Zweiter Theil
Wie dem Blitz der Donner, so schnell war bei der Entscheidung von Gabrielens Geschick die Erfüllung dem ersten Drohen der Gefahr auf dem Fuße gefolgt.
Ernesto hatte im Drange der Begebenheiten keinen ruhigen Augenblick gefunden, um Frau von Willnangen auf die Möglichkeit des fast Unglaublichen vorzubereiten, und selbst, nachdem schon alles entschieden war, währete es noch mehrere Tage, ehe er Muth und Ruhe des Geistes genug gewinnen konnte, um ihr zu schreiben. Ueberdies stand er nach dem Tode des Barons wirklich ganz allein in der alten grausenvollen Burg, mitten unter einem Haufen verschüchterter, hülfloser Menschen, die alle zu ihm aufblickten, die von ihm berathen und in Thätigkeit [1] gesetzt zu werden verlangten, um nur dadurch ihren eignen Gedanken zu entgehen.
Moritz war zufolge seiner armen, schwachen, an tausend Kleinigkeiten sich anklammernden Natur, im ersten Schrecken ganz unfähig geworden, nur einen einzigen Gedanken klar zu fassen; noch weniger vermochte er, einigermaßen zweckdienliche Anstalten zu treffen, wie sie die Umstände heischten. Seine unglaubliche Unbeholfenheit, Gabrielens bewußtloser Zustand, selbst die ängstliche müßige Neugier der Bedienten, alles vereinigte sich, die ganze Thätigkeit des einzigen hellen Geistes in Anspruch zu nehmen, der mitten in diesem Wirrwarr fähig geblieben war, für die Uebrigen zu denken.
Ernestos erste Sorge mußte das feierliche Leichenbegängniß des Barons seyn, dessen selbst gewählte Todesart er um Gabrielens Ruhe willen möglichst zu verheimlichen suchte. Der Uebung dieser traurigen Pflicht folgte des neuen Besitzers festliche Uebernahme der Güter und dem zunächst die Untersuchung der bisherigen sehr nachlässig betriebnen Verwaltung derselben. Ernesto übernahm [2] gern jedes Geschäft, theils um Gabrielens willen, theils weil er wirklich unausgesetzter Thätigkeit bedurfte, um sich selbst aufrecht zu halten.
Moritz wendete indessen seine Aufmerksamkeit auf unzählige unbedeutende Kleinigkeiten, die aber alle mit der höchsten Wichtigkeit von ihm betrieben wurden.
Ruhig, keiner Erdennoth sich bewußt, aber krank zum Tode, lag während der Zeit Gabriele in tiefer Betäubung auf ihrem Bette, bis sie nach mehreren Tagen wieder zur Besinnung und ins Leben zurückgerufen ward. Ihr Erwachen glich dem eines Kindes, das nach einer Nacht voll ängstlicher Träume beim ersten Aufschlagen der Augen in das milde treue Antlitz der Mutter blickt. Ihr war, als fände sie sich wieder im Hause der Frau von Willnangen wie bei ihrer ersten Krankheit. Wie damals, sah sie Ernesto und Annette neben ihrem Bette; freundlich reichte sie beiden die Hand und begrüßte mit mildem Lächeln den tiefblauen Himmel voll goldner [3] Herbstwolken, in den sie durch ein großes Fenster, ihrem Bette gegenüber, blicken konnte.
»Ich bin wohl wieder krank gewesen?« sprach sie, »ich habe euch wohl wieder recht viel Sorge gemacht? mir ist auch, als sey ein großes Unglück geschehen, aber ich weiß nicht welches? und so habe ich doch wohl nur davon geträumt.« Da ging die Thüre auf, Moritz trat herein, sein Anblick, seine laute wunderliche Freude über ihre Besserung, riefen sie plötzlich in helles Bewußtseyn zurück. Alles, alles, was geschehen war, stand in einem fürchterlichen Momente vor ihr, klar wie der Tag, die ganze Hoffnungslosigkeit ihrer Zukunft, alle Schrecken der nächsten Vergangenheit. Sie verbarg das Gesicht in die Kissen, ihre Augen schlossen sich wieder, sehnlich betete sie in ihrem Herzen um neuen Schlummer ohne Erwachen, aber sie ward nicht erhört, ihre Jugendkraft siegte und jeder Tag führte sie von nun an näher der völligen Genesung.
Der Tod ihres Vaters war das einzige Ereigniß, dessen Gabriele sich nicht deutlich erinnerte. Sie selbst hatte ja, fast im nehmlichen Momente [4] als er zusammensank, ebenfalls das Bewußtseyn verloren, und so konnte es Ernestos sorgsamer Freundschaft gelingen, sie nach und nach auf diese traurige Begebenheit vorzubereiten, und vor allem ihr das Entsetzen über die Todesart des Barons zu ersparen.
Heiß und bitter quollen Gabrielens Thränen als sie endlich vernahm, daß sie ihrem Vater mit allem, was sie ihm opferte, nur ein paar ruhige Minuten hatte erkaufen können. Alle ihre, auf dieses Opfer gegründete Hoffnungen von seiner zufriedenen Zukunft, seinem heitern Alter, seiner Wiederkehr zu den Menschen und zu milderm Gefühle waren nun verschwunden auf immer; alles, woran sie unter der ungeheuren Last der übernommenen Pflichten, sich zu halten gehofft, war nun mit ihm zu Grabe getragen. Gabrielen blieb kein Trost als das Bewußtseyn, der heiligen Stimme in ihrem Innern gefolgt zu seyn.
Nach langem Zögern ergriff Ernesto endlich die Feder, um Frau von Willnangen die traurige Geschichte der im Schloß Aarheim verlebten Tage [5] kund zu thun. Das grausenvolle Gespräch zwischen Vater und Tochter, durch welches zuletzt Gabrielens traurige Bestimmung entschieden ward, konnte er ihr fast wörtlich mittheilen. Denn als sich der Baron mit seiner Tochter eingeschlossen, hatte Ernesto in der höchsten Angst seine Zuflucht zu Frau Dalling genommen. Zwar war diese nicht im Stande gewesen, ihn in das fest verriegelte Vorzimmer zu bringen, aber sie hatte ihn auf verborgnen Wegen und Treppen zu einem kleinen Behältniß neben dem Kamine des Barons geführt, von wo aus beide alles deutlich vernehmen konnten, was im Zimmer gesprochen ward. Nachdem Ernesto Gabrielens mütterliche Freundin mit jedem, auch dem kleinsten Umstande bekannt gemacht hatte, der zur Entscheidung ihres Geschickes beitrug, fuhr er in seinem Briefe also weiter fort:
»Alle die Bilder und Räthsel, mit denen der Baron Gabrielen betäubte, der grüne Löwe, die schlummernde Königin, alle bestätigen es mir, daß Forschen nach übermenschlichen Kenntnissen, besonders nach dem Stein der Weisen ihn dem Untergange [6] zuführte. In dem zunächst vergangnen Jahrhundert verfielen manche an Geist ausgezeichnete, bedeutende Männer in den nehmlichen Irrthum und gingen unter wie der Baron. Auch in unsern, jedem verjährten Unsinn, jeder Schwärmerei so günstigen Tagen fällt dem Streben nach sogenanntem verborgnem Wissen manches beklagenswerthe Opfer, ohne daß die Welt viel davon erfährt.
Ich bin zufällig mit der Tendenz und dem Ton der in jenes Fach einschlagenden Schriften wohl bekannt. Mir fiel ein staubiger Wust magokabbalistischer und theosophischer Bücher einst in Italien, beim Aufräumen einer alten Bibliothek, in die Hände. Neugierig durchblätterte ich sie, und vieles ist mir aus ihnen im Gedächtniß geblieben, was mir jetzt das Betragen von Gabrielens Vater erklärt. Unter andern entsinne ich mich einer sehr feierlichen Warnung vor der fünften Wiederholung eines chemischen Prozesses, der, viermal geübt, jedesmal die Kraft des Steines der Weisen verdoppelt, aber dem, der ihn zum fünftenmal wagt, unwiderrufliches [7] Verderben bringt. Diese Warnung erklärt mir des Barons Verzweiflung beim Ausbruch der Flamme, sein späteres Klagen über das Vergessen der fünften Zahl, durch die er wahrscheinlich das Unheil sich selbst zugezogen zu haben wähnte. Ich glaube auch die Angst zu verstehen, mit der sein in Wahn versunkner Geist, kämpfend zwischen Sehnsucht und Grausen, der Todesstunde entgegen sah. Wer sich solchen Träumereien überläßt wie dieser unglückliche Greis es that, der ist auch jeder quälenden Einwirkung des Aberglaubens und vor allem dem Grauen der Gespensterwelt verfallen, welchem auch wohl hellere Geister, in dunkeln Momenten nicht immer glücklich entgegenstreben.
Unter der vor Jahrhunderten schon erbauten Burg Aarheim erstrecken sich unabsehbare, in den Fels selbst hineingehauene feuerfeste Gewölbe. Ich habe sie untersucht, so weit ich vordringen konnte. Nach allen Richtungen hin bilden sich zwei Reihen, unter und über einander, in bedeutender Tiefe; viele sind verschüttet, viele von [8] den jetzigen Burgbewohnern nie besucht, einige werden von ihnen noch als Keller benutzt. Ich habe erfahren, daß der verstorbene Baron oft Stunden lang in den Gewölben unter dem jetzt abgebrannten Flügel des Schlosses verweilte. Vermuthlich ruht dort manches ihm wichtige Geheimniß, manches Resultat seiner ängstlichen mühsamen Arbeit, auch wohl manche Schrift, die auf seiner dunkeln Bahn ihn leitete. Was dort liegt, entzog der schützende Fels wahrscheinlich den Flammen, aber der Zugang dazu ist beim Einsturz des Gebäudes durch hohe Schutthaufen, durch zertrümmerte Mauern und schwere Steine unzugänglich gemacht. Des Barons Blick ruhte stets auf diesen Trümmern, sein Sinnen und Trachten ging nur dahin, jede dort begrabene Spur seines Hoffens und Mißlingens der Welt zu verbergen. Es war ihm unmöglich, nur einen Augenblick seine Gedanken von diesem Wunsche abzuziehen, der dadurch bei ihm zur fixen Idee geworden. Kein Wunder daher, daß ihm vor der Möglichkeit graus'te, dort noch nach Jahrhunderten gespenstisch Wache zu halten, im Fall [9] er ohne die Gewißheit der Erfüllung dieses seines einzigen Wunsches von der Oberwelt scheiden mußte. Seine Bücher konnten ihn nur in dieser Angst bestärken; ich erinnere mich in einer solchen Schrift sogar eine förmliche Abbildung des Aufenthalts unseliger Geister gesehen zu haben, die, wie jene Schwärmer lehren, ihn allnächtlich mit der Oberwelt vertauschen müssen, bis der letzte Wunsch erfüllt ist, der sterbend sie beunruhigte.
Es wird Ihnen unglaublich scheinen, liebe Frau von Willnangen! daß ein Mann, der, wie der Baron, durch Geist, Bildung und Verstand sich einst in der Welt auszeichnete, bis zu dem Glauben an solchen Unsinn sinken konnte; aber Einsamkeit, Ehrgeiz und durch diesen erregtes stetes Hinstreben nach einem Punkte haben wohl noch hellere Geister verdüstert. Uebrigens fiel des Barons Jugend in die herzlose, trostlose, jedes höhere Gefühl austrocknende Zeit von Voltaire und Konsorten, und glauben Sie mir, wer in seiner Jugend sich über den bon Dieu mockiren [10] lernte, der kommt im spätern Alter leicht dahin, vor dem Teufel zu zittern.
Unerachtet seiner jammervollen Ansicht von unsrer Zukunft jenseits, peinigte den Baron dennoch ein unsäglicher Ueberdruß am Leben, eine ewige Sehnsucht nach der Stunde des Scheidens aus dieser Welt, in welcher alle sein Hoffen zerstört war. Ich danke Gott, daß Gabriele die unselige Verknüpfung ihres Geschicks nicht ganz zu übersehen vermag. Wüßte sie, daß sie selbst ihrem Vater das längst erwartete Signal gab, die Bürde des Lebens getrost abzuwerfen, unter deren Last er längst seufzte, wüßte sie, daß sie sein Todesurtheil sprach, während sie Ruhe und Freude für den Spätherbst seines Lebens ihm erkaufen wollte, ich glaube sie überlebte diese Entdeckung nicht. Nur einmal wagte ich die Aeußerung gegen sie, daß vielleicht lebhafte Freude über die Erfüllung seiner Wünsche ihm den Schlagfluß zuzog, an dem sie glaubt, daß er gestorben sey, und ich bereute es bitter, als ich sah, wie gewaltsam erschütternd dieser Gedanke ihr Gemüth ergriff.
[11] Und so habe ich denn das Verderben des liebenswürdigsten Wesens vor meinen Augen bereiten sehen, und durfte es nicht abwenden. Vergebens war meine ängstliche Sorge, vergebens daß ich wie Argus sie bewachte! Wie schwach ist die Hand der Freundschaft, um gegen das Schicksal anzukämpfen! Ich sah alles und durfte nichts ändern, um Gabrielens willen durfte ich es nicht. Ich danke meinem guten Genius, daß er mich mit unsichtbarer Hand im Augenblick der Ausführung von einem Plan zurückhielt, den die Verzweiflung mir eingegeben hatte, daß ich Gabrielen nicht gewaltsam entführte, wie ich es Willens war, als ich jeden andern Weg der Rettung mir versperrt sah. Umsonst hätte sie den Schmerz gefühlt, mich einer solchen That fähig zu wissen. Nichts als offenbare Gewalt hätte sie abhalten können, zu ihrem Vater zurück zu gehen und seinem Willen sich zu unterwerfen; ich selbst hätte sie ihm ausliefern oder sie gefangen halten müssen. Ihre Achtung, ihr Vertrauen, jede Möglichkeit ihr in Zukunft als treuer Freund zur Seite zu stehen, hätte ich auf ewig [12] und nutzlos verloren. Wir beide, theure Freundin! wir beide kannten bis jetzt noch nicht die Tiefe und Festigkeit dieses Gemüths, nicht die seltne Kraft, mit der dieses sonst so zarte Geschöpf alles zu tragen, allem zu widerstehen weiß, nur nicht dem innern Vorwurf des Unrechts oder auch nur versäumter Pflicht. Bei aller unbeschreiblichen Aehnlichkeit mit dem Engel, der ihr zur Mutter gegeben ward, trägt Gabrielens Wesen doch auch starke Züge von dem felsenfesten Sinne ihres Vaters, dessen angestammte Geistesgröße ich, trotz seiner Verfinsterung, anerkennen mußte.
Unerachtet des unaussprechlichsten Mitleids, beobachte ich jetzt mit Bewunderung, wie Gabriele den furchtbaren Kampf mit sich selbst besteht. Sie geht gewiß als Siegerin hervor, aber vielleicht sterbend. Schweigend muß ich es sehen, wie sie die Einsamkeit ihres Krankenzimmers benutzt, um mit ihrem armen wunden Herzen fertig zu werden, und sich auf den Weg vorzubereiten, welchen sie künftig zu gehen hat. Ich darf und kann ihr weder einreden noch rathen; [13] beides darf man überhaupt so selten, gerade wenn es der Mühe werth wäre. Und so ergriff ich heute den ersten besten Anlaß, als ich sie eben heitrer als sonst sah, den Wunsch zu äußern, nächstens meine Einsiedelei im Felsenthal aufsuchen zu dürfen. Ich gab vor, diese letzten schönen Tage des Spätherbstes zu Studien für meinen Johannes benutzen zu wollen, aber ich sah deutlich, wie wenig dieses Vorgeben sie täuschte.
Lange ruhte ihr schönes dunkles Auge auf mir ehe sie mir antwortete, dann reichte sie lächelnd unter Thränen mir die Hand. ›Wo lebt noch ein Freund, der wie Sie zu kommen und zu gehen und alles zu errathen weiß, was gut wäre und nützlich?‹ sprach sie. ›Gehen Sie, lieber Ernesto! weil Sie es wollen, setzte sie hinzu, gehen Sie morgen, um wo möglich täglich wieder zu kehren. Es ist freilich nöthig, daß ich mich gewöhne allein zu stehen, aber nur allmählig, wie es die Kinder lernen, darum lassen Sie mich nicht mit einemmale ganz ohne Stütze.‹
[14] Es blieb mir nicht verborgen, wie die Gewißheit, daß ich nicht mehr stündlicher Augenzeuge von den Lächerlichkeiten Moritzens seyn werde, Gabrielen über meine Entfernung tröstet, obgleich ich mir keine Anmerkung mehr über ihn erlaubte, seit jenes unselige Band geknüpft ward.
Arme, arme Gabriele! Giebt es ein härteres Frauenloos als das, sich des Mannes schämen zu müssen dem man alles aufopferte! Oft ist mir, als wäre Augustens Geschick neben ihrem harten starren Gebieter, doch noch dem ihrer unglücklichen Tochter weit vorzuziehen gewesen.
Dieser Moritz, den ich nie mich werde entschließen können Gabrielens Gemahl zu nennen, dieser Moritz geht umher wie einer der nicht weiß, ob ihm ein Königreich zufiel, oder ob ihm nur davon träume. Noch wage ich es nicht, von seinem Benehmen gegen Gabrielen eine Meinung zu fassen, mich dünkt, es sey unstät und wechselnd, wie seine ganze Erscheinung, bis auf die Sprache sogar. Meine Ueberzeugung, daß er wirklich zu gutmüthig ist, um einem lebenden Geschöpf wissentlich wehe zu thun, giebt mir [15] zuweilen einigen Trost, aber leider schmerzt jede unversehens erhaltne Wunde deßhalb nicht weniger, weil sie uns ungeschickter Weise und ohne Vorbedacht versetzt ward. Am beunruhigendsten ist mir eine Spur von mißtrauischem Wesen, das ich leider an ihm bemerke; vermuthlich ist es das dumpfe Gefühl eigner Unliebenswürdigkeit, was ihn argwöhnisch macht, aber ich fürchte davon die schlimmsten Einwirkungen auf Gabrielens künftige Ruhe.«
Der gesellige Kreis, zu welchem Frau von Willnangen und Auguste gehörten, weilte noch immer in Karlsbad, obgleich die Brunnenzeit beinahe vorüber war, und die Zahl der übrigen Fremden mit jedem Tag merklich abnahm. Alle, den Kapellmeister und den Dichter mit eingeschlossen, hatten dem General Lichtenfels versprechen müssen, ihn auf sein nur wenige Tagereisen entferntes Gut zu begleiten, um dort die letzten schönen Tage des Spätherbstes mit ihm zuzubringen. Man harrte nur auf bestimmte Nachricht von Gabrielen, von der man noch [16] nichts als ihre Ankunft in Schloß Aarheim erfahren hatte, um dann sogleich die kleine Reise gemeinschaftlich anzutreten.
Frau von Willnangen hätte sich eigentlich gern davon ausgeschlossen, da sie vernahm, daß auch die Familie Wallburg mit von der Parthie seyn würde, aber sie wußte nicht wie sie dieses anfangen solle, ohne den General durch eine abschlägige Antwort zu kränken, auch fürchtete sie durch gewaltsames Eingreifen dem Glück ihrer Tochter vielleicht in den Weg zu treten.
Augustens sich stets gleichbleibende Heiterkeit, mit der sie Leos augenscheinliche Huldigung sich gefallen ließ, ohne ihn weder geflissentlich anzuziehen noch zurückzustoßen, beruhigte sie ebenfalls nicht wenig. Das fröhliche Mädchen nahm augenscheinlich das Leben noch zu leicht, als daß man ihrer Zukunft wegen hätte ernsten Besorgnissen Raum geben müssen. Mit ächt jungfräulicher Grazie wußte sie den Ernst zum Spiel, das Spiel zum Ernst zu wandeln, und, gleich entfernt von Leidenschaftlichkeit und Ziererei, nichts zu gewähren und dennoch gefällig zu erscheinen. [17] Auch verstand es niemand besser als sie, sich herzlich zu bezeigen, ohne doch zur Vertraulichkeit herabzusinken.
Ernestos lange erwarteter Brief langte endlich in Karlsbad an. Der Schmerz der Frau von Willnangen und ihrer Tochter läßt sich mit Worten nicht ausdrücken, als sie nun die Lösung von Gabrielens Geschick vernahmen. Sie lasen den Brief wieder und immer wieder, und trauten dabei ihren Sinnen nicht, denn was geschehen war, ließ alles, was sie im Augenblick des Scheidens gefürchtet hatten, so weit hinter sich zurück, daß es ihnen fast unmöglich ward, an solche abentheuerliche und fabelhaft erscheinende Ereignisse zu glauben.
Auguste zerfloß beinah in Thränen, als ihr endlich jedes Bestreben, länger an Gabrielens Unglück zu zweifeln, mißlang. »Ach! wäre sie doch damals in unsern Armen gestorben,« rief sie, »schmerzlicher als jetzt hätte ich nicht um sie weinen können und ihr liebes Bild würde zeitlebens wie ein tröstender Engel mich umschwebt haben. [18] In jeder frohen wie in jeder trüben Stunde hätte ich sie in himmlischer seliger Glorie mir gedacht. Jetzt, wenn ich wieder froh werden sollte, muß ich doch mitten in der Freude mich betrüben, so oft es mir einfällt, welch ein Leben sie indessen an der Seite jenes verhaßten lächerlichen Menschen führet, und jeder Schmerz, der mich trifft, wird mir doppelt wehe thun, weil ich immer denken werde: Gabriele ist doch noch tausendmal unglücklicher als ich es je werden kann.«
»Frevle nicht mit dem Schicksal, mein armes Kind,« sprach Frau von Willnangen, indem sie die weinende Tochter in ihre Arme schloß. »Du weißt eben so wenig, welche Pfeile es für dich aufbewahren mag, als du im Stande bist, den ganzen Umfang von Gabrielens Elend zu übersehen. So drückend ihr häusliches Leben an der Seite des ungeliebten, sogar widerwärtigen Mannes auch wahrscheinlich seyn wird, es ist doch nicht der höchste Punkt ihres Unglücks. Jedes stille heimliche Opfer läßt sich bringen, das fast Unleidliche läßt sich ertragen, wenn wir es nur den Augen der Welt verheimlichen können. Shakspeares [19] »Smiling at grief« 2 ist mehr oder weniger das Loos und die Tugend der besten unsers ganzen Geschlechts; wir sind dazu geboren. Nur das Mitleid der Welt ist eine fast unerträgliche Last, und doch wird unsre arme Gabriele diese Last tragen müssen, wenn sie sich nicht in Einsamkeit begraben will oder kann.«
»Mit Moritz von Aarheim in der Einsamkeit!« rief Auguste.
»Es ist furchtbar, ich gebe es zu,« erwiederte Frau von Willnangen, »aber immer doch noch besser, als das Mitleid der guten Freundinnen, die von nun an sich alle berufen fühlen werden, zu Gabrielen stets wie zu einer Kranken zu sprechen, und sich einbilden, die Stimme immer ein paar Töne höher nehmen zu müssen, um mit recht kläglichem Laut und Blick zu fragen: wie sie sich denn befinde? Und denke dir Gabrielens Gefühl in der Gesellschaft, wenn sie bei jeder Plattheit des Menschen, zu dem sie doch nun einmal gehört, unaufhörlich erröthen muß; denke [20] dir, wie ihr seyn wird, wenn sie das heimliche verlegne Lächeln der Anwesenden und die ängstlich ungeschickte Sorgfalt sich nicht verbergen kann, mit der die Bessern um ihrer willen sich stellen werden, als hätten sie nichts bemerkt! Ich weiß nichts traurigeres als solch ein Loos.«
»Und was fängt Gabriele nun mit Ottokars Bild in ihrem Herzen an?« rief Auguste.
»Ich hoffe, sie soll es heilig und treu bewahren in reiner Brust,« erwiderte Frau von Willnangen. »Möge sie es immer in der Strahlenglorie sehen, in welcher es ihrem jugendlich erwachenden Blicke zuerst erschien, so bleibt es der Schutzgeist ihres Lebens auf einer sehr gefahrvollen Bahn. Meine arme Gabriele ist sehr jung, sehr unerfahren, um in der Welt als Gattin eines Mannes dazustehen, den sie nicht einmal zu lieben vorgeben kann, ohne abgeschmackt oder als Heuchlerin zu erscheinen. Und doch fürchte ich nicht wegen dessen für sie, was die Welt ihr etwa anhaben könnte, ich fürchte nur ihr Herz, wenn es erwacht. Möge Ottokars Angedenken es behüten!«
[21] Sobald Frau von Willnangen nur Fassung dazu erringen konnte, eilte sie, die traurige Entscheidung von Gabrielens Schicksal der Gesellschaft mitzutheilen. Alle hörten sie zuerst mit Entsetzen und bald mit der innigsten Theilnahme, obgleich mancher Nebenumstand im Betragen des Barons und auch die Art seines Todes ihnen um Gabrielens willen verschwiegen ward. Zorn über die Bestimmung des liebenswürdigen Wesens war bei dem ältern Theil der Gesellschaft das überwiegende Gefühl, während Leo und seine Schwestern recht innig mit Augusten trauerten. Herr von Wallburg behauptete, es dem Novitätenkrämer, wie er Moritz von Aarheim nannte, gleich angesehen zu haben, daß sein Erscheinen nichts Gutes bedeuten könne; der General ging schweigend, aber heftig bewegt, im Zimmer auf und ab, und stand dann vor Adelbert still, der wie vernichtet, bleich und stumm allein in der fernsten Ecke des Zimmers saß.
»Armer Adelbert!« sprach der General, und strich liebkosend ihm über die dunklen Locken hin, »ich hoffte freilich, es solle anders kommen!«
[22] Mit höchst schmerzlicher Geberde ergriff Adelbert seines Oheims Hand, drückte sie an seine brennenden Augen, an sein hochschlagendes Herz. »Vater,« sprach er, »mein gütiger Vater! ich hoffte nichts, ich wünschte nichts, ach! ich kenne mich ja zu gut, was kann ein Unglücklicher wie ich noch hoffen oder wünschen! Aber ich erfreute mich ihrer Nähe, ihres Anblicks, wie ich der Sterne mich freue, ohne sie zu mir herabziehen zu wollen. Sie war so gut, so tröstend gegen mich wie ein Engel des Himmels, und eben weil sie es war, mußte sie untergehen. Ich bin es, ich, der sie dem Verderben entgegenführte; die Ueberzeugung davon vernichtet mich, und doch ist es so. Nie hätte Moritz von Aarheim nur ihr Daseyn geahnet, wenn sie nicht mitleidig dort im Tempel neben mir verweilte. Er wäre den nehmlichen Abend abgereist, wie er es sich vorgenommen hatte, er wäre nimmer bei Lebzeiten des Barons nach Schloß Aarheim gekommen; nur um meinetwillen durfte das Verderben sie überschleichen. Ich bin vom Schicksal geächtet, niemand darf freundlich mir nahen!« [23] Mit verhülltem Gesicht verließ Adelbert nach diesen Worten das Zimmer, nur Allwill wagte es ihm zu folgen, dessen weiche Natur sich von ihm stets angezogen fühlte.
Der General sandte noch den nehmlichen Abend einen Eilboten nach Schloß Aarheim, um die Bewohner desselben, nebst Ernesto auf das dringendste zu sich einzuladen. Am folgenden Morgen eilte die ganze Gesellschaft Karlsbad zu verlassen, wo sie nichts mehr fesselte.
Ob Herr von Aarheim die Einladung des Generals annehmen, wie er sie aufnehmen würde, war die ganze Reise über der Gegenstand der allgemeinen Unterhaltung. Viele von der Gesellschaft glaubten nach diesem ersten Schritte sein ganzes künftiges Betragen gegen Gabrielen in voraus beurtheilen zu können, sie bedachten nicht die Unmöglichkeit, bei diesem wankenden formlosen Charakter auch nur von der jetzigen Minute auf die zunächst folgende schließen zu können. Alle blieben indessen voll Erwartung, und die, welchen Gabriele am theuersten war, zitterten [24] heimlich vor dem Gedanken an die erste Stunde des Wiedersehens, so sehnlich sie auch diese herbei wünschen mochten.
Das bequeme heitre Schloß des Generals, die schönen Umgebungen im bunten herbstlichen Schmuck, vor allem aber des Eigenthümers ungezwungne edle Gastfreundlichkeit verfehlten nicht, am Ziel der Reise auf die Ankommenden den angenehmsten Eindruck zu machen. Ein möglichst freier Lebensplan, der jedermann zufrieden stellen sollte, kam bald zur Sprache und ward förmlich angenommen. Die Männer beschlossen, den Morgen den Freuden der Jagd zu weihen, während es den Frauen überlassen blieb, sich einzeln in ihren Zimmern oder versammelt im gemeinschaftlichen Gesellschaftssaal, nach eigner Wahl zu beschäftigen, bis die späte Stunde der Mittagstafel Damen und Jäger vereinte. Gesellige Freuden, Spiel, Tanz, Musik, gemeinschaftliches Lesen sollten die Abendstunden ausfüllen und geladne Gäste aus der nächsten Umgegend zuweilen [25] Mannigfaltigkeit und Abwechselung in die Gesellschaft bringen.
Unter Allwills und des Kapellmeisters Leitung vergingen die ersten Tage größtentheils in Anordnungen geselliger Feste, und in Proben kleiner theatralischer Kunstleistungen, die gewöhnlich mehr Freude gewähren als die Aufführung selbst. Letztere ward bis zu Gabrielens Ankunft verschoben, denn der General wünschte Herrn von Aarheim glauben zu lassen, daß alles einzig zu Gabrielens und ihres Gemahls Empfang veranstaltet worden sey. Herrn von Aarheims dadurch geschmeichelte Eitelkeit, hoffte er, würde ihn dann freundlicher stimmen, und ihn bewegen, Gabrielen recht lange im Kreise ihrer Freunde zu lassen.
Weder die Gemüthsstimmung, noch die Gesundheit Adelberts erlaubte diesem, an dem edlen Waidwerk Theil zu nehmen, welchem die Herren den Morgen über, alles andre ausschließend, oblagen. Angezogen von Frau von Willnangens Güte und Augustens traulicher Freundlichkeit, gewöhnte er sich daher gar bald, die Stunden des Vormittags größtentheils im Zimmer dieser [26] Damen, gewöhnlich mit ihnen allein zu verleben. Oft war Gabriele der Gegenstand ihres Gesprächs, und Adelbert konnte dann nie aufhören, den Unstern anzuklagen, welcher ihn, wenn gleich schuldlos, zur ersten Veranlassung ihres traurigen Geschicks machte.
»Mutter!« sprach eines Morgens Auguste, da er eben niedergeschlagener als gewöhnlich sich bezeigte, »liebe Mutter! der Rittmeister verdient unser ganzes Vertrauen, ich kann es nicht länger tragen ihn so sich quälen zu sehen. Ich bitte dich, erlaube, daß ich ihm alles sage, was wir aus Ernestos Briefe von den Umständen wissen, die Gabrielens Vermählung begleiteten. Was du allen andern mit Recht verhehlst, darf er erfahren, denn gewiß er ist jeder Unbesonnenheit unfähig, die Gabrielens Ruhe gefährden könnte.«
Adelbert blickte verwundert auf Augusten, wie sie mit blitzenden Augen und glühenden Wangen bei ihrer Mutter für ihn sich verwendete. »Fräulein!« sprach er endlich, halb lächelnd, halb gerührt, »Sie wünschen mir Trost zu geben, Sie nehmen Theil an meinem Kummer, o hüten Sie [27] sich! auch Sie sind liebenswürdig, jung, ein Engel an Güte, wie ihre Freundin, auch Sie ergreift das Verderben, wenn Sie mit Wohlwollen sich mir nahen.«
»Ich wage es darauf,« erwiderte lächelnd Auguste, »denn Sie retteten meiner Gabriele das Leben. Ja, das thaten Sie, Herr Rittmeister! und eben so unbewußt, als Sie dem unseligen Moritz sie auslieferten. Wollen Sie über das letzte verzweifeln, so müssen Sie auch des erstern sich rühmen. Sagen Sie mir nicht, daß es vielleicht besser sey, Gabriele wäre gestorben; im ersten Schmerz dachte ich das auch; aber eigentlich halte ich doch viel vom Leben. Im Leben ist Hoffnung, wer weiß, welche Freuden es Gabrielen noch aufbewahrt, die sie alle dann Ihnen verdanken muß.«
Frau von Willnangen hatte indessen Ernestos Brief hervorgesucht. »Ich wage es auf Augustens Verantwortung,« sprach sie, indem sie ein Blatt desselben Adelberten hinreichte. »Ja, ich will Ihnen vertrauen, was aus tausend Gründen jedem Andern ein Geheimniß bleiben muß. [28] Der Antheil, den sie an meiner Gabriele nehmen, ist zu innig, als daß ich nicht wünschen sollte Sie von der unverschuldeten Qual zu erlösen. Wissen Sie denn, der eigne Vater hatte Gabrielen dem Tode geweiht; gekränkter Hochmuth brachte den wahnsinnig Verzweiflenden zu dem entsetzlichen Entschlusse, sie, der er keine, ihrer Geburt gemäße Existenz zu sichern wußte, mit sich hinabzuziehen in das Grab. Darum ließ er so plötzlich sie zu sich entbieten, und nur durch Moritzens unerwartete Ankunft ward sie gerettet, ohne selbst die entsetzliche Gefahr zu ahnen, in welcher sie geschwebt hatte. Der Baron fand in der Vermählung des letzten Zweigs des Hauptstammes seines Geschlechts mit dem Erben der Vorrechte desselben den einzig möglichen ehrenvollen Ausweg. Gabriele wurde dem Leben erhalten, während der verfinsterte Geist ihres Vaters allein, freiwillig, hinabstieg ins Reich der Schatten. Lesen Sie hier die Bestätigung des Unglaublichen.«
Adelbert las; das lebhafteste Entsetzen malte sich während dessen in seinen Zügen.
[29] »Sind Sie nun überzeugt?« fragte Auguste, als er schweigend das Blatt zurückgab, »oder werden Sie noch ferner fortfahren, sich selbst mit fruchtloser Reue zu peinigen?«
»Das sollten wir überhaupt nie,« sprach Frau von Willnangen, »denn wie wenig wissen wir was wir thun, wenn es auf den Erfolg unsrer Thaten ankommt! Wie selten hilft uns unsre Klugheit! Was half es denn, daß Ernesto Gabrielen begleitete? Vermochte er es, sie zu beschützen? Das Leben geht mit uns seinen gemessenen Gang; wir werden mitgezogen; unsre besten, überdachtesten Plane scheitern heute am Zufall, unsre Unbesonnenheiten schlagen morgen uns und andern zum Glück aus. Was hilft es, darüber zu klügeln? Laßt uns nur immer das Gute ernstlich wollen und üben, und uns darein ergeben, wenn es anders wird als wir dachten, oder wenn aus unseren an sich gleichgültigen Handlungen ein unvorhergesehenes Uebel entspringt. Der Zukunft vorgreifen wollen, ist vermessen. Nicht umsonst bietet uns die Vorzeit so manches Beispiel von Orakeln, die gerade das [30] angedrohte Unheil herbeiführten, weil die Menschen zu ängstlich strebten, ihm auszuweichen.«
Der Eilbote, welchen der General nach Schloß Aarheim gesandt hatte, kehrte zur rechten Zeit zurück, und zwar mit einem Danksagungsschreiben des Herrn von Aarheim, sehr zierlich, auf goldnem Papier, mit himmelblauer Tinte geschrieben, in welchem dieser bedauerte, daß Geschäfte, tiefe Familientrauer und die noch immer schwankende Gesundheit seiner jungen Gemahlin es ihm unmöglich machten, die an ihn ergangne Einladung anzunehmen.
Alle fühlten sich durch diese abschlägige Antwort verstimmt, und da unbefriedigte Neugier keinen kleinen Antheil an dieser Verstimmung haben mochte, so sah man sich wenige Tage später durch die ganz unerwartete Ankunft Ernestos um so freudiger überrascht.
Die ganze Gesellschaft eilte ihm entgegen, drängte sich an ihn mit tausend Fragen und [31] Erkundigungen nach allem, was Gabrielen betraf, und es bedurfte seiner ganzen bekannten Geistesgewandheit, um dem überlästigen Forschen schicklich auszuweichen, nicht bald hier zu viel, bald dort zu wenig zu sagen. Mit Noth und Mühe gelang es ihm endlich, eine ruhige Stunde zu erringen, in welcher er vor seinen und Gabrielens innigsten Freundinnen sein volles Herz ungestört ausschütten konnte. Der Schmerz über alles was vorgegangen war seit sie sich zum letztenmal sahen, erneute sich auf das lebhafteste in dieser traulichen Zusammenkunft, und es währte ziemlich lange, ehe Ernesto dazu kommen konnte, von Gabrielens jetziger Lage Bericht zu geben.
»Das unerträglichste bei Gabrielens Geschick, dünkt mir, ist dessen Farblosigkeit,« sprach Ernesto. »Ihr Leben gleicht einem jener grauen Tage, wo es weder friert noch regnet, sondern alles in einem dicken handgreiflichen Nebel eingehüllt ist, der erkältend jedes Leben erstarren läßt, ohne es eben zu tödten. Blumen und Blätter sind nicht erfroren, nicht verwelkt, nicht erstorben, aber sie sehen aus, als wären sie das alles. Ein rechtschaffner [32] Orkan, in welchem die Welt zittert und splittert, wäre mir tausendmal lieber.«
»Moritz ist gut,« fuhr er im Laufe des Gesprächs fort, »aber es ist nicht die rechte, warme, menschliche Güte, die ihn beseelt; nicht jene Güte, die zum Herzen geht, weil sie recht aus dem Grunde des Herzens kommt, und bei der jedermann wohl wird. Er ist gut, weil er nicht böse ist, er ist nicht böse weil es sich nicht schicken will, weil nichts dabei herauskommt, weil – ich weiß, Sie werden mich nicht mißverstehen wenn ich es ausspreche – weil er nicht den Muth dazu hat, wenn gleichwohl zuweilen die Neigung. Er ist feig, wie alle Narren seiner Art, obwohl ihn dann und wann der Moment hinreißt, wie damals als er dem Baron das Fläschchen mit Kirschlorbeergeist entwinden wollte. Dies scheint indessen die größte Heldenthat seines Lebens gewesen zu seyn, denn er hörte nicht auf davon zu sprechen wenn er mit mir allein war. Ich halte diese Feigheit Moritzens für dessen gefährlichste Eigenschaft, denn in ihr ruht der Keim zu[33] tausend andern, als da sind: Mißtrauen, Eifersucht, Unwahrheit, Kleinlichkeit, Eigensinn.« –
»O genug, genug von ihm,« rief Auguste, »sprechen Sie uns von unsrer Gabriele.«
»Die ist ein Engel, von dem sich eben nichts weiter sagen läßt, wenn man den Erdenklumpen nicht erwähnen darf, an den diese Psyche leider gefesselt ist,« war Ernestos Antwort. »Woher das junge Kind den Muth, die Geduld, ja sogar die Lebensklugheit hernimmt, die sie bei jeder Gelegenheit an den Tag legt, ist mir unbegreiflich. Wahrlich ja, ich fange an in ihren kindlichen Glauben einzugehen, daß der Mutter verklärter Geist unsichtbar sie umschwebe und sie leite. Sie erinnern sich, wie nach der Trennung von Ottokar sich ihr ganzes Wesen so gewaltsam emporrang, daß nach überstandner Lebensgefahr die Genesene, obgleich immer dieselbe, uns damals wie in einem verklärten erhöhten Zustande erschien. Jetzt ist sie von jeder Hoffnung auf eine glückliche Zukunft geschieden, wie damals von dem Gegenstande ihrer stillen Liebe, und zum zweitenmal [34] hat die nehmliche Veränderung mit ihr sich zugetragen, denn zum zweitenmal fühlt sie sich erhoben und gekräftigt durch das Bewußtseyn des schweren Siegs über sich selbst. So hoch die Gabriele, welche in Karlsbad von Ihnen schied, über dem furchtsamen, blassen, zitternden Kinde steht, das bei den Tableaus der Gräfin Rosenberg zuerst erschien, so hoch erhebt sich die jetzige Gabriele über jene, die Sie verlassen mußte. Auch im Aeußern ist sie verändert. Sie ist größer, lieblicher, schöner als je. Bescheiden, demüthig sogar, vereint sie mit dem Ausdruck sichrer stiller Ruhe im Gemüth, eine Würde, einen edlen Anstand, der sogar mir imponirt, und den armen Moritz oft dahin bringt, daß er ärger als je alle Sprachen durcheinander jagt, um das rechte Wort zu finden; besonders wenn er ihr etwas anzukündigen hat, von dem er ahnet, daß es ihren Wünschen nicht zusagen möchte, wie zum Beispiel das Ablehnen der Einladung des Generals.«
»War es denn nicht möglich ihn zu bewegen, diese anzunehmen?« fragte Auguste.
