Johanna Schopenhauer
Richard Wood
Roman

[Motto]

[1] Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram,

Daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam!

Hamlet.

Erster Theil

Der Winter war, gegen Ende des Märzmonats, nach kurzem Scheiden, mit verdoppeltem Inngrimm wiedergekehrt; gewaltige Eiszapfen schwebten von allen Dächern herab, und flimmerten im klaren kalten Mondenlicht, kristallnen Girandolen vergleichbar. Der alles überkleidende Schnee blitzte, wie mit Diamanten übersäet, unter dem knisternden Fußtritt einzelner Wanderer, die, Pelz, Bart und Haar mit Reif bepudert, ihrer Wohnung zueilten. Öde und vereinsamt lagen Moskaus sonst so lebensreiche Straßen wie ausgestorben da, denn Menschen und Thiere drängten, von grimmiger Kälte getrieben, im Innern der Gebäude, zwischen den wärmenden [1] vier Wänden sich zusammen, die Keiner verließ, den Nothwendigkeit nicht hinaustrieb.

In der Vorhalle der großen, aus der Asche wieder aufgestiegenen Kaserne, welche zur Militairschule gehört, standen indessen dennoch zwei junge Männer, ohne die große Kälte anscheinend zu bemerken, in eifrigem Gespräch lange bei einander. Der eine derselben, vom Kopfe bis zum Fuß in reiche Pelze gehüllt, vermochte zwar wohl der rauhen Winterluft Trotz zu bieten, doch nicht so der Andere, eine jugendlich zarte schlanke Gestalt, in der leichten Uniform der Lanzenreiter vom Bug; und doch war es gerade dieser, der, als ob er die Kälte gar nicht empfände, seinen wohl bepelzten Freund festhielt, und immer wieder – und immer fester an die Brust drückte.

Nun, so gehe denn, weil es nicht anders sein kann! sprach er endlich, indem er sich nicht ohne Anstrengung zusammennahm: mein Freund, mein Bruder, mein Eugen! gehe zurück zu den [2] Deinen, zurück zum Palast Deines Vaters! gehe, aber verlaß mich nicht ganz. Reiche mir zuweilen die Freundeshand über die Kluft hin, welche der heutige Abend zwischen uns öffnet, – damit ich nicht ganz verstoßen mich fühle! setzte er, unwillkürlich sehr weich werdend, hinzu; und wandte unmuthig sich ab, vielleicht um eine aufsteigende Thräne in seinem Auge zu verbergen.

Eugen trat ein Paar Schritte zurück und sah ernst und forschend ihm ins Gesicht. Du bist krank! rief er, gewiß Richard, Du bist wieder krank, denn mit gesunden fünf Sinnen kannst Du auf solche ganz absurde Gedanken nicht verfallen. Nun, so steige nur gleich in den Schlitten, und fahre mit mir wieder nach Hause; ich will es bei Deinem Rittmeister schon verantworten.

Mein Gemüth, meine Seele sind voll trüber Gedanken und Trennungsweh', doch körperlich [3] krank bin ich nicht: erwiederte Richard, wehmüthig lächelnd.

Ob Du wunderlich bist! rief Eugen; warum geberdest Du Dich denn so? spricht der Mensch nicht von Kluft! von Verlassensein! von lauter Jammer und Noth, als ob Gott weiß was für ein großes Unheil über ihn hereingebrochen wäre! Kannst Du denn wirklich befürchten, weil Du in der Kaserne jetzt wohnst und nicht mehr bei uns, würde Dir es an irgend etwas mangeln? recht wie ein Muttersöhnchen, das von Mama weg auf die Hochschule soll, und nun meint es wäre aus mit allem irdischen Glück.

Für solch ein Jammerbild wirst Du mich doch nicht halten, rief Richard bitter lächelnd.

Freilich nicht, erwiederte ebenfalls lachend Eugen, aber, nimm's nicht übel, seit einer Stunde ist dieses das erste vernünftige Wort, das ich von Dir höre. Soll ich Dich abermals daran erinnern, daß Keiner dieser Prüfungszeit, die [4] Du jetzt antrittst, beim Anfange seiner militairischen Carrière sich entziehen kann? und auch daß es Mittel giebt, sie in gewissen Fällen sehr abzukürzen? Du kennst meinen Vater, an seiner herzlichen Liebe zu Dir kannst Du nicht zweifeln, also – fasse Muth, sei vernünftig und hoffe das Beste.

Ein schwerer Seufzer, der hörbar den tiefsten Tiefen seiner Brust sich entwand, war Richards Antwort. Eugen sah zweifelnd ihn an, und blieb still und gedankenvoll vor ihm stehen.

Richard, sprach er nach kurzem Schweigen sehr sanft, beinahe verlegen, es muß heraus, was ich auf dem Herzen habe; bereuest Du gerade diese Bahn zu Deinem ferneren Fortkommen Dir erwählt zu haben? Ist dem so, wie eine leise Ahnung in meiner Seele behaupten will? Warum solltest Du Dich scheuen, es Deinem Freunde schnell und offen zu gestehen. Es war Deine eigne Wahl, Niemand hat versucht [5] sie leiten zu wollen. Aber in der Ferne sehen die Dinge anders aus als in der Nähe, und man mißversteht oft sich selbst und das eigne Herz.

