Petersburg, den 13. Juli
Schon wieder zurück aus Moskau und im Begriff, auch Petersburg zu verlassen, das geht freilich etwas zu schnell für eine wohlgeordnete Reise. Aber darauf kann ich nun eben keinen weitern Anspruch machen und Du bist vielleicht auch selbst ziemlich froh, wenn ich mit meinen Erzählungen zu Ende bin.
In Nowogorod übersieht man bloß das große Feld der ehemaligen Herrlichkeit. Das Schloß scheint noch ganz aus den Zeiten der Hanse zu sein und ist von einem außerordentlichen Umfange. Von ferne sieht die Stadt aus, als ob sie noch gewaltig viel zu bedeuten hätte; das Inwendige ist aber ziemlich öde und leer. An Kirchen fehlt es nicht, aber desto mehr an guten, volkreichen Straßen. Es sind so viele, große leere Stellen nach allen Seiten, daß ich fast glaube, die Bürger können ihr Brot und ihren ganzen Mundvorrat in der Stadt bauen, ohne aus dem Tore zu gehen. Wo ist die Zeit hin, wo Nowogorod die Zaren zittern machte, und wo das Sprichwort entstand: »Wer kann wider Gott und Nowogorod?« Ein Deutscher muß jetzt fast nur in dem Andenken an seine Nation leben. Hier ist ein Österreicher, dort ein Preuße; hier ein Sachse, dort ein Bayer; hier ein Hesse und so weiter bis zur Legion der kleinen Fürstenkinder; aber nirgends ein Deutscher. Was soll mir die patriotische Aufwallung an der Wolga?
[715] Von Bronniza fuhr ich denn getrocknet weiter. In Krestzy kam ich mit einem Kosakenoffizier zusammen, der mit seinem bärtigen Freund und Bruder einem gemeinen Kosaken, nach dem Kaukasus beordert war und wir machten nun den Weg immer in einer Gesellschaft, obgleich in zwei Kibitken. Der Kosak suchte mir einige Furcht wegen der Straßen beizubringen und war überhaupt auf die Russen gar nicht gut zu sprechen. Sooft er etwas Schlechtes sah oder zu sehen glaubte, sagte er ganz andächtig: »So ist nun das russische Volk!« Und nach seiner Angabe waren Gerechtigkeit und Vernunft und Freiheit und Ehrlichkeit und überhaupt das Paradies nur in seinem Vaterlande. Das bekräftigte denn sein bärtiger Diener, der Gemeine, immer sehr ernsthaft. Er kannte übrigens die Armee und die Generale, und so musterten wir denn nach Noten. Ich muß ihm die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, seine Urteile kamen mir billig und durchdacht vor, und der ganze Mann schien mir sehr menschlich und wacker zu sein. Seine Gesundheit war eben etwas schwach; ich fuhr also mit ihm etwas langsamer, und doch habe ich ungeachtet des Aufenthalts in Bronniza die ganze Reise von Petersburg nach Moskau, über hundert Meilen, in weniger als fünf Tagen gemacht.
Von Petersburg bis Ischora ist die Gegend ziemlich bebaut. Von da über Tosna bis Podborre sind gegen hundert Werste links und rechts fast lauter Wälder, und der Weg ist einsam und langweilig. In Podborre, wo einige Anhöhen sind, öffnet sich links und rechts die Gegend; und bei Nowogorod wird sie, besonders links am Flusse hin, ziemlich angenehm. Wenn es nur nicht Klöster wären, die dem Lande einen Anschein von Kultur geben. Es ist ermüdend und nicht erfreulich, so viele Meilen immer auf der [716] Hauptstraße gerade fortzurollen, ohne daß ein Seitenweg einläuft oder ausgeht, ein gewisses Zeichen, daß die Kultur links und rechts auf eine ziemliche Entfernung ärmlich sein muß. Aber ich habe immer noch lieber einzelne ärmliche Hütten als reiche Klöster, die von jenen ernährt werden. Bei Saizowa und Krestzy ist die Kultur besser; nirgends kann man sie aber gut nennen. Gute, große und schöne Dörfer liegen allerdings oft genug an der Straße; aber des urbaren Landes ist doch wenig und auf beiden Seiten ist die Waldung ziemlich nahe. Als einen Beweis des Mangels an Kultur nehme ich immer wieder an, daß weder Landwege einlaufen noch ausgehen.
Ich hatte den Vorteil, in einer nicht übeln, ziemlich wohlhabenden Gegend die Landleute an ihrem Pfingstfeste zu sehen. Alles war Frohsinn, Heiterkeit und Jubel bis zum Übermaß, und die russische Lebendigkeit war hier recht in ihrem eigentlichen Spiel. Aber nirgends habe ich Unsittlichkeit und Ungezogenheit gesehen, wenn ich einige nicht sehr feine Landflüche ausnehme. Die Kleidung war sehr reinlich und leicht und geschmackvoll, und nicht selten ziemlich kostbar. Es ist unstreitig kein Anzug unbequemer und geschmackloser als die Kleidung der Frauen auf dem Lande in den meisten Provinzen Deutschlands. Die jungen Kerle schritten alle wohlgekleidet und genährt in dem stolzen Gefühl ihrer Kraft einher, als ob sie, wenns nötig wäre, sogleich eine Batterie nehmen wollten. Das ist freilich ein Menschengeschlecht, mit welchem Peter Narwa durch Pultawa gut machen konnte. Man trifft sie selten in andern Ländern so lebendig und mutig und kraftvoll. Alles überließ sich der natürlichen Freude, und die Nationalsünde des Trinkens war noch etwas merklicher als gewöhnlich, aber ohne die bösen Wirkungen, die man sonst fürchtet. [717] Ich habe weder Schlägerei gesehen noch Zank gehört. In Podborre führten zwei junge Burschen einen alten Graubart, der seiner Füße nicht mehr ganz mächtig war, freundlich nach Hause. »Aber, Väterchen, heute seid Ihr doch auch betrunken«, sagte einer der jungen Leute recht gutmütig, als ob er froh wäre, dem alten Schulmeister etwas zu geben, es aber doch sehr sanft machen wollte. »Ich betrunken, Brüderchen?« sah ihn der Alte gar silenisch an, indem er sich auf den andern Kameraden stützte und den langen Bart strich, »ich bin nicht betrunken, Brüderchen.« Aber Ihr könnt ja nicht gehen, Väterchen. »Nicht gehen, Brüderchen? Siehst Du, heute ist ein großer Festtag; da kann man ein bißchen torkeln, aber betrunken bin ich nicht.« So torkelte denn auch das Kleeblättchen zur großen Belustigung der übrigen jovialisch weiter.
Es ist eine Wohltat, wieder unter Menschen zu sein, die den Mut haben, sich als Menschen zu fühlen. Die Dörfer sind hier zwar alle von Holz gebaut, aber schön und groß, und man darf sagen, sehr freundlich und Wohlhabenheit zeigend. Die Giebel stehen meistens nach der Straße, und die Fenster sind hell, die Schößchen fast alle geschnitzt und bunt gemalt, das Dach zum Schutz gegen das Wetter traulich hervorstehend. Ich habe mehrere Bauernhäuser gesehen, die, quergezogen, acht schöne Fenster in einer Reihe hatten, die Hälfte mit weißen Vorhängen. Die meisten haben ein Stock hoch einen freundlichen Altan, der der ganzen Front ein heiteres, schmuckes Ansehen gibt. Auf einigen dieser Altane habe ich die Büste des jetzigen Kaisers und seiner Gemahlin stehen sehen.
Jaschelbiza liegt schon ziemlich hoch, und nun geht es immer aufwärts bis nach Simogore oder Winterberg bei Walday, in den davon genannten Gebirgen. Die Waldayschen Gebirge sind der bewohnteste[718] Landstrich zwischen Petersburg und Moskau. Man hatte mir Böses von der Gegend gesagt, und ich habe Gutes gefunden. Gleich am Fuße bewillkommten mich Rohrsperlinge, Schnarrwachteln und Nachtigallen, und ich muß bekennen, daß das trauliche Tongemische vaterländischer Vögel, die ich bis jetzt nur selten gehört hatte, es mir sogleich etwas heimisch machte. Auch fand sich hier überall gutes Wasser, welches ich von Petersburg aus nicht gefunden hatte. Oben ward es freilich kälter, aber die Dörfer waren nach allen Seiten zahlreich und nicht ganz schlecht. Ich kann mich einiger Punkte erinnern, wo ich acht Dörfer sah, welches in Rußland noch nie der Fall gewesen war. Die Mädchen oben in Walday gelten für die besten russischen Hetären; vielleicht weil dort Mönche sind. Ich habe keine Unsittlichkeit wahrgenommen, aber auch eben keine vorzügliche Schönheit an den Frauen gesehen. Mir tat am meisten wohl die Humanität meines Fuhrmanns, der ein Nachbar aus Simogore war. Es war eine kalte, schneidende Morgenluft, der Name sagt schon genug, Winterberg, etwas höher als unser vaterländischer bei Dresden. Ich hatte nichts als mein gewöhnliches Kleidchen, weil ich der Wärme in Dorpat zuviel getraut hatte. Ich sagte stolz keine Silbe und hauchte, so stark ich konnte; aber mein guter Russe von Simogore, der mich und die Luft gehörig taxierte, brachte mir reichlich Stroh und einen großen, warmen, neuen Schafpelz. Der Mann machte durch seine freie Freundlichkeit meiner Seele von innen ebenso warm als meinem Körper von außen, und wir fuhren neben einigen Seen hin rasch nach Jedrowa hinunter.
Von Krestzy bis Simogore und weiter hin sind eine Menge kleiner, kegelförmiger Berge, wie man sie auch hier und da in Deutschland findet. Sie sind augenscheinlich von Menschenhänden aufgeführt, und die [719] Eingebornen sagen davon nur: »Es liegen darunter die alten, großen Leute.« Sie sind also bei den Russen ungefähr das, was unsere sogenannten Hünengräber sind, wahrscheinlich die Grabmonumente irgendeines einzelnen Heerführers oder mehrerer Krieger, die zusammen in einer Schlacht blieben. Auch in neueren Zeiten hat man zuweilen bei Schlachten die Gewohnheit gehabt, auf diese Weise zu begraben.