[35] »Ich glaube, es wäre Gabrielen möglich gewesen, aber sie scheint sich Verhaltungs-Regeln vorgeschrieben zu haben, denen ich nicht einzureden wage,« war die Antwort. »Ihre ersten Schritte auf der neuen Lebensbahn sind so bestimmt, so sicher, dabei so eigen, daß es Pflicht ist sie ungestört gehen zu lassen. Ihr eignes Vergnügen, jeden Genuß opfert sie Moritzen auf, sobald er den Wunsch davon nur äußert, ohne es der Mühe werth zu achten, ihm merken zu lassen, daß sie ihm ein Opfer bringt. Im Gegentheil, sie ist gerade in solchen Momenten noch freundlicher gegen ihn als sonst. Zu Bitten erniedrigt sie sich nie, denn wen man nicht liebt oder wenigstens achtet, von dem kann ein edler Sinn nichts für sich erbitten wollen. Gilt es aber ihrem Gefühle von Recht und Unrecht, dann erklärt sie ihre Meinung, ruhig und bescheiden, und hält sie fest, und läßt sich nicht irren, ohne sich weiter mit ihm darüber zu streiten. Freilich habe ich dieses nur einmal erlebt, aber sie ist ja auch noch nicht viel über einen Monat ihm vermählt. Herr von Aarheim machte Anstalt sie [36] von Annetten zu trennen, die er bei Frau Dalling in Schloß Aarheim lassen wollte. Er war im Begriffe für Gabrielen eine Pariser und eine Londoner Kammerfrau zu verschreiben, und kündigte ihr dieses mit großem Triumf als einen Beweis seiner ungemeinen Sorgfalt für sie an. Gabriele erklärte ihm mit wenigen Worten, daß Annette ihr zu große Beweise der liebevollsten Treue gegeben habe, als daß sie je sie von sich lassen könnte. Die fremde Bedienung verbat sie sich gänzlich, weil dergleichen zu einem deutschen Haushalt nicht passe. Moritz redete sich Stunden lang außer Athem, um die Kunstfertigkeit und Vortrefflichkeit der ausländischen Kammerfrauen zu beweisen, Gabriele gab alles zu, behauptete aber ganz gelassen, nichts von diesen Talenten nöthig zu haben, und Annette bleibt bei ihr nach wie vor.«
»Raubt er ihr denn alle Zeit zum Briefwechsel mit ihren Freunden? zur Uebung ihrer Talente? zum Genuß ihrer selbst?« fragte Frau von Willnangen.
»Gottlob nein,« sprach Ernesto, »wenigstens [37] nicht für jetzt, so lange die Marotte vorhält, die er sich in den Kopf gesetzt hat, seinen Ehestand auf englische Weise zu führen. Gabriele gewinnt dadurch unendlich an Freiheit, und fühlt sich obendrein sehr glücklich, daß diese Art zu leben sie einer Menge lästiger Vertraulichkeiten überhebt. So fällt es ihnen zum Beispiel gar nicht ein, einander mit Du anzureden. Er nennt sie Madame oder Frau von Aarheim, sie ihn Herr von Aarheim. Da er wie alle Nachahmer die englische Sitte karikirt, so würde er es höchst unschicklich finden, wenn ein Fremder an ihrer Art mit einander umzugehen merken könnte, daß sie ein verheirathetes Paar sind, und er beeifert sich deshalb, besonders vor Leuten, einer oft höchst lächerlichen formellen Höflichkeit gegen sie, die ihn immer drei Schritte von ihr entfernt hält. Bei Tische steht sie nach englischem Gebrauch früher auf als er, um sich in ihr Zimmer zu begeben. Er bleibt dann noch ein Stündchen allein sitzen, knackt Nüsse auf, und da er kein Trinker ist, so läßt er seinen Wein vor sich stehen und verrauchen; dabei langweilt er sich fürchterlich [38] ohne es zu achten, denn es geschieht à l'angloise. Durch diese Lebensweise gewinnt Gabriele den größten Theil des Tages für sich, den sie in ihrem Zimmer bei gewohnten Beschäftigungen zubringt, ohne daß es Herrn von Aarheim oft einfiele, sie durch seine Gegenwart zu unterbrechen. Er ist zufrieden, wenn sie nur bei den Mahlzeiten die Honneurs macht, mehr fordert man ja auch in England von keiner Lady. Leider aber hat diese Nachahmung englischer Sitte uns auch um ihre Gegenwart hier im Schlosse gebracht. Moritz behauptet, ein neuvermähltes Paar dürfe wohl gleich nach der Hochzeit auf Reisen gehen, was leider Gabrielens Gesundheit nicht erlaubt hat, aber während der Flitterwochen sich in Gesellschaft zu zeigen, wäre unschicklich, undelikat und gemein, und eigentlich müsse er sich wundern, wie man ihm nur habe so etwas zumuthen können. Ich glaube aber der Ursache seiner Weigerung besser auf den Grund zu sehen, sie heißt Eifersucht, Eifersucht ohne bestimmten Gegenstand, und deshalb um so gefährlicher. Herr von Aarheim möchte alle Welt von Gabrielen [39] entfernt halten, eigentlich mehr aus Mißtrauen in sich als in sie. Seine englischen Grundsätze, welche dem Mädchen jede, der Frau keine gesellige Freiheit erlauben, kommen ihm dabei trefflich zu statten. Vor jetzt schwebt indessen obendrein Adelberts Bild, trotz der Narben und des lahmen Fußes ihm als das eines höchst gefährlichen Nebenbuhlers vor. Unaufhörlich suchte er mich und Gabrielen auf das ängstlichste über ihn auszuforschen, nannte ihn alle Augenblicke und beobachtete dabei Gabrielens Mienen auf eine wirklich lächerliche Art. Uebrigens aber, glaube ich, thut er auch mir die Ehre an, mich für gefährlich zu halten, da er mit Gabrielen nach seinen Gütern am Rheine gegangen ist, wo er den Winter zubringen will, ohne mich einzuladen, sie zu begleiten, oder auch nur späterhin zu besuchen. Im Gegentheil nahm er es als ganz bekannt an, daß ich hieher gehen müßte.«
Die Abende wurden immer länger. Graue Nebel verhüllten Tage lang die Sonne und trieben [40] die eifrigsten Waidmänner bei ungewohnt früher Zeit dem warmen kerzenhellen Versammlungs-Saale zu, wo die gesellige Freude in steter Abwechselung an jedem Abende lebendiger sich regte.
Seit es entschieden war, daß die zur Königin der Feste bestimmte Gabriele nicht erscheinen würde, hatte alles einen raschen lebendigen Gang genommen. Zwar war sie weder vergessen, noch war der Antheil gesunken, welchen Freunde und Bekannte an ihrem Geschick nahmen, aber man hatte sich darüber ausgesprochen und wandte nun gerne seine Aufmerksamkeit andern Gegenständen zu.
Jeder Eindruck verlischt, der nicht täglich erneut wird, vergebens sucht man ihn festzuhalten, vergebens strebt man, sich länger zu freuen oder zu betrüben, sobald die Zeit ihre Rechte geltend zu machen beginnt. Selbst Auguste ließ oft vom fröhlichen Taumel sich hinreißen, obschon sie gleich darauf sich leichtsinnig schalt, so fröhlich gewesen zu seyn, während ihre freudenarme Gabriele einsam-traurige Stunden verlebte.
[41] »Sie versündigen sich an der Natur und an sich selbst,« erwiderte ihr einst Ernesto auf eine ähnliche Aeußerung, welche sie über ihre jugendliche Fröhlichkeit that. »Wie könnten wir nicht nur den Schmerz, sondern auch die Freude tragen, bliebe ihr Empfinden immer sich gleich? Glauben Sie mir; Niemand von uns überlebte das zwanzigste Jahr, wenn uns nicht die alles ebnende, alles erleichternde Gewöhnung zur tröstenden Begleiterin auf dem Lebenswege gegeben wäre; lebenssatt, oder mit gebrochnem Herzen sänken wir alle lange vor der Zeit in das Grab.«
Im übrigen Schlosse ging es unterdessen gar fröhlich her, und je bunter und lauter das Leben von den aus der ganzen Umgegend herbeiströmenden Gästen betrieben wurde, je zufriedner bezeigte sich der General. Mit der zuvorkommendsten Gastfreiheit bot er zu allem die Hand, munterte zur Ausführung jedes Einfalls auf, den irgend einer seiner Gäste zum allgemeinen Vergnügen angab, und ward dabei selbst mit jedem Tage heitrer. Auch die Freude über Adelberts sichtbares Genesen verjüngte augenscheinlich den [42] liebenswürdigen Greis, der mit mehr als väterlicher Liebe an diesem hing. Seine Augen glänzten, wenn sie auf der Gestalt des geliebten Pflegesohns ruhten, dessen Wange in der Farbe der Gesundheit wieder zu erblühen begann, und dessen ganzes Wesen von neuem in frischer lebendiger Theilnahme an der Außenwelt erwachte.
Adelberts Wunden heilten wie durch ein Wunder, der Arm blieb freilich steif, obgleich fast unmerklich, aber der gelähmte Fuß erlaubte ihm schon an Augustens Seite im Polonoisen-Takte den Saal zu durchwandern, und sey es nun die oft belobte Nachwirkung der Brunnenkur, oder die Wirkung des gegenwärtigen heitren Lebens, Adelbert behielt bald nicht mehr vom Ansehen eines Kranken als er bedurfte, um von allen Fräuleins drei Meilen in der Runde für höchst interessant erklärt zu werden.
Die Zeit, welche man ursprünglich im Schlosse des Generals zu verweilen beschlossen hatte, war unbemerkt längst vorübergezogen und der mit starken Schritten herannahende Winter bestimmte jetzt die Gesellschaft, sehr ernstlich an den Abschied [43] von ihrem freundlichen Wirthe zu denken, sich zur Heimreise zu rüsten.
Die Ungewißheit der Frau von Willnangen in Hinsicht auf Leo und Augusten machte dieser indessen manche Sorge. Vergebens hatte sie fortwährend Beide mit der größten Aufmerksamkeit beobachtet; Leos Benehmen und Augustens Herz wurden ihr mit jedem Tage räthselhafter, und sie selbst immer unentschiedener, ob es nicht die Pflicht der Mutter heische, Augusten um ihr Verhältniß zu dem jungen Manne zu befragen, dessen auffallende Weise, sie allen andern vorzuziehen, von der ganzen Gesellschaft als ein Beweis gegenseitigen Verstehens angesehen wurde.
»Wecken Sie keinen Nachtwandler, indem Sie ihn beim Namen rufen,« sprach Ernesto, den sie deshalb zu Rathe zog. »Sie gerathen in Gefahr, ihn eben dadurch in den Abgrund zu stürzen, wodurch Sie ihn warnen wollten. Leo ist ein ganz guter Mensch, aber leider gehört er zu jener Legion von Kurmachern, die in der Mädchenwelt so viel Unheil stiften. Zum Glück ist Auguste mit ihrer gegenwärtigen Lage zufrieden[44] genug, um keine Veränderung ihres Zustandes herbei zu sehnen. Ich bin überzeugt, daß Leo keinen tiefen Eindruck auf sie gemacht haben kann, obgleich sie seine Huldigungen sich recht gern gefallen läßt. Bei alle dem wäre es aber dennoch möglich, daß sie eine Zeitlang sich einbildete, ihn zu lieben, wenn man durch unnütze Fragen sie auf diese Gedanken brächte; sie könnte in diesem Glauben sogar dahin kommen ihm ihre Hand zu reichen, wenn er sich erklärte und sich für unglücklich zu halten, wenn er es unterließe, was aus Furcht vor dem gnädigen Papa und der gnädigen Mama wahrscheinlich geschehen wird.«
»Glauben Sie in der That nicht, daß Leo Augusten genug liebt um wenigstens einen Versuch zu wagen, die Beistimmung seiner Eltern zu einer Verbindung mit ihr zu erhalten?« fragte Frau von Willnangen.
»Ich glaube es nicht,« erwiderte Ernesto; »denn was konnte ihn bestimmen, fast bis zum Abschiedstage damit zu zögern? Mir scheint es, er gehört zu der Zahl junger Leute, welche wie [45] im Traume umherwandeln, ohne eigentlich zu wissen, was sie wollen. Sie seufzen, sie werfen mit zärtlichen Blicken um sich, sie thun bedeutend, alles ohne Plan und Zweck. Dabei sind sie wetterwendisch wie eine Kokette aus dem vorigen Jahrhundert. Heute glühend, morgen kalt wie Eis, scheinen sie die gestern zur Huldgöttin Erhobene kaum noch zu kennen, und sehen gelassen, und eigentlich nicht ohne heimliches Behagen drein, wenn es ihnen gelingt, ein helles Auge zu trüben, eine jugendliche Wange erbleichen oder erröthen zu machen, und ein unerfahrnes junges Herz in schmerzliche Unruhe zu versetzen.«
»Welch ein Bild!« rief Frau von Willnangen. »Ist es möglich, daß Sie Leo von Wallburg dadurch bezeichnen wollen, der noch vor wenigen Wochen in Karlsbad so viel bei Ihnen galt?«
»Was er mir galt, gilt er noch bis auf einen gewissen Punkt,« erwiderte Ernesto. »Seit ich hier bin, habe ich um Augusten willen ihn genauer beobachtet, und ihn auf mancher der Ungleichheiten [46] betroffen, welche ich eben rügte. Ich hätte deren wahrscheinlich noch mehrere an ihm erlebt, wenn Augusten von dieser Seite nur etwas anzuhaben gewesen wäre; sie blieb aber in vollkommner Ruhe, wenigstens äusserlich, und da mußte er das Spiel freilich aufgeben. Uebrigens streite ich ihm keine der vorzüglichen Eigenschaften ab, um derentwillen ich ihn sonst schätzte. Er ist hübsch, artig, gewandt, unterrichtet, als Sohn und Bruder lobenswerth, wahrscheinlich wird er auch einmal ein Ehemann, mit dem eine Frau, die mit ihrer Glückseligkeit nicht gar zu hoch hinaus will, ein zufriednes Leben führen kann. Aber sein Betragen gegen Augusten erkläre ich deshalb doch für unmännlich und unwürdig. Es kann ihm nicht verborgen seyn, daß der Ahnenstolz seiner Eltern sich einer Verbindung mit ihr stets auf das ernstlichste entgegen stellen wird; er fühlt, daß es ihm an Muth, Kraft und Liebe gebricht, dieses Hinderniß zu bekämpfen; er wagt nicht einmal einen Versuch dazu und dennoch strebt er Augustens Herz zu gewinnen und sogar indirekt der Welt weis zu machen, es [47] sey gewonnen, ohne doch sich selbst auf irgend eine Weise verbindlich zu machen. Das ist es, was mich an ihm empört, denn solche Künste sind verächtlich. Gilt das einfach gegebne Wort dem rechtlichen Manne so viel als ein Eid, so sollte ihm auch jede absichtlich erregte Erwartung so viel gelten als ein Versprechen.«
»Das, was Sie über den jungen Wallburg jetzt aussprachen, habe ich mir immer dunkel gedacht,« erwiderte Frau von Willnangen, »aber dabei blieb ich stets in der Ungewißheit, was ich thun könne. Oft glaubte ich den General bitten zu müssen, daß er den jungen Mann geradezu über sein Verhältniß zu Augusten zur Rede stellen möge, denn als Mutter dies selbst zu übernehmen, dazu fehlte es mir an Muth oder an Demuth.«
»An beiden wahrscheinlich, und das ist ein rechtes Glück,« erwiderte Ernesto. »Aus solchem Einmischen dritter Personen kommt selten etwas gescheutes heraus, wenn gleich zuweilen eine Heirath, die mich denn immer an Molieres [48] mariage forçé erinnert, und bei welcher beide Theile sich gewöhnlich sehr schlecht befinden.«
»Aber wie meinen Sie, daß ich mich jetzt benehme, sowohl gegen Leo als Augusten?« fragte Frau von Willnangen.
»Am besten, Sie benehmen sich gar nicht, sondern lassen alles gehen wie es geht,« war die Antwort. »Gönnen Sie Augusten noch die paar Tage hindurch die Freude, sich von Leo adoriren zu lassen, die Trennung kann wohl einen halb erstickten Seufzer kosten, vielleicht wird auch beim Abschied ein Thränchen mit den Augenwimpern zerdrückt werden müssen, aber dabei bleibt es gewiß. In vier Wochen gedenkt sie Leos nur noch als eines vortrefflichen Partners bei Tanz und Spiel, und vermißt ihn höchstens, wenn sie auf der Promenade ihren Shawl selbst tragen muß. Auguste steht zu hoch über den gewöhnlichen Mädchen, als daß Leos Koketterie wirklich hätte Eindruck auf ihr Herz machen können, und schon ihre ungetrübte Heiterkeit muß Sie hievon überzeugen. Aber wäre dies auch wider Vermuthen geschehen, so wird dieser Eindruck nur [49] um so leichter schwinden, wenn sie niemanden hat, mit dem sie darüber sprechen kann. Glauben Sie mir, die Vertrauten sind oft der Ruhe gefährlicher, als die Liebhaber selbst. Eine ermahnende Mutter ist auch eine Art von Vertraute, sie nennt doch wenigstens den theuern Namen, und der süße Klang verfehlt selten, die Töchter über das Tadeln der Mutter zu trösten.«
»Wenn ich Sie nicht kennte wie ich Sie kenne, Freund Ernesto,« sprach Frau von Willnangen, »so müßte ich Sie nach diesen Aeußerungen nicht nur für höchst frivol, sondern auch für herzlos und gemüthlos halten. Sind das Ihre Ansichten der Liebe?«
»Der Liebelei,« erwiderte Ernesto, »des kalten chinesischen Feuerwerks von ausgeschnittenem Papier, hinter denen man Lämpchen stellt, womit die Jugend so groß thut. Glauben Sie mir, nur Wenige sind berufen, den göttlichen Funken in reiner Brust zu hegen, welcher der Ursprung der heiligsten Gefühle und alles Großen und Herrlichen ist. Wem dieser einmal sich entzündet, dem verlischt er nie, auch nicht im [50] Sturme des Lebens, auch nicht im Grabesdunkel der Trennung, auch nicht unter dem Schnee des Alters. Aber es giebt auch luftige Irrlichter für die Menge, welche ihnen nachjagt. Man läuft, man fällt, man verirrtsich, verlockt andre, aber am Ende kommt doch alles in eine Art von Ordnung, und wenigstens stirbt die Welt dabei nicht aus.«
Am vorletzten Abend des Abschiedstages sollte die schon längst angekündigte Aufführung eines Lustspiels seyn. Allwill war dessen Verfasser, und das Stück bestimmt, die lange Reihe der in dem gastlichen Schlosse des Generals genoßnen Freuden würdig zu beschließen. Zuschauer und Schauspieler sahen dieser Darstellung mit der gespanntesten Erwartung entgegen, welche freilich die vielen Proben und andre Vorkehrungen erregen mußten, mit denen Allwill die ganze Zeit über gestrebt hatte, die Erscheinung seines Stücks so vollkommen als möglich vorzubereiten.
[51] Zum erstenmal in seinem Leben, wenn gleich nur auf einem Privattheater, sollte dem Dichter die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches werden; er sollte die Schöpfung seiner Fantasie auf den magischen Bretern ins plastische Leben gerufen sehn. Mit welchem Enthusiasm er daher bei der Anordnung dieses Festes zu Werke ging, ist leicht zu erachten. Jahrelang hatte er gestrebt bis zur lampenhellen Bühne durchzudringen, ohne daß es ihm, trotz der Klagen über Mangel an guten neuen Komödien, gelungen wäre. Ein Schicksal, welches fast alle Dichter mit ihm theilen, die ihre theatralischen Arbeiten nicht eher schwarz auf weiß dem Urtheil der Welt ausliefern mögen, als bis sie sich von der Wirkung überzeugt haben, welche dieselben an dem Platz machen, für welchen sie bestimmt wurden.
Das Ausland ist in dieser Hinsicht billiger als wir, selten erscheint dort ein Schauspiel gedruckt, das nicht vorher auf der Bühne die große Probe überstand. Aber unsre Theaterdirekzionen bedenken nicht, daß es eben so unmöglich ist, [52] vor der Aufführung über den theatralischen Werth eines Stücks ein ganz genügendes Urtheil zu fällen, als ohne gehörige Beleuchtung über den Effekt eines Gemäldes zu entscheiden. Schwerlich wird ein Dichter zur möglichsten Ausbildung seines Talents gelangen können, dem diese praktische Erfahrung versagt ward, und der heutige Mangel an guten für das Theater passenden neuen Schauspielen ist vielleicht größten Theils nur den Schwierigkeiten zuzuschreiben, die sich zu diesem Zweck dem Dichter überall entgegenstellen.
Bei Privatbühnen sind die Proben bei weitem das Ergötzlichste für die Mitspielenden, das weiß jedermann. Auch Allwill erfuhr es, denn er wollte oft über die gute Laune seiner Schauspieler verzweifeln. Dafür erklärten ihn diese für den wunderlichsten, krittlichsten, herrsüchtigsten aller Theaterdirektoren, und zuletzt galt es für ausgemacht, daß zwei Allwills im Schlosse hauseten, feindliche Zwillingsbrüder, die nie zusammen erschienen; der eine, der Dichter, die Liebenswürdigkeit selbst, der andre aber, der Theaterkönig, ein Despot ohne Gleichen, ein [53] heftiger mürrischer Kautz, mit dem eben kein Auskommen sey.
Des armen Allwills gute Laune war indessen schon bei der Austheilung der Rollen auf fürchterliche Proben gesetzt worden. Es gab dabei unendliche, zum Theil sehr lächerliche Schwierigkeiten, die er aber sich nur zu sehr zu Herzen nahm. Wenigstens dreimal so viel Schauspieler und Schauspielerinnen als man bedurfte, hatten anfangs sich mit großem Eifer gemeldet, und zuletzt kostete es dennoch nicht geringe Mühe, nur so viele zusammenzubringen, als man nothwendig brauchte, um alle Rollen des Stücks gehörig zu besetzen. An ersten Liebhabern und Liebhaberinnen fehlte es freilich nicht, aber ein redseliges altes Fräulein und einen etwas rauhen invaliden Papa wollte niemand übernehmen. Einer der besten Freunde des Generals, welcher schon vor dreißig Jahren den Major Tellheim mit dem größten Beifall gespielt hatte, fuhr im Zorn auf und davon, weil Allwill durchaus den ersten Liebhaber von niemand anders als Leo von Wallburg spielen lassen wollte. Andre, [54] die ebenfalls mit den ihnen zugetheilten Rollen nicht zufrieden waren, folgten dem ehemaligen Tellheim, indem sie sich ganz in der Stille fortschlichen, und Allwill war wirklich in Gefahr, die Aufführung seines Stücks hier eben so gut, als wäre es ein öffentliches Theater, an Rollenneid scheitern zu sehen.
Endlich ließ Frau von Grünborn, die Nichte jenes Tellheims, sich durch unablässiges Bitten und Zureden der übrigen Gesellschaft bewegen, die alte Tante zu übernehmen; ihrem Beispiele folgten andre, und so kam das Ganze zur allgemeinen Freude allmählig in anscheinende Ordnung. Frau von Grünborn brütete indessen ganz im Stillen noch über einen großen Plan, denn so ganz gutwillig konnte sie sich doch nicht entschließen, in einer, ihrer Meinung nach, undankbaren Rolle aufzutreten, und bei dem ersten einsamen Spaziergang mit Augusten, den sie herbeizuführen wußte, nahm sie Gelegenheit, zu versuchen, ob es ihr nicht gelingen könne, diese ihren Wünschen günstig zu stimmen.
»Sie dauern mich unbeschreiblich, liebes [55] Fräulein von Willnangen,« wendete sie das Gespräch nach unendlichen Liebkosungen gegen Augusten, sobald sie weit genug vom Hause entfernt waren um keine Lauscher fürchten zu müssen. »Sie dauern mich, Allwills Eigensinn zwingt Sie, die Elise zu spielen, und ich fühle recht gut, wie entsetzlich es Ihnen seyn muß, vor aller Welt mit Leo von Wallburg zärtlich zu thun. Gewiß der Gedanke an die Aufführung des Stücks ist Ihnen deßhalb recht peinlich, es kann nicht anders seyn, und ich habe es Ihnen schon lange angesehen. Sie wissen nicht, wie sehr ich Sie liebe, theure Auguste, um Ihnen einen Beweis davon zu geben habe ich ganz in der Stille Ihre Rolle neben der meinen gelernt, und bin nun im Stande, Ihnen einen Tausch anzubieten. Das hätten Sie wohl von Ihrer Nanny nicht erwartet?« setzte sie hinzu, indem sie Augusten feurig umarmte.
Mit dem allergrößten Erstaunen hörte Auguste den absurdesten Vorschlag von der Welt aus dem Munde einer Frau, die alt genug war, um ihre Mutter zu seyn, und die nun, schalkhaft lächelnd, [56] in jugendlicher Verschämtheit vor ihr stand. Die Anspielung auf ein näheres Verhältniß zum jungen Wallburg war ihr freilich so unangenehm als unerwartet, und eine leichte zornige Regung röthete dabei ihre Wangen, bald aber siegte das unbeschreiblich Lächerliche in der ganzen Zumuthung ihrer neuen Freundin, und lächelnd gab sie ihr Gehör, als diese mit der selbstzufriedensten Redseligkeit fortfuhr, ihren Plan weiter aus einander zu setzen.
»Vor allen Dingen,« sprach Frau von Grünborn, »müssen wir unsern Rollentausch aller Welt verschweigen, bis zur Stunde der Ausführung, sonst giebt ihn Allwill nimmermehr zu; er hat es sich zu fest in den Kopf gesetzt, daß wir alle seinen Befehlen folgen müssen; steckt er aber erst in seinem Souffleurkasten, so muß er sich schon alles gefallen lassen, was über seinem Haupte auf der Oberwelt vorgeht. Ich habe mir in den Proben Ihr Spiel genau gemerkt, wenn Sie die Rolle noch ein paar Mal mit mir durchgehen, so wird Herr von Wallburg keinen Unterschied finden, und des Beifalls der Gesellschaft [57] können wir gewiß seyn. Auguste ward dem Vorschlage immer geneigter, je länger sie ihm zuhörte. Der Gedanke, wie komisch Leos Verwunderung und Allwills zorniges Schrecken sich ausnehmen müßten, gewann immer mehr lockendes, so daß sie, zuletzt in einem Anfall von Uebermuth, sich wirklich entschloß, in den Tausch zu willigen, und nun, nicht minder eifrig als Frau von Grünborn, selbst sich bemühte, alles darauf vorzubereiten.
Der lustige Erfolg übertraf bei weitem Augustens Erwartung. Beide Damen fanden mit leichter Mühe einen Vorwand bis zum Aufrollen des Vorhangs in ihrem Ankleidezimmer allein zu bleiben.
Leo, der mit einem Monolog zuerst die Bühne betrat, erstarrte über den Anblick der Frau von Grünborn, wie Hamlet indem er den Geist seines Vaters erblickt. Allwill reckte sich lang aus seinem Souffleurkasten empor, und machte Miene, ganz auf das Theater heraufsteigen zu wollen, um wegen des Rollenwechsels Rechenschaft zu [58] fordern, ja selbst die Zuschauer begannen sehr lebhaft zu werden. Frau von Grünborn ließ sich indessen von allem was vorging, nicht im mindesten anfechten. Sie hatte ihre Rolle zu gut gelernt, um der Eingebungen des Souffleurs zu bedürfen und besaß auch überdem ziemliche Gewandheit und theatralische Uebung. An Schminke und jugendlichem Putz hatte sie ebenfalls nichts gespart; man sah deutlich wie sie in großer Herzensfreudigkeit sich selbst Illusion machte, und so war denn die Gesellschaft endlich gutmüthig genug, sich diese ebenfalls gefallen zu lassen und dem Wagestück ward von allen Seiten applaudirt.
Doch dieser gemäßigte Beifall verwandelte sich in ein laut donnerndes Bravo-Rufen, in ein ganz unerhörtes Händeklatschen, wie man es in einem Privattheater gar nicht für möglich halten sollte, als Auguste erschien. Die altmodische Tracht ertheilt jungen Personen immer durch den Kontrast des Scheinenwollen mit dem wirklichen Seyn einen eignen unbeschreiblichen Reiz. Das [59] gepuderte Touppée, die zu beiden Seiten des jugendlichen Gesichtchens tief hineingehende altmodische Dormeuse, aus der die wunderschönen hellen Augen schalkhaft herausblitzten, die schlanke Taille, welche das lange Korsett erst recht versichtbarte, die netten Füßchen in ihren spitzen Hackenschuhen, die man bei der hochaufgeschürzten altfränkischen Zirkassienne deutlich sah, alles dieses verlieh Augustens Erscheinung eine wunderbare Anmuth, von der niemand eine Ahnung haben konnte, der sie nur im gewöhnlichen Leben zu sehen gewohnt war. Ihr mit der heitersten Laune aufgefaßtes und durchgeführtes Spiel ließ den Taumel der Bewunderung, den ihr Anblick erregt hatte, gar nicht enden. Alles ward dadurch versöhnt. Leo konnte über den Streich, welchen sie ihm gespielt hatte, nicht länger zürnen, Allwill setzte sich getröstet wieder auf seinem unterirdischen Ehrenposten zurecht, Frau von Grünborn umarmte sie mit anscheinendem Entzücken, sobald sie wieder zwischen die Kulissen trat, und pries überlaut die eigne Selbstverleugnung, mit der sie Augusten die interessanteste [60] Rolle im Stück freiwillig abgetreten haben wollte.
Je lauter die Freude im Schauspielsaale sich äusserte, je trüber ward Adelbert. Kaum vermochte er es über sich, das Ende eines kleinen Liederspiels abzuwarten, in welchem die scheidenden Gäste unter der Leitung des Kapellmeisters dem gastfreien Hausherren zuletzt ihren Dank brachten. Schmerzlich bewegt verließ er den Saal, sobald er es unbemerkt thun zu können glaubte, und erschrak nicht wenig, als mit ihm zugleich auch Auguste durch eine andre Thüre in ein an das Theater stoßendes Nebenzimmer trat.
Verlegen, wie sonst nie, standen sie da, und keines wagte das andre anzublicken, bis der Abschied zur Sprache kam, der beiden das Herz zusammenpreßte.
»Sie gehen,« sprach Adelbert, »und in diesem Moment fühle ich erst, wie sehr Ihre Nähe das Element meines Lebens ward. Erinnerung ist [61] alles, was mir nun übrig bleibt; ich weiß, um wie viel reicher durch diese mein Daseyn geworden ist, aber wenn mich nun die Sehnsucht ergreift, wie werde ich diese überwinden? Und wenn ich ihr nachgebe, wenn ich über Berg und Thal hineile, um wieder einmal in den Strahlen ihrer lieben, gütigen Augen mein Herz zu erwärmen, ach Auguste! wie werde ich dann Sie finden?«
»Ich hoffe wie jetzt,« erwiderte Auguste sehr freundlich; »hier nehmen Sie meine Hand darauf, Sie finden mich wie jetzt, und kämen Sie auch erst nach langen Jahren; dann vielleicht um so gewisser, genau so,« setzte sie lächelnd mit einem Blick auf ihre Theater-Kleidung hinzu.
»Zwingen Sie mich nicht, mich selbst zu täuschen,« sprach Adelbert, und drückte mit trübem Blick ihre ihm dargebotene Hand an seine hochbewegte Brust. »Mein tröstender Engel betrat mit Ihnen die Schwelle dieses Hauses, mit Ihnen verläßt er es wieder, ich weiß es. Diese Hand, welche jetzt in der meinen ruht, wird in [62] wenigen Tagen einem Glücklichern gereicht. Leo – doch ich mißbrauche ihre Nachsicht, verzeihen Sie mir, ich fühle beschämt, wie unbescheiden ich ward.«
»Leo?« rief Auguste und ward dabei feuerroth, »Leo? Nun der zieht übermorgen jen Norden, während wir dem Süden uns zuwenden, und fast möchte ich wetten, daß ich Sie früher wieder sähe als ihn.«
»Fräulein! wäre es möglich! verstehe ich Sie?« fragte Adelbert sehr bewegt. »Ach ich weiß nicht, welch ein böser Dämon mich in dieser Stunde zwingt, immer auszusprechen was ich eigentlich verschweigen müßte!« Es ist wohl Ihr fremdes Ansehen, was so mich verwirrt,« fuhr er, mit trübem Lächeln sie betrachtend, fort. »Sie sind Sie selbst, und sind es auch nicht. Gewiß wäre es sündlich vermessen, zu wünschen, Sie wären wirklich, was sie diesen Abend scheinen wollen, aber ich kann den Gedanken daran nicht los werden und einem armen Invaliden ist er wohl zu verzeihen, der so Ihnen näher zu stehen wähnen dürfte. Sie sind so reich, daß [63] Sie dennoch bleiben was Sie sind, wenn gleich diese Rosen verblüht wären.«
»Hat es wohl je in der Welt einen jungen Mann gegeben, der einem artigen Mädchen dreißig Jahre mehr und dazu ein gepudertes Touppée wünscht, bloß um ihr etwas schönes zu sagen?« rief Auguste ein wenig gezwungen lächelnd, und wandte sich der Thüre zu, in welcher der General ihr plötzlich entgegentrat, um sie zur Gesellschaft abzuholen.
Bei Spiel und Tanz schwärmte man noch bis tief in die Nacht hinein. Es war als ob die Freude jetzt, so nahe vor dem Scheiden, erst recht lebendig werden wollte. Nur Leo irrte verdrüßlich und abgesondert von den übrigen durch die lange Reihe der Zimmer. Seit mehr als einer Stunde vermißte er Augusten, ohne sie eigentlich suchen zu mögen, als Frau von Grünborn zu ihm trat und unter der Behauptung, sie habe Augusten zu einer Quadrille höchst nöthig, lachend seinen Arm ergriff, um mit ihm das ganze Schloß nach ihr zu durchstreifen.
[64] Beide gelangten auf ihrer Wanderung an das Vorzimmer der Frau von Willnangen, es ward darin gesprochen, das hörte man deutlich, die Thüre war nur angelehnt, neugierig blickte Frau von Grünborn durch die Spalte und fuhr im nehmlichen Moment mit einem ganz eigenen Gesicht zurück, um in großer Hast ihren Begleiter an ihre Stelle zu schieben.
Leo traute seinen Augen nicht, er erblickte Augusten in Adelberts Armen und neben dieser Gruppe Frau von Willnangen und den General. Eingewurzelt wäre er stehen geblieben, hätte nicht Frau von Grünborn ihn wieder mit sich fort zur Gesellschaft gezogen, wo sie jedem, der ihr in den Weg kam, die eben gemachte Entdeckung im strengsten Vertrauen zuflüsterte.
Bald wurden aller Blicke forschend dem armen Leo zugewendet, der, von der allgemeinen Aufmerksamkeit gedrückt, verstimmt, erschrocken sogar, es dennoch nicht wagen mochte, sich früher zu entfernen, als die übrigen, um niemanden Raum zu lauten Bemerkungen hinter seinem Rücken zu geben. Doch da der General sich [65] unter dem Vorwand eines ihm plötzlich überkommenen Geschäfts entschuldigen ließ, so zerstreute sich bald darauf die ganze Gesellschaft.
Tausend unangenehme, einander widerstrebende Empfindungen bemächtigten sich Leos, sobald er in seinem Zimmer allein sich befand, und raubten ihm für diese Nacht den Schlummer. So wenig es ihm in den Sinn gekommen seyn mochte, sich ernstlich um Augusten zu bewerben, so schien sie ihm doch in diesem Moment unendlich reizend und ihr Besitz höchst wünschenswerth, gerade weil er ihm unerreichbar geworden war. Am meisten aber peinigte ihn Reue über sein bisheriges Streben, sich vor der Welt den Anschein eines innigern Verhältnisses mit Augusten zu geben; und die Eitelkeit, welche ihn dazu angetrieben hatte, ward jetzt seine empfindlichste Strafe. Wie oft hatte er nicht Augusten die gleichgültigsten Dinge ab sichtlich mit einem höchst wichtigen Gesicht zugeflüstert! wie oft sich bemüht, dankbar gerührt auszusehen, während sie mit ihm vom Wetter sprach! Unzähligemal hatte er den unbedeutendsten gegenseitigen Gefälligkeiten ein geheimnißvolles [66] Ansehen zu geben gesucht und gewußt! Alle diese Veranstaltungen, die er mit so großer Mühe ersonnen und ausgeführt hatte, halfen jetzt zu nichts, als ihm in den Augen der Gesellschaft das Ansehen eines Abgewiesenen, Zurückgesetzten zu geben. Augustens Charakter stand zu hoch, als daß selbst der Neid es hätte wagen mögen, ihn in ein zweideutiges Licht zu stellen. Leo begriff bei so gestellten Dingen, daß ihm keine andere Wahl blieb, als entweder morgen demüthig, wie ein Verstoßener, das öffentliche Mitleid und den heimlichen Spott der Anwesenden zu ertragen, oder in der Stille sich zu entfernen, ehe es im Schlosse Tag ward. Ein innerer Widerwille, den glücklichen Adelbert zu sehen, trug viel bei, ihn zu der Wahl des letztern zu bestimmen; er hatte die Flamme zu nahe umgaukelt, um nicht jetzt sich von ihr ergriffen zu fühlen, und fürchtete daher, vor den Augen des glücklichen Paars etwas trübselig dazustehen. Nach vorher genommener Rücksprache mit seinen Eltern, machte er sich daher in aller Frühe auf den Weg. Die Ueberzeugung, daß er aus einem [67] Lande und von Menschen scheide, welche nie wieder zu sehen in seiner Macht stand, und daß kein spöttisches Wort aus dieser Ferne in seiner Heimath ihn erreichen könne, war das einzig Tröstliche, was er mit sich nahm.
Strahlend in einer Freudenglorie, als wäre er selbst der beglückte Bräutigam, stellte der General am folgenden Morgen die Braut seines Adelberts der Gesellschaft vor. Die herzlichste Theilnahme aller Anwesenden empfing sie mit lauten Glückwünschen, nur Herr und Frau von Wallburg machten hierin eine Ausnahme, und was sie anscheinend Freundliches sich nicht entbrechen konnten dem Brautpaar zu sagen, war augenscheinlich nur ein Opfer mit kalten Lippen, aus kaltem Herzen der Konvenienz gebracht. Es mag wunderlich scheinen, daß sie, die eine Verbindung Augustens mit ihrem Sohne zwar zuweilen fürchteten, aber nie wünschten, und gewiß nur gezwungen sie zugelassen haben würden, [68] sich jetzt beleidigt fühlten, weil man es nicht in ihre Macht gestellt hatte, solche auszuschlagen. Sie bildeten sich ein, Augustens Verlobung als ein gegen Leo begangenes Unrecht ansehen zu müssen, eigentlich aber verstimmte sie nur die angeborene Unart mancher Naturen, welche nicht ohne heimlich-neidische Regung einen Andern im Besitz dessen glücklich sehen können, was sie selbst verschmähten. Unter dem Vorwande dringender Geschäfte, welche ihren Sohn schon gezwungen hätten, bei Tagesanbruch ohne Abschied fortzureisen, beurlaubten auch sie sich noch in der nehmlichen Stunde und eine allgemeine Erkältung, wie man sie vor weniger Zeit noch nimmer hätte vermuthen können, begleitete ihren Abschied.
Der übrige Theil der Gesellschaft ließ sich gerne bewegen, noch einige Tage beisammen zu verweilen, um sich des neuen Ereignisses zu erfreuen, dessen unerwartetes und schnelles Entstehen zu mancher abgesonderten Unterhaltung den Stoff hergeben mußte.
Adelberts und Augustens gegenseitiges Wohlgefallen hatte sich indessen weit früher als Andere [69] und sogar sie selbst es vermutheten in eine herzliche, innige Neigung verwandelt. Verlassen, verrathen, an schweren Wunden geistig und körperlich erkrankt, war Adelbert früher nur durch seines Oheims väterliche Liebe über dem Abgrund der Verzweiflung gehalten worden, der jedem sich öffnet, welcher aus goldenen Jugendträumen plötzlich in einer Welt voll höhnender, treuloser, verächtlicher Larven zu erwachen glaubt. Herminiens Angedenken ließ nicht ab, ihn zu verfolgen, es war zu innig mit seinem Daseyn verwoben, er hatte nur sie gekannt, einzig sie. Zu Hause war sie die Sonne seines Frühlings gewesen, auf der Universität beflügelte die nahe Hoffnung auf ihren Besitz seinen Fleiß, im Kriege hatte diese Hoffnung ihm Elend, Wunden, tiefgefühlten Schmerz über sein zerrüttetes Vaterland ertragen helfen. Sie schwand und mit ihr der leitende Stern seines Lebens. Er blickte auf die kurze Laufbahn, die er zurückgelegt hatte. Ueberall, seit er ins thätige Leben trat, starrte mannichfaches Unrecht, Elend und Verrath ihm entgegen, seine Jugend fiel in eine sehr trostarme [70] Zeit, in der auch die Zukunft sich immer düsterer verhüllte. Was blieb ihm daher anders, als jene ungemessene Sehnsucht, zu sterben, welche so leicht die Jugend zu ergreifen und in trübe Unthätigkeit zu versenken pflegt! Da strahlte plötzlich Gabrielens mildes Licht in die trübe Nacht seiner Schwermuth, er sah, wie fromm, wie ergeben, wie freundlich sie einen großen Schmerz trug, dessen Daseyn zwar keine Klage verrieth, aber ihr ganzes Wesen bezeugte. Er blickte zu ihr auf, wie zu einem höhern Wesen, wie zu einer Heiligen, der man nur in demüthiger Ferne nachzustreben wagt. Ihr Mitleid, ihre Theilnahme an seinem Geschick nahm er als einen unverdienten Beweis ihrer Huld, bis sie ihm entschwand und Auguste an ihre Stelle trat. Auch diese war freundlich, mild, theilnehmend und voll zarter Schonung. Weniger überirrdisch als ihre Freundin, schien sie in ihrem fröhlichen Jugendglanz ihm näher zu stehen. Ihr anscheinendes Verhältniß zu Leo von Wallburg beunruhigte ihn nicht, er wähnte sich auf ewig von jedem Anspruch in Liebe und Glück ausgeschlossen; [71] um so getroster überließ er sich der süßen Gewohnheit, nur in Augustens Nähe zu leben. Tausend Zufälligkeiten banden mit unsichtbaren Fäden ihn immer fester an sie, jeder Tag brachte ihm neue Beweise ihrer zarten Theilnahme an allem, was ihn betraf, besonders rührte ihn ihr Bestreben, die Angst um Gabrielens Geschick, das er veranlaßt zu haben glaubte, von seiner Seele zu nehmen. So lebten beide über zwei Monate lang im wechselndem, aber stets freundlichem Verhältnisse neben einander. Auguste freute sich am Gelingen ihres Strebens, das verfinsterte Gemüth eines edlen Menschen zu erheitern, ihn der Welt und dem Leben wieder zu geben, die so viel Ansprüche an ihn hatten; sie gewann ihn lieb, wie Frauen alles lieb gewinnen, dessen sie mit treuer Pflege sich annehmen. Jeder Tag lehrte sie Adelberts schönen, reinen Sinn besser kennen, und Leos wechselndes Benehmen fing an, sie immer weniger zu interessiren. So nahte die Zeit der Trennung, und Adelbert wie Auguste gewahrten erst jetzt, wie viel sie indessen einander geworden waren. Der General hatte,[72] ohne es zu wollen, ihrer Unterredung nach dem Schauspiel zugehört; längst bemerkte er mit innigem Wohlgefallen, aber ganz in der Stille, das Heranblühen der Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches, und der jetzige Moment schien ihm günstig, durch sein Hinzutreten alles zu ordnen und mit klarem Sinn dem jungen Paare in der eignen Erkenntniß seiner selbst zurecht zu helfen.