Nein, nein, und Tausendmal nein! rief Richard mit großer Heftigkeit; ich bin kein wankelmüthiger Knabe, kein schwankendes Rohr. Ich habe alles wohl durchdacht, geprüft, überlegt, als ich den einzigen Weg einschlug, der mir, dem Namenlosen, dem Armen, eine entfernte Möglichkeit bot, ihn dem hohen Fürstenhause einigermaßen zu nähern, dem Du, dem die Deinen angehören, zu dem auch ich einst durch meine seltsame Stellung verleitet – –. Ach! laß jene qualvollen Tage mich vergessen! Laß mich hoffen, Zeit und Glück werden mir günstig sein. Und wahrlich, fuhr er, sich plötzlich hochaufrichtend, mit warmer Begeisterung fort: wahrlich, stellt sich mir die Gelegenheit, stellt sie sich mir, in welcher Gestalt es sei, ich werde nicht schwachmüthig [6] sie mir entschlüpfen lassen. Bei der Stirnlocke will ich die Flüchtige schon zu fassen und zu halten wissen. Ich erreiche das Ziel, das ich mir gesetzt, oder gehe unter im Streben danach.

Bravo! bravo! so ist es Recht, so gefällst Du mir; erwiederte Eugen und schüttelte ihm kräftig die Hand. In kurzen flüchtigen Worten ermahnte er ihn nochmals, so guten Muthes zu beharren; erinnerte, daß er Morgen zur Mittagstafel erwartet werde, um selbst zu berichten wie seine neue Wohnung ihm gefalle, und daß Helene fest darauf rechne, noch vorher die gewohnte musikalische Übungsstunde mit ihm zu halten. Dann warf Eugen sich in den schon längst seiner harrenden Schlitten, und jagte wie auf Sturmesflügeln davon.

Richard starrte in die kalte schweigsame Mondnacht hinein, bis seinem Auge die flüchtige Freundesgestalt entschwunden, und auch der letzte Ton des silbernen Schellengeläutes verhallt war. Dann [7] wandte er sich, und stieg langsam die zu seinem Zimmer führende Treppe hinan.

Auf alles, was in demselben zu seiner Bequemlichkeit beitragen konnte, war mit liebender Sorgfalt Rücksicht genommen. Zwischen Schlaf und Wachen harrte im Vorsaal der alte Paul seiner Befehle, ein treuer Diener, der schon seiner Kindheit gepflegt hatte, und ihm jetzt zur Bedienung zugegeben worden war. Vom großen Ofen ging eine überall gleichverbreitete wohlthätige Wärme aus, wohlverwahrte Doppelfenster hielten das Eindringen der rauhen Winterluft ab, und ein dicker Teppich deckte den Fußboden. Auch fehlte es weder an einem mit seinen Lieblingsschriftstellern wohl besetzten Bücherschranke, noch an einem bequemen Schreibtische.

Richard wollte der thätigen Theilnahme sich freuen, mit der hier für ihn, den dunkeln Fremdling, gesorgt worden war; aber das sonst so warme, jedem frohen Gefühl offne Herz lag [8] für jetzt wie todt und erstarrt ihm in der Brust. Mit einer gewissen Ängstlichkeit suchte er nach irgend etwas, das ihn lebhaft genug anregen könne, um die innere Trostlosigkeit zu bekämpfen, die immer mächtiger werdend, sich seiner ganz zu bemeistern drohte; da fiel in einer etwas dunkeln Ecke des Zimmers eine schön gearbeitete Schatulle ihm auf, die er bis dahin übersehen, und zugleich erinnerte er sich eines Schlüssels, den Eugen, ehe er von ihm ging, ihm übergeben und zu sichrer Aufbewahrung anempfohlen hatte.

Unbeschreiblich freudig überrascht, erkannte er in dem zierlichen Behältniß ein sonst hochgehaltenes Eigenthum der Fürstin Eudoxia, der Mutter Eugens. Es war das Meisterstück eines jungen Ebenisten, der unter dem Schutze ihres Gemahls sich kürzlich in Moskau niedergelassen hatte; ein Kästchen von Ebenholz, mit einem gleich Diamanten blitzenden stählernen Netze überzogen. Aus jedem der hellpolirten Stahlplättchen leuchtete, [9] wie aus so vielen freundlichen Augen, ein Strahl jener sonnenhellen Tage seiner Jugendzeit ihm entgegen, die er in banger Vorahnung mit dem heutigen geschlossen gewähnt, und eine Thräne der reinsten gefühltesten Freude umdunkelte sein Auge, als er vor dem Inhalte des Kästchens stand, beinahe laut aufjauchzend, wie ein glückliches Kind vor der unerwartet reichen Weihnachtsbescheerung.