In Rußland reist man immer nur mit Papier und Kupfer. So bequem das erste ist, so lästig ist das andere, zumal für jemand, der nicht immer die genaueste Aufmerksamkeit hat. Ich hatte in Krestzy eine Note von fünfundzwanzig wechseln lassen und bekam dadurch auch einen schweren Sack mit elf Rubeln Kupfer. Meine Telege war nur mit Bastdecken ausgeschlagen, und darüber war Stroh gelegt. Der Position hatte mit meiner Erlaubnis einen alten Kerl von Petersburg und ein junges Mädchen von Torschok mit aufgepflanzt. Es ging halsbrechend fort, und als ich auf der folgenden Station bezahlen wollte, war der große Beutel mit dem Kupfer weg. Ich war anfangs etwas grämlich und hatte einigen Verdacht auf meine Gesellschaft; als ich aber das große Loch unten in der Bastdecke fand, das mein wichtiger Mammon geschlagen hatte, und die Ehrlichkeit meiner Gefährten gerettet sah, war ich schon zufrieden und lachte herzlich über den Unfall, der so eigen und nicht größer war, und die Leute staunten mich sonderbar an, daß ich mit meinem Tornister über ein solches Unglück scherzen konnte. So etwas läßt sich wohl noch weglachen; und der Postkerl bekam nach dem Schelten über die schlechte Telege fünf Kopeken Trinkgeld mehr.
Wischney Wolotschok ist durch seinen Kanal als Handelsstadt bekannt; auch Torschock ist kein unbeträchtlicher Ort. Alle Stationen sind von da aus [720] nicht ganz unangenehm. Twer hat den Vorzug eines sehr guten Gasthauses auf der Post, wo man zugleich sehr billig ist; eine Wohltat, die in den dortigen Gegenden weit größer ist, als Du vielleicht denkst. Die Wolga gibt hier schon sehr gute Fische, und Du kannst glauben, daß ich sie mir bekommen ließ. Bei Klin ist eine sehr liebliche Gegend von Tälern und Anhöhen, vielleicht die beste auf dem ganzen Wege. Hier aß ich denn dankbar mit großem Appetit das letzte Stück von einem Paar gebratenen Birkhühnern, die mir meine gute Wirtin in Petersburg in meinen Tornister hatte packen lassen. Als eine Eigenheit fand ich hier vorzüglich kleine Pferde und sogar unbeschlagene Wagen, wie das Fuhrwerk der Litauer, Letten und Esten. Hinter Pesky, welches auf einer kalten Höhe liegt, wird der Weg wieder abwechselnd freundlich, bis auf die letzte Station Czernaja Grähs, die sich durch ihren Namen bezeichnet, Schwarzkot. Das Wetter und der Weg bestätigten sogleich die Benennung.
Die Einfahrt nach Moskau ist von der andern Seite von Pleskow über die Berge die schönste, wo man die ganze alte, große, sonderbare Kapitale übersehen kann. Von der Petersburger Seite ist alles flach, und links und rechts decken in einer nicht großen Entfernung noch Wälder die Aussicht. Links liegt, einige Werste von der Stadt, am Walde das neue kaiserliche Schloß, hat aber mehr das Ansehen einer großen Ritterburg als eines kaiserlichen Palastes. Am Tore der Stadt nahm ich von meinen guten Freunden, den Kosaken, Abschied, die nun ihres Weges weiterreisten. Da ich für sie einige Rubel in Auslage gewesen war, dachte ich etwas voreilig, das wird nun wohl kosakisch quittiert werden, und war schon willens, weiter keine Notiz davon zu nehmen! aber der wackere Mann bezahlte mich sehr freundlich, sogar [721] mit billiger Reduktion in Silbergelde. Nun fuhr mich mein Postkerl eine Ewigkeit von Straße gerade hinunter und hinauf bis an den Kreml und von da links in die Nikolaistraße, wo er mich dem griechischen Kloster gegenüber in ein deutsches Gasthaus brachte, zu dem ich schon die Notiz auf der letzten Station gefunden hatte, wo aber außer dem Herrn und dem Oberkellner niemand deutsch sprach.
Vor und nach Wischney Wolotschok ist etwas Sand: sonst ist der ganze Strich von Petersburg bis Moskau Land, aus dem der Fleiß etwas machen kann. Den andern Morgen suchte ich meine alten Freunde auf und fand auch neue, und ihre Hospitalität war so patriarchalisch, daß ich die acht Tage meines Aufenthalts in meinem Wirtshause nichts als einige Male mein Frühstück genommen habe, und so hatte es den Anschien fortzugehen, wenn ich noch acht Wochen dortgeblieben wäre, denn der Kreis erweiterte sich immer. Ich habe mit Küttner die Gewohnheit, daß ich überall, wo ich kann, die Höhen zur Aussicht suche und so führten mich denn Buhle und Goldbach sogleich den Nachmittag im Kreml auf den Turm Iwan Weliky, wo man eine Art von Aussicht hat, wie man sie vom Pantheon und Montmartre in Paris nicht haben kann. Moskau ist beträchtlich größer an Umfang als Paris, ob es gleich weit weniger Einwohner hat. Der Kreml liegt auf einer kleinen Anhöhe am Flusse, mitten hl der Stadt; und dieser Turm ist außerdem noch der größte von allen, so daß man hier rund umher die ganze sonderbare Herrlichkeit übersehen kann. Er ist beständig und für jedermann offen und hat oben nur eine Schildwache, die von unten abgelöst wird. Es muß allerdings ein höchst seltenes, prächtiges Schauspiel gewesen sein, als voriges Jahr an einem Tage auf der linken Seite der Stadt nach dem kaiserlichen [722] Garten zu ein großes, dunkles Gewitter zog, das auch in jenem Teile dreimal einschlug und zu gleicher Zeit diesseit des Kremls in glänzendem magischen Sonnenschein unter einem Gewühl von hunderttausenden Garnerin seine Luftfahrt machte. Gleich unten am Fuße des Turmes liegt ziemlich tief in der Erde die bekannte große Glocke, und einige hundert Schritte davon steht unter einem Verdeck zwischen mehreren andern die bekannte große Kanone; ein Kammerstück, das einem Göttinger Arzt, der noch tiefer hinein nach Rußland auf die Güter des Fürsten Kurakin zog, so ungeheuer merkwürdig vorkam, daß er ihren Anblick für den glücklichsten Augenblick seines Lebens hielt; wozu er noch rechnete, daß er soeben seinen Namen an die große Glocke geschrieben hatte. So, so, dachte ich, und hatte in diesem Augenblicke nicht die beste Hoffnung für die Kranken des Fürsten Kurakin.
Es ist hier ein eigenes Gemisch alter neugriechischer, halborientalischer Erscheinungen und besserer neuerer Architektur aus Italien, was man in Moskau sieht. Das Sonderbarste ist wohl die Kathedrale, die an Gold und Steinen vielleicht alle übrigen Kirchen der Christenheit übertrifft. Alle Verzierungen sind darin schweres, solides Gold. Die meisten Bilder sind freilich zur Ehre der Kunst am besten darin versteckt, aber es sind doch auch mehrere da, von denen es mir leid tat, daß man vor Gold kaum die Nase ordentlich sehen konnte. Wenn das Nimbus sein soll, so ist er nirgends so dick als hier. St. Peter in Rom ist ein gar armer Mann gegen diese Heiligen. Die übrigen besseren Schätze des Kremls, nämlich die Altertümer der Nation, waren eben verschlossen weil man baute; und es gehörte eine außerordentliche Erlaubnis des Generalgouverneurs dazu, sie zu sehen, um welche ich mich nicht bemühen wollte. Etwas davon hätte ich [723] allerdings vorzüglich gern gesehen, nämlich die Glocke von Nowogorod, die mir merkwürdiger gewesen wäre als die andern großen Glocken in Moskau und Erfurt, oder wo sie sonst hängen und liegen mögen. Dies war die Sturmglocke, mit welcher einst die Herren der großen Hanse in Nowogorod zu den Waffen läuteten, und deren Ton den Russen eine lange Zeit Schrecken und Tod war. Das war die Zeit des Sprichworts: Wer kann wider Gott und Nowogorod? Nach der endlichen Einnahme der Stadt wurde diese Glocke natürlich als ein Siegeszeichen nach Moskau gebracht, wo sie billig zu den ersten Merkwürdigkeiten der Nation gehört. Man erzählte mir glaubwürdig, zu Anfange der Regierung des jetzigen Kaisers Alexander sei auf Antrag des Generalgouverneurs ein Befehl gekommen, die alten, unbrauchbaren, lästigen Sachen, die nur die Rumpelkammern füllten, zu verkaufen, damit Platz würde. Das Schicksal habe nun auch die Glocke von Nowogorod treffen sollen; da habe sich aber der Kommandant des Kremls mit aller Macht dawider gesetzt und sie mit seinen Grenadieren zu verteidigen gedroht, bis man einen eigenen bestimmten Befehl darüber vom Monarchen einholte; und der Kaiser habe, wie zu erwarten war, befohlen, daß die Glocke nicht verkauft und eingeschmolzen werde, sondern bleiben solle, wo sie sei. Ein braver, wackerer Mann der Kommandant, der etwas Gutes auch auf Gefahr der Mißdeutung zu tun wagt Wenn geläutet werden sollte, brauchte man nicht erst Glocken von Nowogorod, das weiß Alexander, der so handelt, daß niemand den Gedanken haben wird, gegen ihn zu läuten. Das hiesige Findelhaus ist ein Institut, dem wohl kein anderes dieser Art an die Seite gesetzt werden kann; und so weitläufig auch die Einrichtung ist, herrscht doch darin die musterhafteste Ordnung, soviel [724] ich von dem kurzen Besuch urteilen konnte. Die Gebäude liegen ziemlich frei und gesund für eine große Stadt. Einer der Vorsteher versicherte mich, daß das Institut jetzt zwanzig Millionen besitze und über sechsunddreißig Millionen im Umlauf habe, und das Ganze ist aus Privateinrichtungen entstanden. Eine vielleicht zu glänzende Einrichtung für den Zweck ist das Spital der Familie Golizin, wo die Kranken wirklich prächtig gehalten werden. Gegen hundert werden darin versorgt; es scheint aber meistens auf Vornehmere gerechnet zu sein. Leute geringeren Standes würden hier wirklich verzärtelt und könnten auf den Einfall kommen, ihr ganzes Leben nicht wieder gesund werden zu wollen. Musterhaft eingerichtet ist die Apotheke, besser als ich irgendwo gesehen habe; und die Kirche zeichnet sich durch Geschmack und Zweckmäßigkeit aus. Es dürfte schwerlich eine Privatanstalt von diesem Umfange sonst irgendwo getroffen werden. Von der Kuppel der Kirche, die eine Rotunde ist, hat man eine der schönsten Aussichten, und das Ganze liegt an einem sehr freien, gesunden Orte. Der Verwalter des Hauses war ein sehr feiner, freundlicher Mann; aber der Gedächtnismangel des Arztes kam mir etwas beträchtlich vor, denn auf unsere Erkundigung, welche Art Kranke in diesem Zimmer wären, fragte er erst den Wärter darüber. Ich hoffe, daß es bloßer Gedächtnismangel war.