Und so geschah es denn bald, daß liebend und freudig Auguste ihre Hand abermals in Adelberts legte, um sie ihm nie zu entziehen. Entzückt drückte dieser das liebliche Wesen an seine Brust, das ihm zum Lohn für den Kampf um Vaterland und Ehre, die mit Rosen der Liebe durchflochtene Bürgerkrone häuslichen Glücks bot. Zwar fühlte er nicht die flammende Gluth, welche in einem ähnlichen Momente an Herminiens Seite ihn Sinnenverwirrend zu einer Zeit ergriffen hatte, von welcher er jetzt gern den Blick abwandte, ohne sie doch ganz vergessen zu können. Er fühlte sich aber um so glücklicher, je ruhiger er war, denn diese Ruhe nahm er als [73] das Pfand einer heitern segensreichen Zukunft, die aus Augustens seelenvollem Auge ihm lächelnd winkte. Auguste war zu glücklich, um der unlängst verflossenen Tage oft zu gedenken, in welcher Leo sie umflattert hatte, und geschah es ja zuweilen, so erschienen sie ihr wie ein jugendliches Spiel, aus dem zu ihrem eigenen großen Glück nicht Ernst geworden war.
Von Frau von Willnangen mütterlicher Freude, von Ernestos Triumph über den Scharfblick, mit dem er Augustens Herz durchschaut hatte, schweigen wir. In Adelberts Begleitung traten beide mit Augusten froh und hoffnungsreich den Weg in ihre Heimath an, wohin ihnen der General noch vor Ende des Winters zum Hochzeitfeste zu folgen versprach.
Ein langer Brief von Gabrielen, der erste ausführliche, begrüßte Frau von Willnangen bei ihrer Ankunft zu Hause.
[74] »Ich weiß es,« schrieb Gabriele, »ich weiß, Ihr mütterlich liebendes Herz sehnt sich schon lange nach genauer Kunde vom Geschick des armen verwaisten Wesens, das Ihnen so viel, ach so unendlich viel verdankt; aber ich weiß auch, Sie lassen statt aller Entschuldigungen meines bisherigen Schweigens die bloße Versicherung Ihrer Gabriele gelten, daß sie nicht schrieb, weil sie es nicht konnte, weil sie nichts zu schreiben wußte, so sonderbar dieses auch klingen mag.
Den äußern Gang meines Geschicks meldete Ihnen Ernesto; er, der theilnehmende Augenzeuge, vermochte dieß weit besser als ich. Schwindelnd, beinahe bewußtlos den widerstrebendsten Gefühlen zum Raube, war ich vom Wirbel des Lebens fortgerissen worden. Jede schicksalsschwere Minute übergab mich der ihr folgenden, ich konnte kaum die Gegenstände erkennen, an denen ich vorübergeschleudert ward, bis zur unabänderlichen Entscheidung meiner Zukunft, während jene Minuten sich zu weniger als vier und zwanzig Stunden an einanderreihten.
[75] Sie wissen es, ich that was ich mußte, ich duldete, was keine irrdische Macht von mir abzuwenden vermochte, doch am Ziele schwand meine Kraft. Ich ward krank, liebe, gütige Frau! sehr krank. Aus der Betäubung, während welcher meine physischen Kräfte sich wieder gesammelt hatten, erwachte ich zum tiefsten Schmerz über den Tod meines Vaters, ich blickte in meinem Jammer um mich her nach Trost, ich erkannte den treuen Freund Ernesto und Annetten, alles andere aber war mir fremd, wildfremd, ich selbst sogar, ich und meine künftige Bestimmung. Das Fremde aber soll man nie beurtheilen, bis es zum Bekannten geworden ist, damit später keine Ungerechtigkeit uns zu Schulden komme. Darum mußte Ihre Gabriele wohl schweigen, es währte lange, ehe ihr alles klar ward.
Nun bin ich genesen, bin meiner selbst wieder mächtig. Ich erkenne mich wieder; mein Gefühl, mein Seyn, mein Leben, alles was mich umgiebt, ist mir deutlich geworden, so daß ich es nun wagen darf, Ihnen von allem Rechenschaft abzulegen. Vorahnend sehe ich, wie bei Lesung dieser [76] Stelle meines Briefs Ihr Herz höher schlägt, wie Furcht vor der nächsten Zeile sie ergreift, und Sie Klagen erwarten läßt, welche alle Ihre Güte und Liebe nicht zu stillen vermögen. Nein, geliebte, mütterliche Frau! beruhigen Sie sich, Ihre Gabriele klagt um nichts, als um den Tod ihres Vaters. Der lebensmüde Greis ruht im Grabe sanft und still von einem Daseyn aus, das er, ich bin dessen überzeugt, um keinen Preis wieder aufnähme. Gern und schnell entfloh sein entfesselter Geist zu Regionen des Friedens; darum sollte ich nicht trauern. Aber ich bin eigennützig und in den Tiefen meines Herzens regt sich der Glaube, daß es meinem Streben gelungen seyn würde, ihm auch dieses irrdische Daseyn wieder lieb zu machen, wäre er mir nur nicht sobald entschwunden. Es dünkt mich oft hart, daß kaum ein einziger Augenblick seiner Zufriedenheit mir zum Lohne meines Gehorsams ward, und oft muß ich gewaltsam mich zusammennehmen, um mich daran zu erinnern, daß ich ja mein eignes Heil bereitete, indem ich ihm gehorchte; daß ein qualvolles Daseyn, innere unauslöschliche [77] Vorwürfe mein Loos geworden wären, wenn er in Unfrieden mit mir dieses Leben verlassen hätte.
›Und hast du denn Heil dir bereitet? bist du glücklich? Gabriele!‹ So höre ich Sie fragen. Glücklich, meine theure Freundin, glücklich ist undenkbar viel! Wer ist denn glücklich? Die Kinder sind es, auch ich war es, da ich ein Kind war. Ich war es auch noch in einem einzigen Thränenund Wonnenreichen Moment, an der ersten Grenze der Jugend, die jetzt in meinem kaum angetretenen achtzehnten Jahr mir schon so fern zu liegen scheint! Und später, als die segnende Hand meines Vaters meine Stirn berührte, sein Dank bis in die tiefste Tiefe meines Gemüths erklang, war ich da nicht auch glücklich? Ja ich erkenne es dankbar, ich war es, wenn gleich nur in seligen Momenten. Mir wurden Lichtpunkte im Leben, wie Wenigen, und damit darf das Kind Ihrer Wahl sich zufrieden gestellt dünken. »Gabriele du weichst der Wahrheit aus, du sprichst von der Vergangenheit, und verhehlst mir die Gegenwart!« Nein geliebteste Frau! ich weiche nicht aus, ehrlich [78] und offen wie immer, will ich Wahrheit Ihnen geben.
Ich bin zufrieden, denn ich bin resignirt, möchte ich sagen, wenn Sie diesen fremdartigen Ausdruck, für den ich aber in unserer Sprache keinen Ersatz zu finden weiß, nicht in zu trübem Sinne nehmen wollen. Friede mit mir selbst aus reinem Bewußtseyn entsproßen, giebt meinen Tagen Heiterkeit und meinen Nächten Schlaf. Was darf ich mehr wollen? Alle jene Uebungen, jene süßen Beschäftigungen, die ich sonst unter Ihren Augen trieb, füllen auch jetzt in der Einsamkeit meine Stunden vergnüglich aus, mir bleibt Zeit für alles, was sonst auch mir lieb war. Meine äußern Umgebungen lassen mir nichts zu wünschen übrig. Eine reiche Kupferstichsammlung, mehrere vorzügliche Gemälde, plastische Kunstwerke, eine in frühern günstigern Jahren gesammelte reiche Bibliothek sind der Schmuck unseres Hauses und stehen mir stündlich zu Gebot. Wir wohnen in einer entzücken den Gegend; mit unaussprechlicher Sehnsucht male ich mir des Frühlings Erwachen in diesen wunderherrlichen Thälern, auf diesen [79] Rebenhügeln, wenn um sie die grünen Wogen des von Eisesbanden befreiten Stromes den fröhlichen Tanz wieder beginnen werden.
Herr von Aarheim (er selbst wünscht es, daß ich stets so ihn nenne) Herr von Aarheim begünstigt freundlich und nachsichtig alle meine kleinen Liebhabereien, er ist wohlwollend, aufmerksam und gütig gegen mich. Ob er manche Sonderbarkeit, die uns bei seinem ersten Anblick von ihm auffiel, theilweise abgelegt hat, oder ob Gewohnheit sie mir weniger auffallend macht, wage ich nicht zu entscheiden; so viel ist gewiß, daß diese seine Angewöhnungen sehr selten störend in unser häusliches Leben eintreten, und wo sie es könnten, fühle ich die Verpflichtung, jeden Mißton schonend und zuvorkommend abzuwenden, so viel dieß in meiner Macht steht. Auch ohne das Band, durch welches mein Vater in seinen letzten Stunden mich Herrn von Aarheim vereinte, wäre er als mein nächster Verwandter zugleich der natürliche Vormund und Beschützer meiner Jugend gewesen, und als solcher berechtigt, Achtung und Fügung in seinen Willen von mir zu fordern. [80] Meine jetzige Verbindung mit ihm macht mir beides zur heiligsten Pflicht, ich übe sie gern, und seine wohlwollende nachsichtige Art mir zu begegnen, erleichtert mir vieles.
Wahr ist es, wir leben sehr einsam, die Nachbarschaft ist wie ausgestorben, alles nun dem Winter auf dem Lande ausgewichen, dem lustigen Leben in den Städten zugezogen, nur wir allein von allen Güterbesitzern der Gegend, sind hier geblieben. Doch Sie wissen, Einsamkeit war von jeher die Freundin meiner Jugend, und jetzt bedarf ich ihrer doppelt. Denn ich hatte und habe noch manches mit mir allein abzumachen, wozu ich vieler Zeit bedarf. Herr von Aarheim glaubt auch, es wäre gut, wenn ich, ehe ich in die Welt gehe, mich erst in häuslicher Stille an meine jetzigen Pflichten gewöhne, und lerne, was künftig mir obliegen wird zu verwalten. Ich fühle, wie sehr er Recht hat, und selbst, wenn ich seinen Gründen etwas entgegen zu setzen wüßte, würde ich aus Wahl vermeiden es zu thun, denn das stille Familienleben auf dem Lande hat auch im Winter für mich großen Reiz. Sehnte ich [81] mich nur nicht so unaussprechlich und oft nach Ihrer und Augustens lieber Gegenwart! Vermißte ich nur nicht so schmerzlich den heitern belehrenden Umgang Ernestos, des treuen vielerfahrnen Freundes!
Herr von Aarheim gedenkt im nächsten Spätjahre eine Reise nach Italien zu unternehmen. Vielleicht gelingt es mir dann, während der Zeit seiner Abwesenheit mich in Ihrer geliebten Nähe für die lange Trennung von Ihnen zu entschädigen. Oft wenn mich gar zu sehr nach Ihnen bangt, beschwichtige ich mich selbst mit dieser lieben Aussicht. Es wird mir ja hoffentlich nicht schwer werden, Herrn von Aarheims Zustimmung zu einem Besuche bei Ihnen zu erhalten. Zwar liegt es in seinem Reiseplan, daß ich ihn begleiten soll, aber ich bin entschlossen, dieses nicht zu hun, und ich werde zu Hause bleiben, weil ich es für besser achte, jetzt noch Ottokars Nähe zu meiden.
Ottokar! Da steht er, der Name, den ich je wieder zu nennen, mir einst auf ewig verbieten zu müssen glaubte, und meine Hand zitterte nicht [82] indem ich ihn jetzt niederschrieb. Daß er dasteht, sey Ihnen Bürge meines innern Friedens; es ist der Name des Schutzgeistes meiner jetzigen Ruhe, und der ganzen Zukunft meines Lebens. Jetzt erst verstehe ich die wahre Meinung meiner verewigten Mutter, wenn sie mich lehrte: ›Liebe ist der Quell unaussprechlicher Seligkeit, durch sich allein, ohne Hoffnung, ohne Erwiderung, ohne Wunsch sogar.‹ Ja wahrlich, in dieser höchsten Reinheit, muß sie die Seligkeit der Engel seyn, die von uns unerkannt, schützend uns umschweben!
Ich denke Ottokar, und bin versöhnt mit allen Ereignissen, die in einer Welt mich treffen können, in welcher auch er lebt, um seinetwillen liebe und ertrage ich alle Menschen, die mich in meinem Wirkungskreis berühren, die guten wie die bösen, die freundlichen wie die widerwärtigen. Er ist mir fern, und nie vielleicht sehe ich ihn wieder, aber er lebt, lebt wirklich, ist nicht das Geschöpf meiner Fantasie. Daß ich dieses mit Ueberzeugung weiß, beseligt mein Gemüth mit unnennbarem Frieden. In mir regt sich auch [83] nicht der leiseste Wunsch, daß etwas in unserem gegenseitigen Verhältnisse anders wäre als es ist. Darum reise ich nicht nach Italien, denn alles muß so bleiben. Der Schmerz der Trennung ist vorüber, und nun halte ich mich an die Seligkeit, ihn gefunden zu haben. Meine Liebe ist ja nur Freude an seinem schönen Daseyn, und diese wird mich begleiten bis an mein Grab, sie wird mich bewahren, rein und treu mich schützen vor jeder zerstörenden Leidenschaft, sie kann nicht vergehen so lange ich lebe und sie zu erhalten braucht es keines Wiedersehens.
Gewiß, meine liebevolle zweite Mutter! Sie zittern nicht für Ihr Kind bei diesem Bekenntniß? Zittern Sie nicht! Ohne Erröthen darf ich sogar in Herrn von Aarheims Gegenwart Ottokars gedenken, ich dürfte es, wäre der Mann, dem mein Vater mich verband, zugleich der Gegenstand meiner freien Wahl. Ich kenne den ganzen Umfang der heiligen ernsten Pflicht, die mir auferlegt ward, aber mein Herz schlägt ruhig und zeiht mich keiner Untreue. Vor dem Altare gelobte ich Treue dem Gemahl, gefällige Achtung, Ergebenheit[84] und liebevolle Theilnahme an allem, was ihn berührt in Freude und Leid; mehr kann niemand geloben und ich werde halten was ich versprach. Was aber hat dieses Geloben mit dem Gefühl zu thun, das mein inneres Daseyn mit Ottokar aufs innigste verwebt? Dieses ist nicht von dieser Welt, hat mit ihr so ganz und gar keinen Zusammenhang, daß jede ihrer Einrichtungen es nur entheiligen könnte. Wozu jemals geloben, Ottokar ewig zu lieben? Gelobt man denn zu leben? zu athmen? Das kommt ja alles von selbst, und die Liebe, die ich meine, ist ja nur reines ätherisches Leben ohne Absicht, ohne Wollen entstanden, und kann nie vergehen. Wie ich Ottokars, so trug meine Mutter Ferdinands Bild in reiner, treuer Brust, und sie war das Muster der Frauen.
Sie sehen demnach, meine theure zweite Mutter! Sie können ruhig seyn um Ihr entferntes Kind. Ich bin zufrieden. Im Aeußern nichts, das tief mich verletzen könnte; im Innern Kraft und Muth, Liebe und Frieden. Was darf der arme Mensch vom Schicksal Höheres fordern? Ich [85] wende den Blick hinab auf die Tausende, die neidend zu mir heraufblicken, und schaue nicht hinauf zu jenen, denen ein vollerer Freudenkranz, von wenigern Dornen durchflochten, gereicht ward, als mir.«
Wer einer Feuersbrunst, oder der Raubsucht plündernder Feinde alle seine Habe hingegeben sah, der nimmt, was unverhofft ihm gerettet ward, so dankbar auf, als wäre es ein Geschenk. In der ersten Freude über das schon verloren Geglaubte dünkt man sich anfangs mit dem zehnten Theil seines Eigenthums beinah reicher als vorher im Besitz des ganzen, und nur allmählig gewöhnt man sich wieder, ein jedes gehörig zu würdigen.
Gleich einem solchen, dem Feuer oder den Feinden entrißnem Kleinode, betrachteten Gabrielens Freundinnen diesen ihren ersten Brief seit ihrer Vermählung. Mit innerem Zagen und mit [86] widerstrebender Hand hatte Frau von Willnangen ihn entsiegelt; sie fürchtete in herzzerschneidenden Klagen ihres Lieblings die traurige Bestätigung aller der trüben Ahnungen lesen zu müssen, welche Gabrielens Geschick ihr in den dunkelsten Farben vorspiegelten. Was sie von ihr las, übertraf daher so ganz ihre Erwartung, daß wenig daran fehlte, sie hätte sich dadurch verleiten lassen, sie glücklich zu preisen. Freilich schwand dieser erste Freudentaumel früh genug, aber der tröstende Eindruck konnte dennoch nicht gänzlich verlöschen. Allen den lieben Sorgen, allen den mannigfaltigen Beschäftigungen, welche Augustens Ausstattung und Vermählung nothwendig machten, unterzog sich Frau von Willnangen von nun an mit weit leichterem Herzen, und auch die junge Braut gab an Adelberts Seite sich dem Glück unbefangener hin als zuvor. Gabrielens trauernde Gestalt war in manchen Momenten oft wie ein stiller Vorwurf zwischen Augusten und die Freude getreten. Die Ueberzeugung, daß die geliebte Freundin weit weniger beklagenswerth sey, als sie es sich gedacht hatte, schien ihr jetzt erst die [87] rechte Erlaubniß zu geben, es sich selbst zu gestehen wie glücklich sie sich fühle.
Der General Lichtenfels und Adelbert theilten freudig die Hoffnungen, welchen Frau von Willnangen und ihre Tochter sich so unbedingt überließen, nur Ernesto ward sichtbar trübe und verstimmt nach Lesung des Briefes, der alle andern beruhigt hatte. Verstummend gab er ihn in die Hände der Frau von Willnangen zurück, und antwortete nur mit einem halberstickten Seufzer und abgewandtem Blicke ihren, um Bestätigung des eignen frohen Gefühls bittenden Augen.
Nicht Gabrielens gegenwärtige Lage beängstigte so den treuen Beschützer ihrer Jugend. Er kannte die Elastizität ihres Gemüths, dessen Kraft zum Guten durch Uebung, auch der schwersten Tugend, nur erhöht, nicht gemindert werden konnte und baute fest darauf. Aber seit er Gabrielens Brief gelesen hatte, vermochte er es nicht ein banges Vorgefühl künftigen Unheils von sich abzuschütteln. Er zitterte vor dem Gedanken, sie einst, vielleicht bald die tiefe Einsamkeit verlassen zu sehen, in welcher ihr jetzt alle ihre Tage [88] in steter Dämmerung, von lieben Erinnerungen umgaukelt, hinschwanden. Denn Ruhe, ungestörte einförmige Ruhe, dieses trübe Surrogat des Glücks, waren, seiner Ueberzeugung nach, alles, was die Freunde der armen Gabriele dieser von nun an noch wünschen konnten, damit nichts sie völlig aus dem schönen Traume erwecken möge, den sie, wie er fürchtete, schon halb erwacht, sich noch fortzuträumen bemühte.
Es hatte wirklich den Anschein, als ob Ernestos fromme Wünsche für Gabrielens Ruhe auf das pünktlichste in Erfüllung gehen sollten, denn sie lebte lange Zeit am schönen Ufer des Rheins, in abgeschiedener, beinahe klösterlicher Einsamkeit. Nie sah man sie ausserhalb des Bezirks der zu ihrem Schlosse gehörenden Gartenanlagen, als in Herrn von Aarheims Gesellschaft, höchstens mochte sie es zuweilen an schönen Abenden wagen, allein oder nur von Annetten begleitet, in ihrer Gondel auf den goldig grünen Wellen des Stroms [89] hinzugleiten. Argwohn und Eifersucht hatten ihrem Gemahle gelehrt, sie von allen Seiten so schlau einzuengen, daß es gar keines ausdrücklichen Verbots von ihm bedurfte, um Gabrielen jede Verbindung mit der Außenwelt unmöglich zu machen. Daß man in seinem Schlosse nach englischer Sitte die Tageszeiten eintheilte, die Frühstücksstunde auf den Mittag, die Mittagsstunde auf den Abend verlegte, damit war schon ein großer Schritt zur Absonderung von der ganzen Nachbarschaft geschehen, der größte aber dadurch, daß Moritz bei seiner Ankunft unterließ, mit seiner jungen Gemahlin die gewohnten Besuche zu machen, um sie vorzustellen.
Nichts wird strenger und sichrer geahndet, als eine solche absichtliche Verletzung der allgemein hergebrachten Sitte, besonders in kleinen Städten, oder in einem nachbarlichen Kreise auf dem Lande. Man erklärt sich dadurch selbst in die Acht, und alle die,mit denen nicht seyn zu wollen wir bezeigen, halten sich durch unser Verfahren berechtigt, wider uns zu seyn.
Die arme Gabriele würde dieses schwer empfunden [90] haben, hätte ihre natürliche Anspruchslosigkeit sie nicht verhindert zu bemerken, wie man bei allen Gelegenheiten sogar ihre Existenz zu ignoriren beflissen war. Auch das aller unbedeutendste Geschöpf kann nicht so total übersehen werden, als sie es wurde, so oft ein seltner Zufall sie in die Nähe derer brachte, welche Herr von Aarheim ohne ihr Zuthun beleidigt hatte. Dieser fühlte das zu seiner großen Kränkung sehr deutlich, und strebte durch tausend kleine Künste es Gabrielen zu verbergen; aber er hätte diese Mühe füglich sparen können, denn Gabriele schien in ihrer Lebensweise nicht die mindeste Abweichung vom all gemein Ueblichen zu finden. Briefe, welche sie von den Freunden ihrer Jugend empfing, oder an sie schrieb, waren in ihrem gleichförmig-stillen Leben die einzige Auszeichnung eines Tages vor dem andern und eine unbestimmte süße Sehnsucht bemächtigte sich ihrer allmählig in dieser ungestörten Einsamkeit. Oft saß sie Stundenlang allein, das blühende Lockenköpfchen auf die weiße Hand gestützt, in dämmernden Träumen verloren. Hell und einzeln perlten Thränen unter den langen [91] seidnen Augenwimpern hervor, und fielen langsam herab, wie wenn der West eine tropfenschwere Rose wiegt. Ein namenloses süßes Weh durchzuckte schmerzlich und freudig ihr volles Herz, dann nannte sie leise Ottokars Namen, und blickte verwundert, gleichsam sie zählend, auf die Thränen, die ihrem Auge entquollen, sie wußte nicht warum. Zum Glück wurde Frau von Willnangen und Ernesto durch den Ton, der in Gabrielens Briefen vorzuherrschen begann, auf die jetzige Stimmung ihres Lieblings sehr bald aufmerksam gemacht, und ihre warnende Stimme kam nicht zu spät, um die Träumerin zu erwecken.
Gabriele riß sich mit gewohnter Kraft plötzlich empor. Die Gefahr bei diesem süßen Verlieren in sich selbst entging von nun an ihrem klaren Blicke nicht, noch weniger die Nothwendigkeit, in nützlicher Thätigkeit Schutz gegen jene Lähmung des Geistes zu suchen, deren leises Heranschleichen sie jetzt deutlich erkannte. Ein würdiger Gegenstand dieser Thätigkeit zeigte sich ihr, so wie sie nur Gewalt genug über sich gewann, [92] den Blick auf das ihr Zunächstliegende zu wenden.
Seit Moritz so einsam auf dem Lande lebte, hatte er sich mit seiner gewohnten Oberflächlichkeit auf die praktische Oekonomie geworfen. Und sie bot seiner Vorliebe für neue Erfindungen ein unübersehbares Feld. Täglich ward etwas Neues unternommen, sein unruhiges, in sich selbst sich zersplitterndes Wesen erlaubte ihm aber nicht, irgend etwas vollenden zu lassen. Was gestern erbaut ward, mußte heute wieder eingerissen werden; Menschen und Thiere wurden stündlich von den nothwendigsten Feldarbeiten abgerufen, um zur Fröhnung irgend einer momentanen Laune ihres Gebieters ihre Kräfte herzuleihen. Die alten treuen Arbeiter, welche an dem Boden, den ihre Urgroßväter schon im Schweiße ihres Angesichts gebaut hatten, sich eine Art von Anrecht erworben zu haben glaubten, sträubten sich vergebens gegen dieses Verfahren; vergebens vertheidigten sie ihre alte Art das Land zu bauen mit dem, dem Landmann eignen Widerwillen gegen alle Neuerungen. Die Starrsinnigen wurden [93] des Dienstes entlassen und Fügsamere traten an ihre Stelle. Pflüge und Pflüger, Hirten und Heerden, Pflanzen und Gärtner wurden mit unendlichen Kosten aus dem Auslande verschrieben, aus England, aus der Schweiz, aus Spanien sogar. Die Umgegend füllte sich mit fremdartigen Gestalten, Abentheurer aller Art drängten sich herbei, welche Herrn von Aarheim mit den niedrigsten Schmeicheleien zu gewinnen wußten, und die ganze Nachbarschaft sah in stiller Schadenfreude zu, wie er, der sich das Ansehen gab, klüger seyn zu wollen als alle, auf das gröbste hintergangen ward.
Alle diese Mißbräuche konnten Gabrielen nicht entgehen, sobald sie mit Ernst um sich blickte, und indem sie solche gewahrte, mußte sie zugleich die Verpflichtung fühlen, die gutmüthige Schwäche ihres Gemahls nicht länger als unthätige Zuschauerin mißbrauchen und verspotten zu lassen. Das Beispiel ihrer Mutter schwebte ihr vor, die mit sanfter Hand und klugem Auge der Verwaltung der Güter von Schloß Aarheim vorgestanden hatte, und das Gefühl, wie unendlich viel [94] zur Erreichung dieses Vorbilds ihr noch mangle, durfte Augustens Tochter nicht abschrecken, ihm wenigstens von ferne nachzustreben. Zum Glück fand Gabrielens Unerfahrenheit bald einen verständigen und treuen Beistand in einem alten Wirthschaftsbeamten, dem einzigen aus der vorigen Zeit, der unter einem wüsten Haufen aus allen Theilen Europens zusammen gelaufnen Gesindels noch da stand. Eine Art von Scheu vor seiner durch lange Dienstjahre bewährten Treue hatte Herrn von Aarheim abgehalten, ihn, gleich den übrigen alten Dienern zu entlassen.
Die Gärten waren der erste Gegenstand, welchen Gabriele unter ihre besondere Obhut nahm. Dieß schöne Gebiet gehört ohnehin, wenigstens zur Hälfte, in das Reich der Frauen, und Herr von Aarheim trug freudig seiner Gemahlin alle vom Gartenbau handelnde Bücher aus seiner Bibliothek selbst herbei, sobald sie nur den Wunsch äußerte, sich mit der Oberaufsicht desselben zu beschäftigen. Der Gedanke, daß Gabriele beginne, an seinen Verbesserungsplanen Theil zu nehmen, entzückte ihn um so mehr, da seiner Meinung [95] nach gerade der Theil derselben, welchen sie erwählte, sie immer mehr von der Außenwelt trennen und in die Nähe des Schlosses bannen mußte.
Sie begann ihr neues Geschäft mit dem größten Eifer zu treiben. Die Tische in ihrem Zimmer waren bald mit Plänen zu Gartengebäuden, Anlagen und Treibhäusern aller Art bedeckt, sie kamen nach und nach unter ihren, durch vieles Zeichnen geübten Augen ins Daseyn und der große Garten ward unter ihrer Leitung sehr bald ein Paradies voll Duft und Blumen und Früchte. Herr von Aarheim, im Entzücken über das Gedeihen der exotischen Pflanzen, welche er mit großen Kosten aus fremden Ländern hatte kommen lassen, übersah es gern, daß Gabriele deshalb auch die Einheimischen nicht verbannte und Weinstöcken und Obstbäumen nicht minder die ihnen zukommende Pflege angedeihen ließ, als dem Pisang oder der Ananas.
So verging das erste Jahr ihrer Ehe. Uebung vermehrte Gabrielens Kraft und Moritz bemerkte mit Erstaunen die ernste Thätigkeit seiner jungen [96] Gemahlin. Die Gewandtheit, die Sicherheit, die Ruhe, mit der sie alles vollbrachte, was sie unternahm, erregten seine Bewunderung, während ihr ganzes Betragen ihm eine Achtung einflößte, vor der das ängstliche Mißtrauen, mit welchem er sie bisher bewacht hatte, es wenigstens nicht wagte, sich zu zeigen. Seine innere Unruhe, die ihn von jeher rastlos in der Welt nach Neuigkeiten herumjagte, erwachte, so wie er in Hinsicht auf Gabrielen ruhiger zu werden begann, und unwiderstehlicher als je fühlte er in sich den Wunsch, ihr nachgeben zu dürfen. Des ökonomischen Steckenpferdes, so wie der ländlichen Einsamkeit war er eigentlich längst überdrüssig geworden; nichts konnte ihm daher erwünschteres kommen, als daß Gabriele späterhin ihre Neigung erklärte, sich nicht allein der Gärten, sondern auch der ganzen Verwaltung des Gutes anzunehmen. Er fand die Bereitwilligkeit zu bequem, mit der sie ihn so mancher, ihm jetzt höchst lästigen Sorge überhob, als daß er sie sich nicht recht gern hätte gefallen lassen sollen, um so mehr, da er sich dabei das Ansehen [97] geben konnte, als erzöge er sich in seiner Gemahlin eine Schülerin seiner außerordentlichen ökonomischen Kenntnisse. Vielleicht war er auch eitel genug, sich dieses selbst einzubilden, während Gabriele, nach dem Rathe ihres redlichen Inspektors allmählig alle schädliche Neuerungen abstellte, welche Herr von Aarheim eingeführt hatte, und nur die bessern beibehielt, ohne daß dieser irgend eine Veränderung bemerkt hätte. Immer sorgloser, faßte er endlich gar den Muth, Gabrielen erst auf Tage, sodann auf Wochen sich selbst zu überlassen, und zuletzt sie zur unumschränkten Regentin seines Gutes und seines Hauswesens zu machen, während er in den naheliegenden Städten umherzog, oder sich auf kleinen mineralogischen Reisen in das Gebürge vertiefte.
Bald unter dem Vorwande des Heimwehs, bald ganz ohne Abschied in der Stille, verschwanden nun auch nach und nach die fremden Abentheurer, welche Herr von Aarheim früher um sich her versammelt hatte; eigentlich wohl, weil keiner von ihnen unter der Oberaufsicht des alten [98] Inspektors mehr seine Rechnung fand. Die alten, von ihnen vertriebenen deutschen Gesichter erschienen wieder, doch Herr von Aarheim nahm von allen diesem keine Notiz. Wenn er zuweilen eine Säemaschine oder einen neuerfundenen Pflug in Aktivität erblickte, war er vollkommen zufrieden, gab sich das Ansehen, als sey er überzeugt, daß alles noch nach seiner Vorschrift betrieben werde und vermied jede Aufklärung oder Rechenschaft, welche Gabriele ihm zu geben stets bereit war. Sein ewig wechselnder Sinn hatte ihn eigentlich dem Himmel zugeführt, indem er ihn der Erde abwendete, und es war nicht sowohl Vertrauen in Gabrielens Kenntnisse, als Ueberdruß und Eckel an seiner ehemaligen Lieblingsbeschäftigung, was zu diesem Benehmen ihn bewog. Quadranten, Globen, Ferngläser aller Art, gaben jetzt seinen Zimmern das Ansehen eines Observatoriums, aus welchem Fellenberg, Thaer und Arthur Young völlig verbannt wurden, denn Astronomie war für dem Augenblick sein Lieblingsstudium geworden. Diese neue Leidenschaft begann endlich, ihn so mächtig zu beherrschen, [99] daß er, der früher die Reise nach Italien aufgegeben hatte, um Gabrielen nicht zu verlassen, sich jetzt mitten im Kriege nach England schlich, einzig um in Slowe auf Herrschels hohem Sessel in den Lüften zu schweben, mit einem Fernglase in dessen kolossalen Tubus zu kuken und dessen neuerfundenen Kometenjäger zu bewundern.
So waren drei Jahre verstrichen, und Gabriele hatte in steter Einsamkeit, fern von den Freunden ihrer Jugend, ihr zwanzigstes Jahr vollendet, doch war sie durch einen ununterbrochenen Briefwechsel mit Ernesto, Augusten, Frau von Willnangen, sogar mit der guten alten Frau Dalling, die rege Theilnehmerin an allen ihren Leiden und Freuden geblieben. Ja dieser war es eigentlich, welcher noch Abwechselung und Bewegung in den Lauf ihres Lebens zu bringen vermochte, denn ihre eigene Existenz glitt so einförmig an ihr vorüber, daß das Schwinden der [100] Tage ihr nur durch den Wechsel der Jahreszeiten bemerkbar werden konnte. Die Zeit, welche sie bei ihrer Tante verlebt hatte, die Tage voll Schmerz und Lust im Hause der Frau von Willnangen, ja selbst Ottokars Bild schwebten nur noch in dämmerndem Scheine vor ihrer Seele, wie die Tage der Kindheit vor dem innern Auge des lebensmüden Greises schweben, der liebend noch an ihnen hängt, obgleich er es nicht mehr vermag, sie noch deutlich aus der weiten Ferne zu erkennen. Im ruhigen Bewußtseyn erfüllter Pflicht, aufrecht erhalten durch rege Thätigkeit, konnte Gabriele nicht in dumpfe Apathie versinken. Der Anblick der Natur, das Gelingen ihres Strebens, ließ sie nicht unergötzt, aber kein frohes, glückliches Empfinden röthete je ihre Wangen höher, strahlte in ihrem Blick, oder beschleunigte das ruhige Pulsiren ihres Herzens zu rascheren Schlägen. Sie war ruhig, so ruhig, daß sie fast keinen Wunsch mehr kannte, und dieses Gefühl theilte sie in ihren Briefen ihren Freunden mit. Ernesto selbst mußte endlich aufhören, für ihre Zukunft besorgt zu seyn.
[101] So lange Gabrielens Gemahl in England verweilte, setzte sie die eingezogene Lebensweise fort. Gewohnheit hatte sie ihr täglich werther gemacht und bei Moritzens Heimkehr überraschten diesen überall Beweise ihres unermüdeten, stillen, wohlgeordneten Wirkens. Was er noch von seiner ehemaligen Eifersüchtelei beibehalten haben mochte, verschwand, wie Eis an der Sonne, vor dem ruhigen Blick und der über das ganze Wesen der schönen Frau ergossenen Würde, mit der sie freundlich, doch nicht heuchelnd ihm entgegen trat und ihn willkommen hieß. Die englische Manie hatte er ohnehin in England verloren, er kehrte heim, fest entschlossen, einen neuen Lebensplan zu ergreifen; nur schwankte er noch in der Wahl desselben, als bei Gabrielens Anblick ihn ein freudiger Uebermuth ergriff. Er fühlte plötzlich eine Art von Sehnsucht, vor aller Welt mit dem Glück glänzen zu können, dessen eigentlichen Werth zu würdigen er doch weit entfernt war. Sein alter Hang, von einem Extrem zum andern zu eilen, ward mächtiger in ihm als je zuvor, und er, der noch [102] vor kurzem sogar den Sonnenstrahlen den Anblick seiner Gemahlin gern verwehrt hätte, begann jetzt sehr ernstlich darauf zu denken, wie er sie bereden könne, den kommenden Winter in Paris, mitten im Strudel der großen Welt mit ihm zu verleben.
Alle seine Gespräche gingen von nun an einzig darauf hinaus, ihren Widerwillen gegen eine solche Veränderung ihres Wohnorts zu bekämpfen, und je inniger sie an ihrer Einsamkeit zu hängen schien, je eifriger bezeigte er sich, sie ihr zu entreißen und sie den rauschendsten Vergnügungen wieder zuzuführen.
Inzwischen wurde Herr von Aarheim in England nicht nur der englischen Lebensweise untreu, sondern auch seiner neuern Leidenschaft der Sternkunde. Der Landwirthschaft mochte er sich nicht wieder zuwenden, und so schwebte er wirklich vakant, wie nach einem alten Glauben die Seelen der ungetauft gestorbenen Kinder, zwischen Himmel und Erde, in tödtlicher Langerweile, welche das ewige Disputiren mit Gabrielen über ihren künftigen Winteraufenthalt doch nicht ganz zu [103] bannen vermochte. Ein Zufall brachte ihn endlich auf den Gedanken, die Sorge für Requisitionen, Einquartirungen und andere Kriegsübel, welche mit jedem Tage in der Gegend sich häuften, in eigner Person zu übernehmen, und darin einen Zeitvertreib zu suchen.
Wie durch ein Wunderwerk, lag bis jetzt sein Schloß, gleich einer glücklichen Insel, mitten in einem stürmischen Meer. Gabriele, welche die Gränzen der nächsten Umgebungen ihrer Wohnung selten zu überschreiten pflegte, hatte noch nie einen der Feinde erblickt, die ringsum, wenn gleich nicht den Krieg selbst, doch manches Unheil und manche der Unruhen herbeiführten, welche diesen zu begleiten pflegen. Sie verdankte diese Schonung den wohlgetroffenen Maaßregeln ihres Wirthschaftsinspektors, der als Elsasser der französischen Sprache kundig genug war, um jede Verhandlung übernehmen zu können, welche das Ausheben der Konscribirten, der Durchmarsch der Armeen und ähnliche Kriegslasten nothwendig machten. Er hatte überdem ein sehr artiges Jagdhaus zum Empfang der Einquartirungen [104] einrichten lassen, es lag nahe am Schlosse, doch außer dem Gesichtskreis desselben. Dort nahm er einstweilen selbst seine Wohnung und wußte bald durch freundliches Zuvorkommen, bald durch ernstes, gefaßtes Betragen jeden Unfug abzuwenden, welchen der Uebermuth der ungeladenen Gäste hätte stiften können.
Herr von Aarheim, seiner alten Weise getreu, alles besser wissen zu wollen, war weit davon entfernt zu begreifen, wie nützlich diese Einrichtung ihm bis jetzt gewesen sey. Unter dem Vorwande, daß die Gegenwart des Inspektors anderswo nöthiger wäre, vertrieb er diesen aus dem Jagdschlosse, schlug dann selbst seine Wohnung darin auf und schuf sich ein eigenes System zur Erleichterung der Kriegslasten, sowohl für die Armee als den Landeigenthümer. Dieses mochte seltsam genug ausgefallen seyn, wenigstens war niemand mit den neuen Einrichtungen zufrieden, deren Ausführung Herr von Aarheim persönlich übernahm, und Unmuth und Streit traten an die Stelle des ehemaligen gegenseitig guten Vernehmens. Endlich kam es sogar so [105] weit, daß Gabriele durch ihr plötzliches Dazwischentreten ihren Gemahl einst von Mißhandlungen retten mußte, die er anfangs durch Knickerei und Uebermuth, dann durch feiges, ängstliches Betragen sich selbst zugezogen hatte. Ihre unerwartete glänzende Erscheinung machte zwar aller Fehde gleich ein Ende, und Moritz war herzlich froh, seine Persönlichkeit unverletzt gerettet zu sehen, aber ihn überlief dabei doch wieder ein kleiner eifersüchtelnder Schauer. Um den neugestifteten Frieden dauerhaft zu gründen, sah Gabriele sich genöthigt, die fremden Offiziere jetzt in das Schloß selbst einzuladen. Sie folgten ihr mit allen Zeichen der höchsten Verehrung, kamen mit aller Galanterie ihrer Nation jedem Winke der schönen Frau zuvor, leisteten anscheinend jeder ihrer Aeußerungen den pünktlichsten Gehorsam, fanden es aber auch zugleich höchst nöthig, das Schloß des Herrn von Aarheim zum Mittelpunkt zu machen, von wo aus sie ihre Geschäfte in der Umgegend dirigirten und alle ihre Anstalten deuteten auf einen recht langen Aufenthalt in demselben.
[106] Moritz war zu feig, um gegen diese Einrichtung etwas einzuwenden, aber ihm war dennoch gar nicht wohl dabei zu Muthe. Vor allem quälte seine arme schwache Seele sich mit der Furcht, daß Gabriele bei dieser Gelegenheit sich leicht eine Herrschaft über ihren Gemahl anmaßen könne, welche in ruhigern Zeiten ihr wieder zu entreißen ihm schwer werden möchte. Unfähig, länger diese Besorgnisse zu tragen, kam er endlich auf den Gedanken, ihr, die er jetzt nicht mehr nach Paris zu führen verlangte, einen Besuch bei der Frau von Willnangen vorzuschlagen. Eine freudige Aufwallung färbte zum erstenmal seit langer Zeit Gabrielens Wangen und ihre Augen leuchteten vor Entzücken, als sie diesen Vorschlag vernahm. Dankbar ergriff sie ihn; mit der gewohnten ruhigen Einsamkeit hatte der Aufenthalt am Rhein ohnehin seinen höchsten Reiz für sie verloren; die Anstalten zur Reise wurden daher so schnell als möglich getroffen, das Gut der Barmherzigkeit des Himmels und der Aufsicht des treuen Inspektors empfohlen, und kurze Zeit darauf feierte Gabriele im Arme [107] ihrer Freundinnen eine höchst selige Stunde des Wiedersehens.
