannen und Ahorne, die da wuchsen, die bemoosten Steine, die in Mengen und in Verwirrungen umherlagen und oft wie grünes Gold funkelten, er zeigte ihnen die dunkeln und lichten Waldblumen, die im Schatten standen, und die anderen Kräuter und Blätter, die da waren, insonderheit, daran die Beeren wachsen würden, die sie in späterer Zeit des Sommers ergötzen sollten, er zeigte ihnen die vielen Wässerlein, die da rannen, und führte sie zu einem Waldbrunnen, den er wußte. Zu dem Brunnen ging ein guter Pfad, weil die Hirten, die Holzarbeiter und andere Leute ihren Trunk da holten, und glaubten, daß das Wasser heilig sei und besondere Gesundheitskräfte besitze. Es lag ein Stein wie ein Haus über dem Brunnen, und von ihm rann ein Quellchen weiter. Es war so, wie der Großvater gesagt hatte, wenn sich das Wasser unter seinem Steine nicht gerührt hätte, wäre es von Luft nicht zu unterscheiden gewesen. Hohe Bäume und Brombeersträuche und andere Dinge waren umher. Der Großvater setzte sich mit den Kindern nieder, und da sie sich genugsam abgekühlt hatten, zog er einen schönen Glasbecher aus einem Fache, das er in seiner Tasche trug, hervor, füllte ihn mit Wasser und gab den Kindern zu trinken, und trank selber. Dann, als der Durst gestillt [654] war, gingen sie unter dem Gesange von allerlei Vögeln, unter dem Geflatter von manchen schönen Faltern und im Anschauen manches bunten Käfers oder eines andern Tierchens oder gar eines über den Weg huschenden Eichhörnchens an Stamm nach Stamm dahin, immer abwärts, bis sie ins Freie gelangten und bald ihr Schreinerhäuschen sahen, dem sie zuwandelten.

Nach einigen Tagen ging der alte Stephan allein in das Schulhaus und in das Unterrichtszimmer. Der Lehrer zeigte ihm das wilde Mädchen. Es saß auf dem zweiten Platze der zweiten Bank und sah den alten Mann mit schreckhaft großen pechschwarzen Augen an. Sonst saß es ruhig und still da. Der alte Mann ging in dem Zimmer herum, betrachtete allerlei, sprach zu den Kindern insgesamt einige Worte und ging wieder fort. So kam er nun öfter, die Kinder gewöhnten sich an ihn, er hörte zu, wenn sie lasen, er forderte sie auf, ihm ihre Schreibbücher und Rechnungstafeln zu zeigen, und beschenkte sie darnach zuweilen mit kleinen Bildchen. Das wilde Mädchen las nie, es zeigte ihm nie ein Schreibbuch oder eine Rechnungstafel. Wenn er manchesmal bis zum Ende der Schulzeit blieb und mit den Kindern fortging, umringten sie ihn und drängten sich an ihn, jedes wollte das nächste an ihm gehen, und manche gingen länger auf dem Pfade, den er wandelte, mit fort, als ihr Nachhauseweg erfordert hätte, um bei ihm bleiben zu können. Er sah nie, daß das wilde Mädchen andere Kinder stieß oder schlug, sondern es ging seines Weges fort.

Einmal, als er nach langer Zeit wieder in die Schule kam brachte er allerlei Dinge mit: Glaskorallen, kleine Marmorkugeln, rosenrote Bändchen, Holztrompetchen, kleine Puppen und dergleichen. Er ließ die Kinder lesen, besah ihre Arbeiten, und teilte zahlreiche Geschenke unter die fleißigen aus, und die sonst nichts bekamen, bekamen wenigstens ein Bildchen. Alle Kinder hatte er [655] zum Lesen gerufen, nur das wilde Mädchen nicht, von allen hatte er sich die Arbeit zeigen lassen, nur das wilde Mädchen hatte er nicht aufgefordert. Dann öffnete er seine goldene Uhr und zeigte den Kindern um das wilde Mädchen herum den inneren Goldglanz und das rührige Gehwerk, dem wilden Mädchen nicht. Dann ging er zu dem Stuhle an dem Tische des Lehrers, setzte sich nieder und packte die Geschenke, die ihm übrig geblieben waren, in seine Tasche. Da stand das wilde Mädchen auf, drängte aus der Bank, ging zu dem alten Manne, hielt das Buch hin und gab Zeichen, daß es lesen wolle. Der alte Mann machte eine freundliche Zustimmung, und sofort begann das wilde Mädchen laut mit klarer, aber etwas tiefer Stimme ganz richtig in fremdartiger Aussprache das zu lesen, was auf den aufgeschlagenen Blättern stand. Als der alte Mann das Mädchen bedeutet hatte, daß es genug sei, trug es sein Buch zu seiner Bank und brachte sein Schreibheft zum Anse hen. Der alte Stephan sah die Schrift an, es waren mehrere Blätter beschrieben, die Buchstaben waren deutlich, wenn auch nicht schön; aber der alte Mann erstaunte auf das höchste, da er die Schrift las. Es war nirgends das, was auf der Vorschriftstafel stand, abgeschrieben, oder etwas geschrieben, was in die Feder gesagt worden sein konnte, oder was man sich selbst zu denken vermochte, sondern ganz andere, seltsame Worte: Burgen, Nagelein, Schwarzbach, Susein, Werdehold, Staran, zwei Engel, Zinzilein, Waldfahren, und ähnliches, dann Sätze: in die Wolken springen, die Geißel um den Stamm, Wasser, Wasser, Wasser fort, schöne Frau, schöne Frau, schöne Frau, alles leicht, alles grau, und solche Dinge noch mehrere. Der alte Mann sagte hierüber dem Lehrer gar nichts und dem wilden Mädchen auch nichts. Er gab dem Kinde die Schrift zurück, lobte es, strich den Scheitel seines rabenschwarzen Haares, das unbedeckt war, zweimal mit seiner [656] Hand, zog aus seiner Tasche ein schönes rosenrotseidenes Band hervor und gab es dem Mädchen. Das Mädchen brachte ihm nun auch seine Tafel mit einer richtig gelösten Aufgabe. Dann ging es mit dem Bande und mit seiner Schrift und der Tafel zu der Bank auf seinen Platz. Der Lehrer sah allen diesen Dingen zu. Der alte Mann blieb bis zum Ende der Lehrzeit und ging dann mit den Kindern fort.

Und so oft er in die Schule kam, las ihm das Mädchen vor und zeigte ihm seine Schrift und seine Rechnung.

So verging einige Zeit.

