760. Hungersnoth in Grabfeld.
Von A. Nodnagel. – Nach den Annal. fuld. ad. a. 850. Grimm d.S. II., 373.
Im Grabfeld wüthet des Hungers Noth,
Sie haben nicht Korn und haben nicht Brod,
Und müssen verlassen Hof und Haus
Und wandern in die Welt hinaus:
Der Hunger ist ein schlimmer Gast!
Ein Mann mit Frau und Kind zieht fort
Thüringen, wo sein Heimathort,
Und unterwegs im wilden Wald
Das Elend übernahm ihn bald –
Der Hunger ist ein schlimmer Gast.
Da spricht der Mann zur Frau geschwind:
»Thun wir nicht besser zu schlachten das Kind
Und sein Fleisch zu essen, als daß auch wir
Im Mangel werden verzehret hier?«
Der Hunger ist ein schlimmer Gast.
Die Frau dem Gräuel widerstrebt,
Allein der Mann sein Messer hebt:
Gott helfe dir, lieb Söhnlein mein,
Weil du mußt der Eltern Speise sein:
Der Hunger ist ein schlimmer Gast.
Und sieh, zwei Wölfe stehen am Strauch,
Zerfleischten einer Hindin Bauch –
Wild springt der Vater gleich daher:
Laßt mir das Aas; ich brauch es mehr!
Der Hunger ist ein schlimmer Gast!
Und mit der Speise fliegt er zurück,
Verkündet der Frau das große Glück;
Noch lebt das Kind und Fleisch ist hier
Und neu gestärkt fort ziehen wir –
Der Hunger ist ein schlimmer Gast!
Der Herr einst einen Widder schickt;
Als Abr'am fromm das Messer zückt;
Heut dacht' er an des Sünders Noth
Und wollte nicht des Knaben Tod –
Der Hunger ist ein schlimmer Gast!