Nicht in der Stadt, in welcher Frau von Willnangen früher lebte und wo Ottokars Bild Gabrielen auf jedem Schritt entgegen getreten wäre, wurde dieses Wiedersehen gefeiert. Die Gestaltung der Zeit, welche Gabrielen von den schönen Ufern des Rheins verbannte, hatte auch ihre Freundin bewogen, sich mit ihren Kindern auf das Gut des Generals Lichtenfels zurückzuziehen, und Ernesto den dringenden Bitten, seine Freunde zu begleiten, nicht widerstehen können. So lebten alle auf dem schönen Schlosse im fröhlichsten Verein, doch nicht wie sonst in rauschenden Festen.
Mit freudestrahlendem Blicke, wenn gleich noch ein wenig bleich, hielt Auguste von dem Sopha, auf welchem sie ruhte, eine kleine, wenige Tage alte Gabriele der Freundin auf ihrem Arme entgegen. Neben ihr lag ein funfzehn Monate [108] älterer rosenwangiger Adelbert und jauchzte laut im lustigen Spiel mit dem Vater. Ein einziger Blick auf die häuslich frohe Gruppe verkündete Gabrielen das stille Glück dieser Menschen. Und als nun Auguste, nach dem ersten freudigen Verstummen des Wiedersehens, mit froher Redseligkeit die Aehnlichkeit der kleinen Gabriele mit der großen zu beweisen suchte, als Adelbert seinen Knaben tanzen, lachen und einzelne Töne stammeln ließ, um Gabrielen alle erstaunenswürdige Künste desselben gleich in der ersten Stunde zu zeigen, da perlte eine helle Thräne Gabrielen im Auge und ein leiser Seufzer hob langsam ihren Busen, an welchen sie Augusten fester drückte.
Mitleidig betrachtete Frau von Willnangen ihre Gabriele in diesem Moment, doch bald erglühte sie fast zornig bei Moritzens Eintritt, der gleich nach der ersten Begrüßung die Kleidung der Kinder zu untersuchen und zu tadeln begann, dann eine lange Rede über die neuesten Arten derselben hielt, welcher niemand zuhören mochte. Zuletzt verlangte er, alle in das Schloß gehörende [109] Hunde zu sehen, um einen heraus zu finden, der Genie genug besäße zu lernen, wie er vermittelst eines Rades die Wiege des Neugeborenen in Bewegung setzen könne. »Er ist noch wie sonst!« seufzte Ernesto leise vor sich hin und hütete sich schonend, Gabrielens Blicken zu begegnen.
Keine Sylbe über ihr gegenwärtiges Verhältniß, viel weniger eine Klage entschlüpfte beim längern Beisammenseyn Gabrielens Lippen, selbst im vertrautesten Gespräch mit ihren Freunden. Nur überflog zuweilen ein dunkleres Roth ihre Wangen, wenn Herrn von Aarheims Eigenheiten in zu grellem Lichte sich zeigten, und ihre Worte folgten dann schneller wie gewöhnlich auf einander, in dem Bestreben, dem Gespräche, in welchem er zu unvortheilhaft erschien, eine andere Wendung zu geben. Selten mißlang ihr dieses und ihre Freunde fühlten sich oft bewogen es zu bewundern, wie künstlich sie dann gerade die wenigen Gegenstände zur Sprache zu bringen wußte, über welche ihr Gemahl mit erträglicher Sachkenntniß sich zu äußern fähig war. [110] Uebrigens erschien sie ihnen in ihrem ganzen Betragen völlig unverändert, obgleich alle die Unmöglichkeit fühlten, zu fragen, was sie nicht von selbst gestand und was alle sich doch sehnten zu erfahren. Nicht weil sie in geheimnißvolles Dunkel sich hüllte, verloren ihre Freunde den Muth dazu, sondern im Gegentheil, weil ihr ganzes Wesen so krystallhell vor ihnen stand, daß man keine Nachforschung wagen mochte, um es nicht zu trüben.
Endlich brach Gabriele selbst zuerst dieses Schweigen. Es war an einem jener dunkelhellen warmen Herbstabende, wo alles zur wehmüthigen Feier einer lieben Vergangenheit uns auffordert. Langsam, von keinem Lüftchen berührt, sinken die purpurfarbenen und goldenen Blätter einzeln von den Bäumen herab und ein seltsames Rauschen flüstert in den Wipfeln, während unten auf der Erde die tiefste Stille herrscht. Die Menschen rücken dann näher zusammen und haben einander lieber als sonst, denn alle fühlen ahnungsvoll die Gewißheit des vielleicht nahen [111] Scheidens und der Vergänglichkeit aller Blüthe und aller Pracht.
Gabriele, Frau von Willnangen, Auguste und Ernesto saßen in der Dämmerung allein unter den Säulen vor dem Hause. Der General und Adelbert hatten mit dem überlästigen Moritz schon am frühen Morgen zu einer Jagdparthie sich begeben, wie sie oft thaten, um den Frauen ein ungestörtes Beisammenseyn zu gewähren. Vieles aus der Vergangenheit war unter den Daheimgebliebenen schon den Tag über leise zur Sprache gekommen und aller Gemüth weicher gestimmt. Da fragte Gabriele plötzlich wie an jenem verhängnißvollen Abend vor ihrer Vermählung: »Ernesto! haben Sie keine Briefe aus Rom? Weiß Ottokar, welchen Gang das Geschick mit mir nahm?« setzte sie nach einer kleinen Pause hinzu.
»Er weiß es, er nimmt Theil an Gabrielen, wie Gabriele an ihm. In wenigen Jahren, vielleicht noch früher, hofft er uns alle wiedersehen zu dürfen,« erwiderte Ernesto in einiger Bewegung über die unerwartete Frage. Doch fuhr [112] er bald mit festerer Stimme fort, von Ottokars Lage zu sprechen, und von dem Einflusse des gegenwärtigen Ganges der Welt auf diese. Er erzählte, wie Ottokar fortwährend in Rom lebe; doch, für den Augenblick fern von allen öffentlichen Geschäften und Verbindungen; wie er seine Zeit einzig seiner Neigung zur Kunst widme und der fröhlichen Sorge für einen lieblichen Knaben, seinem einzigen Kinde.
Die sichtbare Bewegung, in welche Gabriele bei dieser Nachricht gerieth, bestimmte Frau von Willnangen, eine Frage nach Aurelien hinzuwerfen, um ihrer jungen Freundin Zeit zu geben, sich zu fassen. »Aurelia,« erwiderte Ernesto, »ist ihrem Gemahl als Mutter seines Sohnes viel werther geworden, ohne daß er deßhalb größere Ansprüche an sie machte. Er erlaubt ihr gern, ihren Launen zu folgen, ihren Aufenthalt nach Belieben zu wählen, wenn sie nur zuweilen zu ihm zurückkehrt. Dieses thut sie und ist dann freundlich und angenehm, da sie bei Ottokar keinen Widerspruch antrifft. Im übrigen ist sie sich völlig gleich geblieben. Sie erklärt [113] Rom für ein weites ödes Grab, in dem die Gespenster füglich bei hellem Tage herumwandeln könnten, und behauptet, die Lüneburger Haide sey in Anmuth der römischen Campagna bei weitem vorzuziehen. Deshalb lebt sie bald in Neapel, bald in Florenz oder Venedig. Einen Sommer brachte sie in der Schweiz zu, einen Winter in Paris, wo die Gräfin Rosenberg nach einem kurzen Besuch in Deutschland, sich für immer niedergelassen zu haben scheint.«
Es ward noch vieles über Ottokars Leben in Rom gesprochen, von welchem Ernesto manche angenehme Einzelheiten zu erzählen wußte. Im fernern Laufe des Gesprächs bemerkte Frau von Willnangen bedauernd, wie wenig Aurelia doch eigentlich beitrage, dieses Leben zu verschönern.
»Sie irren, theure Frau,« erwiderte schnell Gabriele, »oder vielmehr Sie vergessen, wie liebenswürdig Aurelia erscheinen kann, sobald sie es will, und bei Ottokar, diesem nachsichtigsten aller Menschen, muß sie immer es wollen. Gewiß bemerkt er ihre kleinen Schwächen nur, um [114] durch sie ihr Freude zu bereiten und ist dann zwiefach glücklich in ihrem Ergötzen.« Alle hefteten bei diesen Worten aufmerksam und gerührt den Blick auf Gabrielen. Sie bemerkte es und fuhr mit glänzenden Augen weiter fort. »Ich danke Gott, daß keine neidische Regung je in meinem Gemüthe Raum fand; auch danke ich Ihnen, Ernesto, daß Sie das freundliche Bild Ottokars mit seinem Knaben mir zum Troste hinstellten an meinen einsamen Lebenspfad, dessen einziger Schmuck Mitgefühl ist und Erinnerung. Jetzt weiß ich, daß alles, was ich je liebte, glücklich ist, dort oben oder hier. Um mich her hat der Sturm ausgetobt, es ist und bleibt jetzt stille. Was kann ich mehr wollen? In meinem Gemüth regt sich kein Wunsch zu einem andern Glück, ich glaube sogar, daß ich keines andern fähig wäre, selbst nicht an Ottokars Seite. Darum bitte ich Euch alle, meine Lieben! seyd in Zukunft ruhig um mich; ich wandle zwar einsam meinen Pfad, aber ich blicke von ihm in die hellerleuchteten Häuser meiner Freunde in Rom und hier, und auch dort hinauf,« sprach [115] sie mit einem zu dem eben aufgehenden Abendstern gehobenen Blicke. »Und so,« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »und so fühle ich mich weder allein, noch betrübt und verlassen.« Ruhe des Himmels leuchtete bei diesen Worten aus Gabrielens Zügen und alle fühlten sich näher zu ihr hingezogen. Auguste schmiegte mit ihrem Knaben sich an sie, während Frau von Willnangen unter Thränen sie umarmte und Ernesto ihre Hand ergriff und liebend und bewundernd mit glänzenden Augen sie betrachtete.
Moritzens lärmende Ankunft scheuchte die Gruppe auseinander, seine Stirne umwölkte sich, so wie er sie erblickte und noch am nehmlichen Abend kündigte er den dritten Tag nach diesem als den zur Abreise unwiderruflich bestimmten an. Es war nicht Eifersucht, was zu diesem plötzlichen Entschluß ihn bewog, aber er vermochte es nicht, die bittere Empfindung niederzukämpfen, welche sich allemal seiner bemächtigte, wenn er Gabrielen im kleinen stillen Kreise ihrer Freunde erblickte, in Liebe sie umfassend und von ihnen umfangen. Ein dumpfes Bewußtseyn, [116] wie fremd und fern er selbst ihr bleiben müsse, obgleich es ihm vergönnt war, sie die Seine zu nennen, regte ihn stets zu einer Art Ingrimm gegen diese Freunde auf, und unerachtet der Gefälligkeit und Güte, mit der man ihm entgegenkam, ergriff er freudig die erste Veranlassung, ihnen mit Gabrielen zu entfliehen.
Am Morgen ihrer Abreise stand Ernesto vor dem Schlosse, unter den nehmlichen Säulen, wo sie vor zwei Abenden noch alle im herzlichen Vereine versammelt waren. Sinnend blickte er dem Wagen nach, in welchem Moritz, triumfirend über Gabrielens Freunde, sie ihnen entführte, bis auch die letzte Staubwolke seinem Blick entschwand. Dann wandte er sich, schmerzlich aufseufzend, und gewahrte dicht neben sich Frau von Willnangen, die forschend ihn betrachtete.
»Sie sind betrübt,« sprach sie, »und ich bin es mit Ihnen, denn seit ich Gabrielens liebe Gestalt in diesen Räumen einmal erblickte, werde [117] ich sie immer um so schmerzlicher vermissen. Da wir aber scheiden mußten, so gereicht es mir doch zum Troste, daß sie nicht mehr allein mit dem langweiligsten Narren der Welt in jenem alten Raubschloß am Rhein hausen wird. Sie geht, wenn gleich nicht einer glücklichen, doch einer heiterern Existenz entgegen, wie ihre Jugend sie fordert. Sie scheinen meiner Meinung nicht zu seyn, Ernesto? Sie der Geselligste, Lebensfrohste unter uns. Ich glaube fast, Sie fürchten den Eindruck, welchen die Vergnügungen der Residenz auf Gabrielen machen könnten, und ich gestehe es Ihnen, ich begreife weder Sie noch Ihre Sorgen. Was kann die große Welt einem so erprobten Gemüthe, wie das von Gabrielen ist, anhaben? Ach! leider wissen wir es ja, es giebt für sie weder Hoffnung noch Gefahr; der kurze Frühling meines armen Kindes ist dahin und wird nie wieder erwachen.«
Schweigend stand Ernesto eine Weile da, dann nahm er, nach seiner gewohnten Art, zu einem Gleichniß seine Zuflucht. »Hörten Sie nie,« sprach er zu seiner Freundin, »hörten Sie nie [118] von jenem Baume, dessen beim ersten warmen Frühlingshauch erscheinende Blüthen mit allen Wundern des frühen Lenzes sich befreunden? mit Schneeglöckchen und Krokus, mit Himmelsschlüsseln und Veilchen, und dann verschwinden, wenn die Sonne höher steigt? Der Sommer findet von ihnen keine Spur mehr, aber neue Blüthen entstehen dann an der Stelle der Verschwundenen, sie sind weniger glänzend, werden aber zu Früchten, zu süßen oder herben, je nachdem Sonne und Zeit dem Baum es gewähren, der so, nach dem gauckelnden Spiele seines Frühlings, die Bestimmung seines Daseyns erreicht.«
»Das Bild nimmt sich recht artig aus,« erwiderte Frau von Willnangen, »aber entweder ist das Gleichniß unpassend oder ich verstehe es eben so wenig als Ihre jetzige Sorge. Sie selbst verwiesen mich ja tröstend auf Gabrielens Liebe zu Ottokar, Sie nannten sie den Schutzgeist, welcher durch die Wüsten und Steppen ihres Lebenspfades sie begleiten würde. Wie haben Sie denn nun plötzlich diesen Glauben verloren? Was fürchten Sie für Gabrielens Ruhe, [119] selbst wenn Zeit und Entfernung ihr Gefühl für Ottokar gemildert hätten? Kann man denn zweimal lieben, wie Ihr Gleichniß es andeuten zu wollen scheint? und wenn Andere es könnten, kann es ein Wesen wie Gabriele?«
»Nein! warlich nein!« rief Ernesto. »Ward Ottokar einst wahrhaft geliebt von Gabrielen, so liebt sie ihn bis zum letzten Hauch ihres Lebens, und ist durch diese reine Liebe gesichert gegen Schmerz und Reue. Aber so sehr ich auch dagegen mich sträube, immer von neuem ergreift mich der Gedanke, den ich früher nur leise anzudeuten wagte, daß dieß Gefühl für Ottokar nur des erwachenden geistigen Lebens erstes jugendliches Sich-Loswinden aus den Banden der Kindheit war. Was wir in früher Jugend die erste Liebe nennen, ist es selten, oder nie. Ist doch auch die Morgenröthe, in aller ihrer Pracht, noch nicht die Sonne, welche unsern ganzen Lebenstag erleuchten und erwärmen soll.«
Vergebens bestritt Frau von Willnangen diesen Gedanken Ernestos mit allen Gründen, welche [120] ihr Herz und ihr Verstand ihr nur anzugeben vermochten. »Blicken Sie um sich« erwiderte er ihr, »wie viele der zum Glück nicht zahlreichen Ehen, welche einer sogenannten ersten Liebe ihr Daseyn verdankten, sind wahrhaft glücklich zu nennen? Könnte dieß seyn, wie es denn unleugbar ist, wenn nicht hier Täuschung, Mißverstehen seiner selbst so leicht, ja fast unausweichbar wären? Lassen Sie es uns zum trüben Trost dienen, daß Gabriele vielleicht in Zukunft nicht glücklicher geworden wäre als sie jetzt es ist, wenn ein anscheinend günstigeres Geschick sie an Aureliens Platz gestellt hätte. Ich verkenne nicht Ottokars seltnen Werth, aber die Strahlenglorie mußte im Laufe des Lebens vor Gabrielens Blick dennoch schwinden, mit der sie selbst sein geliebtes Haupt sich zur Anbetung schmückte. Und wenn sie nun vollends vor dem mächtigern Glanz einer höhern, Gabrielen näher verwandten Erscheinung hätte erbleichen müssen? und wenn nun diese Erscheinung ihr jetzt auf ihrem neuen Pfade begegnete? Ach! Frau von Willnangen, ich bin nicht Herr über die bange Vorempfindung, welche [121] mich ergreift! Warum, warum, mußte Gabriele ihrer sichern Einsamkeit entrissen werden?!«
Gabriele verlebte von nun an einige Jahre, getrennt von ihren Freunden, den Winter in einer großen lebensreichen Residenz, den Sommer in den besuchtesten Bädern. Sobald Moritzens verschrobner Sinn nur den Gedanken aufgefaßt hatte, daß alle Huldigungen, welche die Gesellschaft seiner Gemahlin darbringen mochte, auf ihn zurückfallen müßten, daß jeder ihrer Verehrer nur seinen Triumfzug verherrlichen könne, weil sie ihm allein angehöre, so hatte er weder Ruhe noch Rast, bis er Gabrielen auf eine Höhe gestellt hatte, von der sie seiner Ueberzeugung nach alles überstrahlen mußte. Ueberall, wo er länger sich aufhielt, war es seine erste Sorge, ein großes glänzendes Haus einzurichten. Gabriele mußte die Honneurs desselben machen, und Moritz tanzte vor Freude und rieb sich die Hände wund, wenn ihre Vorzüge recht blendend hervortraten. In [122] allen Sprachen posaunte er das Lob seiner Frau, sogar in ihrem Beiseyn, ohne es zu achten, daß die peinlichste Verlegenheit sie in solchen Momenten fast zu Boden drückte. Alles Bitten und Ermahnen von ihrer Seite war an dem eitlen Thoren verschwendet, er blieb bei seiner Weise mit all dem starren Eigensinn eines beschränkten Geistes, und Gabriele fand endlich keinen andern Ausweg, als dem Willen ihres Gemahls zu folgen und nur dabei durch noch einfachere Bescheidenheit und Anspruchlosigkeit den verhaßten Schein eitler Gefallsucht von sich abzuwenden. Es gelang ihr; sogar die Frauen haßten sie nicht, während alle Männer ihr huldigten und ihr Talent für die Welt bildete sich immer glänzender aus, je länger sie in dieser lebte. Von jener Blödigkeit, mit der sie im Hause der Tante erschien, konnte nicht die Rede seyn, noch weniger aber von jenem dreisten Blick, jenem arroganten Auftreten, die so oft die Stelle früher übertriebener Zurückgezogenheit ausfüllen. In kleinen gewählten Zirkeln wußte Gabriele durch ihr Gespräch mit der hinreißendsten Grazie die Aufmerksamkeit [123] zu fesseln, doch besonders liebenswürdig war sie wenn sie erzählte; dann lauschte ihr jedes Ohr und Aller Blicke hingen an dem lebendigen Ausdrucke des schönen Gesichts. Aber sie wußte auch ihre glänzenderen Talente vor der Menge geltend zu machen, sobald es erforderlich war. Sie sang, spielte, tanzte, erschien sogar auf Privatbühnen, gewöhnlich weil Herr von Aarheim es wollte, zuweilen aber auch aus wahrer Lust an dem fröhlichen geselligen Treiben, das ihr die Tage ihres frühern Zusammenlebens mit Ottokarn zurückrief. Moritz genoß bei alle diesem die Gewißheit, der Gemahl der brillantesten Frau in der Residenz zu seyn, mit dem aller behaglichsten Gefühl, während Gabriele da stand, als ahne sie nichts von der Höhe, zu welcher die allgemeine Bewunderung sie erhob. Auch wagte es niemand, sie unbescheiden darauf aufmerksam zu machen. Bei aller Frische des Jugendglanzes, der sie umstrahlte, gab die seltene Würde ihres Anstandes ihr etwas matronenhaftes, und so wie man in ihrem sechszehnten Jahr sie überall für noch weit jünger ansah, so schien jedermann jetzt in ihrem [124] vier und zwanzigsten Jahre geneigt, sie für älter zu halten als sie war. Oder vielmehr, man dachte weder an Alter noch Jugend bei der nicht weniger Achtung als Liebe einflößenden Erscheinung, für die es, wie für die himmlischen, keine Zeitrechnung zu geben schien.
Der Winter war vorüber, überall zeigten sich schon die ersten Vorboten des Frühlings. Bei der Unmöglichkeit, den vielfältigen Einladungen des Generals Lichtenfels schicklicher Weise länger auszuweichen, hatte sich Moritz endlich entschlossen, mit Gabrielen den Besuch auf dem Landgute desselben zu wiederholen, als Gabrielens Tante, die Gräfin Rosenberg, ganz unerwartet in der Residenz eintraf. Napoleons weit aussehende Plane vertrieben sie aus Paris, indem sie letzteres verödeten. In ihrem ehemaligen Wohnorte fand sie ihr Haus von fremden Gästen eingenommen und ihre ehemaligen Zirkel zerstört. [125] Beinah alle ihre Bekannten waren ausgewandert und ihr blieb also keine andere Wahl, als sich einstweilen in einer Stadt niederzulassen, die ihr, bei allen Annehmlichkeiten des geselligen Lebens, die vollkommenste Ruhe und Sicherheit bot.
Die Wahl einer Wohnung, in welcher sie im gewohnten Glanze auftreten konnte, war gleich nach ihrer Ankunft in der Residenz die erste Sorge der Gräfin gewesen; ihr zweiter Wunsch war, sich bei Hofe und in der Gesellschaft auf eine auszeichnende Weise eingeführt zu sehen. Rang und Reichthum, diese mächtigsten Talismane auf Erden, verhalfen ihr zu beiden in unglaublich kurzer Zeit, und kaum waren vierzehn Tage verstrichen, als sich schon in einem der schönsten Hotels alles, was nur auf Eleganz, Ton und Talent Anspruch machte, um sie und ihre Begleiterin, die junge, schöne Markise d'Aubincourt versammelte. Von Paris aus, wo sie einander kennen lernten, waren diese beiden Damen unzertrennliche Reisegefährtinnen geblieben und gedachten jetzt mit vereinten Kräften ein glänzendes Haus zu bilden, das bei ihrem [126] Vermögen und ihren Talenten alle andern in der Residenz zu verdunkeln drohte.
Gegenseitiges Bedürfen hatte gar bald das lockere Band bloßer Bekanntschaft enger zusammengezogen, welches anfangs die Gräfin und die Markise vereinte. Es ward eine jener Liaisons daraus, wie die Welt deren so manche aufzuweisen hat. Sie mit dem Namen der Freundschaft zu bezeichnen, wäre Entweihung. Es kann weder von Liebe noch Achtung bei diesen Vereinen die Rede seyn, aber sie trotzen doch oft Jahre lang manchem Stoße von außen, ja selbst der langsam auflösenden Gewalt der Zeit, und erhalten dadurch bei aller ihrer Frivolität einen Anstrich von Ehrwürdigkeit, den sie mit allem Dauernden gemein haben.
Die Gräfin hatte bei ihrer Rückkehr aus Rom nach Deutschland, und auch später in Paris es sich nicht verbergen können, wie sie, unerachtet aller ihrer noch immer anerkannten geselligen Vorzüge, dennoch mit Aurelien einen großen Theil jener Zaubermacht verloren habe, durch welche sie sonst alles in ihre Nähe zog [127] und fest bannte. Ihr feiner Takt kam ihr bei dieser Entdeckung mächtig zu Statten, und weit entfernt, sich durch dieselbe gedehmüthiget zu fühlen, suchte sie von der nehmlichen Stunde an, wo sie solche ge macht hatte, nach einem Wesen, das fähig war, jene Lücke in ihrer Umgebung auszufüllen.
Die Markise d'Aubincourt, eine junge, blendend schöne Frau, war in Paris zur nehmlichen Zeit ebenfalls aus ihrer gewohnten Sphäre getrieben; ihr Gemahl mußte sie verlassen, um seinem Kaiser in weit entfernte Länder zu folgen, und da die französische Sitte die strengste Wächterin des äußern Scheines ist, so blieb ihr bei ihrer Jugend keine andere Wahl, als sich entweder während der Abwesenheit des Markis der Welt gänzlich zu entziehen, oder sich unter den Schutz einer ältern Frau von Rang und unbescholtenem Ruf zu begeben, in deren Begleitung es ihr allerdings erlaubt war, überall öffentlich zu erscheinen. Was konnte daher diesen beiden Damen wohl erwünschteres kommen, als ihr Zusammentreffen zur Zeit gegenseitiger, [128] völlig ähnlicher Noth? Der Bund zwischen ihnen war bald geschlossen, und da späterhin Langeweile beide aus Paris vertrieb, so erwarb die Markise noch den Anstrich einer exemplarischen Treue, indem sie sich den Mühseligkeiten der langen Reise aussetzte, einzig, um, wie sie versicherte, ihrem bei den Eisbären hausenden Gemahle in Deutschland näher zu seyn.
In allen Zirkeln, aus Aller Munde vernahmen die Gräfin und die Markise, so bald sie ein wenig einheimisch geworden waren, den Namen Gabriele von Aarheim, überall erscholl ihr Lob, Männer und Frauen klagten über ihre Abwesenheit. Die Markise begann die Deutschen etwas langweilig zu finden, welche in Gegenwart einer schönen Frau es wagten, einer zweiten auf diese Weise zu erwähnen, während die Gräfin die ganze Familie Aarheim in ihrem Gedächtniß die Revue passiren ließ, um diese berühmte Gabriele aufzufinden.
[129] »Unmöglich,« sprach sie sehr bedenklich, »unmöglich kann es meine kleine Nichte mit dem blassen Mondscheinsgesichte seyn! In seinem sechzehnten Jahre wußte das arme Kind kaum drei zu zählen, so entwickelt kann sie sich nicht haben, und doch giebt es meines Wissens keine andere Gabriele in meiner Familie. Vor fünf bis sechs Jahren ward mir die Nachricht ihrer Vermählung mit dem halbverrückten Erben unserer Mannlehngüter mitgetheilt; es ist unmöglich, daß sie es sey.«
»Ach Gott! sie wird es wohl seyn,« rief kläglich Graf Hippolit, der gegenwärtige Verehrer der Markise, »sie wird es seyn, die Mondscheinsdame; sie wird zu allgemein gepriesen, als daß wir viel von ihr erwarten könnten!« »Also Ihre Kusine? liebe Rosenberg, nun ich sterbe vor Neugier, wenn ich nicht bald dieses Wunder der Welt zu Gesichte bekomme!« fiel halb jähnend die Markise ein.
»Ach, wie gerne thäte ich das auch,« rief lustig Hippolit, »aber mir sind leider schon in der Welt zu viele dergleichen Wunder vorgekommen, [130] die, entschleiert, eigentlich alle sehr gewöhnlich und natürlich dastanden. Es ist immer das alte Buch mit einem neuen Titel, das nehmliche Räthsel in ein anderes Gewand eingekleidet, was man uns da zu studiren giebt. Bei alle dem bleibt es aber doch ein Studium, dessen man nie überdrüssig wird, besonders wenn uns, wie hier, jede Stunde mit einer neuen ganz unerhörten Kaprize beglückt.« Indem er dieß hinzusetzte, wollte er die Hand der Markise an seine Lippen drücken, sie entzog sie ihm aber, heftig und unwillig sich sträubend. »Schöne Dame,« rief Hippolit in seinem Uebermuth, »indem Sie zürnen, beweisen Sie, daß ich Recht habe; die kleine Wuth steht Ihnen so allerliebst, daß ich dadurch leicht verleitet werden könnte, Sie alle Tage halb todt zu ärgern. Die Versöhnungen, die doch auch nicht zu verachten sind, hätte ich dann für meine Mühe noch obendrein.«
Die Markise begann recht ernstlich sich zu erzürnen, doch nicht auf lange; die Gräfin warf sich zur Vermittlerin auf, und der Friede war bald geschlossen.
[131] Der glänzende Graf Hippolit, entsprossen aus einem der edelsten Geschlechter in Ungarn, schön wie Apoll, kaum zwanzig Jahre alt, und dabei schon unumschränkter Herr großer Reichthümer, war allerdings eine Eroberung, welche eine Frau, wie die Markise, sich auf alle Weise zu erhalten streben mußte. Auch war es ihr seit dem Moment gelungen, da er in Paris, als ein weitläufiger Verwandter der Gräfin ihr vorgestellt ward. Ihre seltene Schönheit, ihr leichter Sinn, vor allem eine gewisse pickante Ungleichheit in ihrem Betragen entzückte ihn, und Gewohnheit, Ueberdruß am Wechsel, hatten bis jetzt ihn fest gehalten.
Als die Damen Paris verließen, wußte er eben nichts besseres zu thun, als ihnen nach Deutschland zu folgen, und bei dieser Gelegenheit späterhin einen Besuch in seinem Vaterlande und auf seinen Gütern abzustatten. Vor jetzt war er der tägliche Gast in ihrem Hause, ihr steter Begleiter außer demselben, aber die Strenge, mit welcher die Gräfin über die Gesetze des Anstandes zu wachen gewohnt war, hatte ihn [132] veranlaßt, sich eine von ihnen abgesonderte eigene Wohnung zu wählen.
Ungeachtet seiner frivolen Außenseite, war Hippolit von Natur zu allem Großen und Edlen geeignet, aber das Schicksal, welches sein äußeres Leben mit jedem Vorzuge reichlich ausstattete, hatte ihn schon früh im Innern tief verletzt und sein Entwickeln verhindert. Von einer leichtsinnigen Mutter als fünfjähriger Knabe verlassen, von einem durch das Betragen seiner Gattin mit der Welt und dem Leben entzweiten, verbitterten Vater erzogen, war der arme Hippolit um jenes Vertrauen in die Menschen gebracht worden, ohne welches keine Jugendblüthe fröhlich gedeiht. Sein ganzes Wesen widerstrebte der strengen klösterlichen Zucht, in welcher er bis in sein funfzehntes Jahr gehalten ward, er fühlte zur Freude sich geboren, aber jede Jugendlust, wie jede sanftere Regung, ward von der Strenge seiner Zuchtmeister niedergedrückt. Er war zu stolz, die Hülfe der, in ihm ihren künftigen Herrn schmeichelnden Diener anzunehmen, und seinen Vater zu betrügen, um wenigstens Stundenlang[133] seinem Kerker zu entgehen, aber in ihm wogte ein verzehrendes Feuer, das, weit entfernt sein Herz zu erwärmen, es nur immer enger zusammenzog, während seine Fantasie ihm das Glück künftiger Freiheit in den glühendsten Farben mahlte. Das jedem gutgearteten Kinde eigene Sehnen nach Liebe sprach zwar auch mächtig in seiner Brust, aber er drückte es, als seiner unwürdig, nieder, denn wen sollte er lieben? Rings um sich sah er nur fühllose Strenge oder erbärmliche Kriecherei. Künftiger Genuß ward ihm die Loosung des Lebens. Worin dieser bestehen sollte, wußte er nicht deutlich sich zu sagen, aber einstweilen gedachte er, die freudenlose Zeit, welche er jetzt verlebte, durch eifriges Bestreben nach Wissen als vorbereitend zu benutzen. Mit dem größten Eifer verfolgte er daher den Gang der ihm von seinem Vater vorgeschriebenen Studien, jede Stunde bereicherte seinen Geist, aber in seinem Gemüth ward es immer ärmer, immer mehr erstorben, bis der Zufall den einzigen Bruder seines Vaters in seine Nähe führte. Hippolit war jetzt funfzehn Jahr alt, und zum erstenmal [134] seit seiner frühesten Kindheit hörte er nun wieder mit milden Worten sich anreden. Da brach die Eisrinde, in welcher sein Herz beinahe erstarrt war. Mit der kindlichsten Liebe, mit der innigsten Treue eines jugendlichen Gemüths hing er sich nun an den Oheim, der wie eine himmlische Erscheinung in die Nacht seines Daseyns strahlte und sogar auch die düstere Stimmung seines Vaters milderte, als letzterer plötzlich erkrankte. Ein seit langen Jahren allmählig heranschleichendes Uebel warf den alten Grafen wenig Monate nach der Ankunft seines Bruders auf das Sterbebette. Bleich und bebend kniete Hippolit neben demselben, als der Vater zum erstenmal liebend und segnend die schwere kalte Todtenhand auf sein lockiges Haupt legte, in den rührendsten Ausdrücken den zum Jüngling heranreifenden Knaben der Vorsorge seines Oheims empfahl, und dann, getröstet durch dessen heiligstes Versprechen, ihn wie seinen eigenen Sohn zu betrachten, die müden Augen auf ewig schloß.
Der weinende, tief erschütterte Knabe folgte nun dem vom Vater ihm gegebenen Beschützer [135] seiner Jugend auf dessen Güter, von wo er in Jahresfrist, begleitet von einem Hofmeister, auf eine von seinem Vaterlande Ungarn weit entfernte Universität gesandt ward. Während er dort, von heißem Durst nach Wissen getrieben, jede Stunde auf das gewissenhafteste anwendete, erhob sein Oheim in seiner Abwesenheit einen Prozeß gegen ihn, der ihn um sein väterliches Erbe bringen sollte. Aller seiner, dem sterbenden Bruder mit in die Ewigkeit gegebenen Versprechen vergessend, jedem menschlichen Gefühl entsagend, benutzte der Eigennützige den Leichtsinn der Mutter des Jünglings, dem er Vater zu seyn geschworen hatte, um die Aechtheit seiner Geburt anzugreifen, und dann seinen eigenen Söhnen die beträchtlichen Güter desselben zuzuwenden. Der Versuch mißlang, er hatte nur die Folge, daß Hippolit etwas früher als gewöhnlich für mündig erklärt ward. Empört bis in den tiefsten Grund seiner Seele, überzeugter als je von der Erbärmlichkeit der Menschen, ging dieser nun nach vollendeten Studien auf Reisen; die Zeit des Genusses schien ihm gekommen, er [136] war entschlossen, sie zu benutzen. Sein Rang, sein Reichthum, seine glänzende Persönlichkeit öffneten ihm Herzen und Thüren, er taumelte von einem Vergnügen zum andern, und übertäubte so den alten bittern Unmuth in seinem Gemüth, der aber dennoch stets von neuem sich regte. Er sah, wie man ihn mit Schmeicheleien überhäufte, um ihn um so sicherer zu elenden Zwecken zu mißbrauchen, aber er verachtete die Menschen und in einzelnen schrecklichen Momenten sich selbst zu sehr, um es der Mühe werth zu achten, dem plumpen Netz entgehen zu wollen, das man ihm stellte. Es genügte ihm, seine sogenannten Freunde zuweilen in wilder Lustigkeit mit bittern Hohn zu mißhandeln, und dann mit Ekel sich von den ängstlichen Windungen wegzuwenden, in welchen sie strebten, ihn nicht zu verstehen, um nur auf guten Fuß mit ihm bleiben zu dürfen.
Auch Frauen kamen überall dem schönen reichen Jünglinge entgegen, kämpften unter einander um ihn, mit allen Waffen der Schönheit und Kunst, suchten überall mit Blumen ihn zu fesseln, [137] und gern vergaß er bei ihrer lieblichen Erscheinung alles, was ihn hätte warnen können. Noch einmal überließ er sich Träumen himmlischer Seligkeit, er glaubte sogar zu lieben, aber er ward grausam erweckt. Ohne zu bedenken, wie so ganz ohne Umsicht er sich hingegeben hatte, klagte er jetzt das ganze Geschlecht des Verraths der Einzelnen an und schwur sich selbst, nie wieder die Maske für Wahrheit zu nehmen. Dem trostlosesten Unglauben zum Raube, vermochte er aber doch nicht, der Freude zu entsagen, sich wissentlich täuschen zu lassen, so lange dieß irgend nur möglich war. Bitter lachendes Spotten seiner selbst übertönte dann oft nur mühsam das Weinen in seiner Brust, wenn ein schöner Traum, den er lange festgehalten hatte, in Nichts zerrann, aber er achtete dessen nicht, auch nicht der bittern Schmerzen, mit denen er jede Regung des Bessern gewaltsam in sich erstickte, um zu seyn wie die Andern. Dennoch sank er nie zum Gemeinen herab, so achtlos er auch dem Treiben der Welt sich hingeben mochte. Was ihn blenden und verführen konnte, mußte [138] wenigstens den Anstrich des Reinen und Sittlichen zu erhalten streben; denn seine bessere Natur und Reminiszenzen der früher bei seinem Vater ihm eingeprägten strengern Grundsätze hielten ihn noch immer über den Abgrund empor.
»Das Wunder der Welt ist endlich angelangt, wie ich sehe,« rief Hippolit freudig aus, indem er die Visitenkarten auf dem Tisch der Gräfin musterte und Gabrielens Karte hoch in die Höhe hielt. »Da steht der geheimnißvolle Name des Erzengels, und mein thörigtes Herz erbebt sogar ein wenig bei seinem Anblick! Ich bitte Sie, theuerste Gräfin!« fuhr er mit komischen Pathos fort, »ist es die Mondscheinskusine? sagen Sie: nein! ich flehe darum.«
»Daß sie die Gabriele ist, die ich meine, weiß ich jetzt gewiß,« erwiderte die Gräfin, »obgleich ich sie noch nicht gesehen habe; wir verfehlten einander bei unsern gegenseitigen Besuchen, und so bleibt uns nichts übrig, als die [139] Soirée zu erwarten, mit der wir, wie Sie wissen, morgen hier debütiren wollen.«
»Also morgen, morgen ist der große, der entscheidende Tag,« rief Hippolit, und wendete sich gleich darauf zur Markise mit der Bitte um den zweiten Tanz. »Den ersten,« setzte er hinzu, »bin ich so gut als versagt, den tanze ich mit der Wunderdame, meine Ehre duldet es nicht anders, ich muß der erste seyn, mit dem sie auftritt.«
»Ich überlasse Sie ihr mit Vergnügen auf den ersten, den zweiten, den dritten und alle folgende Tänze; ich tanze morgen gar nicht; entweder ich habe Migräne, oder ich habe mir den Fuß verrenkt; ich bin noch nicht entschlossen, welches von beiden,« erwiderte die Markise, ein wenig pickirt.
Hippolit blickte lang schweigend und verwundernd sie an. »Wahrhaftig, Markise! ich erkenne Sie nicht mehr,« sprach er endlich. »Zum erstenmal sehe ich, daß auch Sie etwas schwerfällig nehmen können; doch hoffe ich, Sie werden sich eines bessern besinnen, und allen Erzengeln [140] und Erzengelinnen zum Trotz morgen tanzen, wie immer!«
»Dießmal beliebt es wohl dem Herrn Grafen selbst, sich etwas schwerfällig zu zeigen; denn, um des Himmels willen! wer denkt denn an Ihre Erzengelin?« erwiderte spottend die Markise. »Schon in Paris nahm ich mir vor, morgen krank zu seyn; sehen Sie hier den Beweis davon,« fuhr sie fort, indem sie einer Kammerfrau ein Kleid, welches diese eben durch das Zimmer trug, vom Arme nahm und vor dem Grafen entfaltete.
Mit dem größten Erstaunen erblickte dieser ein ganz einfaches, blendend weißes Gewand, fein und durchsichtig, wie aus Aether gewoben, doch schien es für eine Riesin bestimmt; es mußte, wenn die Markise es trug, nicht nur hinten, sondern auch vorne und von allen Seiten mehrere Ellen lang ihr auf dem Fußboden nachschleppen. »Aber wie in aller Welt wollen Sie es anfangen, in diesem Gewande nur zwei Schritte zu gehen?« rief er endlich.
[141] »Gehen,« erwiderte die Markise, und lachte jetzt wirklich recht herzlich, »gehen? Aber, lieber Graf! Sie werden immer schwerfälliger. Wer geht denn, wenn man krank ist?«
»Ach Gott,« seufzte Hippolit, »eigentlich fängt es an, mir leid zu thun, daß diese Gabriele morgen erscheint; abwesend gab sie zu so manchem guten Einfall, zu so manchem pickanten Scherze Anlaß, und ihre Gegenwart wird gewiß nichts weniger als pickant oder amüsant seyn. Ich sehe sie schon im Geiste vor mir mit dem Mondscheinsgesichte, wie sie an der Seite ihres alten Gecken die gestrenge Penelopeya mitten unter den übermüthigen Freiern zu spielen bemüht ist. Die Maske ist übrigens schon etwas verbraucht, indessen wenn sie ihr nur halb so gut steht als die Leute es behaupten, so mag es drum seyn. Ich fürchte aber, der morgende Triumf unserer schönen Freundin wird kaum der Mühe des Erkämpfens werth seyn, obgleich ich diese sehr gering anschlage.«
[142] Der Abend kam. Die glänzende Reihe kerzenheller Säle füllte sich nach und nach und die Gräfin bemühte sich mit gewohnter Liebenswürdigkeit, die Abwesenheit der Markise mit einer heftigen Migräne zu entschuldigen, welche aber hoffentlich späterhin zur gewohnten Stunde nachlassen und ihr erlauben würde, die Gesellschaft, in kleinere Partien getheilt, in ihrem Zimmer wenigstens auf Minuten zu sehen. Hippolit wich beim Empfange der Gäste der Gräfin nicht von der Seite. Mit dem Bedeuten, er müsse sie errathen, hatte diese es abgeschlagen, ihm Gabrielen gleich bei deren Eintritt bemerkbar zu machen, daher hielt er es für das sicherste, auf diese Weise seinen Willen durchzusetzen. Indessen war es spät geworden, die Erwartete fehlte noch immer, Graf Hippolit begann aus Verdruß darüber der Gräfin allerlei witzig-bittere Muthmaßungen über die Abwesende zuzuflüstern, als ein Kreis seiner Bekannten ihn einen Augenblick festhielt, und dadurch ihn von der Gräfin trennte, ohne daß er solches bemerkte.
