791. Das Knäblein von Speier.
Von L. Schandein.
Zu Speier im Dom vor alter Zeit
Da war ein Muttergottesbild,
Gar manig ein Gruß ward ihm geweiht,
Gar manig ein Flehen hat es gestillt.
Kommt eine Mutter in Leid und Harm,
Sie klaget der Jungfrau ihre Not,
Ihr einig Knäblein auf dem Arm
Hält in der Hand ein Stücklein Brot.
»Ein Stücklein Brot und keines im Haus,
Maria hilf, nimm ab die Qual!«
Das Knäblein streckt sein Händchen aus:
»Da Büblein lieb, da beiß einmal!«
Das Knäblein sagt's, das Bild erbebt,
Maria blickt so liebewarm:
Lieb Jesukind herniederschwebt,
Nimmt Knäblein sanft in seine Arm':
»Iß selber du was dir gereicht,
Du herzig Kind, du hast ja Not;
Eh' dreimal sich der Tag geneigt,
Dann essen wir ein ander Brot!«
Und sieh, sein holdes Angesicht
Umwebt ein Leuchten wunderklar,
Die Mutter weiß zu deuten es nicht,
Es bebt ihr Herz so wunderbar.
Am Himmel kommt das Abendrot –
Der Mutter bangt bei seinem Schein;
Das Knäblein klaget, sie fraget in Not:
Ei wird das Wort wol Warheit sein?
Und wieder kommt das Abendrot –
Gut Knäblein liegt so krank und bleich,
Im Fiebertraum da ißt es Brot,
Ißt Lebensbrot im Himmelreich.
Und wieder kommt das Abendrot –
Es weinet die Mutter so Gotterbarm:
Ihr Ein und Alles ist ja todt,
Sie hält es todt in ihrem Arm.
Es will die Mutter in Trauer vergehn,
Gar manige Nacht sie nimmer schlief:
Und als am Grab die Röslein stehn –
Lieb Jesukind sie zu sich rief.