Im kleinen Raum lag hier seine ganze glückliche Knaben- und Jünglingszeit ausgebreitet vor ihm; von den mit mühseliger Künstlichkeit aus Rennthierknochen geschnitzten Figürchen der Lappländer an, die er einst als vortreffliche Meisterstücke bewundert hatte, bis zu den glänzenden Terzerolen des Fürsten Alexis, Eugens älterem Bruder, zu denen er oft in kindischer Sehnsucht seufzend hinaufgeblickt, und dem prächtigen, mit Rubinen und Smaragden besetzten Türkendolch, sonst Eugens liebstes Eigenthum, [10] das ohne seine Erlaubniß Niemand zu berühren, kaum anzublicken wagte. Dicht daneben kauerten auch die kleinen glattköpfigen Chinesen von Speckstein in einer Ecke beisammen, die viele Jahre lang auf einem Ecktischchen im Zimmer der Fürstin Eudoxia ihren Platz gehabt hatten, und wurden von ihm als kleine stumme Gesellen seiner glücklichsten Stunden mit einer Art von Rührung begrüßt. Denn nur wenn er ganz ausgezeichnet folgsam und fleißig gewesen war, wurde es ihm erlaubt, zu den Füßen seiner hohen Pflegemutter damit zu spielen.

Nichts von Allem fehlte, was in früher Jugend ihm besonders werth oder bedeutend erschienen. Da war die eigne Uhr des väterlichen Beschützers seiner Kindheit, des Fürsten Andreas; wie oft hatte dieser sie geöffnet, um dem auf seinem Knie sich schaukelnden Knaben das feine innere Räderwerk derselben bewundern zu lassen! Auch das einfache Taschenbuch, das er täglich in [11] dessen Händen gesehen; Richard war in diesem Augenblicke zu bewegt, um den reichen Inhalt desselben zu bemerken. Da war auch noch eine kunstreiche Stickerei von den eignen Händen der Fürstin Eudoxia, eine von der Fürstin Natalie, der ältesten Tochter jenes edlen Paares, gezeichnete Landschaft, ein silberner Becher vom Fürsten Konstantin, ihrem verlobten Bräutigam; Richard hatte einst bei diesem den Becher gesehen, und die schöne getriebene Arbeit daran bewundert.

Sogar keines der entfernteren Mitglieder der Familie hatte sich davon ausgeschlossen, ihn, der so lange in ihrer Mitte gelebt hatte, durch ein Andenken an vergangne Tage zu erfreuen. Der Tisch war bald mit einer Menge jener eben so zierlichen, als größtentheils unbrauchbaren kleinen Geräthschaften aus Bronze und Vermeille bedeckt; glänzendes Spielzeug für große Kinder, das die Mode überall, besonders aber in Rußland [12] eingeführt hat. Denn ungeachtet der unglaublichen Fortschritte, die dieses, die erste Grenze höherer Kultur erst vor kurzem überschritten habende Volk während des Laufes der letzten hundert Jahre gemacht hat, neigt sein Geschmack sich noch immer mit einer Art kindlicher Naivität dem zu, was die alten Griechen barbarisch zu nennen pflegten.

So suchen nur Eltern ihren Sohn, Geschwister ihren Bruder, über eine nothwendig gewordene Entfernung aus dem väterlichen Hause zu trösten und zugleich ihr Andenken in ihm lebendig zu erhalten: rief es laut in seinem Herzen. Seit über seine wahre Lage ihm die Augen aufgegangen waren, konnte er es sich leider nicht mehr verhehlen, daß er ein Fremdling unter Fremden aufgewachsen sei; doch diese traurige Wahrheit drückte ihn nicht mehr zu Boden; er hatte die Überzeugung gewonnen, geliebt zu sein, und diese erhob ihn wieder; sie tröstete ihn über [13] Alles, was er früher entbehrt hatte, ohne es zu empfinden.

Ungeachtet der vor ihm ausgebreiteten Reichthümer schien Richard aber doch noch etwas zu vermissen; er suchte und suchte mit steigender Ängstlichkeit, bis er endlich auf dem Grunde der Schatulle ein ziemlich zerlesenes Büchelchen fand, eine englische Taschenausgabe des Vicar of Wakefield, und in demselben als Buchzeichen ein Stückchen blaues Silberband. Alles übrige war nun vor seinen Augen ver schwunden; die auf dem Tische ausgebreiteten Herrlichkeiten mochten liegen bleiben wie sie lagen, er warf mit seinem Funde sich in den nächsten Sessel, und schien eifrig die unscheinbaren Blätter zu studiren. Ob er wirklich darin las? wer mag das sagen.

Nun, Bruderherz, spielst Du auch hier noch immer den Gelehrten? rief eine tiefe sonore Stimme neben ihm, und ein leichter Schlag auf die Achsel begleitete die Frage. Richard blickte auf; [14] Iwan Yakuchin, Unteroffizier des Regiments, zu welchem auch er von heute an gehörte, stand vor ihm, ein ihm sehr lieber, wenn gleich nicht alter Bekannter; denn Iwan war erst seit wenigen Monaten aus dem südlichern Rußland nach Moskau gekommen.