Ein lächerlich modern gekleideter dicker Mann[143] stand mitten im Kreise der jungen Leute, sprach alle Sprachen zugleich und erzählte, heftig gestikulirend und im völligen Ernste, die Geschichte einer heftigen Leidenschaft, welche vor einigen Jahren eine Nepotessa des Papstes für ihn gefühlt hatte. Dabei erwähnte er der mannichfachen Gefahren, deren er sich ausgesetzt gesehen, um ihr und den Verfolgungen ihrer mächtigen Verwandten in Rom zu entgehen. Die jungen Herren um ihn her stürmten mit Fragen auf ihn ein; er wußte für alle eine Antwort, löste alle Zweifel, die man ihm in den Weg warf; das Lachen, der Lärmen wurden bald lauter, als man es in einer solchen Assemblée hätte erwarten sollen. Hippolit nahm recht herzlichen Antheil daran, als plötzlich erst ein leises Geflüster, dann ein allmähliges Verstummen in dem Kreise entstand. Die, so den lebhaftesten Antheil an den Neckereien genommen, welche man an dem alten Herrn ausgeübt hatte, begannen, sich leise davon zu schleichen, die übrigen nahmen sich sichtbar zusammen und standen dann in etwas feierlich verlegener Fassung; alles verkündete [144] den Eintritt einer allgemein geachteten Person. Hippolit suchte mit den Augen den Gegenstand, der diese plötzliche Umstimmung des Tones verursacht haben mochte und erblickte die Gräfin, welche eben eine Dame hereinführte, deren anmuthige und doch würdevolle Haltung und seltne Schönheit ihm gleich in ihr die lang Erwartete errathen ließ. Vor dem Zauberton ihrer Stimme, in dem sie einige ihr nahestehende Bekannte anredete, war plötzlich jede Spur wilder Lustigkeit verschwunden. Selbst als der alte dicke Herr mit dem Ausruf: »ma femme, ma petite femme vous voilà!« auf sie lossprang, um sie zu begrüßen, wagte es niemand, den Mund zu einem spöttischen Lächeln zu verziehen. »Die ist es?« flüsterte Hippolit der Gräfin zu, und diese beantwortete seine Frage, indem sie ihn erst Gabrielen vorstellte und dann ihn mit Adelberten bekannt machte, welcher Geschäfte halber Gabrielen und Herrn von Aarheim in die Residenz begleitet hatte.
Hippolit vermochte von nun an nicht, sein Auge von Gabrielen zu verwenden; er sah, wie [145] mehrere Bekannte, Männer und Frauen herbeieilten, um die lang Entbehrte zu begrüßen, wie alles um sie sich drängte, als sey mit ihr die Seele der Gesellschaft heimgekehrt.
Moritz wich nicht von der Seite Gabrielens, rieb immerfort freudig die Hände an einander und brach in tausenderlei Redensarten aus, auf welche niemand achtete, obgleich die meisten mit ma femme dit, oderma femme sait, anfingen. Der leise Schmerz, der dabei in Gabrielens Lippen fast unmerkbar zuckte, die ängstliche Röthe, welche, schnell entstehend und entschwindend, ihr Wange, Hals und Busen überhauchte, entgingen Hippolitens Späherblick nicht. Eine wunderbar fremde Regung des Mitleids überschlich ihn dabei und er begann mit einer Art Aengstlichkeit darauf zu sinnen, wie der Lästige auf gute Art aus Gabrielens Kreise zu entfernen sey, um diese in ungestörter Anmuth sich bewegen zu sehen, als sie ihren Gemahl mit wenigen, leicht hingeworfenen Worten auf einige Vasen von seltner Schönheit aus kostbaren Steinarten geformt, aufmerksam machte. Der Tisch, auf [146] welchem diese Vasen standen, war mit farbigem Marmor aller Art ausgelegt, und Moritz fand und benutzte hier ein reiches Feld, auf welchem er mit der einzigen Wissenschaft, welche er wirklich besaß, glänzen konnte. Bald gesellten mehrere Sachkundige aus der Gesellschaft sich zu ihm, ein lebhaftes Gespräch entstand, und Gabriele wendete sich sichtbar heiterer ab, um in den Nebenzimmern die übrige Gesellschaft aufzusuchen.
Sinnend folgte ihr Hippolit mit immer regerem Bemerken. So hatte er sie sich nicht gedacht, nicht so fein, nicht so gewandt, nicht so heiter. Die Melodie ihrer Worte, die Harmonie in allen ihren Bewegungen zogen ihn noch unwiderstehlicher an, als ihre Schönheit.
»Es ist doch nur eine Maske, wie sie alle,« dachte er, »aber diese steht ihr vortrefflich und ist so herrlich angepaßt, daß schon der Versuch, sie zu lüften, Belohnung verdient.« Er versuchte es hierauf, Gabrielen anzureden, aber es war, als ob eine ihm fremde Gewalt den gewohnten Fluß seiner Worte hemmte; Gabrielens [147] gerader kalter Blick brachte ihn aus der Fassung; zum erstenmale fühlte er sich verlegen, und war froh, als die Gräfin mit der Bitte erschien: Gabriele möge sie zur Markise begleiten, welche eben etwas besser sich fühle und den Augenblick kaum erwarten könne, in dem es ihr vergönnt würde, die geliebte Nichte ihrer Freundin zu umarmen.
Der kleine Zug der zu diesem Besuch Auserwählten, welchem auch Hippolit sich anschloß, folgte der Gräfin durch die ganze lange Enfilade prächtiger Säle, welche, wie es in Paris gebräuchlich ist, mit dem Schlafkabinet der Markise endeten.
Ein reicher seidner Vorhang verhüllte noch den Tempel, nachdem schon die Flügelthüren sich geöffnet hatten, aber der berauschende Duft der auserlesensten Aromas des Orients verkündete die Nähe der Göttin. Auch der Vorhang wurde beseitigt und selbst der verwöhnte Hippolit stand jetzt geblendet von dem unerwarteten Anblick.
Auf einer Estrade, zu welcher einige, mit prächtigen Teppichen belegte Stufen hinaufführten, [148] stand, schimmernd von Gold und Elfenbein, das, der edelsten antiken Form nachgebildete Bette. Eine purpurrothe, mit goldner Stickerei und goldnen Franzen geschmückte Decke war darüber hingebreitet, auf welcher die Markise in der anmuthigsten Stellung hingegossen ruhte. Ein großer Spiegel an der Hinterwand desselben, ein anderer an der Decke des Baldachins über ihrem Haupte, und mehrere, anscheinend vom Ungefähr, aber eigentlich mit sorgfältiger Wahl im Zimmer geordnete große Ankleidespiegel vervielfältigten die schöne Erscheinung, indem sie sie von allen Seiten zeigten. Der Genius des Schweigens von Bronze, den Finger auf die Lippen gedrückt, schien den leicht vom Baldachin herabrollenden Schleier zu heben, der sie zu ver hüllen drohte, und blühende Rosenbüsche, Orangenbäumchen, Jasminsträuche, in köstlichen Vasen zu beiden Seiten auf den Stufen der Estrade, gaben der Nische, in welcher das Bette stand, das Ansehen einer Laube aus dem Paradiese der Muhamedaner. Alabasterlampen verbreiteten den zauberhaften Schimmer einer mondhellen Nacht [149] und kleine bläuliche Wölkchen kräuselten sich, aus Kassoletten aufsteigend, in welchen das ausgesuchteste Räucherwerk brannte. Das Auge irrte geblendet auf alle dem mannichfaltigen Geräthe von köstlichen Hölzern, von Krystall, von Marmor und Bronze, welches das Schlafzimmer einer eleganten Pariserin zum glänzendsten Prunkzimmer des Hauses macht.
Mitten in alle dieser Pracht lag die Markise, ganz einfach gekleidet und dennoch alles überstrahlend. Der wohl berechnete Ueberfluß des früher erwähnten weißen langen Gewandes, in große malerische Falten von Künstlerhänden geordnet, umschwebte ihre Gestalt, ohne sie neidisch zu verhüllen; die schönen Formen schimmerten hindurch, wie der Mond durch Silberwölkchen, die an ihn sich heranzudrängen scheinen. Unter der Brust hielt ein großer strahlender Rubin das Gewand zusammen, der eine der weiten Aermel, wie von ungefähr zurückfallend, enthüllte einen wunderschönen Arm, auf dem gestützt, das reizende Köpfchen im lieblichsten Ausdruck der Ermattung ruhte. Eine um den Arm geschmiedete [150] goldne Sentimentskette und einige Perlenschnuren schienen sich abstreifen zu wollen. Den andern Arm bedeckte der Aermel bis zu den zierlichen Fingerspitzen, die, dem Kopfweh zu Ehren, ein Riechfläschchen hielten. Um die hohe Stirne schwebten die glänzendschwarzen Locken in zierlicher Unordnung, nur ein einfaches Band hielt sie und die reichen Flechten zusammen, welche den ganzen Kopfschmuck bildeten. Die Markise war unbeschreiblich reizend in diesen Umgebungen, auch fesselte stummes Erstaunen alles bei ihrem Anblick; nur Hippolit wagte es, sich in ihre Nähe zu schleichen und ihr ein leises »Bravo!« zuzuflüstern.
Gabriele ward mit der entzückendsten Freundlichkeit von ihr empfangen; sie zog sie liebkosend zu sich herab, um sie zu umarmen, und als die hohe, schlanke Gestalt sich zu der auf dem Bette Ruhenden niederbeugte, umschwebte ihr goldnes Haar die dunkeln Locken der Markise wie mit einer Strahlenglorie, während diese mit beiden Lilienarmen den stolzen Marmornacken der geliebten Nichte ihrer Freundin umschlang, und ihr [151] Entzücken darüber in den schmeichelhaftesten Ausdrücken laut verkündete.
Nichts kann einander ungleicher seyn, als beide Frauen in diesem Augenblick. Farbe, Augen, Haare, Ausdruck des Gesichts, nichts von alle dem hatten sie mit einander gemein, und doch war es unmöglich zu entscheiden, welcher von ihnen die Palme der Schönheit gebühre?
Zu matt für eine fortgesetzte Konversation, bat die Markise eine wie durch Zufall gegenwärtige berühmte Künstlerin, die Gesellschaft für ihre kranke Langweiligkeit durch die Zaubertöne ihrer Harfe zu entschädigen. Die Dame ließ sich dazu willig finden, denn eigentlich war sie, nach Pariser Sitte, der die Markise in Deutschland treu blieb, um eine bedeutende Summe von letzterer für den Abend erkauft. Ein griechischer Sessel ward für sie zu den Füßen des Ruhebettes auf die Estrade gestellt, die große goldige Harfe strahlte in ihren Armen, und kaum hatte die Virtuosin mit prüfenden Akkorden die Saiten berührt, als mehrere wunderschöne, fast idealisch gekleidete Kinder aus dem Nebenzimmer herbeieilten, [152] und sich in malerischen Gruppen zwischen den Rosen- und Orangenbäumchen ordneten. Als große Lieblinge der Markise hatten sie in deren Wohnzimmer gespielt und waren von den Tönen der Harfe herbeigelockt worden. So wenigstens suchte ihre Beschützerin das unerwartete Erscheinen mit lächelndem Zorne darüber zu entschuldigen, aber es bedurfte keiner Entschuldigung, denn jedermann fühlte sich von dem wirklich feenhaften Anblick hingerissen, den die Estrade in diesem Augenblick gewährte; es war als sähe man die Liebesgöttin von Amorinen umflattert.
Endlich ward Ruhe. Der Zirkel war allmählig größer geworden; Mehrere, die nicht mit der Gräfin gekommen waren, hatten nach und nach sich vor und in dem Kabinette selbst versammelt, dessen Thüren jetzt weit offen standen. Allgemein herrschte die tiefste Stille einer zur Bewunderung bereiten Erwartung; aber kaum hatte die Künstlerin in leisen Akkorden begonnen, als ein wunderliches fortwährendes Klirren sie wieder verstummen machte.
Zürnend blickten alle in die Ecke, aus welcher [153] das störende Geräusch zu kommen schien. Dort stand Adelbert, todtenbleich, den stieren Blick auf die Markise geheftet. An allen Gliedern heftig bebend, hielt er sich, anscheinend völlig bewußtlos, an einem Gestelle fest, welches in einer Ecke des Zimmers mit Porzellan beladen stand, sein Zittern theilte sich denen darauf befindlichen Prunkvasen und Tassen mit, alles stieß tönend aneinander, ohne daß Adelbert weder dieses, noch die daraus entstehende Störung gewahr ward. Seine Seele war in seinen Augen, sein Herz klopfte in ängstlichen Schlägen gegen seine Brust, als wollte es sie zersprengen, denn mit dem ersten Blick auf die Markise hatte er in ihr Herminien erkannt.
»Adelbert!« rief Gabriele und sprang erschrocken von ihrem Sessel auf, dem Freunde, den sie plötzlich erkrankt glaubte, zu Hülfe zu eilen.
Ein allgemeiner Aufruhr entstand, die Damen drängten sich um die Markise her, welche vor Schreck ohnmächtig zu werden drohte, die Herren führten Adelberten in ein Nebenzimmer, der noch immer bewußtlos mit erstorbnen Augen jedermann [154] anstarrte. Alle umstanden ihn unschlüssig, auch Gabriele, die im ersten Schrecken, jede konventionelle Regel vergessend, ihm gefolgt war. Plötzlich erkannte er diese und mit einem erstickten Schrei des Schmerzes ergriff er ihre Hände, drückte sie an seine Augen, unter fast konvulsivischem Beben, während einzelne Tropfen kalt und schwer ihm über die Wangen rollten.
»Um Gotteswillen einen Wagen, einen Arzt! der Rittmeister ist sehr krank,« rief Gabriele wie ausser sich; »er muß gleich zu Hause gebracht werden.«
»Liebe Nichte, das ist ja ein entsetzlicher Zufall,« sprach die Gräfin, welche als Frau vom Hause eben hinzutrat; »doch beruhigen Sie sich, mein Wagen wird angespannt, der Arzt wird gleich hier seyn den Herrn von Lichtenfels zu begleiten, und nun bitte ich, folgen Sie mir zu den übrigen Damen, beruhigen Sie sich, bitte ich nochmals, für alles nöthige wird gesorgt.«
Gabriele war indessen zu aufgeregt um auf alle diese Redensarten zu achten, sie schien im Gegentheil völlig entschlossen, den Rittmeister, [155] der in ihrem Hause wohnte, zu begleiten. Die Gräfin stand in peinlicher Verlegenheit und sogar von ihrem Betragen etwas beleidigt, dabei, als plötzlich Moritz, mit dem Geschrei, ma che cosa che cosa? what's the matter? ihr zum Trost erschien, gerade im Momente, als das Bereitseyn des Wagens gemeldet ward.
Die Gräfin beeiferte sich Gabrielens Gemahl den Vorgang zu erklären. »Herr von Lichtenfels ist von einem plötzlichen Schwindel ergriffen,« sprach sie, »er braucht schnelle Hülfe, gewiß werden Sie ihn begleiten, und unsre Gabriele wird sich beruhigen, uns ihre Gesellschaft nicht entziehen, wenn sie ihn unter Ihrer Vorsorge weiß.«
»Certainement« erwiderte Moritz, und begann in der Kürze die Reichthümer seiner Hausapotheke anzupreisen, die seltensten arcana, die kostbarsten Wunderessenzen gegen Schlagfluß, Schwindel und bösen schnellen Tod. »Sie stehen ihm alle zu Diensten,« rief er, »ich freue mich der Gelegenheit ihre Kräfte einmal erproben zu können. Vous resterez, ma chère!« setzte [156] er, gegen Gabrielen gewendet, etwas scharf und schneidend hinzu, da er bemerkte wie sie dennoch Miene machte ihn begleiten zu wollen.
Hippolit hatte bis jetzt ganz ohne alle äußre Theilnahme, den prüfenden Blick auf Gabrielen geheftet, dagestanden; doch jetzt, als er sie besonders bei Erwähnung der Hausapotheke, ängstlich noch bleicher werden sah, konnte er einer mitleidigen Regung sich nicht erwehren. Er nahte sich ihr unbemerkt. »Vertrauen Sie mir,« flüsterte er ihr zu, »ich begleite ihn auch, und verlasse ihn nur unter der Aufsicht des Arztes. Sobald er meiner Gegenwart nicht mehr bedarf, bringe ich Ihnen Nachricht von ihm; von dem Glücklichen, der so Ihre Theilnahme zu gewinnen wußte!« Mit einer leichten Wendung kehrte er sich nach diesen wie im Fluge gesprochnen Worten gegen Adelberten, der sich eben etwas erhohlte, um ihn die Treppe hinunter zu führen. Moritz folgte Beiden, immerfort seine Wunderessenzen anpreisend.
[157] Die Markise hatte es indessen für gut befunden, den leichten Schreck bald zu überwinden, und als Gabriele am Arme der Gräfin zu ihr zurückkehrte, fand sie zwar sie noch immer in der Lage einer Kranken, aber voll Lust und Leben, voll Witz und Laune.
Ein in Paris auf das höchste gebildeter Instinkt lehrte sie, jedesmal den Ton der Unterhaltung der Neigung derer anzupassen, welche sie gewinnen woll te, und eigentlich wollte sie das gewöhnlich ohne Unterschied bei allen. Daher war sie witzig, trübe, oder auch gefühlvoll, wie es die Umstände erforderten, oft alles dieses in einer Stunde. Was sie sprach, war selten bedeutend, aber es gewann in ihrem Munde einen eignen Reitz; bei der höchsten Frivolität verstand sie entweder mit der Naivetät eines Kindes den Schein der unbefangensten Unschuld beizubehalten, oder auch mit glücklicher Keckheit bis an die äußerste Grenze weiblicher Zartheit zu treten, ohne dennoch diese je zu verletzen und so gefiel sie Allen, weil sie Allen Alles zu seyn wußte.
Indessen mißlang es ihr diesesmal dennoch [158] Gabrielen an sich zu ziehen, obgleich sie sehr wünschte, durch sie etwas näheres von Adelberts gegenwärtiger Lage zu erfahren. Sie hatte ihn auf den ersten Blick eben so wohl wiedererkannt als er sie, aber aus mancherlei Gründen wünschte sie, die frühere Bekanntschaft mit ihm zu verschweigen und suchte daher, nur ganz von weitem, Gabrielen zu einem Gespräch über ihn zu bewegen. Doch diese blieb einsilbig, sichtbar befangen, bis endlich Herr von Aarheim und Hippolit mit der Nachricht von Adelberts besserem Befinden anlangten. Ihr Blick erheiterte sich jetzt, sie vermochte es nicht, Hippoliten den Tanz zu versagen, den dieser, von Moritzen unterstützt, als Botenlohn für die günstige Nachricht von ihr erbat. Triumfirend führte er sie in den Saal und alles strömte dem schönen Paare nach, um es walzen zu sehen.
Mit unverstellter Verwunderung sah die Markise sich allmählig von allen verlassen, außer von einigen Fräulein, die, durch traurige Erfahrungen gewitzigt, den Tanzsaal gern mieden. Zu diesen gesellten sich noch ein paar alte Damen, [159] welche die gute Gelegenheit sich nicht entgehen lassen wollten, jedes einzelne Stück des Ameublements im Kabinette recht ungestört zu betrachten und nach den Preisen sich zu erkundigen. Von Männern war nur Moritz von Aarheim dageblieben. Dieser unterhielt die Gesellschaft sehr lang und breit von Adelberts glücklicher Ehe, von Gabrielens innigem Verhältniß zu dessen Gemahlin und zur Frau von Willnangen, und wie gewöhnlich hörte niemand auf ihn, sogar die Markise nicht, obgleich sie dieß Gespräch selbst veranlaßt hatte.
Tausend Sorgen beschäftigten diese; ihr so künstlich ersonnenes Krankenkostüm begann, sie in die peinlichste Verlegenheit zu setzen, sie hätte in diesem Augenblick gern alles darum gegeben, es wieder los zu seyn, um die Vorgänge im Ballsaal mit eignen Augen beobachten zu können, aber sie sah doch keine Möglichkeit, es abzuändern, ohne sich lächerlich zu machen. Auch das Zusammentreffen mit Adelberten, den sie nie wieder zu sehen gehofft hatte, beunruhigte sie; Allen, sogar der Gräfin Rosenberg, hatte sie [160] den Glauben wenigstens gelassen, daß sie eine geborne Französin aus einem großen Hause sey, die Entdeckung des Gegentheils, das konnte sie sich nicht verhehlen, mußte ihr das Ansehen einer Abentheurerin geben; vor allem aber fürchtete sie das Bekanntwerden ihrer früheren Verbindung mit Adelberten. Diesen schnell wieder zu gewinnen, das schien ihr der sicherste Weg um allen möglichen Unannehmlichkeiten vorzubeugen, und seine äußre Erscheinung konnte sie diesem Plan nur geneigter machen, besonders in diesem Augenblick, da sie Hippolits Benehmen gegen Gabrielen als für sich höchst beleidigend empfand. Zu ihrem großen Verdrusse blieb ihr volle Muße allen diesen Betrachtungen nachzuhängen; denn auch die alten Damen hatten sich, nach richtig aufgenommenem Verzeichnisse der im Kabinette enthaltenen Kostbarkeiten, den Spielzimmern zugewendet, Moritz aber war dem Ballsaal zugeeilt, um seinen Theil an dem Triumfe seiner Gemahlin sich zu holen. Nur die verlassnen Fräulein waren da geblieben, und die Markise fühlte sich auf eine kränkende Weise mit ihnen auf gleichen Fuß [161] gestellt. Hippolit, der sonst ausser ihrem Kreise keine gesellige Freude anerkennen wollte, ließ sich nicht wieder blicken, vermuthlich huldigte er, wie alle andere, in diesem Augenblick nur jener Gabriele, die ihr immer verhaßter ward.
Endlich vermochte es die Markise nicht länger, der peinigenden Ungewißheit zu widerstehen. Bei der Unmöglichkeit, gekleidet wie sie war, bis in den Ballsaal zu gehen, schickte sie die Fräulein auf Kundschaft dorthin aus, aber die armen Kinder kamen nach kurzer Zeit mit dem betrübten Geständniß zurück, nichts gesehen zu haben. Es war ihnen unmöglich gewesen, den dichten Kreis von Zuschauern zu durchdringen, in dessen Mitte, wie sie gehört hatten, Gabriele mit dem Grafen Hippolit eben die Gavotte tanzte. Niemand hatte auf ihre Bitten, durchgelassen zu werden, geachtet, denn alle waren zu eifrig mit dem Schauspiele beschäftigt, welches, wie überlaute, bis in das Kabinett dringende Beifallszeichen jetzt verkündeten, so eben beendet ward.
Allmählig kamen jetzt auch mehrere Herren und Damen herbei; alle schilderten den eben gehabten[162] Genuß in den lebhaftesten Farben, und bedauerten zwiefach die unselige Krankheit, welche die Markise um den schönsten einzigsten Anblick in der Welt gebracht habe. Da riß dieser endlich der letzte schwache Geduldsfaden, besonders als noch immer weder Gabriele noch Hippolit sich blicken ließen. Die Migräne kehrte plötzlich wieder, und ward bald so unleidlich, daß die Gesellschaft verabschiedet und die Thüre des Kabinetts wieder verschlossen werden mußte. Innerlich hoffte die Markise, daß ihr Ungetreuer, durch diese Maaßregeln beunruhigt, in banger Besorgniß herbeieilen würde. Sie blieb sogar noch in der einmal gewählten Attitüde, so lästig ihr diese auch zu werden begann, aber umsonst, der Erwartete kam nicht.
Längst schon hatte dieser sich in seine Wohnung zurückgezogen, während die Markise noch immer auf ihn harrte. Dort saß er in wortlosem Sinnen verloren, und horchte in die Nacht hinaus auf das ferne Rollen einzelner Wagen, wie es allmählig in den erstorbenen Straßen verhallte. »Morgen, Morgen! Wir werden ja sehen,« sprach [163] er endlich leise vor sich hin, und befahl dann seinem Kammerdiener, ihn früh zu wecken, denn ihm war, als stünde ihm in dem morgenden schon anbrechenden Tage etwas höchst Wichtiges bevor.
Die Nacht verging ihm zwischen Schlaf und Wachen, immer noch schwebte Gabrielens Gestalt, jede ihrer anmuthigen Bewegungen, jedes ihrer noch anmuthigeren Worte ihm vor. In fast nie gefühlter Wonne war er an ihrer Seite durch den Saal geschwebt, mit ungeheuchelter Bewunderung hatte er in der Gavotte jede malerische Wendung ihrer eleganten Gestalt, den Ausdruck des schönen Gesichts, das Spiel der zierlichsten Füßchen unverwendeten Blickes verfolgt, und da sie späterhin alles Tanzen verweigerte, hatte er, bis sie die Gesellschaft verließ, den Platz hinter ihrem Stuhle behauptet. Dort lauschte er auf jedes ihrer Worte, und ihr Geist entzückte ihn nicht minder als ihre Schönheit. Leicht und unbefangen, gleich entfernt von Uebermuth und Ziererei, sah er sie die Lobsprüche annehmen und ablehnen, mit denen man von allen Seiten sie [164] überströmte. Er fand sogar keine Spur von dem sentimentalen steifen Tugendbilde, das seiner Fantasie vorgeschwebt, keine von der Maske, die er abzuziehen sich bereitet hatte. »Sie ist ganz Leben, ganz Natur, Geist und Wahrheit,« flüsterte er noch im Lauf des Abends der Gräfin zu, die ihrerseits auch anfing auf ihre Nichte stolz zu werden, mit großem Selbstbehagen ihn um seine Meinung von ihr fragte und ihm erzählte, wie Gabriele von Kindheit an unter ihrer Aufsicht, in ihrem Hause erzogen worden sey.
»Daß sie jenen glückseligen Adelbert liebt?« sprach Hippolit weiter, »nun Honny soit qui mal y pense! Wer kann es ihr verargen, der die in Eselshaut gebundne Enzyklopädie aller Künste und Wissenschaften sieht, welche der Himmel, er selbst mag es verantworten warum? ihr zum Gemahl erkohr. Mir ist sie durch diese Liebe nur um so verehrlicher und herrlicher. Ein Weib ohne Liebe ist ein Weib ohne Seele. Sogar die Häßliche wird leidlich wenn sie liebt, die Schöne wird dadurch zum Engel verklärt. Und daß diese Gabriele es unter ihrer Würde hält ihre Liebe zu [165] verheimlichen, gefällt mir nun gar über die Maßen, sie heuchelt doch wenigstens nicht wie alle ihres Geschlechts, die etwas zu verschweigen haben was der Mühe verlohnt. Die Gräfin war ähnlicher Aeußerungen ihres jungen Schützlings zu gewohnt, um sich ernstlich darüber zu erzürnen; Ermahnungen aber achtete er nicht, sondern entging ihnen gewöhnlich und auch diesesmal durch schnelle Flucht. Wir werden ja sehen, ob es sich mit dem lahmen Helden nicht aufnehmen läßt! dachte er dabei in seinem Herzen.
Alle alte Schmerzen regten sich indessen von neuem in Adelberts Brust; Haß, Liebe, Verachtung im furchtbarsten Kampf. Vergebens strebte er das verführerische Bild der Markise aus seiner Fantasie zu verbannen, vergebens rief er zu Augusten wie zu einer Heiligen, Herminia schwebte die ganze Nacht hindurch in all ihrer blendenden Schönheits-Pracht vor seinen aufgeregten Sinnen. So hatte er nie sie gesehen, nie geahnet, [166] daß sie so über allen Ausdruck entzückend ihm erscheinen könne. Er bemühte sich, ihres Leichtsinns, ihrer Treulosigkeit, der unverantwortlichen Art mit der sie ihn verstieß, zu gedenken, er glaubte sie zu hassen, er wähnte sie zu verachten, und doch sah er noch immer die lockende Gestalt, gelagert unter Rosen, von Liebesgöttern umschwärmt. Er gedachte der Möglichkeit sie wieder zu sehen, und eine unbeschreibliche Angst bemächtigte sich seiner bei dem Gedanken. Sehnsucht zog ihn zu ihr, Erinnerung in einem blutig zerrißnen Herzen hielt ihn zurück. Dieser Zustand erreichte eine so peinliche Höhe, daß er endlich, um ihm zu entgehen, den Entschluß faßte zu fliehen, ohne jeden andern Verlust weiter zu achten, der aus dieser Flucht im Laufe der Geschäfte, welche ihn hergeführt hatten, für ihn entstehen konnte.
Herzlich froh endlich, der peinigenden Ungewißheit entgangen zu seyn, beschloß er nur die schickliche Stunde abzuwarten, um Gabrielen Lebewohl zu sagen, und dann zu eilen, um in Augustens Armen gegen sich selbst Schutz zu finden; [167] doch graute ihm innerlich mit diesem Entschluß in der Seele allein und müßig zu bleiben. Er rief mit Tages Anbruch deshalb seinen Bedienten, gab ihm mehrere auf die nahe Abreise Bezug habende Aufträge, fing selbst an, Papiere zu ordnen und einzupacken, um nur in erzwungner Thätigkeit sein Gefühl nicht zur Sprache kommen zu lassen, als plötzlich, er begriff selbst nicht recht wie, eine der gestrigen Amorinen, in Gestalt eines artigen kleinen Mädchens von etwa zehn Jahren, ihm ein rosenduftendes Zettelchen in die Hand schob, bei dessen Anblick ihm beinahe, wie gestern beim Anblick der Schreiberin desselben, die Sinne vergingen. Das Briefchen war nicht versiegelt, es war nur zusammengedreht, genau wie jene Zettelchen, die Herminia sonst ihm heimlich zuzustecken pflegte, als den Liebenden noch der ganze Tag, den sie im Hause ihrer Aeltern mit einander verlebten, zu kurz war für alles was sie sich zu sagen hatten. Gedankenlos öffnete er das duftende Papier ohne bestimmt zu wissen was er that. Hier der Inhalt desselben.
»Ich will nicht Vergebung, ich will nicht Mitleid,[168] ich will nicht einmal andeuten daß ich zu beiden wohl berechtigt wäre. Ich verbanne mich auf ewig aus meinem Vaterlande, die nächste Stunde trifft mich nicht mehr hier. Der verhaßte Anblick der armen Herminia soll nicht mehr den Abscheu des Mannes erregen der – genug ich reise. Doch einmal, einmal noch möchte ich zum Abschiede die Hand ergreifen, die einst bestimmt war, mich durch das Leben zu geleiten! einmal noch, ehe ich auf immer gehe! Ich weiß es, dieser Wunsch wird mir nicht gewährt werden, aber ich spreche ihn aus, ich fürchte nicht den Schmerz einer Verweigerung, denn ich fürchte keine Schmerzen mehr. Marion würde ungesehen, unbemerkt den Weg zu mir zu leiten wissen, ich wage es nicht noch eine Sylbe hinzuzufügen. Bitten klingt ja wie Hoffnung, Herminia hat seit gestern keine mehr.«
Unschlüssig starrte Adelbert die lange nicht erblickten, wohlbekannten Schriftzüge an, dann hob er mechanisch den Blick zur Thüre, dort stand Marion mit einem schlauen ächt französischen Kindergesichtchen. Sie machte einen kleinen Knix, [169] schob die nur angelehnte Thüre auf, und trippelte, den Blick rückwärts ihm zugewendet, die Treppe des Seitengebäudes hinab, auf welcher sie zu Adelberts Zimmer gelangt war. Gedankenlos schritt Adelbert ihr nach, über den Hof; auf der Straße erwachte er zwar wieder und war im Begriffe umzukehren, aber er bildete sich ein, sich der Feigheit einer solchen Flucht vor der Gefahr schämen zu müssen, und dieses Gefühl trieb ihn vorwärts.
Hippolit hatte indessen die Stunde sehr ungeduldig erwartet, in welcher er Gabrielens Wohnung aufsuchen konnte, um bei Adelberten einen Krankenbesuch abzustatten, und vernahm mit nicht weniger Unmuth als Erstaunen, daß der, welchen er, von Aerzten umgeben, im Bette zu finden geglaubt hatte, schon am frühen Morgen ausgegangen sey. Niemand wußte, wohin? Hippolit hatte bei diesem Besuche auf irgend einen günstigen Zufall gerechnet, der ihn bedeutender, [170] als eine bloße zeremonielle Visite, bei Gabrielen Zutritt verschaffen sollte, und verweilte jetzt unschlüssig auf der Treppe, darüber nachsinnend, ob es gerathner sey, schon jetzt sich bei ihr melden zu lassen, oder später wiederzukehren, als Moritz, ihm begegnend, seinen Bedenklichkeiten ein Ende machte, indem er ihn erst auf das freundlichste begrüßte und dann sogleich an das Ziel seiner Wünsche führte. Mit unendlichem Bedauern verließ der Baron dort aus Mangel an Zeit Hippolit, nachdem er diesen für den Mittag eingeladen, denn noch am nehmlichen Morgen hatte er der Auktion eines Naturalienkabinetts, einer Vorlesung über die Möglichkeit, den Luftballon zu regieren, und einer Opernprobe beizuwohnen.
Schöner noch als im festlichen Schmuck des gestrigen Abends trat Gabriele Hippoliten im zierlich einfachen Morgenkleide entgegen. Ihr helles Auge ruhte mit sichtbarem Wohlgefallen [171] auf ihm, ihr schöner Mund lächelte ihn freundlich an, während sie mit ihrer süßen melodischen Stimme für die ihrem Gastfreunde geleistete Hülfe ihm nochmals dankte. Er, sonst so vorlaut, aller Frauen Gunst so sicher, stand dabei fast unbehülflich da, und suchte vergeblich nach einer passenden Antwort, er fürchtete, Gabrielen etwas zu erwidern, weil er sie dann nicht mehr hören würde, und fühlte dabei doch mit innerer Angst das Lächerliche seines fortwährenden Schweigens. Endlich suchte er gewaltsam den Zauber zu zerreißen, der seine Zunge fesselte, er strebte wieder in den gewohnten Ton zu gelangen, mit dem er bis jetzt noch immer bei den Frauen Glück gemacht hatte, und ward zuletzt aus bloßer Verlegenheit zuerst vorlaut, und endlich beinahe unverschämt. Mit erzwungner Bedeutung brachte er ziemlich ungeschickt einige witzig seyn sollende Anspielungen auf den Kranken an, der solcher Theilnahme sich erfreuen könne, sprach dann von der Verpflichtung aller Männer, einem so ausgezeichneten Günstling des Glücks zu dienen, wenn gleich sie eben dieser Auszeichnung [172] wegen ihn alle tödtlich hassen müßten. Das Unziemende solcher verbrauchten Scherzreden, Gabrielen gegenüber, fiel ihm selbst auf und vermehrte seine Verlegenheit; er wollte es mildern, und gerieth immer tiefer hinein, bis sie ihn endlich unterbrach, nachdem sie ihm lange genug, zuletzt recht mitleidig ernsthaft zugehört hatte.
»Ich könnte mich stellen, als verstünde ich Sie nicht,« sprach sie, »oder ich könnte Sie auch verstehen, und dann mit gutem Fug und Recht mich erzürnen, und eigentlich sollte ich dieses auch wohl, aber Ihr ganzes Wesen, vor allem Ihre Jugend lassen mich hoffen, daß Sie mir eben eine Lection hersagten, die Ihr Kopf in der Welt, in der Sie bis jetzt lebten, auswendig lernte, von der aber in Ihrem Herzen keine Sylbe steht. Ich freue mich um so mehr der Aussicht, Sie oft und lange in unserm Kreise zu sehen, dem es vielleicht gelingen wird, Ihnen das Leben und auch die Frauen aus einem andern Gesichtspunkt zu zeigen.« Hier schwieg sie, gleichsam eine Antwort erwartend, doch Hippolit, hochroth vor Zorn und Scham, vermochte [173] kein Wörtchen aufzubringen und suchte nur in seinem Aeußern noch das sonst gewohnte dreiste Selbstbewußtseyn auszudrücken. »Stehen Sie nicht so wie ein zürnender Heros vor mir,« setzte daher nach einer kleinen Pause Gabriele lächelnd hinzu, »nehmen Sie lieber meine Aeußerungen, wenn sie Ihnen auch nicht ganz gefallen sollten, so auf, wie ich die Ihrigen, das heißt, mit Duldung.«
Gleich nach diesem suchte sie dem Gespräch eine leichtere, gleichgültigere Wendung zu geben, aber es mißlang ihr. Hippolit war zu sehr aus dem Gleichgewicht gekommen, um es sogleich wieder zu finden, und ergriff deshalb den ersten schicklichen Augenblick, um seinen Besuch zu beenden.
Von Gabrielen entfernt, fühlte er mit tiefer Beschämung, daß er wie ein ausgescholtener Schulbube vor ihr dagestanden, vor ihr, die ohne den geringsten Versuch, ihm seine vorgefaßte Meinung von dem Verhältniß zwischen ihr und Adelbert zu benehmen, dennoch, wie völlig gerechtfertigt, stolz und klar sich erhob, und zugleich [174] eine Art Herrschaft über ihn übte, zu welcher er sich nicht bewußt war, sie berechtigt zu haben.
Aergerlich und mit dem festen Vorsatze, kalt und unbefangen aufzutreten, stellte er zur Zeit der Mittagstafel zum zweitenmale sich in Gabrielens Zimmer ein, aber er konnte sich die Mühe sparen, denn sie begrüßte ihn nur mit einer leichten Verbeugung, und setzte dann sehr lebhaft ihr Gespräch mit einem Fremden fort, der eben aus Rom kam und Ottokarn dort gesehen hatte. Moritz hingegen, der seit gestern eine ganz eigene Zärtlichkeit für Hippoliten gefaßt zu haben schien, bemächtigte sich sogleich seiner, um ihm eine Sammlung von Mißgeburten zu zeigen, welche er am nehmlichen Morgen in der Auktion gekauft hatte. So ward im einzelnen Gespräch beinahe eine Stunde von der nur aus acht oder neun Personen bestehenden Gesellschaft hingebracht. Gabriele blickte oft auf die Uhr, man erwartete sichtbar noch jemanden. Blas und verstört trat endlich Adelbert herein, beantwortete sehr in der Kürze alle Fragen nach [175] seinem Befinden, schob einige unverständliche Entschuldigungen seines späten Erscheinens dazwischen, und versicherte dann wieder, nur der Blumenduft, einzig der Blumenduft im Kabinett der Markise habe ihm gestern den Zufall zugezogen, von dem er sich jetzt völlig hergestellt fühle.
Hippolit fand an der Tafel neben dem Herrn des Hauses seinen Platz, Gabrielen und Adelberten gegenüber. Letzterer blieb sichtbar verstimmt und Gabriele betrachtete ihn mit augenscheinlicher Besorgniß. Dann aber wendete sie sogleich alle ihre Aufmerksamkeit der Gesellschaft zu. Jeden und jedes wußte sie an seinen Platz zu stellen, hatte Allen einzeln etwas angenehmes zu sagen oder zu erzeigen; und das auf so natürliche Weise, als müßte es so und nicht anders seyn. Sie war die Seele der Unterhaltung ohne damit prunken zu wollen, im Gegentheil, es war, als ob der Abglanz ihrer Anmuth sich auf die verbreitete, welche sie umgaben. Wer ihr nahte, gewann an Liebenswürdigkeit, an Geist, Witz, Verstand, denn sie wußte jeden [176] lichten Funken hervorzulocken, und seit sie in der großen Welt lebte, war, außer Hippoliten, vielleicht noch nie jemand anders, als höchst zufrieden mit sich selbst, von ihr geschieden.
Adelbert versank inzwischen in immer trüberes Nachsinnen, aus welchem er, sichtbar sich zusammennehmend, auffuhr, wenn man ihn anredete. Moritz hingegen war seelenvergnügt und eine Albernheit jagte die andere aus seinem Munde. Vergebens strebte dießmal Gabriele, das Gespräch abzuändern, Hippolit sah, wie sie alle Kraft ihres Geistes anwendete, um die Schwäche des Mannes, dem sie angehörte, zu verdecken, und die Nachtseite des Geschicks der schönen anmuthigen Frau trat plötzlich in all' ihrem hoffnungslosen Dunkel vor seine Seele. »So,« dachte er, »so muß das holde Wesen unablässig arbeiten, sich anstrengen, sich quälen lebenslänglich, und warum? Um der Welt zu verbergen, was sie leidet! Um fremden Augen das Unwürdige der Fesseln zu entziehen, die sie zu Boden drücken, und welche nur der Tod lösen kann!
[177] Von unsäglichem Mitleide hingerissen, bemühte er sich von nun an, ihr zu helfen, und gewandt wie er war, gelang es ihm wirklich, den Faden der Unterhaltung behend zu ergreifen, ein Gespräch aufzubringen, welches unter seiner Leitung interessant genug ward, um selbst Moritzen zum Zuhören zu bewegen. Gabrielens dankbare Zufriedenheit, die er in ihren Augen las, lohnte ihn überreich, besonders da Moritz ihn einlud, morgen und an jedem Tage, so oft es ihm bequem sey, wiederzukehren; eine Erlaubniß, welche er sich vornahm, recht oft zu benutzen.
Mehrere Tage vergingen, während denen Adelbert und Hippolit die Rollen getauscht zu haben schienen. Ersterer war nur selten, und nie in Gabrielens Nähe zu finden, wenn er vermuthen konnte, mit ihr allein zu seyn. Er verließ mit dem frühesten das Haus, und kehrte nur selten, und spät wieder heim, während Hippolit [178] dort fast jede Stunde des Tages verlebte, und die Markise nie anders, als umringt von fremden Zeugen, im geselligen Kreise sah. Er hatte sein Verhältniß zu ihr nie bindend gefühlt und auch sie konnte, nach der stillschweigenden Uebereinkunft der Welt, in der sie zu leben gewohnt war, sich hierüber keine Illusion machen. Jetzt war das Band, welches ihn ihr verknüpfte, nicht gelöst, es war zergangen vor Gabrielens Erscheinung, wie Sommerwölkchen vor der Sonne in Nichts sich auflösen, und er achtete übrigens die Markise zu wenig, um ferner nach ihr, noch den Verbindungen zu fragen, die sie jetzt zu schließen für gut finden mochte.