Eines Tages ging der alte Stephan mit Franz und Katharina im Nachmittagssonnenscheine von dem weißen Schreinerhäuschen fort. Er führte die Kinder durch die Rasenpfade an Bäumen, Gesträuchen, rauschenden Wässern und großen Steinen vorüber, er führte sie durch ein kleines wildes Gehölze, und als sie aus demselben getreten waren, lag ein sehr kleines Flecklein Korn von Gesträuchen umringt, und über dem kleinen Flecklein Korn hing unter dem unermeßlichen blauen Himmel wie eine winzige singende Ampel eine Lerche, und an dem kleinen Fleckchen Korn stand ein braunes hölzernes Häuschen, das wie ein Holzhäufchen gegen den großen grauen Stein war, der sich hinter ihm befand, und an dem Häuschen war ein holzbrauner Anbau, der wieder nur ein Holzhäufchen gegen das Häuschen war. Zu diesem hölzernen Häuschen führte der Großvater die Kinder und von dem Häuschen zu dem Zubaue. Da saß unter der Tür, in welche die helle Sonne schien, ein altes Weib und zog einen groben Faden aus der Spindel, und hinter dem alten Weibe hockte auf einer Tonne, aus dem Dunkel des winzigen Holzbaues über das alte Weib heraus blickend, wie eine Katze, das wilde Mädchen. Das alte Weib hatte einen roten Latz, einen zerrissenen grünen Rock und ein Linnenhemd um die Schultern und den Hals, das aus [657] Alter grau war. Rings um das Weib staken in dem Holze des Anbaues, wie um ein Heiligenbild in einer Feldkapelle, Zweige, Blumen, Getreidehalme und selbst Federn. In den weißen Haaren hatte das alte Weib Blumen, gefärbte Papierstreifen, einen Büschel Hahnenfedern, und es hing das rosenrote Seidenband von den weißen Haaren hernieder, das der alte Stephan dem wilden Mädchen gegeben hatte. Das wilde Mädchen trug gar keinen Schmuck, sein Rock war auch grün und zerrissen, sein Latz war blau, und sein Hemd, sonst wie das der Alten, hatte frische Risse. Es blickte unwillig gegen die Ankommenden.

Stephan blieb mit den Kindern vor dem alten Weibe stehen und sagte: »Das ist ein lieblicher Sonnenschein, der heute da herniederkömmt.«

»Ja, ja, er scheint jeder Zeit, wann er scheint«, erwiderte das alte Weib.

»Ihr habt Euch in denselben gesetzt, und zieht da Euern Faden aus dem Rocken«, sagte Stephan.

Das alte Weib sah mit großen, schwarzen Augen aus dem knöchernen Angesichte auf ihn und sagte nichts.

»Er wärmt Eure Glieder«, sagte Stephan wieder.

»Die Glieder möchten warm sein im Sommer und im Winter und arm Morgen und am Abende«, sagte das alte Weib.

»Wie heißt Ihr denn?« fragte Stephan.

»Sonst hieß ich Lucia, jetzt aber Katharina, manchmal hieß ich auch Ludmilla, da er noch lebte. Der Name war ihm süß, er hat diese schwarzen Haare gestreichelt«, sagte das alte Weib.

»Frage sie nicht mehr«, rief jetzt das wilde Mädchen, indem es seinen Kopf über den des alten Weibes hervorstreckte, so daß die Sonne ihn beschien.

Stephan nahm die Kinder bei der Hand, wendete sich um und ging von dem Zubaue weg.

[658] An der Tür des Hauses stand ein Weib und sagte zu Stephan, da er sich näherte: »Ihr seid bei der Mutter gewesen und habt mit ihr gesprochen.«

»Wenig,«sagte Stephan, »sie scheint nicht redselig zu sein.« »Das Kind läßt sie nicht sprechen, und läßt nicht andere mit ihr sprechen«, sagte das Weib.

»Seid Ihr die Mutter des Kindes?« fragte der alte Mann.

»Nein, ich bin die Jungfrau Anna, die Schwester der Mutter,« antwortete das Weib, »wir haben die Plage und müssen für alles sorgen, das Kind ist bei der Mutter hinten und will gar nicht einmal zu uns hervorgehen, wo es viel besser wäre. Aber wollt Ihr denn mit dem schönen Herrlein und dem schönen Fräulein nicht hereingehen, hoher Herr, und einen Schluck Milch trinken, von der Ziege oder von der Kuh?«

»Nein«, sagte der alte Stephan, »wir müssen unseres Weges weiter gehen, und danken Euch.«

»Nun, so behüte Euch Gott«, sagte das Weib. »Euch auch«, entgegnete Stephan.

Dann ging er mit den Kindern von dem Holzhäuschen weg, an dem kleinen Fleckchen Korn dahin, in das wilde Gehölz, und aus demselben wieder gegen das weiße Schreinerhäuschen hinunter.

»Großvater,« sagte Katharina, »das kleine Mädchen ist recht häßlich. Als es den Kopf hervorstreckte, daß ihn die Sonne beschien, war es mit dem schwarzen Angesichte wie ein dunkles Bild in einem Holzrahmen.«

»Aber wie ein schönes Bild,« sagte Franz, »seine Wangen glänzten wie eine Glocke der Kirche, und seine Augen leuchteten wie die Kerzen an dem Altare.«

»Nein, wie die Kohlen im Backofen«, sagte das Mädchen.

»Man soll das Kind nur rein und schön anziehen wie dich,« sagte Franz, »dann siehe.«

Sie waren in das Schreinerhäuschen hinunter gekommen, [659] und Crescentia gab ihnen die Milch, welche sie zu dieser Zeit immer bekamen.

An einem jeden Tage, wenn sie nach dem Morgengange gelernt hatten, führte der Großvater die Kinder zu dem Waldbrunnen hinauf, und sie tranken mittelst des schönen Glasbechers von dem Wasser des Brunnens, und sie sahen die Bäume und Blumen und Grasblätter des Waldes und seine Faltern und seine Käfer und seine Tierchen, und hörten die Vögel singen. Einige Male gingen sie auch mit dem Führer Mathias den langen Pfad schief über die ganze mächtige Waldlehne empor, bis sie zu dem Fels der drei Sessel kamen. Stephan stieg mit den Kindern die Stufen, die der König in den Fels hatte hauen lassen, hinan, und sie sahen umher. Da lag der ungeheure Wald zu ihren Füßen, dann das weite Land mit Feldern, Wiesen, Wäldern, Häusern, Dörfern, Kirchen; den Donaustrom sahen sie, den Inn, die Isar, und dann den blauen Gürtel der Alpen von Tirol bis zu dem Ötscher, und schöne, schimmernde weiße Täfelchen waren in dem blauen Gürtel. Die Kinder hatten eine unaussprechliche Freude. Zuweilen gingen sie auch an den Schluchten, an den rauschenden Wässern, an den Ahornbäumen und anderen Bäumen hinauf in das wilde Gehölz, und aus ihm zu dem kleinen Fleckchen Korn, über dem manches Mal wieder eine Lerche war, und von dem Fleckchen Korn zu dem Holzhäuschen und von dem Holzhäuschen zu dem winzigen Anbaue, und sahen die alte Großmutter und das wilde Mädchen. Der Großvater sprach wenig; aber er brachte öfter etwas: ein seidenes Bändlein oder Glaskorallen oder papierene Blumen oder ein Schnürchen mit Dolden, und sie sahen dann später die Dinge an dem alten Weibe hängen.

»Die Mutter und die Muhme des Mädchens«, sagte Katharina, »sind doch viel ehrbarer gekleidet als die alte Frau und das Mädchen.«

[660] »Weil sie auf sich mehr verwenden«, sagte Franz.