Er war an Leib und Seele ein roher Diamant, dieser Iwan; ein treues, tapfres, redliches Gemüth, dessen seltnen Werth Richard auf den ersten Blick erkannt hatte; obgleich er weit davon entfernt war, ihn seinem weit höher gebildeten Freunde Eugen gleichzustellen, dessen ganzes Wesen durch die zartesten, innigsten Bande dem Seinigen auf das unzertrennlichste verzweigt war. Iwan aber hatte mit seinem heißen, liebebedürfenden, durch die erste Trennung vom väterlichen Heerde schmerzlich verletzten Herzen, sich an die Brust des Jünglings geworfen, dessen milde edle Erscheinung ihn unwiderstehlich anzog; er war nicht gewohnt, das was in seinem Gemüthe vorging, bis auf gelegenere Zeit weltklug zu verbergen, [15] und Richard war eben so wenig dazu geeignet, eine ihm entgegenstrebende Neigung hart und kalt von sich abzuweisen.

Nicht nur als Kamerad, auch als Nachbar komme ich in dieser späten Stunde Dich zu begrüßen; denn wenn gleich weite Hallen, lange Korridors und einige Höfe zwischen uns liegen, so wohnen wir doch eigentlich unter einem Dach, sprach Iwan und schüttelte treuherzig dem Freunde die Hand. Was bin ich froh, Dich der parfümirten, vornehmen Atmosphäre endlich entronnen zu sehen, in welcher ein geheimes Etwas unser Einem, mir wenigstens, immer den Athem versetzt! fuhr er fort. Jetzt erst, Herzensbrüderchen, wirst Du recht aufleben, wenn Du fühlst und einsiehst, was es sagen will, sich selbst angehören, sich nach eigner Willkür regen und bewegen, frei von den tausend Banden, mit welchen jene Kneesen, Fürsten, oder wie man sie nennen will ...

[16] Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, sind, die Du meinst, mir gewesen; sie sind es mir noch, und werden es bleiben, und ich will auf keine Weise sie schelten hören: fiel Richard heftig mit zornblitzenden Augen ihm ein. Und wenn ich sie nie wiedersähe, und wenn sie ihre Hand ganz von mir abzögen, sie bleiben das Kleinod meines Herzens, an dem ich hänge, fester als am eigenen Leben. Habe ich nicht, außer diesem,ihnen alles zu verdanken? und ich will sie nicht verunglimpfen hören, nicht durch den Schatten eines sie herabsetzenden Gedankens.

Nun nun! nun nun! erwiederte Iwan sehr gutmüthig, ereifre Dich nicht, ich meine es ja nicht böse. Ich will mich ja gern fügen, wenn man mir nur das Verständniß öffnet. Ich kenne ja nichts, bin hier noch nagelneu, weiß noch von gar nichts; nicht einmal wer Du eigentlich bist. Als ich auf der Reitbahn zum erstenmale [17] Dich sah, hätte ich Dich beinahe auch für so ein Fürstenkind gehalten. Und vielleicht bist Du es auch, denn hier sieht es doch gewaltig fürstlich aus! rief er plötzlich, indem er jetzt erst den mit glänzenden Geschenken bedeckten Tisch gewahr wurde. Was für Reichthümer! Hilf Gott, dergleichen kommt mir nicht einmal im Traume vor.

Richard, in der noch nicht verklungenen Freude seines Herzens, und zugleich froh dem Gespräch dadurch eine andre Wendung geben zu können, beeiferte sich seinem Freunde mit der größten Gefälligkeit jedes Stück einzeln zu zeigen, und ihm den Gebrauch von manchem derselben zu erklären. Denn der gute Iwan war ein ebenso großer Neuling in Hinsicht dessen, was die elegante Welt unentbehrlich nennt, als des Lebens in und mit ihr. Zugleich nannte Richard bei jedem der Geschenke ihm den Namen des Gebers, und suchte bei einigen derselben ihm [18] begreiflich zu machen, durch welche Nebenbedeutung diese einen unschätzbaren Werth für ihn erhielten. Iwan sah und hörte alles mit der größten Aufmerksamkeit an: Brave Leute, gute Leute, vornehm aber gut, murmelte er dabei in abgebrochnen Sätzen vor sich hin; ja wohl Eltern und Brüder für Dich, mußt sie ehren und lieben, Du kannst nicht anders. Nachdem Iwan alles sattsam betrachtet und bewundert hatte, ausgenommen den Vicar of Wakefield, der ihm nicht gezeigt worden war, und dem er auch wohl kein Interesse abgewonnen hätte, setzten beide Freunde in immer traulicher werdendem Gespräch sich zu einander hin. Iwan erzählte von seinen früheren Verhältnissen; von seinem alten Vater, einem wackern Landmanne am Fuße des Kaukasus, von seiner fleißigen, noch im höheren Alter im Haushalte rührigen Mutter; von seinen vielen Schwestern und Brüdern, sogar von seinen vielen Hunden, die er alle [19] hatte daheim lassen müssen, und nur einen mitnehmen dürfen. Er war so jung, so einfach auferzogen, hatte so weniges erlebt, daß ihm alles bedeutend erschien. Auch Richarden ging, in der Stille der Nacht, das ohnehin sehr bewegte Herz auf; auch er ergoß sich in offnem Vertrauen gegen seinen Freund; und als Iwan zu später Nachtzeit ihn verließ, konnte er nicht mehr darüber klagen, daß er nicht wisse, wer Richard eigentlich sei.