Nicht listig absichtlich, sondern vom ehrlichen Wunsche geleitet, Gabrielens Geschick zu erleichtern, hatte Hippolit sich in kurzer Zeit ihrem schwachen Gemahl so lieb und werth zu machen gewußt, daß dieser ihn ungern von der Seite ließ, und ihn mit Einladungen bestürmte, sein Haus als das seinige anzusehen. Je länger er Gabrielen sah, je deutlicher ward es ihm, daß diese Frau von allen, die er bis jetzt gekannt[179] hatte, sich himmelweit unterschied, und so konnte es ihm nie einfallen, auf gewöhnlichem Wege sie zu gewinnen. Auch dachte er nie daran, planlos lebte er in ihrer Nähe fort, strebte auf jede Weise, sich dort zu erhalten, und sann nie darüber nach, warum er ihr nach und nach seine liebsten Gewohnheiten und Neigungen opferte, warum sie mit mächtiger Allgewalt ihn zu beherrschen beginne; es war ihm, als müsse alles dieß so und nicht anders seyn.
Gabrielen konnte es indessen nicht entgehen, wie zart und schonend der übrigens in allem so rücksichtslos handelnde Jüngling es vermied, die Lächerlichkeiten eines Mannes zu bemerken, der alt genug war, um sein Vater seyn zu können. Sie sah, wie oft er gegen die Spottlust der übrigen jungen Leute ihn in Schutz nahm, und ihre holdeste Freundlichkeit lohnte ihm ein Betragen, welches sie für den untrüglichsten Beweis reiner Herzensgüte nahm. Der frühern jugendlichen Unbesonnenheit, mit welcher er in der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft es gewagt hatte, sie zu beleidigen, wurde nicht mehr gedacht; [180] oder wenn es geschah, so schämte Gabriele sich des Ernstes, mit dem sie eine kindische, nichts bedeutende Ungezogenheit gerügt hatte. So gewöhnte jeder Tag sie immer mehr an die Gegenwart Hippolits, den sie zuletzt oft im Scherz ihren Edelknaben nannte.
Adelbert hingegen verlebte diese Zeit in stetem Schwanken zwischen Himmel und Hölle, bald in der wollustathmenden Nähe der Markise alles außer ihr vergessend, bald niedergeschmettert von Reue und Selbstverachtung, wenn ein sorgender Blick aus Gabrielens Augen, wie ein Strahl aus der schuldlosen, seligen Heimath ihn traf. Herminia hatte, als er, von Marion geführt, ihr Zimmer betrat, mit unwiderstehlichem Zauber den ganzen vollen Freudenkranz ihrer Beider Jugend neubelebt, in Himmelsfarben glühend, ihm zu zeigen gewußt. Ohne die frühere Schuld, welche diesen Kranz zerriß, wegleugnen zu wollen, aber auch ohne Reue darüber in Worten auszudrücken, hatte sie vor dem Beleidigten sich nicht gebeugt. Aber, während sie vorgab, ihm Lebewohl auf ewig zu sagen, mußte er wähnen, in ein von Liebe, Reue,[181] Schmerz zerrissenes Gemüth zu blicken, das in kalter Selbstverleugnung sich verloren gab, und nur bedacht schien, sich und seine Qualen ihm zu entziehen. Entschlossen, die Treubrüchige mit kalter wortarmer Vergebung verachtend niederzuschmettern, war er gekommen, nur wenige Minuten vergingen, und er lag zu ihren Füßen, sie entschuldigend, gegen ihre eignen Anklagen sie in Schutz nehmend, die jetzt erst laut zu werden begannen. Diese ihre erste Zusammenkunft endete von seiner Seite mit dem feierlichen Versprechen, noch am nehmlichen Abend wiederzukehren, um dann gefaßter, mit Bewußtseyn den Augenblick ewiger Trennung zu feiern und so in Zukunft sein Bild liebend vergebend und mild in ihrer Erinnerung leben zu lassen.
Zur unglücklichsten Stunde hielt Adelbert sein Wort. Der vereinte Zauber früherer Unschuld und jetziger blendend strahlender Schönheit, in Reue, in Verzweiflung, in aller Gluth der hingebendsten Liebe, riß ihn hin, er vergaß alles, auch die Augusten geschworne Treue. Ihr bescheidnes Bild trat weit zurück in den verborgensten [182] Winkel seines Herzens, schmerzlich fühlte er es dort, ohne es sich selbst zu bekennen.
In bitterer Selbstverachtung gab er von nun an jede Hoffnung der möglichen Rückkehr zum Bessern auf. Er wollte nur Betäubung und fand sie; er sah und hörte nur Herminien, wie sie einzig in seiner Liebe leben und athmen zu können schwur, ihre Versicherungen, ihn nie ganz vergessen zu haben, ihr Geloben künftiger ewiger Treue, er glaubte Alles und Nichts. Im Wahnsinn äußern Sinnenrausches, gefoltert von innern Vorwürfen in jeder Minute helleren Selbstbewußtseyns, mied er aufs geflissentlichste alles, was ihn zu diesem bringen konnte, vor allen Gabrielen.
Herminia hatte bei Adelberts Wiedersehen wirklich eine Regung jener Gefühle empfunden, die einst ihre Jugend beglückten. Sie sah ihn zum edlen stolzen Manne herangereift, sogar die Narbe über der Stirn, welche früher ihr so entsetzlich dünkte, erhob jetzt sein Gesicht, weit davon entfernt, es zu entstellen, zu dem eines Helden. Seine Erschütterung bei ihrem Anblick verrieth [183] ihr die Gewalt, welche sie noch immer über ihn üben konnte, und Gabrielens unverhohlne Theilnahme an seinem anscheinend plötzlichen Uebelbefinden ließen sie sogleich in dieser eine, wahrscheinlich beglückte Nebenbuhlerin ahnen. Gabrielens von allen gefeierter Name erregte schon ihre Eifersucht ehe sie selbst sie noch sah, jetzt da Hippolit ihr um jener willen untreu zu werden drohte, ward sie ihr ganz unerträglich. Sechs in den gefährlichsten Umgebungen verlebte Jahre hatten Herminien sehr tief herabgezogen; Wechsel und Intrigue waren in dieser Zeit ihrem leidenschaftlichen Wesen zum Bedürfniß geworden, und unbekannt mit jeder bessern Regung, beurtheilte sie alle und somit auch Gabrielen nach sich. Sie glaubte daher, sich nicht besser an dieser rächen zu können, als indem sie Adelberten von ihr abzuwenden und wieder in die alten Fesseln zu ziehen suchte. Zugleich hoffte sie dadurch Hippolits Eifersucht rege zu machen, und so auch ihn wieder zu gewinnen, den sie, ohne ihn zu lieben, dennoch nicht freigeben wollte, besonders nicht an Gabrielen. Alles dieses vereint bestimmte sie zuerst [184] zu jener mühevollen Vorstellung, mit der sie Adelberten umgarnte, aber es ging ihr bald mit dieser Rolle, wie jeder guten Schauspielerin mit der ihrigen, sie gewann sie lieb, so daß sie selbst nicht mehr Täuschung und Wahrheit von einander zu unterscheiden wußte, und das Spiel immer weiter trieb, zuletzt hauptsächlich nur um des Spieles willen.
Nicht mit jener quälenden Empfindung, welche Herminia in ihr erregen wollte, aber doch schmerzlich besorgt, sah Gabriele Adelberten sich täglich ihr mehr entfremden. Sie sah die Angst, die ihn in ihrer Nähe ergriff, sie bemerkte wie geflissentlich er jedes Gespräch mit ihr vermied, ohne errathen zu können wodurch sie sein Zutrauen verscherzt habe. Auch zeigte er sich ihr durchaus nicht feindselig, aber ihr Beiseyn übte über ihn eine sichtlich vernichtende Gewalt. Das Geschäft, welches ihn in die Residenz geführt hatte, vernachlässigte er durchaus und brachte dennoch fast alle seine Zeit ausser dem Hause zu. Sie begriff nicht, wo? und womit? Bei der Markise traf sie ihn selten, denn sie besuchte diese nur wenn [185] sich dort Gesellschaft versammelte, und dann pflegte Adelbert gewöhnlich zu fehlen. Tausend Vermuthungen drängten sich Gabrielen entgegen, doch keine brachte sie der Wahrheit nahe, und ihr Gefühl widerstrebte jedem heimlichen Nachforschen, aber dieses unerklärliche Betragen des Gemahls ihrer Auguste lastete recht schwer auf ihrem Gemüthe.
Zwischen der Markise und der Gräfin Rosenberg war indessen seit Gabrielens Ankunft eine Spannung entstanden welche, und vielleicht bald, in einen förmlichen Riß auszuarten drohte. Herminie haßte Gabrielen zu sehr, um diesen Haß nicht auch der Gräfin sichtbar werden zu lassen, besonders seit es mit jedem Tage ihr entschiedner wurde, daß Hippolit um jener willen ihr unwiederbringlich verloren sey. Die Gräfin hingegen nahm Gabrielen stets in Schutz; sie hatte sie auf ihre Art lieb gewonnen, sie wußte sich nicht wenig damit, daß eine so glänzende Erscheinung aus ihrem Hause ausgegangen, unter ihren Augen gebildet sey. Nichts konnte ihr ein beifälligeres Lächeln ablocken, als wenn man Züge [186] von Aehnlichkeit zwischen der Tante und der Nichte entdeckt haben wollte; auch konnte sie Gabrielen nicht entbehren, ihre stete Gegenwart machte die geselligen Abende der Gräfin zu den gesuchtesten und glänzendsten der Stadt, unerachtet schwache Nerven jetzt sehr oft das Nichterscheinen der Markise entschuldigen mußten; zum Theil, weil diese die Abendstunden lieber mit Adelberten allein zubrachte, mehr aber noch, weil sie das Rivalisiren mit Gabrielen scheute. Ausser sich wäre sie gewesen, wenn sie gewußt hätte, wie wenig die Gesellschaft im Salon der Gräfin ihre Gegenwart vermißte. Ihr erstes blendendes Auftreten war zwar nicht vergessen, aber man gedachte dessen nur als eines angenehmen und zugleich fremden Schauspiels, welches sich indessen seiner Art nach doch nicht ganz mit deutschem Sinn und deutscher Sitte vereinen ließ, während Gabrielens sich stets gleichbleibende anspruchslose Liebenswürdigkeit auf Geist, Sinn und Herz immerwährend wohlthuend wirkte.
[187] Unerachtet der tausend Schwachheiten, zu welchen ungemessne Eigenliebe und Lust zu glänzen die Gräfin Rosenberg verführen mochten, hielt dennoch niemand fester als sie, an das was sie ihre Grundsätze nannte. Achtung vor äußerem Anstande, Sitte und guten Ruf, diese Kardinal-Tugend vornehmer Leute besaß sie in hohem Grade; sie war eine abgesagte Feindin alles offenbaren Unrechts, und Adelberts Verhältniß zu Herminien mußte ihr großes Mißfallen erregen, sobald sie es für das erkannte, was es war. Hippolits jetziges Benehmen gegen die Markise machte sie zuerst aufmerksam darauf. Sie sah, wie er, der sonst nur in den Blicken der Markise d'Aubincourt zu leben schien, ihr jetzt mit unverkennbarer Kälte begegnete, wie zuvorkommend er Adelberten jedesmal, wenn beide bei ihr zusammentrafen, den Platz neben ihr einräumte, und sie hatte selbst zu lange und in zu mannigfaltigen Verhältnissen in und mit der Welt gelebt, um nicht, wenn gleich diesesmal ungerechter Weise, den Grund einer so auffallenden Veränderung im Betragen ihrer Hausgenossin zu suchen. Die [188] dunkle Seite desselben blieb ihrem Scharfblick nicht lange verborgen, und gränzenloser Zorn ergriff sie bei der Entdeckung, daß die Markise es wage, unter ihren Augen, in ihrem Hause und gleichsam unter ihrem Schutze mit dem Gemahl einer ihrer nächsten Verwandtinnen ein solches Verständniß zu unterhalten. Hätte die Gräfin Rosenberg den ersten Regungen ihres empörten Gemüths zu folgen gewagt, so wäre die Markise in der nächsten Stunde durch öffentliche Kundmachung ihres Betragens vor der Welt auf das beschämendste bestraft worden; aber sie war von jeher gewohnt, nur mit der äußersten Umsicht vorzuschreiten, und jedes, nicht durch Bewunderung erregte Aufsehen zu scheuen, wie den Tod. Der Familienstolz, welcher einst den Baron von Aarheim so mächtig beherrschte, war auch der Brust seiner Schwester nicht fremd, und das Bekenntniß, daß Auguste, ihre Verwandtin, um einer andern willen verlassen werden konnte, schien ihr unwürdig und entehrend. Schmerzlich vermißte sie jetzt Ernestos gewohnte leitende Hand, doch dieser Freund war fern, auf dem Wege nach [189] Italien, wohin Ottokars wiederholte Einladungen ihn zogen, und so blieb der Gräfin nichts übrig, als an seiner Stelle Gabrielen zu Rath und Mitwirkung aufzufordern, um mit ihrer Hülfe die Markise ohne äußeres Aufsehen zu entlarven, zu entfernen, und hernach Adelberten reuig und gebessert Augusten wieder zuzuführen.
Gabriele stritt lange und heftig mit unglaublichem Erstaunen für Adelberten, gegen die Beschuldigungen der Gräfin, ehe sie sich entschließen konnte, solche als Wahrheit anzuerkennen, und selbst dann bemühte sie sich noch, sein Vergehen in gemildertem Lichte zu sehen. Weder sie, noch ihre Tante hatten die leiseste Ahnung davon, daß er in der Markise d'Aubincourt Herminien wieder gefunden habe; um so auffallender mußte ihnen diese plötzlich entstandne Leidenschaft erscheinen, aber auch um so leichter die Möglichkeit solche zu besiegen. Adelberts schleunige Entfernung von der gefährlichen Zauberin, welche ihn umstrickt hielt, schien beiden Frauen nach langem Berathen, das einzige Mittel, ihn wieder zu sich selbst, zu Augusten zurückzuführen und der [190] innigste Wunsch die ser wo möglich die über dem Glück ihres Lebens schwebende Gefahr gänzlich zu verbergen, bestimmte Gabrielen, sich an Frau von Willnangen zu wenden, um durch diese Adelberts schleunige Zurückberufung zu bewirken. Denn so sehr sie auch den freundlichen Greis, Adelberts Oheim, liebte und ehrte, so wußte sie dennoch nicht, in wie weit man in einer, für Augustens Zukunft so wichtigen Sache auf dessen Leitung sich verlassen könne, und durfte demnach es nicht wagen, das Muttergefühl der geliebten Freundin zu schonen.
Mildernd, begütigend, aber doch eindringend und ernst machte Gabriele sie mit Adelberts trauriger Verirrung so schonend als möglich bekannt. Die Markise zeigte sie ihr, so wie sie ihr selbst erschien, als ein für den ersten Augenblick höchst einnehmendes blendendes Geschöpf, reich an allem was reizt, gefällt und verführt, aber eigentlich doch arm an innerem Werthe, mit keiner einzigen der Eigenschaften begabt, die einst Augusten das Herz ihres Gatten gewannen. Auguste wird ihn wieder gewinnen, setzte Gabriele [191] dieser Beschreibung hinzu. Sie muß ihn wieder gewinnen, um auf ewig ihn zu halten, sobald es uns nur gelingt, ihn dem magischen Kreise dieser neuen Armida zu entrücken, deren Nähe ihn allen seinen Freunden und sich selbst zum Unkenntlichen verwandelt. Um nicht zu ängstlich bei diesem Hauptzweck ihres Briefes allein zu verweilen, versuchte es weiterhin Gabriele, der Frau von Willnangen ein heiteres lebendiges Bild ihres jetzigen Lebens und des glänzenden Horizonts zu geben, an welchem sie selbst ein Stern erster Größe war. »Sie sehen,« schrieb sie ferner, »aus ihrer sonst so furchtsamen Gabriele ist nach und nach ein ziemliches Weltkind geworden; doch fürchten Sie nicht zu viel für meinen häuslichen Sinn. Ach liebe liebe Mutter! ich sehne mich oft so, daß mir die Thränen in die Augen treten, nach einer einzigen Stunde, wie ich deren so unzählig viele bei Ihnen, mit Ihnen, mit Augusten, mit Ernesto verlebt habe. Wissen Sie noch den Abend, wo wir sangen: Dolce dell' anima, speme del mio cor? Wie laut, wie thörigt flatterte damals dieß Herz, das jetzt so leise sich regt! [192] Alles ist anders wie in jenen Tagen und doch im Grunde dasselbe. Was je mir theuer war, ist noch das Leben meines Lebens; jede Freude, jedes Gelingen, jeden guten Vorsatz knüpfe ich an ein liebes Bild; aber dieß Bild glänzt weit, weit von mir in meinem Jugendlande. Ich träume davon, wie schlafende Kinder mit Engelbildern spielen, aus einer fernen, goldnen, himmlischen Heimath, und wenn ich erwache, lächelt der Abglanz des Morgenrothes meines Lebens noch immer freundlich in meinen Werkeltag hinein.
Wirklich, ich komme mit meinen vierundzwanzig Jahren mir oft recht alt, recht matronenhaft vor, und ich glaube, ich erscheine auch Andern so; meinem Zöglinge wenigstens gewiß, denn ich muß es nur bekennen, ich gebe mich jetzt mit der Erziehung ab, und zwar bei einem recht verwarloseten Kinde, das ich dem Untergange entreißen will. Freilich ist es schon einundzwanzig Jahre alt, aber erschrecken Sie nicht darüber, mein Zögling geberdet sich gewöhnlich, als zähle er deren kaum sieben; er ist unbändig, ungehorsam und wieder lenksam, folgsam und gut wie es[193] kommt. Er verbindet alle Arten und Unarten eines Kindes mit jeder glänzenden Eigenschaft der reifern Jugend. Denken Sie sich ihn hoch, schlank, schön wie Achill; schmiegsam, biegsam, fast kindliche Grazie in jeder Bewegung, mit dunkeln Locken und schwarzen blitzenden Augen, wie Mignon. So wunderlich wie in seinem Aeussern eint sich der Widerspruch auch in seinem Innern. Er ist stolz, auch wohl hochmüthig verachtend, eitel, argwöhnisch, suffisant-ausgelassen und oft recht von Herzen betrübt. Alles das theils durch das Leben, welches er bis jetzt lebte und durch die Leute, mit denen er in Verbindung gerieth, mehr aber noch, wie er mir nicht vertraute, aber errathen ließ, durch früh erlittenen Verrath, Mißhandlung und Betrug von Seiten derer, welchen es Pflicht war, ihn zu lieben. Von Natur ist er mild, bescheiden, heiter, vertrauend, jeder Aufopferung fähig, aber diese edleren Eigenschaften treten nur zuweilen hervor, und werden oft verdüstert. Er ist sehr unterrichtet, sogar gelehrt wie es mich dünkt. Er weiß von Kunst zu reden, bläst die Flöte, zeichnet, skizzenhaft aber[194] geistreich. Doch alles dieß ist ihm nur ein Erlerntes, er weiß es nicht zu brauchen, er weiß nur damit zu glänzen. Er geht umher wie ein Nachtwandler in eines Königs Pallast, man muß ihn bei Namen rufen, damit er die Herrlichkeit gewahr werde die ihn umgiebt, aber man muß ihn dabei auch recht sorglich festhalten, um ihn vor dem Falle zu schützen und auf rechte Bahn zu bringen.
Dieß zu versuchen, habe ich mir nun vorgenommen. Ich fand ihn am Scheidewege, oder vielmehr, daß ich es nur gestehe, ich fand ihn schon eine ziemliche Strecke über die Gränze hinaus verlockt. Ein wunderliches Begegnen brachte ihn mir nahe; zuerst war er ungezogen, ich schalt wie billig, er schämte sich etwas ungeschickt, vielleicht zum erstenmale in seinem Leben bei solchem Anlasse, und mitten durch alles dieses blickte so viel Gutes, ja selbst Edles hervor, daß er mein innigstes Bedauern erregte, und ich den Wunsch fühlen mußte, ihm wieder zurecht zu helfen. Die Frauen mögen an seinem Verderben nicht wenig [195] Schuld seyn. Nun es sey gewagt. Vielleicht gelingt es mir, wieder zu erbauen, was Andere meines Geschlechts zerstörten. Hippolit scheint Vertrauen zu mir gefaßt zu haben, und das ist schon viel.
Möge es Ihnen ein Beweis seiner Herzensgüte seyn, daß er zu meinem eignen Erstaunen das Wohlwollen meines Gemahls sich in so hohem Grade zu erwerben gewußt hat, daß dieser ihn immer um sich haben möchte, und Hippolit deshalb beinah wie einer unserer Hausgenossen anzusehen ist; nur daß er nicht bei uns wohnt. Manche kleine körperliche Schwäche des Alters beginnt, früh wie mich dünkt, Herrn von Aarheims Daseyn zu trüben, ohne daß ich deshalb ernstlich um ihn besorgt zu seyn Ursache hätte. Er wäre gewiß weit öfterer leidend und grämlich als er es ist, doch Hippolit macht ihm vieles vergessen, denn er umspielt ihn in Jugendlust und heiterer Lebensfülle. Der allmählig zum Greise heranalternde Mann scheint oft zu wähnen, er habe in ihm einen lieben Sohn wieder [196] gefunden, der seine grauen Locken ehrt und seine kleinen Schwachheiten schonend erträgt. Wie sehr ich dabei an häuslicher Ruhe und Lebensfreiheit gewinne, werden Sie, die Sie uns so genau kennen, leicht ermessen, und sich nicht darüber wundern, daß Hippolit, in diesem freundlichen Verhältniß zu uns, mir selbst ein Verwandter zu seyn dünkt, der Anspruch hat an mich, daß ich für ihn thue was ich kann.«
Einige Wochen waren nach Absendung dieses Briefes vergangen und Gabriele sah längst der Antwort entgegen, als eines Abends sich ein kleiner gewählter Kreis zum musikalischen Verein in ihrem Zimmer versammlet hatte.
Umflossen von Licht, Glanz und Schönheit saß die Markise auf dem Divan unter einer strahlenden Girandole von Kristall. Vor ihr stand die reich geschmückte große Pariser Harfe, hinter [197] ihr über sie hingebeugt Hippolit, dessen Flöte die Töne begleitete, welche sie mit Meisterhand dem goldnen Saitengewebe entlockte. Die ganze Gesellschaft im Saal war in der Andacht des Zuhörens und des Anschauns versunken. Nur Adelbert saß einsam und abgewendet in der fernsten Ecke desselben. Mit den so eben verklungenen einfachen Tönen eines alten oft gehörten Liedes hatte Gabriele eine Welt von Schmerz und Sehnsucht in seinem Busen aufgeregt. Die Melodie des Liedes war eine von jenen, welche wie Töne aus der Heimath in uns wiederklingen und den Worten so fest sich anschließen, daß es unmöglich wird jene ohne diese oder diese ohne jene zu denken. Hier ist das Lied:
Noch einmal muß ich vor Dir stehn,
Noch einmal in Dein Auge sehn
So lieb und klar;
Die Hand, so fest und wahr,
Noch einmal fassen inniglich
Die liebe Hand und Dich – und Dich!
Drum wenn ich nur erst bei Dir wär',
Dann wär' schon alles recht,
Und wenn ich nur erst bei Dir wär',
Wie's Gott dann schicken möcht'!
[198]Ich muß Dir sagen noch einmal
All' meine Freud', all' meine Qual;
Du kennst sie beid',
Mein Glück und auch mein Leid,
Doch ich muß sagen Dir auf's neu
All' meiner Seele Lieb' und Treu!
Drum wenn ich nur erst bei Dir wär',
Dann wär' schon alles recht,
Und wenn ich nur erst bei Dir wär',
Wie's Gott dann schicken möcht'!
Muß hören noch ein einzigmal
Den süßen vollen Glockenschall
Von deiner Stimm',
Denn, – ging's mir noch so schlimm, –
Wenn sie von deinen Lippen weht
Wird meine Klage still Gebet.
Drum wenn ich nur erst bei Dir wär',
Dann wär' schon alles recht,
Und wenn ich nur erst bei Dir wär',
Wie's Gott dann schicken möcht'!
Will rufen all' mein schmerzlich Glück
Mir noch ein einzigmal zurück;
Will lauschen sacht':
Wie du an mich gedacht?
Noch einmal muß auf Erden mein,
Nur einmal noch der Himmel seyn.
Drum wenn ich nur erst bei Dir wär',
Dann wär' schon alles recht,
Und wenn ich nur erst bei Dir wär',
Wie's Gott dann schicken möcht'!
[199] Diesen Worten, diesen Tönen hatte Adelbert unzähligemal im innigsten Gefühl seines Glücks an Augustens Seite zugehorcht, wenn Gabriele, wie eben jetzt, mit ihrer süßen rührenden Stimme sie sang; und nun erfüllten sie das Gemüth des einsam Verirrten mit einer unendlichen Sehnsucht nach dem häuslichen glücklichen Heerd. Dabei ward ihm, als trennten weite Meere, unüberwindliche Klüfte ihn von den Seinen, als werde er nimmer und nimmer sie wiedersehn. Allmählig versank er so in immer trostlosere Wehmuth und beachtete weder das Spiel der Markise noch alles was ihn umgab. Ein leises Oeffnen der Thüre bewog ihn endlich mechanisch die Augen zu erheben und zu seinem unsäglichen Schrecken erblickte er dicht vor sich die ehrwürdige Gestalt seines, viele Meilen weit entfernt geglaubten Oheims, des Generals Lichtenfels. Blitzschnell fuhr Adelbert bei dem unerwarteten Anblick in die Höhe, er wollte ihn begrüßen, aber die Stimme versagte ihm den Dienst; bleich, wie entgeistert, blieb er auf seinem Platze regungslos stehen, den stieren Blick auf den eben Eingetretenen geheftet, [200] der ihn indessen eben so wenig bemerkte, als er selbst von der ganz der Musik zugewendeten Gesellschaft bemerkt ward.
Leise auftretend, durchschritt der General das Zimmer der Länge nach, bis er dicht vor der Markise still stand, nur durch die Harfe von ihr geschieden. Mit immer zorniger werdendem Ernste betrachtete er sie, jede Sekunde überzeugte ihn immer fester, sie sey wirklich die, für welche er sie im ersten Augenblicke erkannt hatte, bis endlich eine Pause in der Musik entstand. Die Markise, welche bis dahin ihr Harfenspiel ganz unbefangen fortgesetzt hatte, wendete sich jetzt gegen ihre Zuhörer, um in ihren Augen die dankbarste Bewunderung zu lesen, und ihr erster Blick fiel auf die hohe, drohende Gestalt, die, ganz nahe vor ihr, über die Harfe weg, sie anstarrte. Gelähmt vom Schrecken bei der unerwarteten Erscheinung, die auch sie nur zu wohl wieder erkannte, fühlte sie dennoch die dringende Nothwendigkeit, hier ruhig und besonnen zu bleiben. Sogar ein Gedanke der Möglichkeit, unerkannt durchzuschlüpfen, fuhr ihr durch den [201] Kopf, wenn sie Fassung genug behielt, ferner für eine Französin zu gelten, deren große Aehnlichkeit mit der ehemaligen Braut seines Neffen den General verwirre. Aber ein Seitenblick auf Adelbert, der wie vernichtet da stand, brach ihr den Muth, und als nun vollends der General die wohlbekannte Stimme donnernd erhob, sank sie erbleichend auf dem Divan zurück, und vermochte es kaum noch, auf ihrem Sitz sich aufrecht zu erhalten.
Erzürnt, tief empört, vom Augenblick hingerissen, vergaß der General alle ihm sonst eigne Milde und Schonung und begann eine laute lange Strafpredigt. Der ganze Zusammenhang von Adelberts Verirrung war ihm klar geworden wie der Tag, so wie er in der Markise Herminien wieder fand, und er überströmte die ihm jetzt zwiefach strafbar Erscheinende mit Fragen, mit Vorwürfen, mit Anklagen, welche den dabei Gegenwärtigen ihre früheren und jetzigen Verhältnisse in dem allerungünstigsten Licht offenbaren mußten. Die duldende Verlegenheit der Markise galt bei Allen für das vollkommenste [202] Eingestehen jeder Beschuldigung, besonders da sie in der Angst der früheren Verstellung vergaß, und plötzlich in sehr reinem geläufigem Deutsch ihren Widersacher zu besänftigen und manche Anklage von sich abzuwenden suchte. Die Scene ward immer verwirrender und Gabriele, die, wenn sie gleich auf diese Art es nicht gewollt hatte, sich doch bewußt war, sie veranlaßt zu haben, gerieth in immer drückendere Verlegenheit. Denn jetzt erhob sich auch die Gräfin, um die Angeklagte vollends zu zerschmettern.
Mit richtendem Ernst, stolz und hoch wie eine Königin, betrachtete sie sie einige Sekunden, dann wandte sie sich an Gabrielen mit der laut ausgesprochnen Bitte, ihr zu verzeihen, daß sie, auf beispiellose Art getäuscht, sich durch ihre gewohnte arglose Gefälligkeit habe verleiten lassen, eine Dame bei ihr einzuführen, mit deren Verhältnissen sie, wie sie jetzt gewahr werde, dazu nicht bekannt genug gewesen sey. Mit einer verbeugenden Bewegung, welche die nehmliche Bitte auch den übrigen Anwesenden wiederholte, verließ sie alsdann das Zimmer, nur begrüßte sie[203] noch vorher die Markise mit einem nachlässig vornehmen: Madame! J'ai l'honneur de Vous saluer und umarmte nochmals ihre verlegen dastehende Nichte.
Auch Adelbert hatte sich früher, ohne bemerkt zu werden, entfernt.
Jedes Bestreben, dem General Einhalt zu thun, war vergeblich. Mitleidig versuchte es endlich Gabriele, der Markise wenigstens den Weg zur Flucht zu bahnen, aber dieser war nicht zu helfen, sie saß regungslos auf dem Divan, von der einen Seite durch die große Harfe eingeengt, von der andern durch den General, der sich selbst immer zorniger sprach, und seinen Anschuldigungen immer schonungslosere Worte gab. Hippolit hatte indessen sich lange fruchtlos bemüht, die bei diesem widerwärtigen Vorgange nicht persönlich interessirten Zuschauer zum Weggehen zu bewegen, alle bildeten aber einen neugierigen Kreis und niemand hatte die mindeste Lust zu wanken oder zu weichen. Doch jetzt, da die Gräfin das Beispiel gab, konnte man sich nicht mehr anständig weigern, ihr zu folgen. [204] Die Gesellschaft brach also mit ihr auf, und Hippolit ergriff nun das einzige Mittel, das ihm übrig blieb, um diese unangenehme Scene gänzlich zu beenden. Er nahte sich der Markise, schob die schwere Harfe bei Seite, und unerachtet der General, den er nicht kannte, noch immer fort sprach, bot er ihr den Arm, um sie an ihren Wagen zu geleiten. Doch es schien als ob das Regen der Gesellschaft um sie her, sie plötzlich aus ihrer Bewußtlosigkeit erwecke; sie stand auf, wieß mit einer verachtenden Bewegung Hippolits dargebotnen Arm von sich, und wandte sich dann gegen den General, der nun seiner Seits auch über das Unerwartete wie verwundert verstummte.
»Ihr Alter, Herr General! giebt Ihnen das Privilegium, unartig zu seyn, daher verzeihe ich Ihnen,« sprach Herminia sehr vernehmlich. »Ob Sie aber Ihr heutiges Betragen sich selbst und denen, welche Sie dazu aufreizten, werden verzeihen können, das mögen Sie bei kälterem Blute selbst entscheiden. Morgen, wenn Sie das Fieber verschlafen haben, in welches die Ermüdung [205] der Reise Sie versetzt hat, werden beihel lerem Bewußtseyn Ihnen vielleicht die Gründe klar werden, welche diese Dame und diesen Herrn veranlaßt haben können, Sie zu einer Scene zu verschreiben, deren Herbeiführung freilich den Forschungsgeist und das savoir faire derselben in der skandalösen Kronick der Stadt rühmlichst verewigen muß.« Mit einem höhnischen Lächeln verbeugte sie sich bei diesen Worten gegen Hippolit und Gabrielen und verließ dann das Zimmer. Hippolit folgte ihr dennoch, um sie sicher bis an den Wagen zu geleiten, während Gabriele beim General blieb, der zornbleich und von der heftigen Gemüthsbewegung erschöpft in einen Armsessel gesunken war, aus dem er aber mit dem Ausdruck eines schreckhaften Sichbesinnens bald wieder auffuhr.
»Auguste!« rief er, »Auguste! Daß ich diese vergessen konnte! Aber wie war es möglich, ein solches Zusammentreffen vorauszusehen? Wir meinten es gut, Frau von Willnangen und ich; ungern mochte ich Adelberten vor Beendigung seines Geschäftes von hier abrufen. Augustens [206] Wiedersehen, so hofften wir, sollte schnell die Fesseln der Buhlerin lösen. Wer konnte die Möglichkeit denken, in der Markise d'Aubincourt Herminien zu finden?!«
»Um Gotteswillen, wo ist Auguste?« rief Gabriele.
»Die Arme,« erwiderte der General, der noch immer seine gewöhnliche Fassung nicht wiedergewonnen hatte; »die Arme! Sie weiß von nichts. Auf mein Bitten begleitete sie mich, Adelberten, wie sie glaubt, zu seinem heutigen Geburtstage durch ihre Gegenwart freudig zu überraschen. Wir vernahmen beim Aussteigen aus dem Wagen, hier sey Konzert, Gott weiß, ich ahnete nichts von der Scene, die nun erfolgt ist. Ich glaubte nicht die Markise in dieser Gesellschaft zu finden. Gut nur, daß Auguste sich nicht in Reisekleidern zeigen mochte.«
»Wo ist sie? wo ist sie?« fragte Gabriele noch ängstlicher und zog hastig die Klingelschnur, um Annetten herbei zu rufen.
»In Adelberts Zimmer,« erwiderte der General, »sie wollte eiligst sich umkleiden.«
[207] Pfeilschnell flog jetzt Gabriele, die Freundin aufzusuchen, der General folgte ihr; unten von der Treppe herauf hörten sie unterweges Hippolits und Adelberts Stimmen, wie im heftigen Wortwechsel ertönen und auch der Markise Stimme ward vernehmbar.
Zu jeder andern Zeit würde dieß alles Gabrielen sehr beunruhigt haben, jetzt achtete sie kaum darauf und dachte nur an Augusten. Sie fand sie wirklich in Adelberts Zimmer allein, zwar mit allem Geschehenen unbekannt, aber doch zitternd vor einem namenlosen Unglück, das ihr um so furchtbarer erschien, je weniger sie im Stande war, ihm eine Gestaltung zu geben.
Adelbert war vor einigen Minuten heftig bewegt und, wie sie meinte, freudig über ihren unvermutheten Besuch in das Zimmer gestürzt. Mit offnen Armen war sie ihm entgegen getreten, er aber hatte mit vorgestreckten Händen sie von sich abgewehrt, hatte furchtbar sie angestarrt und war dann davon geflohen wie ein Verzweifelnder. Auguste war ihm gefolgt, aber er in dem ihr fremden Hause schnell ihr aus dem Gesicht geschwunden. [208] Mit Mühe hatte sie sich in das Zimmer zurück gefunden, und dann versucht sich zu erholen, um Gabrielen aufsuchen zu können, als diese mit dem General zu ihr eintrat.
Gabriele kannte das zutrauensvolle Gemüth ihrer Freundin, sie wußte, daß diese liebende, neidlose Brust keinen Funken Eifersucht verbarg, und blickte mit um so herzlicherem Mitgefühl auf die Arme, die nur vor einem ihr unbekannten äußern Unglück zitterte, welches ihren Adelbert betroffen zu haben schien, während sie gar nicht daran dachte, daß sie anders als in ihm beklagenswerth seyn könne. Gabrielens erste Sorge war, Augusten unter einem Vorwande aus dem Zimmer zu entfernen, in welchem Adelbert selbst jeden Augenblick überraschend eintreten konnte. Dann suchte sie die schwere Aufgabe zu lösen, Augusten so schonend als möglich mit Adelberts und Herminiens zufälligem Zusammentreffen und dessen Folgen bekannt zu machen. Die Natur [209] hatte Augusten mit Lebensmuth und mit heiterem, alles ebnendem Sinn, diesen zum Glück des Lebens nothwendigsten Gaben, reichlich ausgestattet und so wäre es der sorgenden Freundschaft wohl gelungen, die Bitterkeit des Kelches wenigstens zu mildern, den sie nicht mehr an ihr vorüber führen durfte, doch Moritzens unseliger Unbedacht vereitelte ihr Bemühen.
Unbekannt mit allem früher Vorgefallnen, kehrte er von einem späten Männerdiner zurück und gewahrte mit großer Verwunderung den ungewohnt zeitigen Aufbruch der bei Gabrielen versammlet gewesenen Gesellschaft, deren Wagen sich eben von seinem Hause aus in alle vier Winde verstreuten. Mit noch größerem Erstaunen fand er in der Vorhalle die Markise, Adelbert und Hippoliten in heftigem Wortwechsel begriffen. Ohne dessen Entstehen zu kennen, bemühte er sich, ihn zu schlichten, und stürzte, da dieses mißlang, ganz verstört in Gabrielens Zimmer, ohne die Anwesenheit des Generals und Augustens zu bemerken.
[210] »Sono ammazato! sie sind todt oder vielmehr so gut als todt, alle beide! Sie schlagen sich mit Tagesanbruch auf Pistolen, der Rittmeister und Hippolit,« rief er aus, und lief wie ein Verrückter im Zimmer umher. Vergebens bemühten sich der General und Gabriele ihn zum Schweigen oder zu einer bestimmten Erzählung des Vorganges, den er andeutete, zu bewegen; er fuhr nach seiner unverständigen Weise fort, die bängsten Befürchtungen zu erregen, ohne sich deutlicher erklären zu wollen, bis Auguste, freilich bebend und bleich, sich erhob und des Generals Arm ergriff.
»Kommen Sie, Vater!« sprach sie, »zu ihm führen Sie mich!«
»Bravissimo!« rief plötzlich sehr freudig Moritz von Aarheim, »das ist ein herrlicher Einfall, mein Wagen steht zum Glück noch angespannt und ich selbst will Sie zur Frau Markise begleiten. Dort ist er, die gute Dame zog ihn beinahe gewaltsam mit in ihren Wagen, gewiß hält sie ihn bei sich fest, to keep him out of harms way.«
[211] »Er folgte Herminien?« rief wie außer sich der General, und wüthender als je flammte sein Zorn auf. »Ja ich nehme Ihren Wagen, ich will den Ehrlosen bei der Ehrlosen finden!«
Auguste sank an Gabrielens Busen. »Herminia! Und du verschwiegst es mir?« sprach sie leise und fiel dann, nicht ohnmächtig, aber wie zerbrochen an allen Gliedern, auf den Sopha zurück.
»What shall we do, what shall we do?« wimmerte Moritz in einem fort, nach seiner gewohnten Art in jeder Angst. Der General war indessen zum Zimmer hinausgestürmt, eben rollte der Wagen fort, in welchem er zur Markise fuhr. Moritz kam glücklicher Weise auf den Gedanken, sich ebenfalls aufzumachen, um seinerseits den Grafen Hippolit aufzusuchen, und so erhielt Gabriele endlich eine ruhige Stunde, um mit der innigsten Liebe Augustens Sorge und Schmerz zu beschwichtigen.
Die Zeit verging im trüben Gespräche, es ward Mitternacht, schlaflos horchten die Freundinnen auf jeden, durch die immer einsamer werdenden [212] Straßen hinrollenden Wagen, unzählige mal mußte die treue Annette hinaus auf den Balkon, um nachzusehen ob niemand käme? Vergebens. Draußen blieb alles ruhig, und in ihnen ward es immer trostloser und bänger.
Schonend, um ihn trauernd, ihn vertretend, wie nur der Schutzengel seines Lebens vor dem ewigen Richter es könnte, hatte indessen Gabriele versucht, Adelberts Verirrung zu entschuldigen, und Hoffnungen einer glücklichern Zukunft zu erregen. Sie hatte es mit einem Herzen zu thun, das ohnehin so bereit war zu vergeben, und der Sieg über die Vergangenheit ward ihr in dieser Hinsicht nicht schwer. Desto bänger aber zitterte Auguste den nächsten Morgenstunden entgegen, die sie, Unheil weissagend, den Himmel schon röthen sah. Gabriele war hier weniger besorgt und bemühte sich eifrig, der Freundin den Glauben beizubringen, den sie selbst so gern festhielt: daß Herr von Aarheim sich geirrt habe und von gar keinem Streit, der einen blutigen Ausgang drohe, die Rede gewesen seyn könne.
[213] Von jeher war sie fern von allen Stadtsagen und aller Anekdotenjägerei geblieben, ihr ganzes Wesen schlug jeden Versuch nieder, sie mit irgend etwas, diesen schmutzigen Quellen Entfließendem bekannt zu machen. Daher war Hippolits früheres Verhältniß zur Markise ihr ein Geheimniß geblieben und sie begriff wirklich nicht, wie und warum Adelbert mit ihm gerade in diesem Momente so heftig an einander hätte gerathen sollen. Die beleidigenden Worte, mit welchen die Markise das Zimmer verließ, hatte sie als Ausbrüche ohnmächtiger Wuth zu wenig geachtet, um sich die Mühe zu geben, sie verstehen zu wollen. Doch während sie auf diese Weise ihre zitternde Freundin zu beruhigen suchte, erhob plötzlich Annette ihre Stimme aus dem dunkeln Winkel, in welchem sie neben Augustens Ruhebette saß, und gab beiden Frauen eine Gewißheit, welche diese so gern entbehrt hätten.