Der Sommer war indessen immer älter geworden, die Leute taten stets andere Arbeiten auf den Feldern und Wiesen, das Fleckchen Korn vor dem Holzhäuschen war abgeerntet, fast jeder Mensch der Gegend kannte schon den alten Mann mit den zwei Kindern, der Herbst rückte herzu, und die Stunde des Abschieds schlug.

»Centia,« sagte Stephan eines Morgens, da alles gepackt war, was fort mußte, und da es die Leute in das Wirtshaus im Klaffergrunde gebracht hatten, »behüte alles gut, was wir da gelassen haben, mit dem ersten Frühlinge kommen wir wieder.«

Dann ging er mit den Kindern auf dem Pfade in das Klafferwirtshaus, um dort in den Wagen zu steigen. Der Lehrer der Waldhäuser war da und auch der Vorstand der Waldgemeinde und andere Leute, um Abschied zu nehmen, Crescentia war ihnen auch nachgelaufen, und da man sich verabschiedet hatte, und da die Kinder im Wagen saßen, und der alte Stephan den Fuß auf den Tritt stellte, um einzusteigen, flog hinter dem Schoppen das wilde Mädchen herbei, schlang beide Arme um den alten Mann, küßte ihn auf den weißen Stutzbart und rannte davon. Der alte Mann wischte sich mit dem Ärmel seines Rockes das Angesicht, man wußte nicht weshalb, er stieg ein, und der Wagen fuhr davon.

In Jandelsbrunn bekamen die Kinder Milch, in Fendelsberg wurde das Mittagsessen verzehrt, und sie fuhren Passau zu.

Und der wilde Winter kam. Von dem Fels der drei Sessel gingen die Winde über die Waldlehne nieder, durch die Wipfel der Bäume an den Waldbrunnen, auf die Schluchten und die Anger und die Talrinnen und die weißen Häuschen mit den Steindächern, und die braunen hölzernen, auf das Häuschen, das an dem kleinen Felde stand, um welches Gebüsche waren, auf das weiße Schreinerhäuschen, [661] auf das Schulhaus mit den Schindelwänden, auf das Wirtshaus in der Klafferstraße, und weiter hin gegen den Berg, auf welchem die Kirche von Breitenberg stand, und gegen andere Kirchen, und gegen die weiten Länder hinaus. Und die Flocken kamen und jagten dahin, wohin der Wind zielte, und legten eine Hülle über alle Dinge, die immer wuchs und wuchs. Und die Tage waren kurz und finster, und die Nächte lang und stockend. Und die Kälte erschien und baute um die laublosen Zweige der Bäume das feine Weiß, und streute es auch auf alle jene Nadeln des Waldes, auf denen nicht ohnehin schon der Schnee lag. Und Crescentia heizte öfter in den Stuben und Kammern des weißen Schreinerhäuschens, und legte die Hüllen und Bettzeuge heraus, die der alte Stephan da gelassen, und die er geschickt hatte, daß sie sich in der Wärme lüfteten.

Und als die Sonne immer höher kam und immer wärmer wurde, und als endlich an manchen Zweigen die Kätzchen hingen, an anderen die Blüten, und als der hohe Wald seine neuen, lichtgrünen Wedel ansetzte, ging der Wagen, in welchem der alte Stephan mit seinen Enkeln Franz und Katharina saß, nach Fendelsberg, nach Jandelsbrunn und in das Wirtshaus in der Klafferstraße, wo der alte Mann mit den Kindern ausstieg, und von wo er mit ihnen über den Anger und zwischen den zerstreuten Häuschen in die Schreinerwohnung ging, an der Crescentia stand, und an der andere Leute standen, die die Ankommenden begrüßten. Männer brachten die Sachen nach, welche von dem Wagen in das Schreinerhäuschen mußten.

Und die drei Reisenden nahmen gleich von allem Besitz, wie sie es im vorigen Sommer getan hatten, um wieder zu leben wie im vorigen Sommer.

Des nächsten Morgens kam der Gemeindevorsteher zu dem alten Stephan, um ihn zu begrüßen, es kam der [662] Lehrer der Waldhäuserschule, und Nachbarn und Bekannte kamen, und einige von denen, welchen Stephan im vorigen Jahre Gutes getan hatte.

Und hierauf ging Stephan in dieses und jenes Haus und Häuschen und besuchte die Bewohner.

Und den übrigen Teil des Tages gingen sie an verschiedene Plätze, bis es Abend wurde.

In den kommenden Tagen war es dann schon so, als seien sie nie von dem Schreinerhäuschen fort gewesen.

Crescentia besorgte das Haus, liebte die Kinder, arbeitete, und nahm Leute zur Arbeit, wenn es not tat.

Die Kinder lernten, machten ihre Aufgaben mit der Anweisung und der Hilfe des Großvaters, und genossen, was zu genießen war.

Von dem Hause des Herrn Rosenau, das mit Wiesen und Äckern hart an dem großen Walde lag, kam der Herr und die Frau öfter zum Besuche, und an den Kindern derselben hatten Franz und Katharina Gespielen. Sie gingen öfter auch in das Haus hinauf. So war es auch mit dem Hause des Herrn und der Frau Winden, das jenseits des rauschenden Baches lag, auf dessen Brücke die gemalten Grenzsteine standen, die Franz und Katharina so bewunderten. Und wie mit diesen zwei Häusern war es auch noch mit dem einen oder dem anderen Hause und Häuschen. Wenn Stephan mit den alten Leuten sprach, spielten die Kinder.

Einmal, da sie wieder zu ihrem Waldbrunnen gingen, sahen sie, ehe sie bei ihm waren, auf dem hohen Steine desselben das wilde Mädchen stehen. Es hatte den Kopf erhoben und streckte bald den einen Arm empor, bald den andern, bald beide, bald hielt es dieselben wagerecht, und rief dabei Worte aus. Wenn es den Arm oder beide emporstreckte, fiel der Hemdärmel, der nicht geknöpft war, zurück, und es waren die dunklen Arme zu sehen, als wären sie aus Erz gegossen. Und den Leib richtete das [663] Mädchen empor, daß er noch schlanker und höher erschien. Anfangs konnten Stephan und die Kinder die Worte nicht verstehen, dann lauschten sie ihnen und vernahmen: »Schöne Frau, alte Frau, schöne Frau, weißes Haar, Augenpaar, Sonnenschein, Hütte dein, Märchenfrau, Flachs so grau, Worte dein, Herz hinein, Mädchen, Mädchen, Mädchen, bleib bei ihr, schmücke sie, nähre sie, schlafe da, immer nah, alle fort, himmelhoch, Sonne noch, Jana, Jana, Jana!«

Und bei diesem Worte erblickte das Mädchen die drei Menschen, die unten standen, und glitt schnell wie eine Waldschlange rückwärts von dem Steine hinab und ward nicht mehr gesehen. Stephan ging mit den Kindern zu dem Brunnen, schöpfte in seinen Glasbecher Wasser, und sie tranken. Da kam das wilde Mädchen herzu, blieb stehen und sah sie mit den glänzenden Augen an, und seine dunkeln Wangen waren von der Bewegung rot.