Sally! mach' endlich Feierabend: setz' Dich zu mir, und lass' uns unser Butterbrod und unsern Krug Porter gemüthlich mit einander verzehren, ich habe viel Neues Dir mitzutheilen, und mich über mancherlei mit Dir zu berathen.

So ungefähr hatte zwölf oder dreizehn Jahre vor jenem Abende in dem kleinen englischen Fabrikstädtchen Nottingham, Master Wood, ein [20] guter ehrlicher Strumpf-Fabrikant, seiner noch in ihrem Haushalt beschäftigten Ehefrau zugerufen.

Ohne diesen letzten Zusatz hätte Mißtreß Wood ihren lieben Herrn und Gebieter wohl noch ein halbes Stündchen warten lassen. Zwar waren die Kinder schon zu Bette gebracht, die Taubenpastete für den morgenden Sabbath, dieses größte Festtagsgericht der englischen Kleinbürger, war bis zum Abbacken fertig, die Rhabarber-Torte ebenfalls, die Keine so trefflich zu bereiten wußte als sie: es war jedoch Sonnabend, am folgenden Tage wurden einige Gäste aus der Nachbarschaft erwartet, und die ordnungsliebende Hausfrau hätte gar zu gern vor Schlafengehen noch dieses und jenes besorgt.

Aber Master Wood hatte ihr Neues zu erzählen, und verlangte obendrein ihren Rath, ein Fall der sich nicht oft ereignete; was in aller Welt konnte das bedeuten! dieser Gedanke besiegte [21] jede ihrer Bedenklichkeiten. In aller Geschwindigkeit warf sie noch eine Hand voll Cayenne-Pfeffer in die Pastete, band ihre Küchenschürze ab, rückte vor dem Spiegel ihre Haube zurecht, und saß nach zwei Minuten mit dem allerfreundlichsten erwartungsvollsten Gesicht neben ihrem Mann, an dem bereits gedeckten Abendtisch.

Beide befanden sich in jener heitern zufriednen Stimmung, wie sie der in England dem stillen Genusse häuslichen Wohlbefindens besonders geweihte Samstagabend erfordert, dieser freundliche Vorläufer des ernsteren, halb dem Gottesdienst, halb der Langenweile gewidmeten Sonntags. Master Wood hatte, wie der pünktliche Geschäftsmann an diesem Tage immer that, seinen Arbeitern ihren Lohn ausgezahlt, seine Wochenrechnungen abgeschlossen, und war mit dem Ertrage derselben zufrieden. Mißtreß Wood freute sich auf die einer arbeitsvollen [22] Woche folgende Sonntagsruhe, auf den morgen zu erwartenden Besuch ihrer Verwandten, auf das neue Bonnet, mit welchem sie in der Kirche zu erscheinen gedachte. Mann und Frau waren gute, redliche, fleißige Leute, denen es, bei ziemlich beschränkten Mitteln, nicht leicht wurde, sich und ihre vierzehn Kinder anständig und ehrlich durch die Welt zu bringen, von denen das älteste achtzehn, das jüngste anderthalb Jahre alt war.

Solche zahlreiche Familien sind indessen in Großbritannien, besonders beim Mittelstande, nichts Ungewöhnliches; und das Ehepaar war mit seiner Lage ganz zufrieden. Der Hausvater hätte freilich gern, durch einige Vermehrung seines Kapitals, seinem Geschäft eine größere Ausdehnung gegeben; war aber doch herzlich froh, wenn bei möglichstem Fleiß von seiner, bei möglichster Sparsamkeit von seiner Frau Seite, es am Ende des Jahres ihm gelang, beide [23] Enden zusammenzubringen, wie er es nannte; das heißt, wenn seine Ausgaben seine Einnahme nicht überstiegen. War er aber vollends so glücklich gewesen eine kleine Summe erübrigt zu haben, die er zu seinem Kapital schlagen konnte, so hätte er in dem Augenblicke gewiß nicht mit dem Lord Mayor von London getauscht.

Nach Beendigung des frugalen Mahles zog Master Wood, mit einiger Umständlichkeit, einen dicken Brief hervor, und machte Anstalt ihn seiner Frau vorzulesen; denn kein Engländer wird während der Mahlzeit von Geschäften sprechen; auch hatte Mißtreß Wood äußerlich ganz gelassen, wenn gleich vor innerer Ungeduld brennend, diesen Zeitpunkt abgewartet. Das Schreiben war von einem bedeutenden Correspondenten ihres Mannes, dem reichen und angesehenen Strumpfhändler Smith in London und der Anfang desselben kam der guten Frau zwar ganz angenehm, aber keinesweges besonders merkwürdig [24] oder interessant vor. Es enthielt einige Bestellungen im Fache ihres Gatten, deren Ausführung freilich einen ziemlich bedeutenden Vortheil abzuwerfen versprach.