Einen andern Tag fuhren wir hinaus über die Moskwa auf die sogenannten Sperlingsberge, wo die Vegetation sehr reich ist und die Gegend mancher Schweizergegend nichts nachgibt. Von diesen Bergen übersieht man das ganze Amphitheater des Tals, in und an welchem die große Stadt gebaut ist. Es ist einer der auffallendsten Anblicke, den man haben kann. Wer die Lokalität gut innehat, kann alles unterscheiden [725] bis auf die andere Seite an den kaiserlichen Garten und die deutsche Vorstadt. Hervorstechend ist der ganze Kreml. Für mein eigenes Gefühl hatte ich noch einen andern Moment, wie man ihn nur selten hat. Man zählt, wie ich höre, in Moskau gegen sechshundert Kirchen. Die Kirchen sind dort voll Türme, und die Türme voll Glocken. Ich habe auf mancher Kirche sieben Türme gezählt; und unter dreien sieht man in Rußland selten eine, weswegen die Rechtgläubigen Ketzerei rochen, weil die Isaakskirche in Petersburg nur zwei Türme hat. Es war ein schöner, heller, stiller, freundlicher Nachmittag, wo der Wind sanft über die Stadt herüberwehte. Den Morgen darauf war ein Festtag, der mit allen Glocken den Abend vorher eingeweiht wurde. Stelle Dir nur das Gesumme vor; auf manchen Türmen sind über zwanzig Glocken. Ich habe in meinem Leben kein so magisches, gefühlbetäubendes, vernunfttötendes Tongewirre gehört als hier und in Warschau vor elf Jahren den Grünen Donnerstag und Karfreitag. Du erinnerst Dich wohl der Periode, wo Glocken und Kanonen konzertierten. Hier begriff ich in einer Minute mehr von der Kirchentaktik, als mich viele Jahre Nachdenken und Studium der Geschichte gelehrt hatten. Bemeistere Dich mit Deiner großen Leidenschaft der kleinen Leidenschaften anderer, und Du bist ihr Herr – das Schibboleth der geistlichen und weltlichen Despotie. Von Vernunft und Moralität behält man sodann nur die Namen, damit die heilige Sophistik daraus modeln und drehen kann, was sie nötig hat.
Die Moskwa hat hier ungefähr die Breite der Tiber bei Rom oder etwas mehr als die Saale bei Bärenburg. Von unserer Gesellschaft war auch der Etatsrat Schubert, der als Astronom mit der Gesandtschaft nach China geht. Seit langer Zeit habe ich [726] keinen jungen Mann gesehen, der mit so vielen guten Kenntnissen so viel feine Sitten und Bescheidenheit verbände, als dessen Sohn, der Offizier vom Generalstabe ist und seinen Vater begleitet und unter dessen Leitung ein sehr wackerer Mann zu werden verspricht. Von der Vehemenz der Bewegung auf unserer Reise von Petersburg hierher darf ich Dir anführen, daß nicht allein die Feder meiner Uhr gesprungen war; das wäre kein Wunder, da ich in einer Posttelege fuhr, sondern Schubert und einem seiner Offiziere war das nämliche widerfahren; und diese hatten doch in einem englischen Wagen mit Federn gesessen. Man kann dem ganzen Wege, vorzüglich in der Nachbarschaft von Moskau, nicht das beste Zeugnis geben. Der Uhrmacher in Moskau gab ehrlich die Bedenklichkeit, die Feder würde auf der Rückreise gewiß wieder springen, und wies mich mit der Reparatur nach Petersburg, welchem Rat ich denn auch folgte.
Die alten Gebäude des Kremls werden nach und nach niedergerissen und zum Behuf der jetzigen Zeit andere, geschmackvollere aufgeführt. Das Gouvernementshaus, wo die Dikasterien sind, zeichnet sich schon in dieser Rücksicht aus. Die einzigen, die sich wahrscheinlich noch viele Jahrhunderte halten werden, sind der Turm Iwan Weliky und die Kathedrale. An eine Festung ist bei dem Kreml gar nicht mehr zu denken, ob er gleich bei einem Auflauf immer noch als guter Posten gebraucht werden kann, da er auf der Anhöhe liegt. Seit der letzten Pest sind keine Unruhen in Moskau gewesen; und auch diese letzten entstanden bekanntlich mehr aus Fanatismus bei dem Unglück der Zeit als aus irgendeiner Unzufriedenheit mit der Regierung.
Das hiesige Publikum ist unstreitig eins der reichsten und liberalsten auf dem Erdballe. Es sind, wie[727] man weiß, mehrere Familien hier, die jährlich gegen fünfmal hunderttausend Rubel Renten haben; einige haben noch mehr. Der Hof hat sehr wenig Einfluß auf die Kapitale. Man mag mit ihm zufrieden sein oder nicht, das macht keine große Veränderung von keiner Seite, da alles seinen gewöhnlichen Gang geht und man von keiner Seite zu Extremitäten kommen wird. Man bekümmert sich gewöhnlich in Moskau nicht viel um das, was in Petersburg vorgeht, außer in den Familien, die in irgendeinen Zweig der Regierung verflochten sind.
Die hiesige Universität ist ebensowohl nur erst im Werden als Dorpat, ob sie gleich beträchtlich älter ist. Auswärts übertreibt man alles, das Schlimme wie das Gute. Moskau findet mehr Unterstützung als Dorpat, da der russische Adel weit humaner und liberaler ist, als der livländische sich bis jetzt in der Kollision gezeigt hat. Demidow und Urussow haben dem Museum der Universität ihre schönen Sammlungen geschenkt, mit deren Ordnung jetzt Fischer beschäftigt ist. Sie enthalten Schätze und Seltenheiten aller Art und haben vorzüglich einen großen Reichtum an Schlangen. Die Doubletten wird man mit Vorteil umzutauschen suchen und hat deswegen Verbindung nach allen Seiten eröffnet. Fischer ist schon von Mainz aus als kompetenter Mann in seinem Fache bekannt und wird es an Tätigkeit und Fleiß nicht fehlen lassen. Goldbach muß sich freilich sein Observatorium erst selbst bauen, wozu der Ort sehr bequem und angenehm in dem sogenannten Apothekergarten oder in dem botanischen Garten angewiesen ist. Alte und neue Professoren leben zusammen, wie ich merkte, in guter Einigkeit, und der Rektor, der sich durch Nepotismus persönlich perpetuiert hatte, mußte nach der neuen Einrichtung seine Stelle niederlegen, die nun[728] konstitutionsmäßig nach der Reihe durch Wahl jährlich besetzt wird. Der alte Herr, der den Kredit eines guten Pädagogen hat und gar drolliges Latein schreibt, machte zwar ein etwas saueres Gesicht und verteidigte sein Besitztum nicht übel mit dem Satze, daß kein Gesetz vim retroactivam haben könne, er war aber genötigt, sich der Einigkeit der andern, dem Ansehen des Kurators und dem Buchstaben zu ergeben. Man hat eine russische Literaturzeitung errichtet, wozu die neuen Professoren ihre Beiträge unterdessen in fremden Sprachen liefern, die dann unter der Aufsicht von Sachverständigen übersetzt werden. Da es allen billig zur Pflicht gemacht wird, selbst russisch zu lernen, so geben die meisten schon ihr Urteil über die Übersetzung, ehe sie abgedruckt wird. Es kann zwar nicht fehlen, daß nicht zuweilen kleine Quidproquos mit unterlaufen sollten, wie wir sie auch wohl in dem Französischen und Englischen haben. Das gibt aber zu lachen, und sie werden vergessen. Es geschieht doch etwas, und es entsteht Lust und Tätigkeit. Die Universität hat jetzt ungefähr zweihundertundfünfzig Studenten, worunter viele Stipendiaten sind; freilich eine sehr kleine Anzahl für die Hauptstadt eines so ungeheuern Reichs. Indessen geht es doch besser als vor zwanzig Jahren, wo nicht die Hälfte der Anzahl da war, ob man gleich damals Moskau fast die einzige Universität des Reichs nennen konnte. Die neuen Professoren sind mit den Vorkenntnissen der jungen Leute ziemlich zufrieden, die sich alle leidlich genug im Latein ausdrücken. Buhle sagte mir, daß er doch sechzig Zuhörer gehabt habe. Er mag aber freilich wohl die größte Anzahl gehabt haben, da seine Vorträge zuweilen auch von Privatleuten, die nicht zur Universität gehörten, besucht wurden. Philosophie und philosophische Geschichte hört jedermann gern, zumal [729] wenn sie gut vorgetragen werden. Die Professoren, welche aus Deutschland hingekommen sind, loben übrigens durchaus die freundliche Aufnahme und die gute Begegnung, die sie dort erfahren, von Russen sowohl als Deutschen, die schon längst dort sind; und das von allen Ständen. Auch können sie, wie sie selbst rühmen, von ihrem Gehalt von zweitausend Rubeln gemächlich, anständig und liberal leben, da in Moskau die meisten Bedürfnisse des Lebens ziemlich wohlfeil sind, weit mehr als in Dorpat, wo das Publikum klein und zugleich sehr reich oder ganz arm ist, und wo die etwas feineren Artikel entweder gar nicht zu haben oder außerordentlich teuer sind.