Das treue Mädchen war der Liebling ihrer Herrin geblieben und hatte als solcher so manches kleines Vorrecht; unter andern das, an Konzertabenden in einem Nebenzimmer der Musik [214] lauschen zu dürfen. Auch an diesem Abende hatte sie diese Erlaubniß benutzt. Aengstlich über die ihr so ganz ungewohnte Scene, welche die Freuden desselben unterbrach, wollte sie die große Treppe hinab, der unerwartet schnelle Aufbruch der Gesellschaft hielt sie auf, und so kam sie in der Vorhalle des Hauses an, als eben der Zwist zwischen Hippolit und Adelberten begann.
»Liebe gnädige Frauen!« sprach Annette, »es schmerzt mich in der Seele, Ihnen Ihren Trost zu benehmen, aber Wahrheit bleibt doch immer das Beste, und so denke ich, muß ich sie Ihnen gestehen, da ich sie weiß. Die beiden gnädigen Herren sind freilich leider in gefährlichem Zwist gerathen.«
Gabriele erschrack nicht weniger über dieses Geständniß, als über Augustens Gegenwart dabei und suchte, so viel sie unbemerkt es konnte, Annetten zum Schweigen zu bringen, aber vergebens. Ein unglücklicher Stern schien heute über diesem Hause aufgegangen, der jede Schonung vernichtete, und Auguste drang mit so heftigen, ungeduldigen Fragen in das Mädchen, [215] daß Gabrielen nichts übrig blieb, als sie gewähren zu lassen.
»Die Frau Markise,« erzählte Annette, »ging eben ganz hochtrabend durch die Halle und der junge Herr Graf hinter ihr drein; sie sah sich aber gar nicht nach ihm um, sondern nur immer mit steifem Nacken gerade aus, als der Herr Rittmeister neben mir die Treppe hinabstürmte. Er war so todtenbleich und so zerstört, daß ich ohne die Uniform gar nicht gewußt hätte, er sey es. So wollte er neben der Frau Markise zur Thüre hinaus, aber sie hielt ihn am Arme fest, trat dicht vor ihm und sah ihm starr und fest in die Augen. Da ward er immer bleicher, und zitterte so, und sah aus wie an dem Abende, als er aus der ersten Gesellschaft bei der Frau Gräfin kam. Die Frau Markise sprach französisch zu ihm, und weinte dabei, und lehnte den Kopf an seine Schulter vor allen Bedienten! Ich glaubte es nicht, wenn ich es nicht gesehen hätte.«
»Und er? und er?« fragte ängstlich leise Auguste.
[216] »Nun der Herr Rittmeister stand da und regte sich nicht,« war die Antwort; »er trat sogar ein kleines bischen zurück, wie mir dünkt, aber es half ihm nichts. Die böse Dame, Gott verzeih es mir, aber das ist sie, faßte ihn und drehte ihn plötzlich gegen den jungen Herrn Grafen. Danken Sie diesem Herrn, sprach sie auf einmal auf deutsch, daß er zur Besserung des unartigen Knaben den Herrn Onkel kommen ließ, und dann gehen Sie herauf, bitten Sie ab, küssen Sie die Hand die Sie straft, man wird Ihnen am Ende vergeben und Sie werden auf Ihre Art glücklich seyn. Was aus mir wird, aus meiner gemordeten Ehre, gilt Dir gleich und so auch mir. Ja wahrhaftig, sie hat ihn geduzt, und dann weinte sie und lehnte sich wieder an ihn. Da trat der junge Herr Graf heran, kommen Sie, gnädige Frau, sprach er, Sie geben hier ein Schauspiel, dessen Sie morgen sich schämen werden, und so nahm er ihren Arm und wollte sie an den Wagen führen, aber sie riß sich los. Soll ich vor Ihren Augen um Ihrerwillen mich mißhandeln lassen? rief sie dem[217] Herrn Rittmeister zu. Soll ich den Befehlen dieses Menschen gehorchen, durch dessen Künste ich morgen das Mährchen der Stadt seyn werde? und Sie, um den alles dieses geschieht, sehen gelassen zu? Da ward der Herr Rittmeister so feuerroth als er vorher bleich gewesen war; auch Graf Hippolit ward heftig, und unser gnädiger Herr, der eben zur Thüre hereintrat, sprach auch darein und wollte sie besänftigen, auf spanisch und italienisch, aber es wollte alles nichts helfen. Der Streit ward immer heftiger und mir wurde so angst dabei, daß ich zuletzt auch nicht mehr vernahm, was sie auf deutsch zu einander sagten, bis der junge Herr Graf endlich gelassener wurde und sich verständlich machen konnte. Herr Rittmeister, sagte er, lassen Sie uns eine Scene enden, die schon zu lange gewährt hat und hier doch nicht entschieden werden kann. Morgen bin ich zu jeder Erläuterung bereit. Gut dann, morgen, erwiderte der Rittmeister, und trat ganz nah zu ihm heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf der Herr Graf eine bejahende Verbeugung machte, als wolle er sagen, [218] ich bins zufrieden, und dann fortging. Die Frau Markise that nun ganz ohnmächtig und der Herr Rittmeister mußte sie begleiten, damit sie nicht allein im Wagen wäre. So wurde dann Ruhe, aber gewiß, es war nur zu deutlich zu sehen, die beiden Herren haben so leise nichts gutes mit einander abgemacht.«
»Komm« rief Auguste mit erzwungner Ruhe, »jetzt muß ich zu ihm und wäre er auch bei ihr, ich muß ihn sehen. Ihr Auge flammte, ihre Bewegungen waren fieberhaft und Gabriele kämpfte der Ausführung dieses Gedankens mit aller Macht entgegen. Sie stellte ihr vor, wie mißlich und zweckwidrig jedes Einmischen der Frauen bei Männerstreitigkeiten in der Regel auszufallen pflege, aber sie hätte schwerlich gesiegt, wenn nicht das Rollen eines Wagens in den Hof hinein, Augusten wenigstens für den Augenblick zurückgehalten hätte.
Es war der General, der so ganz mit dem Ausdrucke einer guten Botschaft zu den Frauen hineintrat, daß sie alles geschlichtet und jede Besorgniß für überwunden achten mußten. Doch [219] was den Oheim so freudig machte, war nur die Gewißheit, daß weder Bitten noch Drohen, weder Thränen noch Gründe Adelberten hätten bewegen können, die Markise weiter als bis an die Thüre ihrer Wohnung zu begleiten. Die Gräfin Rosenberg, bei welcher der General, spät wie es war, Zutritt suchte und die freundlichste Aufnahme fand, hatte als Augenzeugin ihn dessen versichert, überdem war sein Zorn gegen Adelberten durch diese Dame um vieles gemildert worden. Mit ihrer gewohnten Klugheit hatte sie dem Oheim alle Künste und Lockungen auf das lebhafteste geschildert, mit welcher Herminia fast unwiderstehlich den Arglosen anzog und festhielt. Die seltne Schönheit der verführerischen Frau, des Neffen früheres Verhältniß zu ihr, Augustens Abwesenheit wurde ebenfalls in Anschlag gebracht, und so gelang es ihr, den Oheim halbversöhnt mit dem Liebling seines Herzens wieder heimzusenden.
»Die Tante ist eine Frau, vor welcher ich alle Achtung habe,« sprach er zu Gabrielen, »Welt und Erfahrung haben sie mild und verständig [220] gemacht. Sie kennt das Leben, und weiß daß Adams Söhne aus gröberem Stoffe geformt wurden als ihr, die ihr doch immer den Engeln näher verwandt seyd als uns, nehmlich, wenn ihr einmal etwas taugt. Die Herminien nehme ich aus, die gehören zu den gefallenen Engeln, vor welchen jeder gute Christ ein Kreuz schlägt. Getrost liebe Nichte! Jugend ist freilich ein strengerer Richter als das Alter, aber ich hoffe doch, der Sünder Adelbert soll Gnade finden wenn er heimkehrt. Und somit gute Nacht. Der heutige Tag hat der Plage genug gehabt, laßt uns Kräfte sammeln für den morgenden, ehe er uns hier überrascht.«
»Und Adelbert? wo ist er?« fragte Gabriele mitleidsvoll, denn Auguste saß da und vermochte keinen Laut aufzubringen.
»Das weiß ich nicht,« erwiderte der General, »wie ich höre hat er weder Freunde noch Bekannte, bei denen man ihn vermuthen könnte, und nachdem ich die Gräfin verlassen, bin ich nach allen Gasthöfen herumgefahren, ihn zu suchen, ich habe schlaftrunkne Portiers und Hausknechte [221] die Menge ins Verhör genommen, aber niemand wollte von ihm etwas wissen. Und wenn ich ihn auch gefunden hätte, was hätte es geholfen? Liebe Frauen, ich will es zugeben, es mag um die Gesetze unsrer Ehre ein barbarisches Ding seyn, aber sie sind für's erste nicht zu ändern. Uebrigens hat er es, wie ich höre, mit einem braven edlen Gegner zu thun, laßt das euern Trost seyn wie er der meinige ist. An das Leben geht es nicht gleich, und ein kleines Andenken an diese Geschichte kann ihm für die Zukunft ganz gesund seyn, wenn es nicht zu arg kommt.«
Die weichen liebenden Herzen der Frauen konnten dieser Ansicht nicht beipflichten, sie schlugen ängstlich und ahnungsvoll in immer wachsender Besorgniß, als auch Moritz bei jetzt ganz hellem Tage heimkehrte.
Der Arme bebte im Fieberfrost und mußte sogleich zu Bette gebracht werden. Seine Nachforschungen waren nicht glücklicher gewesen als die des Generals. Vergebens hatte er Hippoliten in dessen Wohnung aufgesucht, vergebens [222] war er von Haus zu Haus gefahren, wo er nur eine Spur von ihm zu finden hoffen konnte. Endlich war er bis an die Sternwarte gekommen, wo eben der Professor der Astronomie, den er kannte, hinaufstieg, um eine beim Aufgang der Sonne sich ereignende Finsterniß zu beobachten. So wie die Vorliebe für die Astronomie von Moritz gewichen war, hatte er auch solchen Beobachtungen entsagt, aber es kam ihm der große Gedanke: so wie der Tag anbräche, mit Hülfe eines Teleskops alle Thore der Stadt zu bewachen, um zu entdecken, nach welcher Seite Hippolit und Adelbert sich wenden würden, ihr feindseliges Vorhaben auszuführen; denn er vermuthete mit großer Wahrscheinlichkeit, daß sie weder in der Stadt noch bei Nacht ihren Zwist ausfechten könnten. Mit heldenmüthiger Standhaftigkeit begann er auf dem Balkon des Observatoriums seine Beobachtungen der Wege so wie der Tag graute, aber der kalte Morgenthau und die oben herrschende Zugluft griffen ihn nach der durchwachten Nacht und der vorhergegangenen Ermüdung so an, daß er bald seinen Plan aufgeben [223] und mit einem bedeutenden Erkältungsfieber sich nach Hause bringen lassen mußte.
Gleich einer sorglichen Mutter pflegt die Natur ihre leidenden Kinder gern dem allberuhigenden Schlafe in die Arme zu legen, wenn sie sich ausgeweint haben, und auch Auguste war endlich in den schweren todtähnlichen Schlummer völliger Erschöpfung gesunken. Trüb und gedankenschwer blickte die neben ihrem Bette wachende Gabriele in den draußen hellleuchtenden Morgen hinaus, als Annette leise die Thüre öffnete, geheimnißvoll und schweigend ihr winkte, und gleich darauf leicht und unhörbar wie eine Elfe auf den Fußspitzen über den Teppich hineilte und den Platz neben Augusten einnahm, denn ihre Herrin eben verlassen hatte. Gabriele schwankte, einen Augenblick erschrocken, an der Thüre, mit fragendem Blick sah sie das Mädchen an, aber an dem ängstlichen Klopfen ihres eignen Herzens fühlte sie die Unmöglichkeit, lautlos die traurige Nachricht [224] zu vernehmen, die sie zu hören befürchten mußte, und so eilte sie zitternd und stumm die Treppe hinab.
In ihrem Wohnzimmer fand sie Adelberten. Mit dem Ausdrucke der Verzweiflung sank er vor ihr hin, so wie sie hereintrat und umfaßte, tief zur Erde gebeugt, ihre Knie. Sie bebte bei seinem Anblick unwillkührlich zurück, eine Ahnung, der sie nicht Worte zu geben sich getraute, drückte ihr Herz bis zum Stillstehen zusammen; ängstlich blickte sie auf den Trostlosen, der noch immer vor ihr lag und hatte kaum Kräfte genug, ihn aufstehen zu heißen.
»Hier zu den Füßen des Schutzengels, dessen Trost, dessen Hülfe ich auf ewig entsagen muß, lege ich meinen Abschied von jedem Glück nieder, von jeder Freude, von mir selbst! Ich gehe, gleichviel wohin, ich suche das Elend, ich finde es überall fern von Augusten, fern von meinen Kindern,« sprach kaum verständlich Adelbert. Dann sprang er auf, trat einige Schritte von Gabrielen zurück und rief mit wildem Blick und heftig gerungenen Händen: »Nein! nein! es ist [225] nicht möglich. Ich träume, ich will erwachen, ich muß erwachen! Es ist nicht möglich, daß ich selbst mir meinen eignen Himmel so schnöde verschlossen habe. Er war ja mein, er ist es noch, ich will erwachen, ich muß erwachen!«
»Sie sind erwacht. Gottlob Sie sind es,« sprach jetzt Gabriele mild und gefaßt. »Hoffen Sie, haben Sie Vertrauen zu denen die Sie lieben. Das ärgste ist doch nicht geschehen?« setzte Sie mit unsichrer Stimme hinzu. »Kein Blut hoffe ich? – Hippolit?« –
»O hoffen Sie nichts gutes mehr von mir,« unterbrach sie Adelbert mit vor dem Gesicht gefalteten Händen.
Grausen ergriff Gabrielen bei diesen Worten; abgewendeten Blicks wankte sie der Thüre zu, doch er warf sich, sie aufhaltend, ihr in den Weg.
»Nein, ein Mörder bin ich nicht,« rief er, »doch ist es nicht mein Verdienst daß ich es nicht bin. Augustens guter Engel bewahrte mich; der meine nicht; der hat auf ewig sich von mir gewendet!«
[226] »So lebt Hippolit? Sie schlugen sich nicht?« fragte Gabriele.
»Sein Blut floß, es floß von meiner Hand, ich Rasender! Aber er lebt, er wird leben,« rief Adelbert. »Um Augustens Willen wird er leben.«
Lange noch fuhr er fort sich bald zu verdammen, bald sein Geschick anzuklagen, während Gabriele, jetzt selbst beruhigter, sich abmühte, in dem armen umdunkelten Geiste ihres Freundes einen Strahl tröstender Hoffnung zu leiten.
»O bewahren Sie alle Ihre Milde, alle Ihren Trost für Augusten, mich überlassen Sie dem Untergange,« rief er. »Lieben und Verachten! Bezeichnete ich so nicht einst den höchsten Schmerz? Wie wird Auguste ihn tragen? Muß ich denn wünschen, sie möge mein vergessen?«
Gabrielens sanfte Stimme beschwigtigte indessen doch allmählig seine wilde Leidenschaftlichkeit. Sein Herz erwarmte, sein altes Vertrauen erwachte vor ihrer holdseligen Anmuth, und so gelangte er bald dahin, ihr alles zu bekennen. Und wer erst dazu gekommen ist, vor einem [227] Zweiten sich laut anklagen zu können, der beginnt im nehmlichen Moment, halbausgesöhnt mit sich selbst, im eignen Herzen sich leise zu entschuldigen.
Bittre Beschämung, Reue, unaussprechliche Sehnsucht nach seinem ehemaligen glücklichen Leben hatten ihn aus dem Salon hinaus ins Freie getrieben; bekannte Stimmen, welche auf der Straße ihm entgegen kamen, bewogen ihn wieder umzukehren, und die stillere Einsamkeit seines abgelegenen Zimmers aufzusuchen. Dort überraschte ihn geisterhaft Augustens nicht geahnete Gegenwart; mit seinem ganzen Daseyn, sogar mit seinen Sinnen zerfallen, wußte er nicht zu unterscheiden: ob die beschämende Wirklichkeit ihn quäle, oder ob Scheinbilder, durch innres Bewußtseyn ins Daseyn gerufen, ihn irrten? Er floh halb wahnsinnig, mit der Hast des wildesten Entsetzens die Treppe wieder hinab, und am Fuße derselben empfingen ihn Herminiens ungebändigter [228] Zorn, ihre schonungslosen Vorwürfe. Ach! er glaubte in jenem Augenblick diese alle zu verdienen, denn sein Herz lag wie Eis in der wild-bewegten Brust; die Täuschung der Sinne war geschwunden und er fühlte sich zwiefach meineidig, gegen sie wie gegen Augusten. Er hätte die ganze Welt, am liebsten sich selbst in diesem Moment vernichten mögen, in welchem mitten durch den Sturm seines Gemüths noch der zitternde Klagelaut bebte, mit dem Augustens Erscheinung ihm entschwunden war. Hippolits besonnene Klarheit, die sichere Ruhe, mit welcher dieser die schleunige Entfernung der Markise als das zunächst Nothwendigste betrieb, erbitterten den Aufgebrachten noch mehr. In seiner leidenschaftlichen Verworrenheit war ihm alles willkommen, was sich ihm bot, um seiner innern Verzweifelung in verzweiflendem Thun Luft zu machen. Und so ergriff er mit Freuden die jedes Mißverstehn ausgleichen sollenden Worte Hippolits als eine förmliche Ausforderung, die ihm Gelegenheit geben konnte, alle Schuld gegen Herminien wie gegen Augusten mit Blut zu sühnen.
[229] Im Wagen neben Herminien befiel ihn ein unaussprechliches Grauen vor ihr wie vor dem Dämon seines Lebens; vergebens sprach sie ihm zu; er hörte ihre Stimme, ohne ihre Worte zu vernehmen, floh, von einem dumpfen Instinkt geleitet, und ließ sich nicht halten, so wie sie die Thüre ihres Hauses erreicht hatten. Gequält vom ängstlichen Bewußtseyn verdienter Verlassenheit, in wilder Hoffnung auf den folgenden Morgen, irrte er nun heimathlos die ganze Nacht hindurch im Freien umher und strebte nur Hippolits Bild als das eines Feindes festzuhalten. Gleich zerstört von innen und außen, mit jenem Trotz, welcher das innere Bewußtseyn eines Unrechts, das man nicht anzuerkennen fest entschlossen ist, allemal begleitet, betrat er zur bestimmten Stunde um fünf Uhr des Morgens das Zimmer Hippolits, der ruhig und heiter dem Erwarteten entgegen kam.
Ganz anders als der arme Adelbert, hatte dieser die Nacht zugebracht. Zwar war auch sein Blut bei der gestrigen Scene in Wallung gerathen und er hatte deshalb, vom Zorn überwältigt, [230] nicht widersprochen, da sein Erbieten zu jeder Erläuterung ganz anders aufgenommen wurde, als er es eigentlich gemeint hatte; doch in der ruhigen Einsamkeit seines Kabinetts ward er bald Herr seines leicht aufbrausenden Sinnes. Der pünktliche Gehorsam seines Kammerdieners hatte diese Einsamkeit gegen jeden Angriff, besonders gegen Moritzens Nachfragen zu sichern gewußt und so war Hippolit ungestört im ernsten Kampfe mit sich selbst, fähig geworden, dem feindselig zu ihm Eintretenden freundlich-ernst die Hand entgegen zu reichen.
Adelbert stutzte einen Augenblick bei diesem unerwarteten Empfang, dennoch war er weit von dem Gedanken entfernt, die dargebotne Hand zu ergreifen, die er mit erzwungner Kälte, doch nicht auf beleidigende Art ablehnte.
»Herr Graf!« sprach er, so ruhig als es ihm möglich war, »haben Sie die Güte auch für mich ein Pferd sattlen zu lassen, denn Sie begreifen wohl, daß ich jetzt das meinige nicht aus Herrn von Aarheims Stall holen lassen kann.
[231] »Alle meine Pferde stehen zu Ihrem Befehl, Sie sollen die Wahl haben, es sind schöne Thiere darunter, die Ihnen gewiß gefallen werden;« war Hippolits sehr höfliche Antwort. »Doch wäre es nicht besser, den schönen Morgen erst nach der Erläuterung zu genießen, zu welcher ich gestern mich erbot?«
»Ihr kalter Hohn soll mich nicht aus der Fassung bringen,« rief jetzt Adelbert beinahe schäumend vor Wuth. »Kommen Sie dann zu Fuß wenn Sie Ihre Pferde schonen wollen, doch ohne Säumen bitte ich, mich verlangt nach Ihrer sogenannten Erläuterung; mit der schönen Natur halten Sie es späterhin nach Belieben.«
In Hippolits Angesicht flammte bei diesen Worten die glühende Röthe des Zorns auf, doch gelang es ihm schnell, die vorige Fassung wieder zu gewinnen. »Eben deshalb, weil auch ich keine Zeit zu verlieren wünsche, bitte ich, den Ritt bis nach der Erläuterung, die ich Ihnen versprach, zu verschieben,« erwiderte er gelassen. »Nirgend kann ich bequemer sie Ihnen geben als hier.«
[232] »Hier?« rief Adelbert, mit wildem zornigem Lachen, »nun meinetwegen auch. Das Zimmer geht nach dem Hofe zu, in dem engen Raume kommen wir vielleicht um so eher zum Zweck. Nun es sey, auch hier. Wo sind Ihre Pistolen? Ich habe keine mitgebracht, mein rechter Arm vermag zwar nicht mehr, den Säbel zu führen, mit dem linken aber nehm ich es im Schießen mit jedem auf.«
»Hier sind zwei Paar Pistolen, sie sind alle geladen,« sprach Hippolit, indem er sie auf den Tisch legte, dann ging er zur Thüre, schloß ab und steckte den Schlüssel zu sich. »Sie sehen meine Bereitwilligkeit, alle Ihre Forderungen zu erfüllen, Herr Rittmeister! nur eine muß ich bestimmt Ihnen versagen, ich schieße nicht auf Sie, Sie hören mich denn zuvor an. Dann thun Sie, was Ihnen recht deucht. Lassen Sie mich vollenden was ich zu sagen habe,« rief er mit erhobener Stimme, da Adelbert heftig gegen ihn anfuhr, »nur wenige Augenblicke erbitte ich mir, dann können Sie, ich wiederhole es, thun was Sie wollen. Einer Dame zu Gefallen wie die [233] Markise d'Aubincourt ist, schlagen sich Männer wie wir beide nicht; daß dem so sey, liegt in der Erläuterung, die ich Ihnen versprach, klar zu Tage. Und sollten wir uns schlagen, um unsre Tapferkeit zu beweisen? Ihre ehrenwerthen Narben, Herr Rittmeister, überheben Sie dieser Mühe, und obgleich ich leider keine ähnlichen aufzuweisen habe, so verkündet das Gerücht doch zu viel solcher Heldenthaten von mir, wie die ist, zu der Sie mich jetzt auffordern, als daß ich fürchten müßte, in der Welt für feig zu gelten, weil ich erkläre, mich dießmal nicht schlagen zu wollen.«
»Genug, genug der Worte,« unterbrach ihn Adelbert. »Die Zeit entflieht und meine Geduld mit ihr. Haben Sie mich gestern gefordert, warum wollen Sie mir heute nicht Rede stehen? Und war Ihr Versprechen einer Erläuterung keine Ausforderung, nun so fordere ich Sie jetzt, weil Sie es wagen, eine Dame zu lästern, die zu schützen mir, besonders seit dem gestrigen Abend, Pflicht ist. Ihnen gehört jetzt der erste Schuß, ich bin bereit, wählen Sie, hier sind die Pistolen.«
[234] »Nicht eher,« rief Hippolit, »bis Sie den Inhalt des Taschenbuchs untersucht haben, welches dort neben den Pistolen liegt; es enthält die versprochnen Erläuterungen. Und auch dann, ich will Sie nicht betrügen, ich bleibe auf jeden Fall meiner ersten Erklärung treu, ich schieße nicht auf Sie, ich habe Gründe, es nicht zu thun.«
Mit immer steigender, rasender Wuth drang nun Adelbert auf ihn ein, ohne auf ihn zu hören, und wollte ihm ein Pistol aufzwingen, doch Hippolit wehrte ihn ab, indem er bei seiner Erklärung blieb.
»Thun Sie, was Sie wollen,« sprach er endlich, »bleiben Sie meinetwegen dabei, wenn Sie es für Recht halten, meine gestrigen Worte als eine Forderung zu nehmen, der Glaube, es sey so, brachte Sie ja hieher, und ich stelle mich Ihnen, schießen Sie. Nur geben Sie mir Ihr Ehrenwort, das Zimmer nicht zu verlassen, ehe Sie jenes Taschenbuch untersucht haben, und dann geloben Sie mir, den Inhalt desselben vor [235] jedermann auf ewig zu verschweigen. Gewähren Sie mir das.«
Adelbert, vor Zorn bewußtlos, spannte das Pistol. Hippolit stand ihm gegenüber in aufrechter Stellung am Fenster, während Jener der Thüre zuflog. Sein Mund sprach unverständliche Worte, sein Herz klopfte, hörbar bewegt vom wildkochenden Blute, Feuer flammen tanzten vor seinen Augen. »Sie wollen es! Sie wollen es!« schrie er, wie einer, der nicht weiß, daß er spricht, und ohne zu zielen drückte er ab.
Hippolit wankte erbleichend, und sank dann in einem neben ihm stehenden Sessel. »Sie halten Ihr durch die That abgelegtes Versprechen, Sie können nicht eher hinaus, ich habe den Schlüssel und Sie werden keinen Wehrlosen berauben wollen,« sprach er mit leiser Stimme, und hob den linken Arm gegen den Tisch, der rechte, überquellend von Blut, hing bewegungslos herab.
Adelbert stand da wie ein Starrsüchtiger. Fast noch bleicher als der blutende Hippolit, staunte er mit dem Ausdruck völligen Unbewußtseyns [236] ihn an, und hielt dabei das unglückliche Pistol noch immer in drohender Stellung in die Höhe.
»Fassen Sie sich, erfüllen Sie, was ich von Ihnen erbat, Sie sehen, ich blute sehr, und mir kann eher keine Hülfe werden,« sprach Hippolit.
Adelbert schien zu erwachen. Mit einem unterdrückten Schrei des Entsetzens flog er auf den Verwundeten zu.
»Dorthin, das Taschenbuch,« stammelte dieser fast unverständlich und wies immerfort nach dem Tische hin, »lassen Sie mich nicht verbluten.«
In wilder Hast flog jetzt Adelbert an den Tisch, mit zitternden Händen und unstätem Blicke öffnete er das Buch, das Bild Herminiens fiel zuerst ihm entgegen, dann einige Porträte junger Männer, unter ihnen sein eignes, das er ihr gab als er die Universität bezog, auch Briefe quollen den Bildern nach, doch alles flimmerte vor seinen Augen und draußen wurden Hippolits Diener immer lauter vor der verschlossenen[237] Thüre, denn der Knall des Pistols hatte sie herbeigezogen.
»Lassen Sie mich öffnen,« rief endlich bittend Adelbert, »ich kann nicht lesen in dieser Angst, ich will es, ich gelobe es, ich will eher nichts anders unternehmen, aber lassen Sie mich jetzt öffnen.« Hippolit willigte ein.
»Ein Spiel, ein dummes Spiel, wir wußten nicht, daß sie geladen seyen,« stammelte er den erschrocken Eindringenden entgegen und sank dann, vom Blutverlust erschöpft, ohnmächtig hin.
Sein Kammerdiener, der zum Glück zugleich Wundarzt war, begann jetzt die Wunde zu untersuchen und Adelbert erwartete in stummer Angst mit gesenkten Blicken seinen Ausspruch. Die Verletzung war schmerzhaft, bedeutend, doch nicht gefährlich, die Kugel war in den Oberarm gedrungen, aber nur der starke Blutverlust konnte Besorgniß erregen. Die Schmerzen des ersten Verbandes erweckten den Verwundeten aus seiner Ohnmacht; ohne reden zu können, reichte er Adelberten die linke Hand, zeigte aber mals nach [238] dem Tisch, auf welchem das Taschenbuch lag, und schloß dann ermattet die Augen wieder.
Adelbert versuchte zu halten, was er versprochen hatte, er ergriff das Buch, aber die Luft im Zimmer, der Anblick Hippolits, der mit geschlossnen Augen wie ein Todter auf dem Ruhebett lag, beraubten ihn aller Besinnung; in zitternder Hast, ohne eigentlich zu wissen, was er that, raffte er Buch, Gemälde, Briefe, alles zusammen, und floh damit hinaus, zum Zimmer, zum Hause, zur Stadt hinaus. Erst in der lautlosen Einsamkeit eines abgelegnen, um diese Tageszeit ganz unbesuchten Lustwäldchens fand er sich wieder.
Der gestrige Abend, die darauf zum Theil an dieser nehmlichen Stelle durchwachte lange Nacht, und die eben durchlebten wildbewegten Morgenstunden gingen, nach und nach heller werdend, an ihm vorüber; ihn hatte alles ein wüster Traum gedünkt, nur das Taschenbuch, gegen welches sein Herz in heftiger Bewegung anschlug, war ihm ein beängstender Zeuge der Wahrheit. Abermals ergriff und öffnete er das [239] Buch; eine heiße Thräne entfiel seinem Auge als er sein Jugendbild betrachtete, dessen reine von keiner Leidenschaft entstellten Züge ihn mit kindlicher Himmelsseligkeit anlächelten. Es war so wenig ihm noch ähnlich, daß Hippolit ihn wahrscheinlich nie darin wieder erkannt hatte.
»Ja so war ich! Auch sie war so!« seufzte er und verhüllte die brennenden Augen im thauigen Grase und weinte laut. Er gedachte jener Zeit, da er, fast noch ein Knabe, dieß Bild heimlich malen ließ; er gedachte der Freude, mit der Herminia es empfing und wie sie gelobte, allen fremden Augen verborgen, es ewig auf ihrem Herzen zu tragen. Endlich ermannte er sich wieder, und begann nun ernstlich, die im Taschenbuch vorgefundnen Briefe zu untersuchen.
Der erste, der ihm in die Hände fiel, war von Herminien an Hippolit. Er hatte das Geschenk sämmtlicher Porträte, das von Adelbert mit eingeschlossen, begleitet. Sie wollte, schrieb sie, durch dieses Opfer Hippoliten, dem Einzigen, den sie geliebt habe und lieben könne, jeden Argwohn benehmen, als ob sie noch in irgend [240] einer Art von Verbindung mit einem jener Männer wäre, die sie freilich einst, ehe sie Ihn erblickt, zu lieben geglaubt habe. Mit ächt französischer Leichtigkeit, unübertrefflichem Witz und hinreißender Lebendigkeit gab sie ihm die Schilderung der moralischen Eigenschaften und Eigenheiten der Originale, als Zugabe zu jenen Porträten. Vor allem aber hielt sie sich lange bei der Geschichte ihrer ersten Liebe auf. Ohne ihn zu nennen, malte sie Adelberten, recht ausgelassen muthwillig, zuerst als eine Art von zärtlichem Jocrise, im langen Kinderrock, hernach als sentimentalen, invaliden Bramarbas. Auch sich selbst vergaß sie nicht, und spottend schilderte sie sich in ihrer damaligen ländlichen Naivität und Einfalt. Sie wußte dabei doch sehr geschickt sich durch manche liebenswürdige Schwäche, durch manches reizende Detail interessant zu zeigen, während sie sich das Ansehen gab, sich über sich selbst lustig machen zu wollen. Versicherungen ihrer unwandelbaren, ewigen Liebe, fast in den nehmlichen zärtlichen Worten, in den nehmlichen Wendungen, deren sie unzähligemal auch gegen [241] Adelberten sich bedient hatte; Eifersüchtleien, Klagen, tausend Neckereien füllten viele Seiten der übrigen Briefe an Hippoliten an. Andre waren von den Originalen jener Porträte, mit denen sie ehemals in zärtlichem Verhältniß gestanden, die sie mit den Bildnissen zugleich Hippoliten überliefert hatte. Alle waren so viel Beweise eines sehr frivolen, ja man möchte sagen, eines zügellosen Lebens.
Adelbert mochte bald nicht weiter lesen. Das Unwahre in Herminiens Wesen eckelte ihn unbeschreiblich an; die Thorheit des ungeheuern Opfers, welches er dieser Unwürdigen gebracht hatte, fiel mit Zentnerlast ihm aufs Herz. Er fühlte sich plötzlich von ihr losgerissen, frei auf ewig. Aber das Gefühl dieser Freiheit glich dem des Gefangenen, der, dem Kerker entlassen, vor der Thüre desselben steht, ohne Heimath, ohne Freund, ohne in der ganzen weiten Welt eine menschliche Seele zu wissen, zu der er sagen dürfe, nimm mich auf, denn ich gehöre dir an. Leidenschaftlich in allem, auch in der Reue, glaubte er im Uebermaaß derselben, daß sein Hauch nie wieder [242] mit der reinen Luft sich einen dürfe, in der Auguste, in der seine Kinder athmeten. Er beschloß in seiner Verzweiflung, auf immer aus ihrer Nähe sich zu verbannen, nie wieder sollte der Klang seiner Stimme Augustens Ohr verwunden, nie ihr Auge mit Abscheu von seinem Anblicke sich wenden müssen. Doch so ganz ohne Spur zu verschwinden, ohne alles Lebewohl, ohne allen Segen in die Wüsten des Lebens hinaus zu gehen, diese Aufgabe ward seinem liebegewohntem Herzen doch zu schwer, und dieß Gefühl hatte ihn mit allen seinen Klagen zu Gabrielens Füßen geführt.
Noch immer bekämpfte diese seinen wilden Schmerz, und wandte, wenn gleich fast hoffnungslos, alles an, ihn von dem Vorsatz zur Flucht abzubringen, als der General Lichtenfels zu ihnen hereintrat. Ernst, wenn gleich nicht zürnend, ruhte sein Blick eine stumme Minute lang auf Adelberten, der vor dem Gefürchteten sich gern in den Mittelpunkt der Erde verborgen hätte; dann aber trat ein feuchter Schimmer in das milder werdende Auge des edlen Greises.[243] »Komm!« sprach er, und schloß den beinahe Widerstrebenden fest an seine Brust. »Komm, hier trug ich den Knaben, hier ruhtest Du wundenmatt, nach ehrenvollem Kampf, dem Tode nah. Hier weintest Du im schönen Schmerz um die gesunknen Hoffnungen Deiner Jugend, hier ist auch jetzt noch Dein Platz. Du warst ja immer das Kind meines Herzens; welcher Vater wird sein Kind von sich stoßen, weil es fiel? Komm, ich helfe Dir auf, und dann wollen wir beide frisch ans Werk, um zu retten, zu bessern, wieder herzustellen; Gott wird uns helfen.«
Vergebens strebte Adelbert in den Armen des Generals sein übervolles Herz in verständlichen Worten vor ihm auszuschütten. »Sey ruhig,« sprach dieser, »ich weiß alles, Du hast mir nichts zu bekennen. Ich komme von Deinem edlen Gegner, er leidet viel, doch hoffentlich ohne Gefahr. Nur der heftige Blutverlust kann seine Heilung verzögern, die Kugel hat eine Ader zerrissen und er blieb lange ohne Hülfe.«
Adelbert versuchte abermals zu reden, doch der General verhinderte es, indem er nochmals [244] versicherte, die Gräfin Rosenberg und Hippolit hätten ihm alles erklärt. »Ich kenne den ganzen Umfang Deiner Schuld,« sprach er, »aber ich weiß auch was sie mildert. Der Graf wollte freilich anfangs auch mir, wie seinen Leuten, aus eurem Duell ein Geheimniß machen,« –
»Duell?« unterbrach jetzt Adelbert den General, »Duell nennt er es? meine That ist Mord, meuchelmörderisch überfiel ich ihn, der wehrlos vor mir stand« –
»Laß das,« erwiderte der General, »Du wußtest diesen Morgen eben so wenig was Du thatest, als ich gestern Abend wußte was ich that. Zorn und Ueberraschung sind gefährliche Feinde, die uns, auf das Mildeste genommen, zu wenigstens dummen Streichen verleiten, deren man hernach Zeitlebens sich zu schämen hat. Das haben wir beide erfahren, ich gestern, Du heute. Jetzt stehe ich aber als Abgesandter des Grafen vor Dir, durch mich fordert er zurück was er Deiner Ehre vertraute, und erinnert Dich nochmals an das heilige Versprechen ewigen Schweigens über diesen Gegenstand. Ich lese [245] in Deinen und Frau von Aarheims Blicken, daß Du es bei ihr schon jetzt vergessen hast,« sprach nach einer kleinen Pause der General, beide mit prüfendem Blick betrachtend. »Es ist nicht recht, aber auch dießmal noch mag der Zustand Deines Gemüths Dich entschuldigen. Unsere edle Freundin ist unfähig, ihre Kenntniß eines solchen Geheimnisses zu mißbrauchen, darum übergieb ihr jetzt getrost das Buch, so kommt es am sichersten in die Hände seines Eigenthümers. Gabriele wird gewiß nicht den reinen Blick mit dessen leidigen Inhalt besudeln wollen. Und nun komm, alles ist bereit, wir gehen mit einander auf Reisen. Unsere hollsteinischen Güter entbehren schon lange unsrer Gegenwart, dort wollen wir hin. Es ist gut, daß Du jetzt Augusten noch nicht wieder siehst; eigentlich verdienst Du es auch noch nicht, also ohne Abschied, Gabriele und Deine Kinder werden Dich indessen schon bei ihr vertreten und Deine Fürsprecher seyn.«
Gabriele versuchte es, hierin dem General einzureden, doch er verhinderte sie daran mit sanfter Gewalt. »Schöne, gute Frau!« sprach [246] er, »ich weiß, im Grunde Ihres Herzens billigen Sie mein Vorhaben, warum denn versuchen, gegen Ihre eigne Ueberzeugung mich eines andern überreden zu wollen? Wir sollten das nie; es kommt davon so vieles Ueble in der Welt, und dennoch lassen sich auch die Besten und Klügsten unter uns nur zu oft von ihrem Gefühl dazu hinreißen. Von Ihnen aber weiß ich, daß Sie über diese Schwäche erhaben sind, sobald Sie sich nur recht besinnen wollen. Jetzt lege ich Augustens armes, wundes Herz an das Ihrige, und reise in dieser Hinsicht getrost, Sie werden es zu heilen wissen, wenn es geheilt werden kann. Ich komme von ihr, sie schläft noch. Armes Kind! Körper und Geist sind todt-müde, denn wir sind zwei Nächte hinter einander durchreiset; ich und ihre Liebe ließen ihr keine Rast, und so wollen wir ihr die Erholung gönnen, welche die Natur gütig ihr gewährt. Morgen bringt eine Staffette Ihnen die erste Nachricht von uns; Auguste wird sich um Adelberts Geschick beruhigen, wenn sie ihn bei mir weiß. Uebrigens reisen wir Tag und Nacht bis wir [247] über die Gränze hinaus sind, denn die Polizei könnte doch wohl Lust bekommen, sich nach dem von ungefähr losgegangnen Pistol zu erkundigen, darum fort, fort, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Mit diesen Worten zog er Adelberten sich nach, der wie im bewußtlosen Traume ihm folgte, Gabriele blieb einsam zurück. Beinahe nicht minder betäubt als er, starrte sie gedankenlos vor sich hin, bis Annette sie mit der Nachricht ins thätige Leben zurückrief, daß Auguste erwacht sey und sehnlichst nach ihr verlange.
In stiller Ergebung betrachtete Auguste ihr Geschick, so wie allmählig die Hand der Freundschaft den Schleier sorgsam lüftete, der so lange nur in verworrner Gestaltung es ihr gezeigt hatte. Dann aber begann sie auch recht innig in ihre ländliche Einsamkeit, zu ihrer Mutter, zu ihren Kindern sich zurück zu sehnen. Sie hatte noch immer manchen harten Kampf mit ihrem Herzen [248] zu bestehen, so fern auch alle Bitterkeit ihr war und blieb. Mit dem Glauben an Adelberts unerschütterliche Liebe, an seine felsenfeste Treue, war ihr auch die Ruhe verloren gegangen, mit der sie bis dahin der süßen Gewohnheit, glücklich zu seyn, sich hingegeben hatte, ohne weder über ihr Glück noch über die Möglichkeit, daß es anders werden könne, nachzudenken. Es konnte noch alles gut werden, das fühlte sie, das hoffte sie, darum betete sie mit Inbrunst; doch wie konnte es so werden wie es gewesen war? Und dieß Gefühl mußte ihr Gemüth mit einer Sehnsucht, einer stillen Trauer erfüllen, welche nur der Anblick ihrer Kinder zu mildern vermochte. In ihnen lebte ja noch der Adelbert, den ihr Herz, trotz alles Gegenstrebens ihres Verstandes, dennoch verloren geben mußte.
Adelberts Briefe, voll des Ausdrucks der tiefsten Reue, betrübten ihr Gemüth statt es zu trösten. Die glühende Leidenschaftlichkeit, mit der er Augusten zu einem engelgleichen Wesen erhob, von dem er in tiefer Selbstzerknirschung nur Mitleid erflehte, während er sich ihrer Liebe [249] und ihrer Achtung auf ewig für unwerth erklärte, konnte ihre Aussicht in die Zukunft nicht erheitern. Nur des Generals Ansicht ihrer und Adelberts Lage, die er in seinen Briefen ihr offen mittheilte, gewährten ihr einigen Trost. Sein Ermuntern zum Rechten, Vorstellen dessen, was ihr oblag zu dulden und zu vollbringen, stälten ihren Muth. Ihr Blick erheiterte sich, wenn sie las, wie kräftig er Adelberts, durch frühen Schmerz entnervtes Gemüth aufzurichten strebe, wie er durch Thätigkeit ihn zu zerstreuen und aus seiner jetzigen trostlosen Versunkenheit wieder empor zu richten suche, und wie er alles anwende, um ihm nur wieder zum Vertrauen in sich selbst zu verhelfen.