Jetzt, Sally, gieb Acht, nun kommt das Beste, rief Master Wood, indem er das Blatt umschlug, und zugleich seine Frau bemerken ließ, wie bis dahin der Brief von dem Handlungsdiener seines geehrten Gönners und Freundes, der nun folgende Zusatz aber von ihm selbst eigenhändig geschrieben sei; dann las er:

»Seit unsrer ersten kommerziellen Verbindung, werther Sir, besonders aber seit ich Sie und Ihre Familie persönlich kennen lernte und von Ihnen eingeladen wurde, bei einem Ihrer Söhne Pathenstelle zu vertreten, habe ich mir immer gewünscht, durch mehr als bloße Worte mein aufrichtiges Wohlwollen und meine Theilnahme Ihnen zu beweisen, und die Gelegenheit dazu hat sich gestern ganz unerwartet gefunden.

[25] Sir John Murray, mein sehr ehrenwerther Freund, dessen großes Übergewicht an der Londoner Börse Ihnen gewiß nicht unbekannt ist, und mit dem ich zuweilen von Ihnen und der zahlreichen Familie gesprochen, mit welcher es dem Herrn gefallen Sie zu segnen, hat mir, in Hinsicht auf Sie, einen Vorschlag gethan, der mir zu annehmbar scheint, als daß man vernünftiger Weise nicht darauf eingehen dürfe.

Ein sehr vornehmer russischer Großer, ungefähr das, was man in unserm Lande einen Lord und Pair des Reiches nennen würde, hat durch den berühmten Banquier Groß in St. Petersburg an unsern Sir John den Auftrag ergehen lassen, ihm einen acht bis zehnjährigen englischen Knaben, von guter ehrbarer Familie, herüberzuschicken, den er mit seinen eigenen, ungefähr im nämlichen Alter stehenden Kindern erziehen lassen will, damit diese, gleichsam spielend, auf leichte Weise von ihm englisch reden lernen. [26] Denn Sie müssen wissen, werther Sir, unsre Sprache wird auf dem Kontinente, besonders aber in Rußland, mit jedem Jahre beliebter, und es ist dort in großen Häusern gebräuchlich, junge Ausländer, besonders englische oder deutsche Knaben, zu dem nämlichen Zwecke in ihren Familien aufzunehmen.

Sir John, dem meine Vorliebe für Sie und die Ihrigen nicht unbekannt ist, kam gleich nachdem er diesen Auftrag erhalten zu mir, um sich zu erkundigen, ob einer Ihrer Söhne sich vielleicht zur Erfüllung desselben eignen möchte, fügte aber hinzu, daß kein langes Bedenken hier statt finden könne, sondern im Gegentheil der Entschluß gleich auf der Stelle gefaßt werden müsse. Die schon weit vorgerückte Jahreszeit möchte einer so bedeutenden Seereise nicht lange mehr günstig genug bleiben, um sie mit vollkommner Ruhe und Sicherheit unternehmen zu können; überdem liegt das nach Petersburg bestimmte [27] gute Schiff, der Delphin, in diesem Augenblicke segelfertig auf der Themse, dessen Kapitain, der mir und Sir John wohlbekannte Simon Hill, ganz der Mann dazu ist, das Kind unterwegs wohl zu verpflegen, und ungefährdet an Ort und Stelle zu bringen.

Vor Allem bitte ich Sie, werther Freund, bei diesem Vorschlage, auch nicht auf die allerentfernteste Weise, an entehrende Dienstbarkeit zu denken. Ihr Sohn wird gewiß nicht den jungen russischen Lords zur Aufwartung beigegeben; er soll weder ihr Tiger, wie unsre Dandys das nennen, noch ihr Jokey werden, sondern, in allen Stücken ihnen gleich gehalten, alle Vortheile einer liberalen Erziehung mit ihnen zugleich genießen, wie nur sehr reiche und vornehme Eltern sie ihren Kindern zu gewähren vermögen. Hat er dereinst das dazu gehörige Alter erreicht, so kann er fest darauf rechnen, im dortigen Lande durch die edle Familie, in [28] welcher er aufgewachsen, eine anständige, seinen Wünschen und Talenten angemessene Versorgung zu erhalten, oder für seine Zukunft wohl ausgestattet, in sein Vaterland zurück gesandt zu werden wenn er, als ächter Britte, dieses vorziehen sollte.

Die einleuchtend großen Vortheile dieses Anerbietens können Ihrem guten soliden Verstande unmöglich entgehen. Nicht nur daß Sie dadurch den mit jedem Jahre zunehmenden Ausgaben für die Erziehung eines ihrer Söhne überhoben werden; was bei einer so zahlreichen Familie keinesweges unbedeutend ist; ihr Sohn gewinnt dadurch auch eine Aussicht für sein ferneres Fortkommen in der Welt, wie Sie ihm solche, auf dem gewöhnlichen Wege, schwerlich gewähren könnten.