Karamsin war auf dem Lande, ich konte ihn also nicht sehen. Wenn er gleich kein Geschichtschreiber ist, so ist er doch ein interessanter, wackerer Mann und ein guter Dichter; Historiograph mag er immer sein. Zwei gute Männer lernte ich dort noch kennen: den Kollegienrat Pause, einen tüchtigen Schulmann und Literator, und Heym, der sich bekanntlich als Kenner der russischen Sprache auszeichnet und hier das Orakel der Fremden und nicht selten der Russen selbst ist. Beide sind zugleich fröhliche, gemütliche Gesellschafter.
Heute ging Klinger nach Dorpat, und morgen ging ich nach Moskau, heute fuhr Schubert mit seiner Abteilung nach Kasan, und morgen fuhr ich zurück nach Petersburg. Nun ging die Zitterpartie wieder an, und ich hatte bloß den Vorteil, daß mir die Uhrkette nicht mehr springen konnte, weil ich sie nicht hatte machen lassen, um mir einen Anspruch auf Shakespeares Gerberewigkeit mehr zu sammeln. Diesmal fuhr ich insofern allein, daß sich meistens nur irgendein Graubart oder eine alte Frau mit meiner Erlaubnis mit aufsetzte.
[730] In Gorodnaja, wo ich sehr durstig war, brachten mir die Leutchen eine Probe von Bier unter dem Namen Freibier, das man ihnen selbst zu brauen erlaubt hatte, mit einem Jubel, als ob jeder unter ihnen ein Paradies gewonnen hätte. Ein so gutmütiges, dankbares Geschöpf ist der Mensch, wenn man ihm einmal in einer sonderbaren Anwandlung von Gerechtigkeit eines seiner ursprünglichen, natürlichen Befugnisse zugesteht. Die oberste Staatsverwaltung kann allerdings wichtige, durch den Begriff des Staats selbst gegebene Ursachen haben, einzelne Einschränkungen in gewissen Erwerbzweigen zu machen, deren uneingeschränkte Betreibung dem Ganzen Schaden zufügen könnte; es ist vielleicht sogar anzunehmen, daß die Brauerei ein solcher Artikel sei. Daß man aber, wie in Deutschland hier und da wirklich geschieht, ganze Gemeinheiten zwingen will, ihren Trunk aus diesem und keinem andern Brauhause zu holen, wo man sodann in dieser Hinsicht das jämmerlichste Gesöff mischt und eigenmächtig den Preis setzt, ist eine Bedrückung, die an Sklaverei grenzt, und die schon in diätetischer Rücksicht gewissenlos und unverantwortlich ist. Aber wer denkt in solchen Fällen an Gewissen, Verantwortung und Moralität? Der Kastengeist will, das Bajonett blitzt, und die Vernunft schweigt.
Als ich in Twer einzog, sang ein junger Mann, der mit einer recht artigen Gesellschaft nicht weit von der Wolga saß, mit einer wohlklingenden, hellen Stimme die alte artige französische Melodie: »O Mahomet, ton paradis de femmes est le séjour de la félicité.« Ich weiß nicht, ob Du die Musik kennst; sie ist eine der lebendigsten und fröhlichsten, die je ein Franzose gemacht hat. Noch waren mir die Noten davon kaum am Trommelfell verhallt, so kam ich an das Tor, wo die Wache ein ebenso lebhaftes Gegenstück [731] dazu gab und echt russisch und sehr stark und laut und vernehmlich ein Lied abschrie, dessen Refrain drollig genug sehr oft im Chor wiederholt wurde: »J Ja schenilsa kak durak« – ich nahm ein Weib und war ein Narr.
Von Twer bis Medno tat ich nun fast nichts, als daß ich auf dem Sandwege die ungleichartigen Stückchen ruinierte, die ich soeben gehört hatte. Das Französische muß in Rußland sehr bekannt und beliebt sein, denn ich habe es ehemals von den jungen Fanten der Galanterie oft gehört. Das Russische bezeichnet sich durch diesen einzigen Gang schon hinlänglich. Es ist schade, daß ich dies nicht ganz geben kann, denn es ist ein gar barockes Stückchen Arbeit. Wir haben in unserer deutschen Literatur etwas, das ihm an Inhalt ziemlich ähnlich kommt, nur daß die Form nicht so gut zum Singen eingerichtet ist. Ich will nicht das Piakel begehen und es hier aus meinem Gedächtnisse von sechs Olympiaden der Länge nach niederschreiben. Es fängt sich an: »Der Teufel kam vor vielen Jahren«; – und nun kannst Du das übrige in Lessing oder Schiebler selbst nachsehen, denn einer von beiden ist gewiß der Verfasser. Du wirst darin unstreitig die sublimierteste genialische Bosheit gegen das Geschlecht finden, deren ich mich durch Wiederholung nicht mitschuldig machen will.
Da ich denn doch eben nicht als Kurier zu fahren nötig hatte, machte ich mir's bequem und blieb in Leipzig zu Torschock. Das Schild der Stadt Leipzig kam mir dort so freundlich vor, daß ich schon auf dem Hinzuge mir vorgenommen hatte, hier auszuschlafen; welches denn jetzt geschah. Die Wirtschaft sollte dem Zeichen nach deutsch sein; ich habe aber keine deutsche Silbe gehört. Dabei verlor ich jedoch nichts, denn ein Russe, der eine Art von Kellner oder Markeur [732] machte, versorgte mich so gut und billig, als ich beides in der ganzen Stadt Leipzig an der Pleiße wohl kaum hätte erwarten dürfen.
In Wydropust hatte ich einen kleinen Verlust, der mir viel Vergnügen machte. Ich habe ein ganz artiges, gut gearbeitetes Petschaft, von Döll in Karniol gestochen, das mich mit der Fassung dreißig Taler sächsisch kostet. Dieses hatte sich vom Uhrbande losgedreht, und ich hatte es im Troge des Wagens verloren. Es war natürlich, daß mir der Verlust wegen des Metallwerts und der Kunstliebhaberei nicht ganz gleichgültig sein konnte. Ich durchsuchte alles und fand nichts. Eine Menge lustige, dienstfertige Russen standen, wie gewöhnlich, um mich herum. Ich gebe zwei silberne Rubel, wenn mir jemand das Petschaft wiederfindet, sagte ich, und ging in das Posthaus. Die Bärte lärmten und suchten und störten und wendeten alles um, erhoben endlich ein Jubelgeschrei und kamen mit dem Petschaft herein und nahmen ihre zwei Silberrubel in Empfang. Ich weiß wohl, daß man psychologisch noch manches gegen ihre vollendete Ehrlichkeit sagen könnte; aber mir gefiehl es unendlich, und ich fühle mich bei dergleichen Gelegenheiten unter den Leuten so heimisch, als ob ich sogleich bei ihnen bleiben sollte. Doppelt angenehm war es, daß es eben ganz gemeine Russen waren, deren Ehrlichkeit man sonst nicht den besten Panegyrikus zu halten pflegt.
Von meinem Kupfersack hatte ich aber nichts wiedergefunden, als ich zurück in die Gegend kam.
Die Postmeister nennt man gewöhnlich hier nur Postillione und den fahrenden Mann den Postkerl. Dieser ist ein Bauer und jener ein kaiserlicher Offiziant und oft, wie es scheint, auch ein Bauer. Der Fuhrkerl ist mit zehn Kopeken Trinkgeld sehr zufrieden. [733] Was mir aber höchst sonderbar vorkam, war, daß auch der Postmeister für sich ein Trinkgeld forderte. Dies fing in Nowogorod an und dauerte fast regelmäßig fort bis Moskau. Ich muß ihnen zwar gebührend nachsagen, daß sie mit fünfzehn und zehn Kopeken auch zufrieden waren, aber es wollte mir doch gar nicht in meine Begriffe von Anstand und Ehre passen, daß ich dem Postmeister ein Trinkgeld geben sollte. Zwischen Nowogorod und Petersburg forderten sie nichts, welches mir meinetwegen und ihretwegen sehr lieb war, denn ich weiß durchaus nicht, wie man eine solche ärmliche Kleinigkeit mit dem feineren Gefühl zusammen reimen soll. Wenn es nötig ist, sollte man lieber das Postgeld erhöhen und ihnen gesetzlich einen Vorteil verschaffen, denn über zu hohes Postgeld wird sich auch jetzt noch kein fremder Reisender in Rußland beschweren.
In Tosna traf ich auf der Post zwei junge Leute, die in einem großen, schönen englischen Wagen den Weg reisen wollten, den ich kam. Der Wagen hatte durch das unhöfliche Werfen einen Kapitalbruch bekommen; die Herren mußten also die Reparatur abwarten, welche die Handwerker natürlicherweise noch wichtiger machten, als sie wirklich war. Unterdessen trösteten sie sich mit Wein und dem Speisekorbe, und einer von ihnen spielte schnackisch genug auf der Geige, und beide sangen abwechselnd allerlei in verschiedenen Sprachen, meistens aber jenaische Burschenlieder. Sie schienen mich als die gleichgültigste Person der ganzen Umgebung anzusehen und sich also vor mir auf keine Weise nur den geringsten Zwang anzutun. Das war schon gut. Da aber die Herren doch ihres Takts nicht ganz gewiß zu sein schienen, brummte auch ich, so gut ich konnte, einige Gänge italienisch aus dem Axur, guckte so bescheiden [734] als möglich mit in ihre große Karte und gab, als sie einen Ort lange vergebens suchten, durch einen Finger zu verstehen, daß auch mir die Sache nicht ganz wie böhmische Dörfer wäre. Nun waren sie merklich stiller, verloren weiter keine Silbe mehr von der Polyglotte und sprachen gleichgültige Dinge gleichgültig deutsch.
Das teuerste auf der ganzen Fahrt von Petersburg bis Moskau ist wohl der Kaffee, den ich einigemal diätetisch nahm, weil ich in der kalten Nacht fuhr. Die Portion kostete gewöhnlich einen Rubel und einigemal auch einen Rubel und zehen Kopeken. Zuweilen hatten die Postmeister, wie sie sagten, kein Kupfer, um die Papiere auszuwechseln, und ich mußte zu Krämern gehen, und da mußte ich jedesmal für einen Zettel von fünf Rubeln zehen Kopeken Verlust leiden. Das ist zwar widerrechtlich, wie ich höre; aber es geschieht wie vieles Widerrechtliche und kann nicht leicht verhindert werden.