Als der alte Stephan und die Kinder Anstalten machten, sich von dem Brunnen zu entfernen, ging das wilde Mädchen zu dem alten Manne, faßte seine Hand und sagte: »Geh mit.«

»So führe mich«, sagte der alte Mann.

Das wilde Mädchen führte ihn und ließ seine Hand nicht los. Es führte ihn von dem Brunnen abwärts, und dann, da die Wege sich teilten, einen andern Pfad durch den Wald, als auf welchem man gegen das Schreinerhäuschen kömmt. Da sie ins Freie gelangten, gingen sie über Anger und Wiese, durch einen Graben und durch ein Gehölz. Die Kinder gingen hinterher. Aus dem Gehölze kamen sie zu dem kleinen Felde, das vom Gebüsche umgeben ist, auf dem im vorigen Sommer das Korn gestanden war, auf dem jetzt grüner Hafer wuchs, und an dem das Holzhäuschen mit dem Holzanbaue stand. Über dem Felde sang wieder die Lerche wie eine winzige Ampel, als liebte sie diesen Platz, oder als wollte sie den Kindern [664] eine Freude machen, da sie heuer wieder hieher kamen. Das Mädchen führte den alten Mann und die Kinder zu dem Anbaue des Häuschens und sagte: »Da ist er, Großmutter.« Nach einem Weilchen sprach es zu Stephan: »Du bist bei dem Herrn Martin Winden gewesen, du bist bei dem Herrn Franz Rosenau gewesen, du bist in der Schule gewesen, du bist in dem Marhause gewesen und bei Ludwinas Eltern und bei dem Grabenbauer und in der Mühle, warum bist du nicht zu uns gekommen?«

»Ich wäre schon gekommen«, sagte Stephan.

Die Großmutter saß unter der Tür des Anbaues auf einem Bänklein. Sie hatte von den Bändern und Glasperlen und den anderen Dingen, welche Stephan gespendet hatte, an sich. Sie saß müßig an der Sonne, als hätte sie auf ihn wie auf einen Bräutigam gewartet.

Das wilde Mädchen lief in das Häuschen, brachte in einem grünen Krüglein Milch, reichte das Krüglein der Großmutter und sagte: »Trink.«

»Jana, Jana,« sagte die Großmutter, da das Mädchen zurück war, »die Hummeln sind in ihrem Baue, und du bist immer fort«.

»Ich muß Sachen suchen,« erwiderte das Mädchen, »die du brauchst, ich muß singen und auf den Stein steigen, und ich muß nach dem alten Manne forschen.«

»Wir kommen zu Euch, liebe Frau,« sagte Stephan, »weil wir wieder in dem Waldlande sind. Wir bleiben den ganzen Sommer da und werden schon öfter zu Euch kommen.«

»Du bist ein alter Mann, sie ist eine alte Frau,« sagte das wilde Mädchen, »sie ist schön, und du bist schön.«

Stephan antwortete nicht auf diese Rede, sondern sprach zu der alten Frau, wie der Himmel so heiter sei, wie der Frühling so lieblich sich eingestellt habe, und wie die Lüfte um das Holzhäuschen wehen.

[665] »Ja, es ist der Winter gewesen, er ist sehr lang gewesen,« antwortete die alte Frau, »und dann hat er aufgehört, und sie haben den Hafer gesät.«

»Der Hafer ist recht schön auf diesem Felde, und die Körner werden zierlich an den feinen Fäden hängen,« sagte Stephan, »wenn sie sich entwickeln.«

»Jana ziert alles,« entgegnete die alte Frau, »und hat schon von der Mutter viele Strafe bekommen.«

»Das geht in alles andre hin,« sagte das Mädchen, »und rede nicht davon.«

Während Stephan mit der alten Frau sprach, konnte er und es konnten die Kinder in das Innere des kleinen Holzzubaues schauen. Es war derselbe eine kleine Kammer, In ihr war ein größeres Bett, wahrscheinlich für die alte Frau, dann ein Häuflein von Bettzeug in einer Ecke, darauf das wilde Mädchen kauern konnte, wenn es ruhen wollte. Dann war eine Bank an dem Öflein, ein Tischchen und eine Truhe. An dem Eingange stand die kleine Tonne, auf der das wilde Mädchen bei Stephans erstem Besuche gesessen war. Um das größere Bett und an andern Stellen staken Tannenreiser, Laubzweige und Blumen und Federn von Hühnern, Hähnen, Enten, Nußhehern und anderen Vögeln, so wie auch allerlei Gestaltungen aus buntem Papier, aus farbigen Lappen und Bändern hernieder hingen.

Stephan sagte, er werde morgen wieder kommen, und ging mit den Kindern fort. Das wilde Mädchen sprang ihm nach, faßte ihn an der Hand, sah ihm mit den großen Augen in das Angesicht, streichelte seine Hand ein Mal, und lief wieder zur Großmutter zurück.

Als Stephan zu der Tür des Häuschens kam, trat die Mutter des wilden Mädchens aus derselben heraus und sagte: »Ach, hoher Herr, geht doch heute ein wenig in die Stube, ich habe Euch um etwas zu bitten.«

Stephan ging mit den Kindern in die Stube. Die Stube [666] war schöner als die Kammer des Zubaues, in ihr standen drei Betten, und in der Kammer, die daneben war, stand noch ein viertes Bett, das besser war als die drei. Sonst zeigten sich die Geräte, wie sie in solchen Wohnungen zu sein pflegen.

Stephan setzte sich mit den Kindern an den gescheuerten Tisch, die Frau brachte in einer grünen Schale Milch und auf einem grünen Schüsselchen Butter. Dann legte sie ein Laiblein Brod, drei Löffel und ein Messer auf den Tisch.

Stephan und die Kinder aßen einige Löffel von der Milch und jedes ein Schnittchen Butterbrod.

»Was ich Euch bitten wollte,« sagte das Weib, »ich bin die Mutter von dem Kinde Juliana, das in der Schule zu Euch gesprochen hat, ich heiße Magdalena, da ist die Stube und die Kammer, darin bin ich und meine Schwester, da steht ein schönes Bett für die Großmutter, und eines für Juliana, sagt dem Kinde, daß es zu uns geht, dann geht die Großmutter auch mit. Sie sind immer in dem schlechten Holzhüttchen, und wenn ich dem Kinde Strafe drohe, so schaut es mich mit den großen Augen an, wie sein Vater, der zu früh gestorben ist. Und ich getraue mir nicht, das Kind zu strafen, sonst läuft es am Ende gar fort. Sagt es ihm doch, lieber Herr.«

»Ich werde nachdenken, was man in dieser Sache Gutes stiften könnte,« antwortete Stephan, »und werde darnach handeln.«

»Ja, handelt darnach,« sagte die Frau, »und es wird recht gut sein, wenn die zwei Leute bei uns sind.«

»Jetzt muß ich mich entfernen,« sagte Stephan, »und ich werde Euch die Antwort schon wissen lassen.«

»Ja, laßt sie uns wissen, und den Tag, wann die zwei herüber kommen«, antwortete die Frau.

»Gehabt Euch wohl«, sagte Stephan.

»Gott behüte Euch und die schönen Kinder«, sagte die Frau.