Daher schmeichle ich mir mit der Hoffnung in Ihrem Sinne gehandelt zu haben, indem ich auf das Anerbieten Sir Johns, der auf [29] augenblickliche Entscheidung drang, in Ihrem Namen eingegangen bin, und alles Weitere mit ihm verabredet und festgestellt habe.

Da mir wohlbekannt ist, wie sehr jede Entfernung von Hause durch Ihre Geschäfte Ihnen erschwert wird, so soll mein Ihnen wohlbekannter Handlungsdiener, James Cox, nächste Mittwoch mit der Mailkutsche bei Ihnen eintreffen, um meinen Pathen Richard abzuholen, und zu mir nach London zu bringen. Er steht gerade in dem gewünschten Alter von circa acht Jahren, und möchte vermöge seiner hübschen Gestalt, seines aufgeweckten Wesens, und seiner übrigen guten Anlagen, für unsern Plan am besten sich eignen. Für die Garderobe des kleinen Reisenden werde ich Sorge tragen; ich werde mit allem, was er für die Reise nöthig haben wird, ihn versehen. Ist er einmal am Orte seiner Bestimmung angelangt, so muß er [30] ohnehin nach dortigem Landesgebrauche gekleidet werden.

Ungeachtet der in die Augen springenden großen Vortheile, welche die Annahme meines Vorschlags Ihnen gewähren muß, versichre ich Sie dennoch, werther Freund, daß ich dieselbe als einen, mir persönlich gewährten Beweis Ihres Vertrauens und Ihrer Achtung ansehen und zu schätzen wissen werde. Zum Zeichen dieser meiner guten Gesinnung erbiete ich mich jetzt aus eignem Antriebe, Ihnen einen Kredit auf die volle Summe auszustellen, deren Sie, wie Sie bei unsrer letzten Zusammenkunft äußerten, bedürfen würden, um Ihrem Geschäft eine größere Ausdehnung zu geben, und durch Erwerbung eines bedeutenden Vermögens zu Ehren und Ansehen gelangend, es binnen kurzem Ihrem hochmüthigen Nachbar Bird wenigstens gleich zu thun. Auch Sir John beauftraget mich Ihnen zu melden, daß er von nun an sich gern [31] bereitwillig zeigen werde, Ihnen bei vorkommenden Gelegenheiten nützlich und hülfreich zu sein.

Das Nähere hierüber mögen Sie vorläufig mit unserm James Cox besprechen, der nicht ermangeln wird, sich nächste Mittwoch mit der Mailkutsche bei Ihnen einzustellen. Sollten Sie aber, freilich ganz gegen mein Erwarten, für gut finden, meine für Sie gethanen Schritte zu mißbilligen, und mein und Sir Johns Anerbieten von sich abzuweisen, so ist es nothwendig, daß Sie in der nämlichen Stunde, in welcher Sie dieses Schreiben erhalten, eine Staffette mit Ihrer abschlägigen Antwort an mich abfertigen; der nächste Tag wäre dazu schon zu spät. Auch kann ich nicht umhin Ihnen offen zu gestehen, daß von Ihrer Seite ein solches Verkennen meines guten Willens mir höchst empfindlich und unangenehm wäre, und obendrein mich, von Seiten Sir Johns, mancherlei Verdrießlichkeiten aussetzen würde.«

[32] Das freundliche Gesicht, mit welchem Mißtreß Wood anfangs zuhörte, wurde immer länger und länger, je weiter Herr Wood las; die arme Frau wurde feuerroth, dann blaß, dann todtenbleich, und saß zuletzt an allen Gliedern zitternd, unfähig ein Wort aufzubringen, wie versteinert da.

Nun, Sally, Liebste, was sagst Du dazu? fragte Master Wood, als er mit dem Briefe fertig war. Sally erwiederte keine Sylbe. Nun? fragte er nochmals und bückte sich, um in das abgewendete Gesicht ihr zu sehen. Sally sprang auf, trocknete mit konvulsivischer Hast die in Thränen schwimmenden Augen, und sah nach der Uhr.

Noch nicht eilf Uhr, Gottlob! sprach sie mit seltsam bedrücktem Ton: im Posthause sind sie noch wach, auch Jemmy kann noch nicht zu Bette sein; ich rufe ihn während Du schreibst, und wäre er schon eingeschlafen, so laufe ich selbst [33] mit unsrer Magd die Paar Schritte hinüber. Schreib nur geschwind, guter Mann; um Nein zu sagen, brauchts nicht vieler Worte. Damit wollte sie zur Thüre hinaus.

Mißtreß Wood! Sally! wo willst Du hin? rief der erschrockne Gatte.

Ich sagte es ja schon, war die entschlossene Antwort: zur Post will ich, das Pferd, die Stafette bestellen; es ist die höchste Zeit, wir haben keinen Augenblick zu verlieren, die Stafette muß gleich fort, mit Sonnenaufgang wäre es schon zu spät; so steht es ja in dem unglücklichen Briefe.

Aber Mißtreß Wood, aber Sally, aber theures Weib, aber so überlege, so bedenke doch nur! stotterte Master Wood in großer Angst, hielt aber doch die sich heftig sträubende Frau von der Thüre entfernt.