Bei meiner Zurückkunft hier in Petersburg war ich doch ziemlich in den Mißkredit der Langsamkeit geraten, denn in Rußland macht man ungeheuere Strecken in unglaublich kurzer Zeit; und ich hatte trotz meiner Beweglichkeit doch eben keine Ursache gefunden, mit den Herren dort wegen Geschwindigkeit in die Schranken zu treten.
Klinger war auch von Dorpat wieder eingetroffen; und Du wirst leicht glauben, daß ich von seiner Erlaubnis, bei ihm zu sein, so oft als möglich und schicklich war, Gebrauch machte, daß bei diesen Besuchen philosophische, literarische und politische Reibung genug entstand, und daß ich diese Stunden zu den besten meines Lebens zähle. Daß wir nicht immer beide von einerlei Meinung waren, versteht sich von selbst; und daß jeder sodann die seinige so ziemlich hartnäckig [735] verteidigte, gleichfalls. Wenn gute Männer in der Hauptsache einig sind, gehört es zur Würze und vielleicht zum Glück des Lebens, wenn sie über die kleinen Schattierungen verschieden denken. Klinger war mit seiner Reise nach Dorpat außerordentlich zufrieden, welches mir seinetwegen und wegen des Instituts und der Humanität überhaupt sehr lieb ist.
Den russischen Johannistag, wenn dies nach unserm Kalender ist, magst Du selbst nachsehen, denn ich bin in diesem Punkte nicht sehr taktfest, war ich mit meinem Wirt und altem Freunde, dem Etatsrat Beck, in Pawlowsk, vorzüglich um Storch zu besuchen. Beck führte mich zur Oberhofmeisterin der kaiserlichen Familie, der Gräfin Lieven, deren Sohn, der General, von Polen aus mein alter Freund war und es hoffentlich noch ist, ob ich ihn gleich sehr lange nicht gesehen habe. Die Dame hat sich durch die Erziehung der liebenswürdigen Töchter des kaiserlichen Hauses billig die beste Meinung im Reiche und im Auslande erworben; und ich fand in ihr so viel schönen, freundlichen, reinen weiblichen Charakter, daß ich fast den Hof vergaß und nur das Ideal einer guten Matrone sah. Die Erscheinungen des Tages waren natürlich, sobald wir allein waren, der Gegenstand des Gesprächs, und die Gräfin klagte, wie es schien mit wahrhaft tiefem Gefühl, über die traurigen Aussichten in die Zukunft von mehreren Seiten und schrieb sie vorzüglich mit dem Verfall der Sittlichkeit und der Vernachlässigung aller Religion zu. Nichts ist mehr heilig, und überall behandelt man die Religion verächtlich. »Gnädige Frau«, antwortete ich, »der Grund dieser Erscheinung liegt aber auch vorzüglich mit darin, daß man den Nationen überall Dinge als das Wesen der Religion aufdringt, die damit nur in sehr entfernter oder in gar keiner Verbindung stehen.
[736] Kalte, sich oft widersprechende und vernunftwidrige Dogmatik, leere Formeln und nichts bedeutende Zeremonien werden den Völkern überall als etwas Wesentliches vorgehalten, während man die ersten heiligen Grundsätze der Vernunft, die unwidersprechlich die festeste Base aller Religion ausmachen, nichts achtet. Die Lehre von Gott und Vorsehung und Tugend und Laster, vorzüglich von Recht und Pflicht und Glückseligkeit und Elend, wird nur insofern berührt, als man es seinen Absichten gemäß findet. Was dem Menschen am nächsten liegt und ewig liegen muß, seine Obliegenheiten und seine Befugnisse, darüber läßt man ihn absichtlich in Unwissenheit und hält ihm Dinge vor, von denen er durchaus nichts verstehen kann, und die ihm in die Länge nicht ehrwürdig bleiben können, weil sie von der Vernunft nicht genehmigt werden. So machen es alle christliche Parteien, an der Tiber und bei uns und bei ihnen. Was wirklich rein wahr und echt ehrwürdig ist, kann nie verächtlich werden. Ich habe selbst noch nie von einem Bösewichte gehört, der die Tugend offenbar verachtet hätte.« In diesen oder ähnlichen Worten sprach ich mit Wärme und Teilnahme, vielleicht länger und heftiger, als wohl schicklich gewesen wäre. Die Gräfin schien indessen mit Aufmerksamkeit und sogar mit einiger Rührung zuzuhören.
Als ich in dem Quartier des Herrn von Block mit der Familie bei Tische saß und zu Johannis die Gesundheit der Herren Johannes trank, worunter der Wirt und noch ein Gast und, wie Du weißt, auch Dein alter Freund gehörte, kam eine Botschaft, daß die Kaiserin Mutter mich um sieben Uhr auf der Ferme sehen wollte. Das wir mir nun unerwartet genug, und meine halbhuronische Personalität geriet doch einige Sekunden ins Betroffene. Es versteht sich aber, daß[737] ich mich bald wieder sammelte, mich so gut als möglich kleidete und zur bestimmten Stunde auf einer kaiserlichen Linie hinfuhr. Man hatte mir eine Menge Dinge vorgepredigt, was Observanz sei; ich hatte aber wenig gemerkt und glaubte, jeder Schritt werde sich schon gehörig nach dem Takt des vorhergehenden messen. Die Kaiserin sprach mit mir ungefähr eine halbe Stunde, zuerst über mich selbst, meine kleinen Wanderungen und literarischen Arbeiten. Besonders fragte sie mich, da sie gehört hatte, ich beschäftige mich auch mit dem Griechischen, warum ich nicht eine Reise nach Griechenland mache. »Nach Italien, Frankreich und Rußland«, antwortete ich, »geht man bald und leicht und sicher; aber nach Griechenland zu wandern, wie Griechenland jetzt ist, ist in jeder Rücksicht über meine Kräfte. Auch bin ich eben nicht Antiquar und Literator, sondern nähre mich nur an dem griechischen Geiste zu meiner eignen Stärkung, und das kann ich bei den alten Schätzen, die wir von der Nation haben, zu Hause jetzt vielleicht besser als in Athen und Sparta.«
Die Kaiserin fragte mich viel über Schiller, dessen Tod noch das Gespräch der Stadt war, und sprach von seinen Schriften mit hoher Achtung und von manchen mit einer so feinen Kritik, daß auch Schiller, hätte er sie gehört, sie gewiß benutzt hätte Da ich mit Schiller immer in freundschaftlichen Verhältnissen gewesen war, konnte ich mit wahrer Wärme von seinem Charakter sprechen. Der bessere Mensch in ihm ließ von den minder guten Momenten keine Flecken einrosten. »Schiller ist mir am liebenswürdigsten gewesen als Hausvater«, sagte ich und erzählte der Kaiserin, wie ihn einst die Unruhe wegen seiner kleinen Tochter nicht einige Tage länger in dem Zirkel seiner Freunde in Kursachsen ließ. Er eilte nach Weimar; und als ich[738] einige Wochen nachher ihn besuchte, kam er mir im Vorhause mit dem lieblichen Ideale von Mädchen auf dem Arme entgegen und sagte: »Sehen Sie, das ist das kleine närrische Geschöpf, das mich nicht ruhig bei Ihnen lassen wollte.« Die Kleine klammerte sich freundlich an seinen Nacken und rechtfertigte, was er sagte. Der Kaiserin schien die kleine Erzählung nicht unangenehm zu sein. Sie sprach noch manches über unsere Literatur und mit vieler Bestimmtheit und Klarheit und einer Kenntnis, die mich vielleicht bald in Verlegenheit gesetzt haben würde, denn es ist natürlich, daß die Kaiserin mehr Zeit und Mittel hat, viel und gut zu lesen und sich zu unterrichten, als ich. Sie hatte vielleicht gehört, daß man mir einige nicht verwerfliche Anträge gemacht hatte dortzubleiben und fragte, warum ich das nicht wollte. Ich sagte ihr sogleich mit Wahrheit den Hauptgrund, daß ich in meinem Vaterlande eine alte Mutter habe, der ich für meine Entfernung durch nichts Ersatz geben könne, und die in ihren Jahren das Plätzchen, auf dem sie alt geworden, durchaus nicht verlassen werde. »Ihre Majestät werden das Gefühl gehörig würdigen, da Sie selbst Mutter sind«. »Dawider ist nichts zu sagen, dawider ist gar nichts zu sagen«, sprach sie mit sichtbarer Zufriedenheit.
Als ich wegging, ließ sie mich noch in den Gärten herumfahren und befahl, daß man mir das Schloß zeigen sollte. Von den Häusern, es mögen Schlösser oder Hütten sein, sind mir immer die Bewohner das wichtigste; also auch hier. Ich habe nicht außerordentlich viel Sinn für das, was außer dem Menschen ist. Man glaubt wohl mit Recht, daß in keinem Fürstenhause mehr Innigkeit und freundliche Humanität, mehr Güte und wahre Aufklärung herrscht als in der hiesigen kaiserlichen Familie. Selbst der verstorbene Kaiser [739] Paul hatte, wie alle Unparteiische versichern, bei seiner großen Exzentrizität und seinen vielen Mißgriffen eine entschiedene Stimmung dafür und genoß ungeteilt die Liebe der Seinigen. Storch hat, wie Du weißt, die Gärten von Pawlosk beschrieben, und es würde sehr anmaßlich sein, mich nach ihm in eine weitläufige Beschreibung einzulassen. Die Anlagen sind ziemlich groß, die Wälder schön, die Partien mit Geschmack verteilt und die Verzierungen ohne Überladung. Alles, was das Klima erlaubt, hat Fleiß und Aufwand geleistet. Nur schade, daß man nicht mehr und nicht besseres Wasser hat. Als Seltenheit hat man hier noch einige ziemlich hohe italienische Pappeln, die man aber gegen die Strenge der Kälte im Winter in große hölzerne Kasten einschließt und noch mit Stroh verwahrt. Sie sind die einzigen, die ich so hoch nordwärts gesehen habe; ich kann also nicht begreifen, wie Acerbi in Kengis, weit über Torneo oben, italienische Pappeln gesehen hat, er muß sich in der Art geirrt haben. Die Gruppe der Grazien, als das Beste dieser Art im Garten, scheint von Canova zu sein; ich habe es nicht erfahren können, auch von Storch nicht. Wenigstens wüßte ich nicht, wer von den Neueren dieser Zeit noch so etwas hätte machen können.