[667] Stephan erhob sich und verließ mit den Kindern das Häuschen.

»Großvater«, sagte Katharina, »du mußt dem Mädchen befehlen, daß es mit seiner Großmutter aus der Holzkammer in die schönen Zimmer des Hauses herübergeht, da haben sie es besser.«

»Ich meine«, antwortete Franz, »daß man das Mädchen nicht zwingen soll.«

»Ihr meint beide, wie es euch gut dünkt,« sagte der Großvater, »ich weiß noch nicht, was ich meinen soll, und wenn das Mädchen herübergeht, soll es freiwillig gehen, und dann habt ihr beide recht.«

»Wir haben beide recht, siehst du, Franz«, sagte Katharina.

Sie waren bei diesen Worten an dem Haferfeldlein hingegangen, gingen dann durch das Gebüsch und das wilde Gehölz und schlugen den Weg nach dem Schreinerhäuschen ein.

Des andern Tages am Nachmittage ging der Großvater, wie er versprochen hatte, mit den Kindern zu Juliana und ihrer Großmutter. Sie waren dieses Mal mit Geschenken beladen. Katharina trug ein großes Bilderbuch, in welchem die verschiedensten Dinge abgebildet waren, Franz trug auch Bücher, dann Tafeln, auf denen Gegenstände gezeichnet waren, die man malen konnte, und ein Kästchen mit Farben und Pinseln, und der Großvater brachte sehr schöne Pfauenfedern, Federn von Goldfasanen und Silberfasanen, dann farbige Bänder, Lappen, Fäden und Schnüre, und endlich farbiges Papier und eine Schere. Er gab zuerst seine Dinge an Juliana, und sagte, daß er ihr dies alles von seiner Heimat gebracht habe. Sie nahm, was sie fassen konnte, in die Hände, und hielt anderes noch mit dem Ellenbogen an sich, und sah ihn an. Dann warf sie alles auf das Bett der Großmutter und nahm seine Hand in ihre beiden und drückte sie. [668] Dann kam Franz hinzu und gab ihr die Bücher und das andere. Sie legte alles sogleich auf das Bett und sagte zu Stephan: »Das gibst auch du mir?«

»Mit meinem Willen gibt es dir Franz«, sagte der alte Mann.

»So nehme ich es«, sagte das Mädchen.

Dann gab ihr Katharina das Bilderbuch, indem es dasselbe aufschlug und auf die Bilder wies.

Juliana tat einen Blick hinein, legte das Buch auf das Bett, wandte sich zu Stephan und sagte: »Das gibst auch du mir,«

»Mit meinem Willen gibt es dir Katharina«, sagte Stephan.

»So nehme ich es«, antwortete das Mädchen.

»Tu es,« sagte Stephan, »und verwende die Sachen, wie du willst.«

Das Mädchen stand nun noch immer da und blickte ihm in das Angesicht.

Die Großmutter saß auf einem Schemel und hatte das hie und da zerrissene Kleid um sich ausgebreitet, sie schaute auf den Vorgang, und um ihre Lippen war ein Lächeln, das man nicht verstehen konnte, wie wenn etwa ein einziger Sonnenstrahl auf einen rauhen, dürren Fels trifft und auf ihm einen düsteren Lichtschein hervorbringt.

Stephan blieb eine Zeit mit den Kindern da und ging dann wieder fort.

Er kam nun öfter mit Franz und Katharina in das Holzhäuschen, das an dem kleinen Felde stand, welches von Gebüschen umgeben und von dem wilden Gehölze begrenzt war. Alles, was er und die Kinder gebracht hatten, war zum Schmucke des kleinen Holzzubaues verwendet worden. Die Pfauenfedern, die anderen Federn, Streifen, Bänder, Schleifen, Papierrosen, Lappenzieraten, Schnüre, Fäden und anderes war eingefügt und geordnet. Mit den [669] Farben waren auf die weißen Papierbögen, die Franz gebracht hatte, auf Holzspäne und andere Dinge der Kammer Striche, Kreuze und andere Gestaltungen gemalt worden.

Das Bilderbuch hing umgeschlagen an einer Schnur hernieder, und das Bild, das es zeigte, war mit einem Faden umbunden, daß es nicht zuklappen konnte. Die Großmutter war geschmückt, daß man sie kaum kennen konnte. Juliana hatte von all den Dingen gar nichts an sich.

Das wilde Mädchen kam auch sehr oft in das Schreinerhäuschen und brachte meistens etwas mit. Es brachte schöne Zweige oder Blumen oder bunte Steinchen oder kostbare Waldschwämme oder Beeren, die es in Körbchen von Birkenrinde tat, welche es mit seinem Taschenmesser verfertigt hatte. Es richtete seine Gaben immer an Stephan.

Alle Tage, wenn er mit den Kindern zu dem Waldbrunnen ging, kam das wilde Mädchen auch. Meistens war es schon bei dem Brunnen, wenn er kam. Dann stand es ruhig da, sah zu, wenn er Wasser schöpfte und trank und den Kindern zu trinken gab. Und wenn er Anstalten zum Fortgehen machte, lief es schnell auf dem Pfade hin, der zu seinem Holzhäuschen führte. Stephan aber ging seinen Weg in das Schreinerhäuschen.

Wenn er, was auch jetzt wieder geschah, mit den Kindern zu den drei Sesseln ging, so ging das Mädchen mit.

Sonst lief es, wenn es in dem Schreinerhäuschen war, mit den Kindern auf dem Anger herum, tanzte mit ihnen und spielte mit ihnen.

Zuweilen ging Stephan früher als zur gewöhnlichen Stunde zu dem Brunnen und harrte auf das Mädchen, bis es kam. Es kam immer. Während des Harrens stieg Franz öfter auf den hohen Stein, der über dem Brunnen lag, und blickte herum. Dann tat er auch nicht selten, wie das wilde Mädchen einmal auf diesem Steine getan [670] hatte; er warf die Arme empor oder streckte sie aus, oder tat dies mit dem einen oder dem andern und rief Worte, die er entweder in dem Augenblicke zusammenstellte, oder die er schon wußte. Ehe aber das Mädchen kam, kletterte er stets wieder herunter.

Von dem, daß das wilde Mädchen zu der Mutter und Muhme hinüberziehen solle, war keine Rede mehr.

Und so war der Sommer vergangen, und es war der Herbst gekommen, der die Brombeeren, aber auch die kalten Reife des Morgens brachte.

Stephan packte seine Sachen zusammen und fuhr eines Tages mit den Kindern davon. Das wilde Mädchen hatte wieder, ehe er in den Wagen stieg, die Arme um seinen Nacken geschlungen und seinen weißen Stutzbart geküßt. Von den Kindern hatte es durch Drücken der Hände und durch Schütteln derselben Abschied genommen.

Als im nächsten Frühlinge der Wagen, in welchem Stephan mit den Kindern saß, wieder gegen den Wald fuhr, stand an der Grundmühle, noch lange ehe das Fahrzeug zu dem Wirtshause in der Klafferstraße kommen konnte, das wilde Mädchen. Als es den Wagen sah, machte es Zeichen. Stephan ließ den Wagen halten. Das Mädchen lief hinzu, sprang auf den Tritt, küßte den alten Mann wie bei dem Abschiede, reichte den Kindern die Hände und drückte und schüttelte die ihrigen, und glitt dann wieder von dem Wagentritte herab und lief querfeldein dem Walde zu.