»Der Zustand unsrer hiesigen, durch unsre jahrelange Abwesenheit sehr verwahrloseten Besitzungen gewähren ein weites, fast unabsehbares Feld zur Arbeit,« schrieb ihr der General, »und somit lasse ich unsern Adelbert vor lauter Thätigkeit kaum zu Athem kommen. Morgens, mit Sonnenaufgang, ziehn wir hinaus in Feld und Wald, Abends giebts zu richten und zu schlichten, nachzurechnen, Papiere zu ordnen,[250] bis in die sinkende Nacht. Da müssen die Grillen ihm verschwinden, denn ihm bleibt keine Zeit weder sie zu fangen noch zu pflegen. Muthig, liebe Auguste! laß Du mich nur gewähren, sobald es Zeit ist, bringe ich ihn gesund und geheilt, von innen und aussen, zu Deinen Füßen hin, und Du gute weiche Seele wirst ihn dann wieder an Deinen Busen nehmen, das weiß ich, und fürchte nicht Deine Strenge, sondern nur Deine Milde, die mir ihn wieder verderben könnte.«
Augusten nach Lichtenfels zu begleiten, wäre Gabrielens sehnlichster Wunsch gewesen, als endlich der Tag der Trennung herbeikam; doch Herrn von Aarheims fortdauernde Kränklichkeit erforderte ihre stete Gegenwart. Seit jener auf der Sternwarte thörigt durchwachten Nacht plagten ihn Rheumatism und alle Uebel, welche diesen Unhold in tausendfacher Gestalt zu begleiten pflegen. Gabrielens mitleidige Geduld vermochte es kaum, alle die mannigfaltigen Wunderlichkeiten und Launen zu ertragen, mit denen der grämlichste und unleidlichste aller Kranken, zu jeder[251] Stunde des Tages, zuweilen auch der Nacht, sie quälte. Die Besuche, welche anfangs über manche lange Schmerzensstunde ihr hinüberhalfen, blieben nach und nach aus, denn sein böser Humor verscheuchte alle, die nicht, wie Gabriele, durch Pflichtgefühl gebunden, bei ihm ausharren mußten. Hippolit, der Einzige, der die Langeweile von der Moritz sich hauptsächlich geplagt fühlte, hätte verscheuchen können, befand sich selbst noch leidend. Mehrere Wochen waren seit dem Vorgange zwischen ihm und Adelberten vergangen, und noch immer durfte er das Zimmer nicht verlassen. Gabriele hatte noch in keiner Lage ihres Lebens sich so ganz auf sich selbst zurückgewiesen gefühlt, selbst nicht am Rhein, wo frische lebendige Thätigkeit ihre tiefe Einsamkeit erheiterte. Sogar die Tante hatte sie verlassen; um der Markise auszuweichen, war sie am Tage nach der Konzert-Scene nach einem nicht weit entfernten Badeorte gereist, obgleich noch vor der eigentlichen glänzenden Kurzeit. Ein kaltes höfliches Billet hatte einstweilen Herminien deren Antheil an der gemeinschaftlichen Wohnung aufgekündigt, [252] denn diese war nur im Namen der Gräfin Rosenberg dem Eigner abgemiethet worden.
Die Markise aber eilte sich eben nicht, von dieser Aufkündigung Notitz zu nehmen, sondern verweilte noch mehrere Wochen als einzige Bewohnerin des Hauses, in anscheinend vollkommner Ruhe. Sie zeigte während dieser Zeit sich weit öftrer als sonst im Theater und bei andern öffentlichen Vergnügungen, auch suchte sie auf andre Weise, durch vielfältig ausgesendete Einladungen zu glänzenden Festen, die öffentliche Meinung irre zu leiten, oder auch zu braviren, doch gelang ihr dieses nur bei sehr wenigen Mitgliedern der Gesellschaft. Obendrein gehörten diese wenigen nicht zu denen, deren Beispiel auf die übrigen Einfluß haben konnte. Nie hatte es so viel Migränen und Katarrhe in der Residenz gegeben, als an den Abenden, wo die Markise einen recht glänzenden Kreis um sich her zu versammeln gedachte. So mußte Sie es bald müde werden, in ihren hell erleuchteten, aber spärlich bevölkerten Sälen ihre kleinen Koketterien zu üben, und Unmuth und Ueberdruß bewogen sie [253] endlich, Paris, den einzigen Schauplatz wieder aufzusuchen, auf dem ihre glänzende Erscheinung gehörig gewürdigt werden konnte. Kein sehnender Blick folgte ihr dorthin, wo sie wie ein strahlendes Meteor wieder in den Strudel versank, dem sie, weder sich noch Andern zum Heil, auf kurze Zeit entstiegen war.
Müde und erschöpft von einer zum größten Theil am Schmerzenslager ihres Gemahls durchwachten Nacht, saß Gabriele nach kurzem unerfreulichen Schlummer in der Jelängerjelieber-Laube des kleinen Gartens am Hause, dem einzigen Orte, wo es ihr jetzt vergönnt war, des im höchsten Schmucke prangenden Frühlings sich zu erfreuen. Alles um sie her funkelte und blitzte im Sonnenstrahl von Diamanten, die ein warmer Frühregen verschwenderisch gestreut hatte; ihre Rosen flammten in höchster Blüthenpracht, fast sichtbar stieg der Opferduft von den Lilien und tausend andern Blumen, die in üppiger [254] Fülle ihre Beete schmückten, zum Himmel auf, und mischte sich in den noch berauschendern Wohlgeruch der hohen Orangenbäume, die auf dem Rasenplatz vor der Laube lichte Schatten streuten. Endlich einmal entronnen der ängstlich beklommenen Atmosphäre des dunkeln Zimmers, in der sie jetzt den größten Theil des Tages, unter dem ungeduldigen Klagen ihres Kranken verleben mußte, athmete hier die arme Gabriele mit vollen Zügen neues Leben und Erquickung. Allmählig überschlich sie jene stille Sehnsucht, jener wonnige Frühlingsschmerz, der das Auge mit süßen Thränen füllt und das Herz rascher pulsiren macht. Sie gedachte ihrer ersten Jugend, ferne Gestalten gingen an ihr vorüber, und sie versank in immer lieberes Träumen, von ihrer Mutter, von Ernesto, von Ottokar. Dann gedachte sie auch des jungen Freundes, der so keck das Leben daran gesetzt hatte und alle Vorurtheile seiner Jugend, seines Standes, ja das eigne Gemüth mit eigensinniger Entsagung überwand, um einen ihm fast fremden Mann aus einem gefährlichen Traume zu er wecken. Diese That Hippolits war ihr immer [255] im romantischen Licht eines Heldenmuths erschienen, den sie sehr geneigt war übertrieben zu nennen und dessen Aeußerung gerade auf diese Weise in dem feurigen, sonst alle Schranken so gern durchbrechenden Jüngling, ihr unerklärlich blieb, so oft sie auch schon darüber nachgedacht haben mochte. Seit seiner Verwundung hatte sie ihn nicht wieder gesehen, doch ließ sie täglich mehreremale Nachricht von ihm einziehen, denn Moritz sehnte sich stündlich nach seiner erheiternden Gegenwart, und auch sie vermißte oft ihren Edelknaben.
Ein leichtes Geräusch weckte endlich die Träumerin aus ihrem fast wortlosen Sinnen; sie blickte auf und an einer großen Zipresse gelehnt, stand dicht vor der Laube Hippolit selbst, die dunkeln blitzenden Augen auf sie geheftet. Das selige Lächeln eines Verklärten umspielte die bleichen Lippen und der Ausdruck langer körperlicher Leiden gaben der sonst so lebenskräftigen jugendlichen Gestalt etwas unbeschreiblich Rührendes. Ihn erblicken und mit einem hellen freudigen Ausruf ihm entgegen treten, war das Werk des ersten [256] Moments, während er, wie überwältigt von der Seligkeit desselben, vor ihr auf das Knie sank und die Hand, welche sie ihm bewillkommend gereicht hatte, mit Feuerküssen bedeckte.
»So! so! begrüße ich das neue Leben! Hier begrüße ich die Sonne, die ich so lange entbehrte!« rief Hippolit, wie außer sich vor Entzücken.
»Unvorsichtiger!« schalt freundlich und bewegt Gabriele, »Sie sind noch krank, Ihre Lippen brennen heiß; wie konnten Sie in diesem Zustande sich auswagen? Wahrlich Sie sind im Fieber, Ihr ganzes Wesen ist so unnatürlich gereizt, ruhen Sie, ich bitte, ruhen Sie aus,« sprach sie beinahe ängstlich werdend, und bemühte sich ihm aufzuhelfen.
»Mir ist wohl, mir ist unnennbar wohl, freilich meinem Arzt entsprungen, und – mir ist unaussprechlich wohl,« stammelte Hippolit, ward immer bleicher und sank endlich mit geschloßnen Augen in den Sessel, aus welchem Gabriele bei seinem Eintritt aufgesprungen war. Sie wollte fort, sie wollte Hülfe herbeirufen, doch er hielt mit übernatürlicher Kraft ihre Hand fest umschlossen; [257] auch öffnete er nach wenigen Sekunden die Augen wieder, und athmete hoch auf, sichtbar sich erholend.
»Zürnen Sie nicht, schelten Sie nicht,« bat er, »daß ich die schöne warme Sonne, den blauen Himmel, nicht länger nur aus dem Fenster ansehen mochte. Ihre Pappeln dort am Bassin sind Schuld. Ganz in der Ferne sehe ich von meinem Zimmer aus ihre Wipfel, das einzige Grün weit umher. Stundenlang habe ich während meiner Krankheit sie betrachtet, sie allein verkündeten mir den Sommer, und wenn der Wind in den schlanken Zweigen spielte war mir, als ob sie von Ihnen mir erzählen wollten. Heute, heute regten sie sich und nickten und winkten so sehr und die Nachtigall vor meinem Fenster sang so schmerzliche Sehnsucht, es war nicht länger zu ertragen; ich öffnete ihr den Käfig und sie und ich, wir flogen beide auf und davon. Hier werde ich genesen, glauben Sie mir es nur, hier athme ich Lebensluft.«
Gabriele waltete ämsig und arglos geschäftig um ihn her, während er so sich zu entschuldigen [258] suchte, recht wie ein sorgliches Mütterchen um ihr liebes krankes Kind. Sie breitete ihren Shawl an den Zweigen der Laube aus, um ihn gegen das Sommerlüftchen zu schützen, das draussen sanft und linde die Blumen und Blüthen umspielte; aus einem Körbchen mit Orangen, welches zufällig neben ihr stand, wählte und bereitete sie zu seiner Erquickung die süßeste Frucht, dann brachte sie ihm die schönsten Rosen herbei, es war als wolle sie ihn in diesem Moment für alle Entbehrungen der schönen Tage entschädigen, die der Arme, im dumpfen Zimmer eingekerkert, hatte verleben müssen. Nach Frauen Art vergaß sie in ihrer Geschäftigkeit beinahe, wer der Gegenstand ihrer sorgsamen Pflege eigentlich sey und Hippolit saß still und selig da, ließ sich alles gefallen und hütete sich wohl, diese schönen Augenblicke durch ein unbedachtes Wort sich zu verkümmern.
Inzwischen war unter ihnen beiden doch eine Art von zusammenhängendem Gespräch aufgekommen. Gabriele erzählte von Augustens jetzigem Leben, und wie alle Hoffnung da sey, daß Adelbert [259] in Liebe und Thätigkeit wieder genesen und zu sich selbst kommen werde.
»Das alles danken wir Ihnen, Ihrem uns Allen unbegreiflichen Heldenmuthe. Sie sind ein Kronenwerther Sieger,« sprach sie und blickte mit unbeschreiblicher Freundlichkeit ihn an. »Den schwersten aller Siege, den über sich selbst, haben Sie errungen. Doch gestehen Sie mir, was konnte Sie bewegen, des Mannes, der mit so unerträglichem Trotz Sie zu beleidigen suchte, mit so fast eigensinnigem Unbedacht zu schonen und Ihr eignes Leben einem Rasenden wehrlos in die Hände zu geben? Adelbert war Ihnen kaum ein Bekannter, und für einen solchen wagten und ertrugen Sie das Unglaubliche, das fast Unmögliche, um ihn sich und den Seinen, die Sie noch weniger kannten als ihn, am Rande des Unterganges zu retten! Die Welt wird diese That eben so wenig zu würdigen wissen, als wir, Ihre Freunde, sie verstehen, obgleich wir sie bewundern, wärs auch nur der Seltenheit wegen. Gestehen Sie es mir im Vertrauen, lieber Hippolit, [260] was bewog Sie zu diesem ungeheuern, unglaublichen Opfer?«
»Sie fragen im Ernst?« erwiderte gelassen Hippolit. »Konnte ich denn anders? Sie selbst schwebten ja immer zwischen ihm und mir, da mußte er ja wohl sicher seyn. Wie hätte ich nach dem Leben des Gemahls einer Frau zielen können, die Gabrielen so werth ist, deren Leiden und Freuden sie wie die eignen empfindet! Wäre er gefallen, hätte ich ja Sie betrübt.«
Eine schöne Perl stieg bei dieser unerwarteten Erklärung in Gabrielens helles Auge. Sie wollte sprechen, aber der Athem versagte ihrer bewegten Brust. Lächelnd durch Thränen, wie ein seliger Engel, trat sie endlich ganz nah vor Hippoliten hin, strich mit sanfter Hand ihm die dunklen Locken zurück und hauchte einen leisen, kaum fühlbaren Kuß ihm auf die Stirne. Ihre Lippen bewegten sich, im Begriff ihm etwas recht freundliches zu sagen, aber sie bebte erschrocken zurück da sie ihn ansah. Sein eben noch so bleiches Gesicht flammte in dunkler Purpurröthe, seine Augen blitzten wie verzehrendes Feuer, er[261] machte eine Bewegung, als wolle er sie umfassen, sie an seine ungestüm wogende Brust drücken, und riß sich im nehmlichen Moment mit sichtbarer Gewalt von ihr los und floh bis in die fernste Ecke der Laube. Dort warf er sich auf die Knie nieder; sich selbst unbewußt, hatte er den verwundeten Arm aus der ihn stützenden Binde gezogen, und hob nun in flehender Stellung beide Hände zu ihr auf.
»Nein, nein,« rief er wie ausser sich, »dieß Uebermaaß von Wonne und Schmerz erträgt keine menschliche Brust!« Und nun ergoß sich sein übervolles Herz im glühendsten Ausbruch einer Leidenschaft, die in diesem Moment der seligsten Pein, in wüthenden verzehrenden Flammen hell aufloderte und sich nicht mehr bändigen lassen wollte.
Zitternd vor Schrecken blickte ihn Gabriele eine Weile an, ehe sie Fassung genug gewann, ihm zu antworten. »Stehen Sie auf, Graf Hippolit,« sprach sie endlich sehr ernst, »vergessen Sie den kranken Arm nicht; wahrlich ich sehe immer mehr, wie Unrecht Sie thaten, schon heut [262] das Haus zu verlassen. Kehren Sie heim, armer Kranker!« setzte sie nach einer kleinen Pause etwas milder hinzu, »ich will es nicht verbergen, Sie haben mich erschreckt, doch das ist schon vorüber; die Ruhe wird Ihnen wohlthun, es soll sogleich eine Sänfte geholt werden.«
»Gabriele, Gabriele! wenn Sie jetzt mich fortschicken, werde ich Sie nie wieder sehen dürfen, ich ahne es,« rief Hippolit; »ich verdiene Ihren Zorn; lange, lange habe ich geschwiegen, weil ich ihn fürchtete. Glauben Sie mir, ich habe mich bekämpft, ich wollte ewig schweigen, kein Hauch, kein Wink sollte das Geheimniß meines Lebens verrathen, damit Sie nur ferner mich um sich dulden möchten, damit ich nur ferner Ihre süße Stimme hören, im Strahl Ihrer lieben Augen den Himmel erblicken könne, ich erlaubte mir ja keinen größern Wunsch. Ich wollte ja nichts hoffen, nichts erflehen; das wilde Toben hier sollte sich Ihnen nie zeigen. Ein einziger unbewachter Augenblick hat mich verrathen, und nun darf ich nie wieder vor Ihnen erscheinen, ich weiß es wohl, ich bin verbannt!«
[263] Gabriele sprach in milden Worten zu ihm; er hörte sie wohl, doch er verstand sie nicht, er konnte nur den Gedanken fassen, sie beleidigt, ihren Zorn erregt zu haben.
»Wie werde ich künftig leben können!« rief er. »Entfernung von Gabrielen ist Tod, ist Hölle, das fühlte ich jeden Abend in meiner Einsamkeit wenn ich Ihre Schwelle verlassen hatte. Und nun gehe ich ganz hoffnungslos, kein Morgen kommt, wo ich mir sagen kann, ich werde Sie wieder sehen. O Gabriele! O gnädige Frau! muß es denn seyn? ich will ja ewig schweigen, ich will ja nichts, als was Sie dem Würmchen dort auf dem Grashalm, der Mücke hier in der Luft auch gewähren, nur sehen, nur dulden sollen. Sie mich, und wenn gleich nicht freundlich wie sonst, nur ohne Zorn.
Endlich gewann Gabriele einen Augenblick, sich verständlich zu machen. »Graf Hippolit,« sprach sie sehr ruhig gefaßt, »Sie verkennen sich und mich, und Ihr eignes Gefühl. Daß Sie dieses bald selbst einsehen werden, weiß ich gewiß. Für jetzt bitte ich Sie ernstlich, beruhigen [264] Sie sich, ich zürne nicht, ich vergesse von heut an die wilden Ausbrüche, zu welchen gereizte Fantasie den Kranken verleitete; ich wünsche daß auch Sie dieses thun mögen; nur so allein kann unser ruhiges freundliches Verstehen ungetrübt bleiben. Kehren Sie jetzt heim, und lassen Sie Ihre völlige Widerherstellung einstweilen Ihre erste größte Sorge seyn. Leben Sie wohl.«
»Sagen Sie nur, daß ich Sie wieder sehen werde,« flehte Hippolit in demüthiger Entfernung.
»Darf ich denn mit meinem jungen Freunde so streng ins Gericht gehen? kann ich es denn vergessen, daß Sie für das Glück meiner Auguste Ihr Leben wagten?« erwiderte ihm Gabriele.
Ein Bedienter unterbrach sie, er kam, um Hippoliten zu Herrn von Aarheim zu rufen. Dieser hatte bei seinem Erwachen dessen Anwesenheit im Garten erfahren und drang nun mit kränklicher Hast darauf, ihn augenblicklich bei sich zu sehen.
[265] »Jetzt? jetzt? in dieser Minute? Nimmermehr! jetzt nicht, jetzt kann ich nicht zu ihm,« rief Hippolit, bald erglühend bald erbleichend.
»Nein, Sie können und dürfen es auch Ihrer Gesundheit wegen nicht, und ich selbst will dieses ihm erklären,« erwiderte Gabriele, gab dann schnell dem Bedienten Befehl, den Grafen in einer Sänfte nach Hause zu geleiten und ergriff die Gelegenheit, mit leichtem Gruß an ihm vorüber zu eilen, um Moritzen über sein Nichterscheinen zu beruhigen.
Sie verschwand bald unter den Säulen der Vorhalle, und Hippolit starrte noch immer ihr nach. Er fühlte nicht, daß die Binde wieder um den verwundeten Arm gelegt ward, er merkte kaum, daß man dem Ausgange des Gartens ihn zuführte. Nur als er zu Hause in seinem eignen Zimmer, aus den Fenstern desselben, Gabrielens Pappeln wieder ganz in der Ferne erblickte, nur da kam ein lichter Gedanke an die zunächst vergangne Stunde in ihm auf. Ein schnell aufsteigendes Wetter thürmte sich schwarz und drohend [266] hinter Gabrielens Garten am Himmel empor, schon fielen einzelne große Regentropfen schwer herab und die schlanken Wipfel der Pappeln beugten sich tief vor dem plötzlich sich erhebenden Gewittersturm. Mit bangem vorahnenden Herzen starrte Hippolit in den Aufruhr der Natur, der über Gabrielens Wohnung herein brechen zu wollen schien, als die Sonne die Wolken zerriß. Die Regentropfen wandelten sich in glänzend flüssiges Silber, und hoch über den Pappeln wölbte sich prächtig der leichte Farbenbogen des Friedens und der Hoffnung.
Mit so anscheinender Kälte Gabriele auch immer die unerwartete Erklärung ihres jungen Freundes aufgenommen haben mochte, in ihrem Innern fühlte sie sich doch dabei von Mitleid, Schrecken und zürnendem Erstaunen bewegt. Vergebens versuchte sie das ganze unangenehme Ereigniß zu vergessen, sie konnte sich nicht enthalten [267] in der Einsamkeit darüber nachzudenken. Seit Jahren hatte nichts ihre Ruhe in dem Gräde erschüttert, es war ihr als laste seit jener Minute ein innrer Vorwurf auf ihrem Gemüthe und doch war es ihr unmöglich, zu entdecken, wo und wie sie gefehlt habe.
Mißmüthig über dieses beängstigende Empfinden, ergriff sie endlich die Feder, um sich gegen Frau von Willnangen über den Vorgang auszusprechen der es veranlaßte, und so vielleicht auch mit sich selbst darüber ins Reine zu kommen. Doch kaum hatte sie einige Zeilen geschrieben, als sie mit unwilligem Lächeln alles von sich schob und ihren Schreibtisch wieder zuschloß.
»Bin ich nicht thöricht!« sprach sie bei sich selbst. »Müßte Frau von Willnangen nicht laut auflachen, wenn sie läse wie ich eifrig ernsthaft, gleich einem sechszehnjährigen Mädchen, ihr in großer Herzensangst die Liebeserklärung eines kaum dem Knabenalter entwachsenen Jünglings mittheile, und sie bitte, in dieser entsetzlichen Noth mir zu rathen? Nein! wahrlich nein! so großen [268] Lärmen wollen wir über ein solches Flackerfeuer nicht anstellen! Ihre Wangen erglühten in tiefer Beschämung. Wie war es mir möglich, die brausenden Ausbrüche eines exaltirten jugendlichen Sinnes so zu mißverstehen?« dachte sie, während sie den angefangnen Brief wieder aus dem Schreibtisch nahm und vernichtete. Weichheit des eben Genesenden, Frühlingsfreude nach langem Entbehren, ließen ihn sich selbst verkennen; warum denn nicht auch mich? Er wird froh seyn, wenn ich zu vergessen scheine, was ich nur vergessend verzeihen kann, und was er gewiß nie wieder wagen wird in Anregung zu bringen. Höchstens könnte nur durch Widerspruch erregter Eigensinn ihn zur Beharrlichkeit bewegen, und das muß vermieden werden.«
Herrn von Aarheims Arzt erschien am folgenden Morgen, um Hippoliten die Erlaubniß zu erbitten, ihn am Abend besuchen zu dürfen. [269] Moritz suchte seinen Jubel darüber in allen Sprachen, deren er mächtig war, auszudrücken und versicherte, nun ebenfalls in den nächsten Tagen wieder ausgehen zu können.
»Wir wollen uns damit denn doch nicht übereilen,« erwiderte der Arzt, zu Gabrielen gewendet. Auch dem jungen Grafen wäre es sehr gesund, wenn er noch einige Tage daheim bleiben wollte, aber er läßt sich nicht halten und so ist es gerathner, wenn wir ihm das Ausgehen mit gehöriger Sorgfalt erlauben, als daß er uns, wie gestern geschah, entspringt, und unnützer Weise in Angst versetzt. Ich fand ihn Nachmittags in heftiger fieberhafter Bewegung; auch seine Wunde schien sich wieder entzünden zu wollen, und doch war er augenscheinlich mehr exaltirt als krank. Ich wußte nicht, was ich aus dem wunderbaren Zustand machen sollte und war schon im Begriff, ihn im Verdacht eines bedeutenden Vergehens gegen die ihm vorgeschriebene Diät zu halten, als ich erfuhr, daß er in der Sonnenhitze von einem Ende der Stadt bis zum andern gelaufen sey.«
[270] Hippolit erschien gegen Abend. Gabriele war absichtlich bei seiner Ankunft in Moritzens Zimmer zugegen. Er erröthete, erbleichte und kam bei ihrem Anblick sichtbar außer Fassung, doch Moritzens ausgelassene Freude über das Wiedersehen seines Lieblings überstimmte alles, und verbarg auch die kleine Verlegenheit, deren Gabriele im ersten Augenblick sich doch nicht gänzlich erwehren konnte. Moritz war an diesem Abend, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, die Seele des kleinen Vereins; er scherzte, lachte über seine eignen Einfälle, und ließ übrigens niemanden zum Worte kommen. Hippolit bemühte sich zwar, wie sonst munter und unterhaltend zu erscheinen, aber der Zwang, den er sich dabei anthat, konnte nur einem Beobachter, wie Moritz war, entgehen. Gabriele ward dessen wohl gewahr, sie nahm ihn als Beweis des beschämenden Gefühls, mit dem er des gestrigen Morgens gedenken mochte, und strebte nur, durch möglichste Unbefangenheit das Andenken einer Scene zu vernichten, die sie am liebsten ganz in Vergessenheit begraben hätte.
[271] Vierzehn Tage vergingen, während welchen Hippolit Gabrielen täglich, doch nie alleine sah. Er selbst schien dieses zu vermeiden und hütete seine Blicke wie seine Worte, so daß sie wiederum gegen ihn, sie wußte selbst kaum wie, in ihren gewohnten zutraulichen Ton gerathen konnte. Seine Genesung vollendete sich in dieser Zeit, und auch Moritz erholte sich genugsam, um Tagelang mit Planen für den Rest des Sommers sich zu beschäftigen. Jeden Tag wurde eine andere Reise in Vorschlag gebracht, alle Beschreibungen großer und kleiner Bäder, in der Nähe und Ferne, wurden herbeigeschafft, aber es fanden sich immer am Morgen triftige Gründe, das gestern Abend Gewählte wieder zu verwerfen.
Gabriele hatte allen diesen Berathschlagungen immer sehr gelassen und gleichgültig beigewohnt, bis Moritz eines Morgens mit ganz ungewohnt adeligen und ritterlichen Gesinnungen aufstand, sich zum Frühstück bei ihr melden ließ, und ihr dabei sehr feierlich erklärte, daß er jeden Edelmann für einen Thoren achte, der ohne Noth, [272] ferne von dem Sitz seiner Ahnen, im bunten Gewühl der Menge sich herumstoßen lasse, und daß er deshalb gesonnen sey, sich mit ihr innerhalb zweier Tage nach Schloß Aarheim zu begeben, um dort wenigstens bis zum nächsten Winter zu residiren.
Schloß Aarheim wieder zu sehen! Tausend widersprechende Gefühle wechselten in Gabrielens Gemüth bei diesem Gedanken. Es ward ihr, als harre ihrer in den heiligen Mauern irgend etwas Unerwartetes, etwas Unerhörtes. Nicht um die Welt hätte sie eine Sylbe gesprochen und Moritzens Entschluß wankend gemacht, aber sie bebte in ängstlicher Freude vor dessen Ausführung.
Mit den altritterlichen Gesinnungen überkam dem Baron auch ein Anflug von altritterlicher Gastfreiheit. Rechts und links lud er nun Freunde und Bekannte ein, Wochen, ja Monate lang in der Burg seiner Ahnen bei ihm zu weilen. Auch Gabriele mußte an Frau von Willnangen schreiben und sie bitten, mit Augusten und den Kindern die noch übrige Zeit bis zur Heimkehr [273] Adelberts und des Generals bei ihr zuzubringen. Während sie mit diesem Briefe sich beschäftigte, trat Hippolit in ihr Zimmer und zum erstenmal seit dem Morgen in der Laube sah sie sich mit ihm allein.
Niemand hätte in dem, bange und beklommen, in augenscheinlicher Verlegenheit Dastehenden die vorlaute Zierde der elegantesten Zirkel, den dreisten Liebling der glänzendsten Damen wieder zu erkennen vermocht. Er hatte recht ehrlich mit sich gekämpft, ob er nicht die Reise nach Aarheim als Anlaß ergreifen solle, um sich wenigstens auf einige Zeit von dem Gegenstand einer Leidenschaft zu entfernen, deren Hoffnungslosigkeit sowohl, als deren Unbezwingbarkeit ihm mit jedem Tage fühlbarer wurde. Schon glaubte er sich Sieger, als Moritzens Einladung ihn von der geträumten Stufe herunterriß. So lange er noch an der Möglichkeit zweifeln konnte, in Gabrielens Nähe, unter ihrem Dache, in der glücklichen Zwangslosigkeit eines ländlichen Aufenthalts selige Tage zu verleben, so lange schien [274] es ihm, als könne er entsagen; doch jetzt, da dieses Glück ihm wirklich so nahe geboten ward, daß er es beinahe ohne Unschicklichkeit nicht von sich weisen durfte, jetzt mußte er es ergreifen, und sollte er darüber zu Grunde gehen. Er dachte gar nicht mehr daran, freiwillig darauf resigniren zu können, und nur der Zweifel marterte ihn, ob Gabriele ihm erlauben werde, die Einladung anzunehmen.
»Herr von Aarheim hatte die Güte, mich einzuladen,« flüsterte er ängstlich und kaum vernehmbar –
»Und Sie fürchten die Burggeister? und möchten uns lieber nicht begleiten?« unterbrach ihn Gabriele mit etwas erzwungner guter Laune, denn Hippolits Verlegenheit steckte auch sie an. »Wenn ich Ihnen rathen darf,« fuhr sie lächelnd weiter fort, »so überwinden Sie Ihre Geisterfurcht und begleiten uns; finden Sie dort nicht das Gewohnte, so finden Sie dafür das Ihnen Neue. Die ehrwürdige Burg, das wilde, schöne[275] Thal, die Felsen und Höhlen, ja selbst die tiefe Einsamkeit, Aehnliches ist Ihnen vielleicht im Leben noch nicht vorgekommen. An geselliger Abwechselung wird es uns ebenfalls nicht gänzlich fehlen; viele unserer hiesigen Freunde versprachen auf ihrer Rückkehr aus den böhmischen Bädern einige Tage bei uns zuzubringen, und den kurzen Umweg weniger Meilen nicht zu scheuen. Und um Sie nicht ganz mit der Zukunft vertrösten zu müssen, so habe ich auch Hoffnung, mir Ida und Bella von Schöneck von ihrer Mutter zur Begleitung zu erbitten. Die kaum zwei Tagereisen entfernte große Stadt, wo ich bei meiner Tante zuerst in der Welt erschien, wird uns hoffentlich ebenfalls manchen angenehmen Besuch früherer Bekannten zusenden,« setzte sie hinzu, da Hippolit noch immer schwieg.
»Wie über allen Ausdruck gütig ist es, daß Sie sich das Ansehen geben wollen, als wünschten Sie mich zum Mitgehen zu bereden, während ich in Demuth Ihrer Entscheidung harre, ob ich Sie begleiten darf,« sprach er endlich, [276] sichtbar erleichtert. »Doch darf ich es gestehen? Daß die Aussicht, von so viel gleichgültigen Besuchern umschwärmt –«
»Es wird damit so gar arg nicht werden als Sie es sich denken,« unterbrach ihn Gabriele; »wir werden genug der Tage, vielleicht sogar der Wochen frei behalten, um unsre alten Uebungen wieder vorzunehmen; ich wette, es thut damit Noth, denn Sie sind gewiß während Ihrer Krankheit nicht fleißig gewesen; eben so wenig als ich bei der meines Gemahls es seyn konnte. Das müssen wir wieder einbringen. Für Ihr Landschaftzeichnen bietet mein Thal Ihnen bei jedem Schritt die herrlichsten Punkte. Auch unsere musikalischen Uebungen und vor allem unser Studium der Kunstgeschichte wollen wir mit Eifer wieder vornehmen. So wie wir uns in Schloß Aarheim nur ein wenig eingerichtet haben, sollen Winkelmann und der alte Vasari wieder an die Reihe kommen. Ida und Bella werden gern an alle diesem thätigen Antheil nehmen.«
[277] Ziemlich gegen ihre sonstige Art, hatte Gabriele rasch hinter einander weg gesprochen, als ob sie eine Indiskrezion von Hippoliten befürchtete, und ihn deshalb lieber gar nicht zu Worte kommen lassen wollte. Er selbst hingegen war während der Zeit seiner innern Bewegung Meister geworden und so nahm von nun an das Gespräch eine ruhigere Wendung, während dessen beide vereint eine Auswahl unter Büchern, Musikalien und allerlei Kunstgeräth trafen, die sie mit nach Schloß Aarheim nehmen wollten. Hippolit schwamm dabei in einem Meer von Wonne, doch hütete er sich gar sehr vor jeder, auch der unmerklichsten Aeußerung seines Empfindens.
Gabriele hatte sich bis jetzt täglich unzähligemal wiederholt, daß nichts lächerlicher seyn könne, als wenn sie jene Erklärung Hippolits für etwas mehr nehmen wolle als für jugendliche Uebereilung, in einem durch Zufälligkeiten bis zur Ueberspannung gereizten Zustande. Auch war sie von der Wahrheit dieser Ansicht fest [278] überzeugt, vielleicht weil sie es seyn wollte, denn wer vermag zu unterscheiden, was ihr selbst immer dunkel blieb? Eine Art ängstlicher Uebereilung im Gespräch, die ihr nicht eigen zu seyn pflegte, schien freilich oft, wie eben auch jetzt, geheimes Fürchten einer Aufklärung anzudeuten, das denn doch, ihr selbst unbewußt, in einem Winkel ihres Herzens lauschen mußte, den sie, aus verzeihlicher Zaghaftigkeit vielleicht, zu ergründen nicht wagen mochte.
Fern von Allen, welche sie liebte, in der trostlosen Umgebung, zu der das Schicksal sie verurtheilte, hatte sie in Hippoliten endlich eine für ihr Gemüth wie für ihren Geist gleich wohlthuende Erscheinung gefunden. Sie konnte nicht ohne die reinste Freude, nicht ohne inniges Wohlwollen den glücklichen Einfluß bemerken, den ihre Leitung und warum sollte sie es sich nicht aussprechen? den ihre Nähe an ihm übten. Jemehr angebornen Edelsinn, unglaubliche Güte, und andere glänzende Eigenschaften des Geistes und Gemüths er im Umgange mit ihr entfaltete, [279] je deutlicher sah sie mit Schaudern, wie nahe er bei alle diesem dem Untergehen in Eitelkeit, Unglauben und Lieblosigkeit gewesen war. Nie, unter keinen Umständen, hätte sie ohne den tiefsten Schmerz ihn wieder loslassen, nie ihn dem eitelsten Treiben wieder übergeben können, dem er an ihrer Hand so tapfer sich entwunden hatte. Und nun, nach seinem an Adelberten geübten Edelmuth fühlte sie noch durch das heilige Band inniger Dankbarkeit sich ihm verpflichtet. Daher fiel es ihr nicht ein, ihm eine strenge Richterin werden zu wollen, daher sah sie so gern in der Unruhe, die ihn in ihrer Nähe ergriff, nur das Bestreben, jedes Erinnern an ein Betragen zu verhüten, dessen er, ihrer Meinung nach, sich jetzt herzlich schämen mußte! Und wer mag sie deshalb tadeln? Wer mag es verdammen, daß ihrem reinen Gemüthe nie der Gedanke kam, um einer dem Irrthum verfallnen Minute willen, ihn dem Verderben Preis zu geben? Gabriele war zu rein tugendhaft, um je daran zu denken es seyn zu wollen; daher konnte ihr der Gedanke [280] gar nicht kommen, daß sie hier vielleicht ein Opfer zu bringen habe.
Ida und Bella von Schöneck waren ein paar gute, liebe und schöne Kinder, deren harmlose Gesellschaft nur dazu dienen konnte, das Einerlei eines zu kleinen Kreises zu unterbrechen, ohne durch großes Uebergewicht störend zu werden. Bei ihrer in sehr beschränkten Umständen lebenden Mutter hatten sie nur einsame Tage gesehen, bis Gabriele der armen lebenslustigen Mädchen sich annahm und ihnen zu mancher ihrem Alter und ihrem Range angemessenen Freude verhalf, nach der sie bis jetzt sich um so heißer gesehnt hatten je ferner sie ihnen geblieben waren.
Alles neue war ihnen willkommen; daher fanden sie sich am Tage der Abreise mit frohen erwartungsvollen Gesichtern bei Gabrielen ein, um [281] sie nach Schloß Aarheim zu begleiten. Sie fuhren in Gabrielens Wagen. Moritz hatte seinem jungen Freunde einen Platz neben sich in seiner, nach ganz eigner Erfindung erbauten Batarde bestimmt, doch dieser zog es gewöhnlich vor, auf einem der schönen Pferde, die er sich nachführen ließ, bald Gabrielens Wagen zu umschwärmen, bald Morgens einige Stunden früher aufzubrechen, um die Uebrigen im gemeinschaftlichen Absteigequartier zu empfangen.
Den beiden jungen Mädchen zu Gefallen, deren Fantasie sich aus Romanen und Beschreibungen ein himmlisch schönes Bild von den Freuden des Badelebens zusammen gesetzt hatte, war der Umweg über Karlsbad beschlossen worden. Mit dem Gefühle des frommen Wallfahrers an heiliger Stätte, sah Gabriele sich zum zweiten Mal auf diesem Wege, der sie vor sieben Jahren zu dem Wendepunkte ihres Lebens geführt hatte, von welchem die lange Reihe der strengen Entsagungen und der den schwersten Opfern geweihten Tage ausging, die sie seitdem verlebte.
[282] In Karlsbad selbst knüpfte sich eine oder die andere frohe oder bittere Erinnerung an jeden ihrer Schritte; in stiller Wehmuth suchte sie jedes Plätzchen auf, das irgend ein ihr merkwürdiges Ereigniß bezeichnete; vor allem aber versäumte sie es nicht, in einer stillen feierlichen Abendstunde zur kleinen Marienkapelle im Walde einsam zu wallfahrten, während ihre Begleiterinnen unter Moritzens Schutze sich im sächsischen Saal im lustigen Wirbeltanz drehten.
Es war am Vorabend eines heiligen Festes. Die Betstühle waren leer, nur ein Kind lag in einem Winkel der Kapelle auf den Knien, während der Sakristan den Altar abstäubte, den morgenden Festputz des Muttergottes-Bildes zurecht legte und die welken Blumen und Kränze wegnahm, um sie durch neue zu ersetzen.
Gabriele sah dem einfältig-frommen Treiben eine Weile zu, ehe sie ihrer Stimme Festigkeit genug zutraute, um nach der armen alten Frau zu fragen, die sonst um diese Stunde hier zu beten [283] pflegte, und die sie jetzt mit trübem Vorahnen vermißte.
»Die ist bei Gott,« erwiderte der Sakristan; »ich kannte sie wohl, sie war eine fromme Frau dort unten aus dem Dorfe; sie hatte ein Gelübde gethan und hielt es redlich, bei Frost und Hitze, im Sonnenschein und Regen. Und so ist sie zum Lohne hier an heiliger Stätte vor drei Monaten sanft und selig entschlafen. Wir wollten sie wecken, da es dunkel ward, und sie noch immer auf den Knien wie betend lag, aber sie erwachte nimmermehr auf Erden.«
Gabriele zerfloß in Thränen der innigsten Rührung, während der Sakristan so sprach. Ottokars Bild stand vor ihr und jedes entschlummerte Gefühl in ihrem Herzen regte sich mächtig und laut; ihr war als seyen die Jahre zwischen jetzt und jenem Abend, wo sie an dieser nehmlichen Stelle gestanden hatte, ganz aus der Reihe der Zeiten getilgt, als sey alles noch wie damals.
Indessen hatte das Kind sich ihnen genähert [284] und wollte mit schüchternem Gruße vorüber, als der Sakristan es anhielt. »Das ist ein Urenkelchen der alten frommen Mutter, Ihro Gnaden,« sprach er, und klopfte freundlich die vollen blühenden Wangen des Mädchens. »Nun schäme dich nicht,« fuhr er fort, »du bist ein frommes Kind, Gott und die Heiligen werden deinen Vater und deine Mutter dafür segnen, denn das Gebet frommer Kinder dringt durch die Wolken.«
»Ich hab nicht für Vater und Mutter gebetet,« sprach das Kind.
»Nicht für Vater und Mutter? für wen denn,« fragte der Sakristan.
»Weiß nicht,« war die Antwort, »aber die heilge Jungfrau wird schon verstehen, wem es angeht, sprach Aeltermutter selige, und weil Mutter es ihr einmal versprochen hat, da sie krank war, so geht immer Eins von uns zur Vesperzeit hieher und betet wie Aeltermutter sonst, da sie noch lebte.«
[285] Gabriele sank auf der Stelle, wo das Kind gebetet hatte, in stiller Rührung hin, der Sakristan und das Kind, reichlich von ihr beschenkt, entfernten sich schweigend und ehrfurchtsvoll. Ihr Auge schwamm in süßen Thränen, ihr Herz in seliger Wehmuth. War es Gebet, war es Erinnerung, war es Hoffnung, was ihren Busen in lange nicht gefühlter Wonne hob, sie wußte es nicht zu unterscheiden, aber sie lag da auf den Knien, in Andacht und Freude verloren, bis die fast zur Dunkelheit gewordne Dämmerung sie erweckte. Langsam erhob sie sich und sah dicht hinter sich Hippoliten in ihrem Anblick versunken. Sie wickelte sich als sie ihn gewahrte, fester in ihren großen Shawl, den sie wie einen Schleier über den Kopf nahm, als solle er gegen die Abendkühle sie schützen.
Hippolit verstand diese Bewegung, stumm und ehrfurchtsvoll zog er sich zurück während sie an ihm vorüberging und wagte es nicht ihr den Arm zu bieten. Er drückte nur die zurückflatternde [286] Ecke ihres Shawls demüthig an seine Lippen, ohne daß sie dieses bemerkte und folgte dann von ferne, um sie auf dem Wege nach ihrer Wohnung zu beschützen.
Wenig Tage darauf verließen sie Karlsbad.
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