Im Schlosse war mir das Wichtigste ein kleines Kabinett, in welchem nur vier Gemälde hingen: ein Belisar, ein verlorener Sohn, eine Madonne, vermutlich von Raphael, und ein Bernet. Pauls Familie von Kügelgen, in einem andern Zimmer, wird vielleicht einst ein Familienstück von unschätzbarem Wert sein; die Arbeit des Künstlers verdient schon jetzt großen Beifall. Die Ähnlichkeit ist nach dem Zeugnisse aller, welche die ganze kaiserliche Familie näher kennen, außerordentlich.
[740] Storch ist mir durch seine persönliche Bekanntschaft lieber geworden, als er es vorher in seinen Schriften war. Ich hatte ihn in dem Verdacht der geflissentlichen Verschönerungen; aber er glaubt wirklich mit hohem Enthusiasmus alles, was er sagt; und das macht den ehrlichen Mann, wenn man gegen die Äußerungen moralisch nichts haben kann. Er ist wirklich überzeugt, daß Alexander um sich her die Paradiese schaffen wird, welche die schöne Schwärmerei sieht. Niemand kann das heißer wünschen als ich; niemand wird sich reiner darüber freuen, aber bis jetzt ist es mir noch unmöglich, alle die schönen Sachen mit meinen Augen zu sehen. Die Schwierigkeiten sind ungeheuer. Wenn es ihm gelingt, die überfeinerte Nation in die festen Schranken des Rechts zu setzen, so hat er mehr getan als Peter der Erste.
Vorzüglich merkwürdig war mir in Pawlosk noch die Musik in der Kapelle. Es ist die einzige Kirchenmusik, die ich in meinem Leben gehört habe, die ganz den reinen Charakter des Ernstes, der Würde und der hohen Andacht hatte, die der Religion zukommen. Alle Augenblicke kommen mir bei uns in den Kirchen musikalische Gänge vor, die mich glauben lassen, ich sei in der Oper. Wenn auch vielleicht viele die Kirche für die Oper nehmen, so irren sie doch sehr, wenn sie das Gefühl hier auf die nämliche Art behandelt wissen wollen. Mir ist nichts heiliger als hohe, reine, wahre Religion; und desto heiliger, je seltener ich sie finde. Das Verdienst, die Musik hier zu dem Zwecke der Religion so glücklich gestimmt zu haben, hat ein einziger Mann, dessen Name mir wieder entfallen ist; aber er hat meine Verehrung in einem ebenso hohen Grade als Mozart, den ich für den größten Musikus außer der Kirche halte.
Den andern Tag erhielt ich ein Billet zum Familientheater [741] der Kaiserin, wo zum Geburtstage des Großfürsten Nikolaus eine französische Oper gegeben wurde. Die Schauspieler waren von Petersburg gekommen. Die eklektische Musik war ziemlich mittelmäßig und der Gesang nicht ohne Ausnahme gut. Was mir am meisten wohltat, war die freundliche Mischung des Publikums, wenn man es so nennen kann. Es war nur ein Familienfest, bei dem das ganze kaiserliche Haus zugegen war, mit allen, die amtswegen bei Hofe sein mußten, und überdies so viel anständige Leute, als Gelegenheit hatten, Eingang zu erhalten. Alles hatte das Ansehen des Öffentlichen, bloß die Enge des Platzes beschränkte die Anzahl der Zuschauer. Der Kaiser kam und blieb und ging ohne Wache, kein Bajonett wurde gesehen. Bloß vor der Türe stand der gewöhnliche Posten der Hauspolizei. Das ist gewinnendes Zutrauen.
Nach Gatschina kam ich nicht, weil mir die Zeit fehlte, ob es gleich, nach der Gegend zu urteilen, nebst Peterhof wohl das interessanteste von allen kaiserlichen Lustschlössern sein mag. In Zarsko Selo herrscht wohl die größte Pracht; ein Artikel, von dem ich nicht urteilen kann, da ich selten die gehörige Aufmerksamkeit darauf habe. Für den Künstler ist dieses Schloß noch in der Rücksicht merkwürdig, weil es in einer Art von Portikus fast alles enthält, was die russische Kunst an Kopien und Originalen Gutes geliefert hat. Von der ersten Katharina erbaut und von der zweiten erweitert und bewohnt, ist es vielleicht der merkwürdigste Platz des europäischen Nordens seit einigen Jahrhunderten, man mag die Sache anthropologisch oder politisch nehmen.
Peterhof hat für die Naturliebhaber und sogar für die idyllischen Seelen mehr Reiz, wenn man auch vergißt, daß der größte Mann des Nordens aus der neueren [742] Zeit hier seine Schöpfungen dachte und ausführte. In Rücksicht des Örtlichen würde mir Peterhof weit lieber sein als Versailles, wenn nur die Strenge des Himmels nicht so unerbittlich wäre. Überall trifft man auf eine Stelle, wo Peter der Erste irgendeine Lieblingsanlage hatte, wo er seine ernsthaften Geschäfte trieb und seine Erholungen genoß, wo er seine Flotten in Kronstadt von Tage zu Tage unter seinen eigenen Augen entstehen sah. Hier sieht man seine kleinen Zimmer und folgt darin seinen großen Plänen, die er nicht allein dachte, sondern auch ausführte; ob auch wirklich immer zum Besten der Menschheit und seines eigenen Volks, wäre eine sehr problematische Frage. Dergleichen Dinge fragt immer nur erst die verwegene Nachwelt; die Götter der Gegenwart wagt man mit solchen Kleinigkeiten nicht zu behelligen.
Der wichtigste Überrest von Peters Händen ist wohl das kleine Häuschen in Petersburg an der Newa dem Sommergarten gegenüber, vor welchem auch noch das Boot liegt, das er selbst gebaut haben soll. Ich habe nie ein schöneres Fahrzeug dieser Art gesehen, so richtig und herrlich sind alle Verhältnisse; und es scheint noch so gut zu sein, daß man es mit geringer Mühe wieder flottmachen könnte.
Mit der Eremitage in Petersburg ging es mir wie mit dem Kreml in Moskau. Es wurde gebaut, und alles war eingepackt und verschlossen; ich konnte also die Schätze der Kunst nicht sehen. Und doch wären mir diese vielleicht das Sehenswürdigste in ganz Petersburg gewesen, denn es sollen herrliche Sachen darunter sein, wenn auch nicht so viele Raphaele dabei sind, als der Nationalstolz behauptet. Köhler war so freundlich, als sich nur von einem Freunde der Musen erwarten läßt; aber das Heiligtum blieb doch ein Adyton für mich. Voltaires Bibliothek, die ich hätte sehen [743] können, war mir so wichtig nicht. Ein anderes wäre es gewesen, wenn ich Zeit gehabt hätte, darin zu studieren, da hätte es wohl die Mühe belohnt zu sehen, womit der alte Satyr von Ferney sich vorzüglich beschäftigte.
Die Antiken in dem Taurischen Palast scheinen auch eben nicht zahlreich und ausgezeichnet für diejenigen zu sein, die die Pariser Sammlung und die besten in Italien gesehen haben. In dem großen Gartensaale desselben, von dem aber das Gerücht noch mehr Lärm macht, als es verdient, standen einige gute Sachen, es war aber nicht erlaubt, sie gemächlich näher in Augenschein zu nehmen, da man die Vorbereitung zu einem großen Feste darin machte. Ein Fremder kann wohl schwerlich in den schönen Anlagen des Gartens herumwandeln, ohne sich mit dem sonderbaren Manne zu beschäftigen, der hier eine ziemliche Zeit sein Wesen trieb und so ziemlich der Despot des Nordens war. Es geht Potemkin wie allen eigenen hervorstechenden Charakteren, es gibt einige, die ihn für groß und gut zugleich halten, und andere, die durchaus weder das eine noch das andere an ihm finden wollen. Die letzten irren unstreitig mehr als die ersten. Der Kaiser Paul hatte gar keine Ursache, ihn zu lieben; aber seine Empfindlichkeit gegen ihn ging nachher oft so weit, daß er manches Gute bei der Armee wieder vernichtete, wie es schien, bloß weil es unter Potemkin entstanden war. Potemkin war als Militär ein vortrefflicher Eklektiker, und seine Ordonnanz bestand aus dem Besten, das er von verschiedenen Nationen zusammengelesen hatte. Vieles hatte er von den Schotten, die ohne Widerrede vortreffliche Soldaten sind.
Ein großer Genuß war für mich die herrliche Aufnahme, die ich bei Suchteln fand. Mich deucht, so[744] nimmt sich der Mann von echtem Wert und echter Humanität. Kaum war ich gemeldet, als er mir mit offenen Armen entgegenkam: »Ah, mon cher camarade de malheur, soyez bien venu! A présent nous sommes un peu mieux qu'a Varsovie il y a onze ans.« – »Beaucoup, beaucoup, V. E., grace au ciel!« sagte ich; und er führte mich selbst an den Händen ein und stellte mich der Gesellschaft vor. Du weißt, daß dieses eben nicht meine Eitelkeit ist, aber es tut wohl, wenn man solche Freundlichkeit findet. Bei dem General Igelström in Riga ging es nicht so gut. Ich ließ mich melden, bloß um dem alten Herrn als meinem ehemaligen Chef meine Achtung zu bezeigen, eine andere Absicht konnte ich durchaus nicht haben. Er ließ mich ziemlich lange stehen und mir endlich sagen, er sei krank; wenn er wohl sein werde, wolle er mich sehen. Sein Arzt und sein Neffe hatten mich vorher seines hinlänglichen Wohlseins versichert. Ich ging und kam natürlich nicht wieder, denn ich war nicht hingegangen, um den Hof zu machen. Es war eine Zeit, wo er mir alle Geheimnisse seiner öffentlichen Ämter und seiner Privatverhältnisse anvertraute, ein Vertrauen, das ich nie mißbrauchte, wo ich wochenlang an seinem Bette saß und arbeitete, wo er mich wie einen vertrauten Freund behandelte und sich dann mit meinen Papieren vor der Monarchin rechtfertigte. Ich werde noch immer seinen Charakter gegen jeden verteidigen, denn ich habe nie eine Widerrechtlichkeit an dem Manne gesehen. Jetzt schien er auch zu Hause das Oberkommando nicht mehr zu haben.