Stephan brachte jetzt auch keine andern Geschenke für das wilde Mädchen als eine Reihe von verschiedenfarbigen Muscheln. Die Kinder brachten gar nichts.

Stephan ging bald nach seiner Ankunft in das Holzhäuschen an dem kleinen Waldfeldchen, auf dem heuer Gerste stand, und neben dem Häuschen in den kleinen Holzbau, um mit den Kindern die alte Großmutter und [671] Juliana zu grüßen. Er gab dem Mädchen die Muscheln. Es nahm dieselben mit Freuden.

Als er mit den Kindern wieder einmal in den Holzbau kam, waren unter dem andern Zierat auch die Muscheln verteilt. Die schönsten trug die Großmutter um den Hals.

Und in diesem Sommer war es wieder, wie es in dem vorigen gewesen war. Stephan machte mit den Kindern Besuche in verschiedenen Häusern, und man besuchte auch ihn und die Kinder wieder. Er ging mit den Kindern täglich zu dem Waldbrunnen, und täglich war das wilde Mädchen da. Er führte die Kinder auch oft zu der alten Großmutter, und stets war das Mädchen zu Hause, wenn er kam. Sonst lief es auch in das Schreinerhäuschen wie früher, und hüpfte und tanzte, und spielte mit den zwei Kindern. Nur wenn fremde Leute bei Stephan waren, kam es niemals.

Daß die Großmutter mit Juliana in die anderen Räume des Holzhäuschens ziehen solle, geschah auch heuer nicht. Die Mutter des Mädchens freute sich schon darüber, daß ihr Kind mit den Enkeln eines so vornehmen Mannes umgehen und spielen dürfte. Das Lächeln der Großmutter war seliger, wenn sie spann, oder im Nichtstun in der Sonne saß.

Das wilde Mädchen sprach zu Stephan: »Du bist recht schön, du bist recht gut.«

Eines Tages, da die Kinder mit Juliana in der Stube des Schreinerhäuschens waren, und Franz den Vorschlag machte, über den großen Anger zu dem Forellenbache hinab zu laufen, und da die Kinder sich schon bei dem Großvater verabschiedet hatten und aus der Tür waren, kehrte Juliana noch einmal um, lief zu Stephan, tupfte mit ihrer Hand an den Ärmel seines Rockes, drückte dann die Stelle mit der Hand, sah ihn an und lief dann den andern Kindern nach.

Während sie den Anger hinab rannten, trat Stephan vor [672] ein Kreuz, das in dem Zimmer hing, seinen Augen entstürzten Tränen, und er sagte: »Du heiliger und du gerechter Gott! So ist es denn zum ersten Male in meinem Leben, daß ich von jemandem um meiner selbst willen geliebt werde, von einem Menschen, dem ich nichts gegeben und getan habe, weshalb Menschen sonst Dank oder Zuneigung schuldig zu sein glauben, oder was sie durch ihr Entgegenkommen zu gewinnen hoffen. Und dieser Mensch ist ein armes, verwaistes und vernachlässigtes Kind, das keine Gründe seiner Handlungen und Empfindungen kennt. Ich danke dir für dieses süße, bisher ungekannte, mir zum Schlusse meines Lebens gegebene Gefühl, du mein gerechter, mein guter Gott!«

Dann ging er in der Stube hin und wider, und trocknete sich mit dem Tuche die Tränen von den Augen.

Crescentia kam und sagte, ob er denn sehe, wie fröhlich die Kinder auf dem Anger sind. Sie sind hinabgelaufen, sind heraufgelaufen, sind wieder hinabgelaufen, und jetzt halten sie sich an den Händen und drehen sich im Kreise. »Lasse das,« sagte Stephan, »sie genießen den Beginn des Lebens, wenn dasselbe gegen das Ende neigt, ist alles anders.« Stephan war gegen Juliana, ihre Großmutter und ihre andern Angehörigen in diesem Sommer nicht anders als in den früheren.

Da die Zeit des Waldaufenthaltes aus war und die Abreise kam, nahm Juliana in dem Schreinerhäuschen Abschied, stand aber doch des andern Tages, da der Wagen an der Mühle vorbei fuhr, am Wege und nahm noch einmal Abschied.

Und wie bisher kam der alte Stephan nun alle Sommer in die Waldhäuser, und es war, wie es immer bisher gewesen war, nur daß er das Schreinerhäuschen kaufte und verschiedene Veränderungen in ihm vornahm, und daß er jetzt gar keine Geschenke mehr, auch nicht die geringfügigsten, an Juliana oder ihre Angehörigen austeilte. [673] Auch die Kinder brachten nichts und gaben nichts, außer was im Spielen oder Umherschweifen gegeben oder getauscht wurde.

Eine Veränderung aber trat allmählig ein, die Kinder wuchsen heran, und waren, wenn auch nicht so stark, doch fast so hoch wie erwachsene Leute. Ihre Spiele wurden ernster, und sie befaßten sich mehr mit Büchern. Sie lasen sich vor, sie zeigten sich Bilder, und sagten Sprüche her, die sie gelesen hatten. Franz trug nach und nach von den Büchern, die in dem Schreinerhäuschen waren, eine ziemliche Anzahl zu Juliana. Er las oft mit ihr allein, sie wählten hiezu häufig das Freie und lasen laut in den Fluren, im Walde, im Gesteine, und riefen Worte und Reden in die Lüfte, wenn sie so mit einander gingen oder am Saume des Waldes dahin liefen.

Dies dauerte so fort.

Eines Tages ging der alte Stephan mit seinen Enkeln früher als gewöhnlich zu dem Waldbrunnen. Er kam zu demselben nicht auf dem Pfade von dem Schreinerhäuschen, sondern von dem Walde herunter. Da sahen sie, als sie nahe genug waren, Juliana wieder auf dem hohen Steine, und konnten auch endlich Worte vernehmen, die sie rief. Sie rief mit ihrer etwas tieferen, aber klangvollen Stimme gegen die Bäume hin:


»Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,
Denn mein Geheimnis ist eine Pflicht;
Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen,
Allein das Schicksal will es nicht!«
Dann rief sie nach einer Weile wieder:
»Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein,
Hangen und bangen in schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt,
Himmelhoch jauchzend, himmelhoch jauchzend, himmelhoch jauchzend!«

Den Schlußvers rief sie nicht, sondern sie rief wieder:[674] »Himmelhoch jauchzend, himmelhoch jauchzend, himmelhoch jauchzend, himmelhoch jauchzend!«

Und wie sie den Arm dabei emporhob, drang er durch den zerrissenen Ärmel hervor und war so schön wie an einem Standbilde alter Künstlerzeit. Und ihre Gestalt wahr sehr fein und schlank.