Zu meiner wirklich großen Betrübnis erfuhr ich jetzt öffentlich in Petersburg zwei Nachrichten aus meinem Vaterlande, die mich mehr und länger beschäftigten als ich bei meiner isolierten Lage für möglich gehalten hatte. Die eine war der große Brotmangel; die [745] zweite, daß der Kurfürst auf dem Landtage den Gutsbesitzern für einige Bereitwilligkeiten die Freiheit zugestanden habe, die Justitiarien willkürlich abzusetzen. Beides setzte mich in einen Grad von Unruhe, über den ich mir weiter keine Vorwürfe machen will. Ich habe oft und laut gesagt, daß unsere Landesverwaltung so wenig Rücksicht auf möglich eintretenden Mangel nimmt, daß wir bei den ersten Mißwachsjahren wieder in weit drückenderer Not und in weit größerer Hungersgefahr sind, als in den Jahren siebzig des vorigen Säkulums. Nur Geld sucht man zu gewinnen und aufzuschütten, als ob nur allein Geld der Maßstab der Glückseligkeit eines Volks wäre. Mit Friedrichs des Zweiten Tode sind mit frommer Zuversicht fast alle Magazine leer geworden. Diese Frömmigkeit halte ich für sehr gottlos. Der Kurfürst von Sachsen, gewiß einer der gerechtesten und liberalsten Männer von Europa, ist Privatbesitzer von fast dem dritten Teile des Landes und könnte und sollte durch gemessene, humane Bewirtschaftung seiner Güter den Marktpreis des Brots in seiner Gewalt haben. Aber weil man die Pächter hinauftreibt, so hoch man nur treiben kann, kann man ihnen sodann weiter freilich keine Vorschriften über den Verkauf geben, da sie das Quantum erschwingen müssen, so daß unter diesem Vorwande der gröbste Eigennutz ein freies, weites Feld hat. Das Resultat läßt sich ohne große Weisheit berechnen. Den kurfürstlichen Pächtern folgen alle Güterbesitzer und größeren Landleute. Alles, was verkauft, gewinnt freilich Gold, aber der Verkaufenden sind doch immer wenige, und die größere Menge der Kleineren auf dem Lande und in den Städten muß notwendig leiden. Es entsteht dadurch ein gegenseitiges, verhaßtes Schrauben, das traurige Kollisionen herbeiführen kann. Zum Glück [746] war, wie ich bald erfuhr, nach der allgemeinen Sitte des Gerüchts, auch der Brotmangel in meinem Vaterlande in Petersburg übertrieben.
Den zweiten Artikel der Justiz würdigte man selbst in Petersburg öffentlich mit verdienter Strenge. Man arbeitet jetzt hier, eine festere Gerechtigkeit zu schaffen, und fand, daß man auf diese Weise in Sachsen daran arbeitet, sie wieder zu zerstören. Schon, daß ein Privatmann einen Richter, sogar auch in seiner eigenen Sache, einsetzt, ist eben nicht aus den geläutertsten Begriffen über Staat und Gerechtigkeit genommen; daß aber dieser Privatmann diesen Richter auch nach seinem Gutdünken soll absetzen können, führt die Freiheit der deutschen Bauern bald wieder dahin, wo sie jetzt unter den Letten und Esten ist. Wo die Willkür anfängt, hört gewöhnlich das Recht auf. Die Gerichtshalter waren bis jetzt leider schon abhängig genug von den Patronen, nun sind sie so ziemlich ganz ihre Geschöpfe. Es gehört mehr als gewöhnliche Stärke dazu, sich für das Recht eines Dritten der Macht des Reichtums und der Gewalt des Kastenwesens zu widersetzen und dadurch vielleicht sich und seine Familie dem Mangel preiszugeben. Durch diese Äußerung wird an der Rechtlichkeit der höheren Dikasterien nicht gezweifelt, wo sie nicht ausschließlich der Kastengeist in Beschlag genommen hat; aber man müßte die Schikane und Bösartigkeit der Menschen nicht kennen, wenn man sich in ihrer Willkür sicher halten sollte. Diese Maßregel, wenn sie wahr ist, ist unstreitig ein Schritt zu sehr harten Bedrückungen. So urteilten hier laut unbefangene Männer aller Art, und ich trete mit Bedauern ihrem Urteil bei. Gebe der Himmel, daß es anders und besser sein mag, als man hier sagte.
Ein sehr rührender, feierlicher Gang war mir der[747] Besuch in der Festungskirche, wo von dem Stifter der Stadt an die Leichname aller Regenten Rußlands hier im letzten Pompe beisammenliegen. Die Särge stehen ohne Gruft am Tage, ich wandelte vor ihnen auf und ab, las die Inschriften und überlief die ungeheuern Veränderungen, seitdem Peter den Sitz der Herrschaft von der Moskwa hierher trug. Ich bin kein moralischer Empfindler, aber ich konnte mich doch eines Schauers kaum erwehren bei dem Gedanken, daß ich hier unter den Resten der Fürstengröße einer Nation stand, die mit herkulischer Kraft nicht längst aus dem Chaos der Nacht hervortauchte und jetzt in furchtbarer Gährung liegt, was sie werden soll. Ich war schon mehrere Male mit eigenen Gefühlen in dem Michailowschen Palast gewesen, hier stand ich vor dem Sarge Pauls, des guten, verkannten, unglücklichen Mannes, der gewiß einer der liebenswürdigsten Privatmänner gewesen wäre und mit vielen andern unter der Zentnerlast der Krone strauchelte. Nach allem, was ich über den Charakter Pauls erfahren habe, war er gewiß ein Fürst, der das Gute wollte; und ein solcher Mann ist selbst gut. Er war nach meiner Überzeugung, trotz allem, was man vom Gegenteile sagen will, physisch und moralisch krankhaft, alle seine Bilder, kein einziges ohne Interesse und kein einziges ganz unähnlich, sagen das. Er geriet schon bei dem lebhaften Gedanken an Unordnung und Ungerechtigkeit in krampfhafte Bewegungen. Man war der vollkommensten Gerechtigkeit gewiß, sobald er selbst hören und urteilen konnte. Die geistige und körperliche Spannung, die daraus entstehende Mischung von Zärtlichkeit und Härte, das grenzenlose Hingeben und das ängstliche Mißtrauen, und überhaupt viele Widersprüche seiner Natur müssen größtenteils aus den Verhältnissen seiner Jugend erklärt werden. Er hatte die Menschen [748] einmal falsch gegriffen, und nun folgte ein Mißgriff auf den andern; die unglückliche Periode der Zeit wirkte unwiderstehlich mit ein und half den Irrtum letal machen. Hätte er einige Jahre länger gelebt, so hätte die Gefahr bloß eine andere Gestalt gewonnen, und es wäre ein Problem gewesen, welche Partie ein Mann wie er sodann ergriffen hätte. Unparteiische verkennen in vielen Punkten gar nicht die Wohltätigkeit seiner Strenge. Man fürchtete sie und blieb wenigstens aus Furcht vor ihm in den Schranken der Mäßigung. Leider hat es den Anschein, als ob die Milde seines Sohnes der Verwegenheit der kleinen Despoten wieder viel freies Feld ließe. Man spricht wieder laut von neuer, eigenmächtiger Bedrückung der Militäre, von dem Einfluß des Nepotismus in die Justiz, von der auffallenden Schlaffheit und Willkür der Polizei. Man nennt Ort und Zeit und Namen und alle Umstände, wo man mit bestimmten Geldsummen Prozesse bei dem Senate durchsetzt, und wenn man dem glauben darf, was man darüber hier und da von ganz rechtlichen Leuten fast apodiktisch hört, so herrscht in dem höchsten Tribunale eine offene, ehrlose Käuflichkeit, bei der man schaudern möchte. Es kann in unsern Staaten so nur wenig Gerechtigkeit in der Welt sein; und wenn dieses wenige noch dazu für Gold feil ist, so möchte man schon aus Philanthropie sich umsehen, wo der Weg zum Tempel hinausgeht.
Es geht aus der schönen Psychologie hervor, daß der Kaiser Alexander jetzt noch mehr das Ansehen der Milde trägt, denn welche Erscheinung wäre beim Antritt eines jungen Mannes die Austerität eines oft getäuschten, vollendeten Weltkenners? Aber es wird nötig sein, und ich hoffe, dann auch geschehen, daß er mit fester, unerschütterlicher Strenge auf der Ausführung [749] ernster Entschlüsse beharrt. Freundlichkeit und Milde liegt in dem Charakter dieser Jahre und der natürlichen Güte, aber der Regent wird wahrscheinlich oft ernster und unerbittlicher werden müssen, als er und die Guten mit ihm es wünschen und doch erwarten.
Eine der Geschichten des Tages war noch die Verurteilung des Verbrechers von Dago, der, wie bekannt ist, als Seeräuber auf seiner Insel mehrere Jahre den Kakus gespielt und eine Menge Menschen ins Verderben gebracht hatte. Das Leben dieses Mannes in unsern Tagen ist eine Erscheinung, die selbst in der Barbarei der Zeit des Herkules durch Bosheit merkwürdig gewesen wäre. Der Prozeß, der unter Paul angefangen hatte, wurde nun ziemlich langsam betrieben, und schon glaubte man, daß ihn die große Vetterschaft im Senat glimpflich genug durchbringen würde. Wirklich soll auch ein sehr sanftes Urteil schon abgefaßt und zum Vortrag fertig gewesen sein; da habe man zufälligerweise dem Monarchen einen sehr strengen Spruch gegen einen jungen Menschen zur Unterschrift vorgelegt, der für einige hundert Rubel Banknoten gemacht hatte. »Das ist hart, das ist sehr hart«, soll der Kaiser beim Lesen gesagt haben, »ist das so gesetzlich?« »Ja, Ihre Majestät«, sagte der Referent. »Dann kann ich ihm nicht helfen, dem unglücklichen Menschen, aber nun will ich doch sehen, welche Strafe man dem Bösewicht von der Ostsee zusprechen wird?« Der Referent, der den hohen Ernst des Monarchen gesehen, erzählt man, habe es nun nicht gewagt, das Urteil so vorzulegen, und es sei im Senat aus Gründen der Klugheit so geschärft worden, wie es nachher vollzogen worden ist. Ich gebe die Anekdote, wie ich sie von einigen nicht leichtsinnigen Personen gehört habe. Sie könnte wenigstens psychologisch [750] wahr sein und machte dem Herzen des Monarchen Ehre, denn Gnade gegen Bösewichter ist gewiß Ungerechtigkeit.