Und sie rief wieder:

»Blumen, die der Lenz geboren,
Streu ich dir in deinen Schoß.«
Dann rief sie wieder:
»Dem Winde, dem Regen,
Dem Schnee entgegen.
Immer zu, immer zu, immer zu,
immer zu, immer zu!«
Und dann rief sie:
»Ich bilde Menschen,
Dein nicht zu achten, wie ich!«

Hierauf stieg sie von dem Felsen herunter, und Stephan ging mit seinen Enkeln zu ihr hinzu. Er sagte von ihrem Rufen nichts.

Es ging wieder eine Zeit wie gewöhnlich dahin.

Einmal waren die Kinder auf dem Anger vor dem Schreinerhäuschen und spielten. Juliana war bei ihnen. Der alte Stephan trat an das offene Fenster und sah ihnen zu. Da sah er, daß Katharina nicht da war, und daß Franz und Juliana allein waren. Plötzlich fielen sich die zwei Kinder in die Arme, umschlangen sich und küßten sich, und Juliana rief: »Liebster, liebster, liebster Franz!«

Und Franz rief: »Liebste, liebste Juliana!«

Und Juliana rief wieder: »Liebster, liebster Franz!«

Und dann ließen sie sich los, und Katharina kam um die Ecke des Häuschens herauf gerannt.

Es war ein seltsamer Anblick gewesen, wie der wohlgekleidete Knabe und das Mädchen in Lumpen sich umschlungen gehalten und geküßt hatten.

[675] Der alte Stephan aber sagte zu sich: »Die menschliche Wesenheit ist endlich zur Entscheidung gekommen.«

Mehrere Tage nach dieser Begebenheit sagte er in der Stube des Schreinerhäuschens in der Gegenwart der Kinder zu Juliana: »Juliana, ich w erde dich, wenn ich wieder von dem Walde fort fahre, mit mir nehmen. Du wirst schöne Kleider bekommen, du wirst noch manches lernen, und wenn du das gelernt hast, wirst du Franzens Braut werden, und dann sein Eheweib.«

»Ich gehe nicht mit dir«, antwortete Juliana.

»Warum denn nicht, Juliana?« fragte Stephan.

»Weil ich die Großmutter nicht verlasse«, antwortete Juliana.

»Die Großmutter wird es dir gönnen, wenn du das Glück für dein Leben findest«, sagte Stephan.

»Großvater,« erwiderte das Mädchen, »wenn man Franz und Katharina goldene Kleider gäbe, sie auf einen goldenen Stuhl setzte und zum Kaiser und zur Kaiserin machte, und sie dir wegnähme, würdest du nicht betrübt sein?«

»Ich würde es sein«, sagte Stephan.

»Siehst du,« antwortete das Mädchen, »ich bin die Mutter der Großmutter, ich bin ihre Schwester, ich bin ihre Obrigkeit, ich bin ihre Magd, ich muß bei ihr bleiben.«

»Juliana, die Großmutter geht auch mit uns«, sagte Stephan.

»An einem andern Orte würde die Großmutter sterben«, antwortete das Mädchen.

»Juliana,« erwiderte der alte Stephan, »wenn du nicht mit uns gehst, dann müssen wir uns auf immer trennen. Damit du Franzens Weib werden könntest, müßtest du noch vieles lernen, und müßtest dazu in eine andere Welt kommen, als hier ist Wie ihr hier seid, könnt ihr nicht bleiben. Und damit meinem Enkel Franz nicht zu sehr das Herz weh tut, wenn er dich öfter sähe, kann ich im nächsten Sommer und in allen nächsten Sommern nicht mehr in den Wald kommen, damit er dich vergißt.«

[676] »Er wird mich vergessen, und es wird alles gut sein«, sagte das Mädchen.

Bei diesen Worten quollen ihm große Tropfen aus den schwarzen Augen und rannen über die Wangen herunter. Es waren die ersten Tränen gewesen, die Stephan an dem Kinde gesehen hatte.

»Juliana, Mädchen,« sagte er, »tue, wie du willst.«

Das Mädchen ging zu ihm hin und küßte ihm zum ersten Male die Hand.

Dann ging es schweigend zu der Tür hinaus.

Die zwei anderen Kinder saßen mit Tränen übergossen auf ihren Stühlen.

Stephan legte auf jedes Haupt eine seiner Hände und sagte: »Es ist recht schön von euch, daß ihr folgsam gewesen und kein Wort drein geredet habt. Lassen wir Gott seinen Willen, wie er alles fügt. Jetzt geht mit mir zu dem Schwarzbache und in den langen Wald hinunter.«

Die Kinder schluchzten fort, suchten hierauf ihre Tränen zu bemeistern, wischten sich mit ihren Taschentüchern ab, richteten sich in Ordnung und folgten ihm in das Freie.

Stephan war nun anders gegen Juliana und ihre Angehörigen. Gegen das Mädchen war er noch freundlicher und gütiger als früher. Ihrer Mutter und ihrer Muhme gab er Geld, daß sie sowohl sich als auch Juliana und der Großmutter bessere Kleider und sonst noch andere Notwendigkeiten anschaffen konnten. Er gab auch sogar Stoffe zu manchen Dingen in das Haus. Magdalena hatte ein Kalb, das ihr die Kuh gebracht, und das sie sehr geliebt hatte, aus Bedrängnis verkaufen müssen. Dieses kaufte Stephan als halbgewachsenes Tier wieder zurück und ließ es in das Holzhäuschen bringen. An die Wiese jenseits der Gebüsche, die zu dem Häuschen gehörte, grenzte ein Stück, welches feil war. Stephan kaufte es und gab es Magdalena. Vor allem aber ließ er Werkleute kommen und ließ einen hölzernen Zubau zu Julianas und der [677] Großmutter Wohnung beginnen, der noch fertig werden mußte, so lange er da war. Das Gemach Julianas und der Großmutter sollte unverändert bleiben, nur sollte man von ihm noch in eine schöne, geräumige Stube kommen können. Und als alles fertig war, stand die Stube da, sie glänzte hell von vier Fenstern, prangte mit einem grünen Ofen und reinen Geräten. Juliana und die Großmutter waren erfreut. Magdalena und Anna dankten Stephan für das viele Gute, das er ihnen tat, und das so zahlreich sei, daß man es kaum begreifen könne.

Der alte Stephan besah alles, was er getan hatte, und rüstete sich zur Abreise.

Als die Reife gekommen waren, wurde ein Wagen mit allem bepackt, was in dem Schreinerhäuschen gewesen war, und wurde fortgesendet. Dann nahm man Abschied, und Stephan fuhr mit den Kindern davon.

Und der wilde Winter kam, die Nächte waren wieder lang, die Flocken fegten wieder das Land gegen Breitenberg hin, und die Kälte war in den Lüften. Aber auch der Frühling kam, die Gesträuche und Bäume blühten, die Tannen setzten die neuen Spitzen an und bekamen die roten Zäpfchen, Blumen und Gräser waren da, über dem kleinen Felde, das von Gebüschen umgeben war, auf dem wieder Winterkorn empor wuchs, und an dem das neue, glänzende Holzhäuschen stand, sang wieder die Lerche; aber der Wagen mit Stephan und den Kindern kam nicht mehr, und an der Mühle stand kein Mädchen mehr, ihn zu erwarten. Das kleine Schreinerhäuschen war leer und gesperrt, und Crescentia war zu den Ihrigen gegangen.

So ging der Sommer hin.

In dem nächsten Sommer war es wieder so. Das Schreinerhäuschen war leer; denn Stephan kam nicht und vermietete es nicht. Nur Crescentia besuchte es zuweilen mit Leuten und reinigte und fegte es, und ließ ausbessern, wo etwas fehlte.

[678] In dem dritten Sommer kam Stephan mit den Kindern. Aber er kam erst, da schon der größte Teil des Sommers verflossen war. Er ging zu dem Holzbaue der Großmutter und Julianas. Die Großmutter saß in der Sonne und lächelte. Juliana stand neben ihr. Sie war höher geworden und schien nun ihr Wachsen vollendet zu haben. Sie war magerer und ernster. Stephan und die Kinder grüßten sie und die Großmutter und wurden von Juliana wieder gegrüßt. Sie gaben die Geschenke, welche nun in wertvollen Sachen bestanden, und die Geschenke wurden freudig angenommen. Stephan ging auch zu Magdalena und Anna, gab ihnen die Dinge, die er für sie gebracht hatte, und erntete vielen Dank. Da er wieder in sein Häuschen gekommen war, sendete er erst noch mehreres in das Holzhäuschen, das er dafür bestimmt hatte und das er nicht hatte mittragen können.

Zwischen den Bewohnern des Schreinerhäuschens und Juliana war nun wieder ein Zusammensein wie früher. Juliana kam sehr oft und brachte wieder Dinge; sie blieb aber immer in der Stube des Häuschens oder auf dem Anger vor den Fenstern.

Stephan verbesserte manches an seinem Häuschen und der Umgebung, und ließ Arbeiten vornehmen, die auf größere Bequemlichkeit hin zielten.

Er fuhr dieses Mal mit seinen Enkeln viel früher als sonst wieder fort. Juliana stand an der Mühle.

Und so geschah es mehrere Jahre.

Einmal, da er sich wieder in dem Häuschen befand und sehr schöne Tage waren, kam eines frühen Morgens Anna, und sagte, daß in der Nacht die Großmutter gestorben sei.

Stephan ging sogleich mit den Kindern in das Holzhäuschen.

Da lag die Großmutter in dem schönen Bette, das er ihr in der großen Holzstube hatte aufrichten lassen, und auf [679] ihrem entseelten Angesichte war das nämliche Lächeln, das sie gehabt hatte, als er die vielen Federn und die anderen bunten Dinge gebracht hatte. Zu ihren Häupten saß Juliana.

Er ließ die Vorbereitungen zur Beerdigung machen.

Die Großmutter lag bald auf ihrer Bahre in einem weißen Kleide mit veilchenblauen Schleifen, wie sie nie ein so schönes Gewand in ihrem Leben gehabt hatte. Ihre Hände hielten ein Kreuz. Die Nachbarn kamen und legten Bildchen auf sie, daß sie fast so geschmückt aussah wie einst, da sie von Juliana geziert worden war.

Endlich, da die Zeit erschien, wurde sie in ihren Sarg geschlossen. Stephan ließ sie in einem schönen Wagen nach dem Kirchhof von Breitenberg bringen, und dort wurde sie unter den kirchlichen Gebräuchen zur Erde bestattet. Es waren um des vornehmen Mannes willen viele Menschen herbei gekommen und gaben der alten Frau die letzte Ehre. Magdalena und Anna weinten und jammerten an dem Grabe, und erzählten, wie die alte Frau so gut gewesen sei. Juliana stand still dabei und sagte gar nichts.

Des andern Tages kam sie zu Stephan und sprach: »Großvater, jetzt gehe ich mit dir, und will bei dir sein, wie ich bei der Großmutter gewesen bin.«

»Juliana,« erwiderte Stephan, »du verlässest deine Mutter.«

»Sie denkt es sich, daß du mich mitnimmst, und ist froh darüber,« entgegnete das Mädchen, »sie hat es schon Nachbarinnen erzählt, daß ich schöne Kleider und Sachen bekommen werde. Die Großmutter hätte sich nicht gefreut, wenn ich mit Engeln in den Himmel gegangen wäre.«

»Liebst denn du deine Mutter nicht, Juliana?« fragte Stephan.

»Ich liebe meine Mutter,« antwortete Juliana, »sie hat [680] mir Gutes getan, ich werde oft zu ihr zurück kehren und werde ihr wieder Gutes tun.«

»Ich sage wieder wie einst,« antwortete Stephan, »Juliana, tue, wie du willst.«

Und sofort brachte er nun diese Angelegenheit mit der Mutter des Mädchens ins Reine, sorgte noch in manchen Dingen für Magdalena und Anna, und in kurzer Zeit darauf fuhr Juliana, wie Katharina gekleidet, mit Stephan und seinem Enkel von dem Wirtshause der Klafferstraße in dem schönen Wagen fort, den Weg gegen Jandelsbrunn hin.

Da mehrere Jahre vergangen waren und Stephan die Hand seines Enkels Franz in die seines Kindes Juliana, wie er sie nannte, legte, sagte er: »Franz, du erhältst eine Gattin, welche wirklich liebt und auch ihre Pflicht versteht, und das ist das Höchste. Halte dieses Höchste in Ehren, und du wirst glücklich sein und glücklich machen. Du liebst mich und Katharina liebt mich aus Verwandtschaftstrieben und weil ich bin, der ich bin, Juliana liebt mich allein, weil ich bin, der ich bin, und diesen Schimmer der Liebe hat mir Gott gesendet, und ich will ihn mir für den Rest meines Lebens bewahren, es mag dieser Rest lang oder kurz sein.«

So war es mit dem wilden Mädchen.

Nicht lange Zeit darnach, da ich das erfahren hatte, was ich hier erzählt habe, war ich wieder einmal auf dem Rigi, und es war meine Gattin mit. Der jetzige Wirt, der bei meinem ersten Besuche des Berges ein junger Mensch gewesen war und sich viel mit uns abgegeben hatte, erzählte mir, es sei die schöne schwarze Frau mit ihrem Gatten wieder da gewesen, und die Schwester dieses Gatten sei mit ihrem Manne auch da gewesen. Die schwarze Frau sei noch immer ganz unbegreiflich schön. Ihre braunhaarige Schwägerin gebe ihr aber wenig nach. Er zeigte mir die Namen im Einschreibbuche; da stand: [681] Franz von Heilkun, Juliana von Heilkun, Alexander von Belen, Katharina von Belen. Ich schlug nun jene Namen nach, welche mir einmal der Augsburger Kaufmann als die der schwarzen Frau und ihres Gatten in demselben Buche gezeigt, und die ich wieder vergessen hatte. Da stand auch: Franz von Heilkun, Juliana von Heilkun.

Von den wunderschönen Gedichtchen, welche Juliana soll machen können, stand auch jetzt keines bei ihrem Namen im Einschreibbuche.

[682]

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TextGrid Repository (2012). Stifter, Adalbert. Erzählungen. Der Waldbrunnen. Der Waldbrunnen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-18E1-3