Wenn man öffentlich von der kaiserlichen Familie redet, rühmt man freiwillig und freudig durchaus von ihr den Charakter der schönen Humanität und der allgemeinen Güte. Nur von dem Großfürsten Konstantin spricht man hier und da mie lauter Mißbilligung; und es gibt sogar Leute, die ihn für schlimm halten. Nach allem, was ich von ihm in Erfahrung habe ziehen können, kann ich dies von ihm nicht glauben, aber es ist auch nicht zu leugnen, daß eine beispiellose, leidenschaftliche Heftigkeit, die an Unbändigkeit grenzen soll, ihm zuweilen das Ansehen großer Verdorbenheit gibt. Er war wegen der Lebhaftigkeit seines Geistes der Liebling seiner Großmutter; und es läßt sich leicht begreifen, wie auch die mütterliche Zärtlichkeit manche Jugendaufwallung weit gelinder sieht als der strengere Beurteiler in öffentlichen Verhältnissen. Seine Familie liebt ihn ohne Ausnahme, ein Beweis, daß er natürliche Güte besitzen muß. Sonst ist sein Mutwille fast grenzenlos und hat ihn zu Schritten verleitet, von denen ich gern die Hälfte auf die Entstellung des Mißvergnügens schreiben will. Es ist sehr traurig, daß der junge, wirklich liebenswürdige, sehr gebildete Mann Gefahr läuft, dem Jugenleichtsinn seinen bessern Charakter aufzuopfern. Die Wirkung ist schon sichtbar. Man flieht seine Nähe, weil man das Spiel seines Mutwillens fürchtet. Die Männer bürden sich bei sich selbst und der Nation eine schwere Verantwortung auf, die sich zu Gefährten und Ausführern seiner jugendlichen Einfälle hergeben. Sie müssen seine Achtung verlieren, sobald er zu ernsthafter Besinnung kommt; und das geschieht gewiß, wenn seine bessere Seele eine ruhige [751] Übersicht der Dinge gewinnt und er selbst das Bedürfnis fühlt, statt des rauschenden Beifalls der Schwärmer die Liebe und reine Achtung der Vernünftigen zu besitzen. Ich habe ihn nur ein einziges Mal ganz in der Nähe gesehen, wo er seine Befehle einem Offizier auf eine so ungestüme, für das Publikum so wenig schickliche Weise gab, daß ich an der Stelle des Offiziers den andern Morgen gewiß meinen Abschied gefordert hätte. Öffentliche Achtung ist das heiligste Unterpfand zwischen Männern von Ehre.
Der botanische Garten der Akademie wird jetzt besser gehalten als ehemals, und der Gärtner scheint ein wackerer, tätiger Mann zu sein, der in seinem Garten und seinem Linné zu Hause ist. Eine eigene Art von Ökonomie, die mir bei der reichen Akademie gar sonderbar vorkommt, ist, daß man die größere Hälfte des Gartenbodens an Gemüsekrämer verpachtet hat und dadurch die Wissenschaft, für die er bestimmt ist, auf ein ziemlich kleines Plätzchen einschließt, und dieser Pacht ist sogar noch unter Alexander verlängert worden, wie ich höre.
Ich war, wie Dir bekannt, halb und halb mit der Absicht ausgegangen, hier Zutritt bei dem Kaiser zu suchen und ihn um einen kleinen Jahrgehalt zu bitten, den ich verdient zu haben glaube und mit Selbstgefühl erwarten könnte. Schon unterwegs hatte ich den Gedanken ziemlich aufgegeben, und hier fand ich den Monarchen durch die kritische Lage der öffentlichen Angelegenheiten so sehr von wichtigen, auf keine Weise angenehmen Geschäften belagert, daß es mir nicht einfiel, einen Schritt deswegen zu tun. Es würde mir vielleicht so schwer nicht geworden sein, aber bei genauerer Prüfung fand ich, daß es doch wohl besser sei, aus eigenen Kräften durch mich so lange als möglich allein zu leben. Es ist für meine Art, zu sein und[752] zu denken, besser; ob ich meiner gleich so gewiß bin, daß mich kein Gold und kein Glanz der Erde zu irgendeiner Meinung bestechen würde.
Seit einigen Tagen ist der Gegenstand der allgemeinen Unterhaltung die Besetzung und Einverleibung von Genua und die Zurückberufung des Gesandten, der zur Beilegung der Streitigkeiten nach Paris gehen sollte. Das wird nun wohl die Eröffnung zu einem neuen Trauerspiele werden. Konsequent sind die Schritte der Franzosen, da sie ihre Stärke von dieser Seite und die Schwäche ihrer Nachbaren kennen. Von Gerechtigkeit ist die Frage nicht; die kommt gewöhnlich in Völkerverhältnissen wenig in Betrachtung und hat die Gefälligkeit, ihre wächserne Nase zu drehen, wohin die Bajonette wollen. Etwas gefällt mir doch bei der ganzen Sache, der Korse hat sein Vaterländchen königlich gerächt an den neuen und an den alten Unterdrückern; und so jämmerlich ist der Geist der Zeit, daß man noch alles für Wohltat halten muß.
Jetzt lief ich die Blätter meines Taschenbuchs durch und kann mich nicht enthalten, Dir ein kleines Krönungsgedicht mitzuteilen, wofür ich wohl schwerlich Ring oder Belobungsschreiben bekommen werde, das ich aber als meine unmaßgebliche Meinung eben weiter nicht ängstlich verbergen will. Die Verse lauten mit ihrer kurzen Übersicht der Sache so:
Der Bourbonide fiel durchs Beil
Und ließ zu seines Namens Rache
Der Nation entweihte Sache
Den Kühnsten im Verbrechen feil;
Schnell rief die Wut mit Hohngelache
Im Sturm entfernten Völkern Heil
Und überzog sie wie ein Drache
[753]Mit neuer Knechtschaft Geißelseil.
Man tönte hoch die hehren Namen
Von Freiheit und Gerechtigkeit;
Und alle, die zu nahe kamen,
Sahn in des Himmels schönem Samen
Der Hölle Unkraut ausgestreut
Und bebten vor der Folgezeit.
Man drohte rundumher den Thronen,
Als bräch' ihr Weltgericht herein;
Und baute Konstitutionen,
Und riß sie trümmernd wieder ein;
Und predigte mit Legionen
Des neuen Glückes Litanein,
Und dezimierte Nationen
Ins herrliche System hinein.
Man ließ das Volk laternisieren,
Guillotinieren, septembrieren,
Durch Teufen es iniziieren,
Zur Freiheit es zu sublimieren;
Und die Verstockten zu kastein
Mit kurzer Hand sie kayennieren;
Und es erschienen lange Reihen
Verfassungen, auf schlechte schlechte,
Und immer kam noch nicht die rechte.
Nun holte man den Papst mit seiner Zunft
Den Erzhatschier der Unvernunft
Den Korsen unbedingt und rein
Zum Autokrator einzuweihn,
Und mit des Glaubens Nebelschein
Zum leidenden Gehorsam alle Frommen,
Die scharenweis zur Benedeiung kommen,
Von Licht und Freiheit zu befrein,
Das wird nun wohl die rechte sein.
[754] »Le peuple n'est rien pour qui le sait mener.« Er beweist sogleich die Wahrheit seines Satzes durch sein eigenes Beispiel, in der Tat ein großes Beispiel, das dem Menschenverstande wieder ein schweres Urteil schreibt. »Ich werde euch diesem oder jenem Fürsten geben!« soll er den Abgeordneten der Reichsstädte auf ihre demütige Vorstellung geantwortet haben. In einem solchen Grade wäre der Nation und ihren Fürsten noch nie Hohn gesprochen worden. Der Geber, die Gegebenen und die Nehmenden stehen alle in eigenem Lichte. Mir fällt dabei eine Stelle aus dem Plutarch ein, wo Metellus, der Volkstribun, sich vor die Türe des Ärariums stellte, als es Cäsar zu seinem Kriege gegen den Senat brauchen wollte. Der Patriot weigerte sich durchaus, sich zu entfernen, bis ihn der Cäsarianer hinwegriß. »Bedenke doch«, sagte Cäsar zu ihm, »daß es mir weit schwerer wird, Dir etwas Hartes zu sagen als zu tun.« Etwas Hartes gegen jemand tun, war damals ein gewöhnlicher Euphemismus für das Beil des Liktors oder einen Sikar. Ich konnte mich nicht enthalten, unwillkührlich die Parallele zu ziehen. Bonaparte scheinen die harten Worte nicht so schwer zu werden. Ich schätze den wirklich großen Mann so hoch als irgendeiner; aber ich kann ihn unmöglich lieben, denn ich halte ihn weder für rein liberal noch gerecht. Er hat mir in sich selbst das schönste Ideal meines Lebens zerstört, und ich bin so stolz zu glauben, meine Ideale sind nicht das Produkt eines spielenden, müßigen Gehirns. Das Schicksal hat ihm zwei Namen gegeben, einen schönen und einen furchtbaren. Den schönen trug er in seiner schönen Zeit; jetzt hat er ihn weggelegt und nur den furchtbaren behalten. Aber die Ewigkeit Bonapartes, des Retters, wird trotz der angestaunten Größe gewiß besser und schöner sein als Napoleons, des Löwen [755] der Bergschlucht. Ich will für mich immer lieber den schönen Namen behalten; Furcht ist quälend und soll nicht in meiner Seele wohnen, den schrecklichen überlasse ich gern den Diplomatikern.