Bedenken? rief sie: giebt es da noch etwas zu bedenken? Ihre weit geöffneten Augen wurden [34] vor Schrecken starr, wie die einer Leiche, indem sie ihm jetzt ins Gesicht sah; heftig schlug sie die Hände über ihrem Haupte zusammen. Wood! Mann! Vater! rief sie völlig außer sich: wie! wäre es möglich? Du wolltest? Du könntest über das Herz es bringen? meinen Richard! meinen süßen Liebling, meinen armen Knaben, weit weg von Alt-England, zu Kannibalen, in das wilde Kosakenland, zu Heiden, zu Mohamedanern oder gar zu Papisten! Nein, nein, nein; nicht nur ich die Mutter, nein, auch Dein eignes Gewissen kann nimmermehr eine solche That zugeben. Aber es ist nicht Dein Ernst, Du scherzest, aber das solltest Du so nicht mit mir, Du weißt wie schwach und furchtsam ich bin, setzte sie mit erzwungener Gelassenheit hinzu, und ein ängstliches Lächeln glitt über ihre verstörten Züge.

Wood war indessen doch zu einiger Fassung gelangt. Schmeichelnd, bittend, sie liebkosend, zog [35] er die arme Mutter aufs Sopha und hielt sie dort fest, indem er durch Zureden und Vernunftgründe sie zu beschwichtigen suchte. Fürs erste bemühte er sich, ihr Vorurtheil gegen Rußland und dessen Bewohner zu bekämpfen, dann setzte er alle Vortheile des an sie beide ergangenen Vorschlages auf das weitläuftigste ihr auseinander. Er wollte mit Hülfe ihres wirklich sehr gesunden Verstandes ihr Mutterherz übertäuben; es gelang ihm nicht; in allem was er vorbrachte, hörte und verstand sie nur, daß er Willens sei ihr Kind aus ihren Armen zu reißen, um es nach einem fernen wilden Lande, zu fremden Leuten zu schicken.

Angst und Schmerz überwältigten endlich ihre physische Kraft. Fürchterlich aufkreischend glitt sie, ehe ihr Mann sich dessen versah, aus seinen Armen auf den Fußboden hin; dort lag sie zu seinen Füßen, konvulsivisch schluchzend, gräßlich lachend, das Gesicht bis zum unkenntlichen [36] durch fürchterliche Zuckungen entstellt, in einem jener hysterischen Anfälle, denen bei heftigen Gemüthsbewegungen die Engländerinnen weit mehr und häufiger, als andre Frauen unterworfen sind.

Dem ehrlichen Wood geschähe himmelschreiendes Unrecht, wenn man ihn hier theilnahmloser Gleichgültigkeit beschuldigen wollte. Im Gegentheil versuchte er alles Erdenkliche, um den traurigen Zustand seiner Frau zu mildern, und als keines der sonst in solchen Fällen gewöhnlichen Hausmittel anschlagen wollte, lief er selbst den Apotheker aus dem Bette zu holen, der überall beim Mittelstande in England die Stelle eines Arztes vertritt.

Aber auch die stärksten Mittel, welche der Stiefsohn Äskulaps anwandte, versagten diesmal ihre Wirkung. Die nächtlichen Stunden vergingen, ohne daß die Leidende zu völligem Bewußtsein gelangte. Und als endlich der Tag darüber [37] anbrach, während der Apotheker den besorgten Ehemann fortwährend durch Versicherungen des völlig gefahrlosen Zustandes seiner Frau zu beruhigen suchte, da, es läßt sich nicht abläugnen, da überkam den guten Master Wood doch eine Art innerer Zufriedenheit darüber, jedes weiteren Kampfes mit seiner Sally durch diesen Zufall überhoben zu sein.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Mißtreß Wood aus todtenähnlichem Schlummer erwachte. Das Geläute der nahen Kirche rief die Gemeine zum Gottesdienst, und tanzende Sonnenstäubchen spielten in dem, durch eine Öffnung der Gardinen, auf ihr Bette schräg hinfallenden Sonnenstrahle; es war eilf Uhr.

Zu spät, zu spät! rief die arme Frau, und ein Strom von Thränen machte ihrem verzweifelnden Gefühle Luft, indem er sie wahrscheinlich zugleich vor einem neuen Anfalle von Krämpfen bewahrte.

[38] Das Ende von diesem Allen ist leicht abzusehen. Ungeachtet des tapfersten, bis zu der verhängnißvollen Mittwoche fortgesetzten Widerstandes, mußte Mißtreß Wood sich doch dem Willen ihres Herrn und Gebieters endlich ergeben. Freilich hatte auch er mit dem eignen Vaterherzen einigen Kampf zu bestehen; der hübsche muntre Richard war sein und des ganzen Hauses Liebling; doch mit Eigennutz verknüpfte Rücksichten bilden eine Kette, deren Glieder alle auf das engste ineinander greifen, und die in allen Ständen das gesellige Leben in allen seinen Nüancen durchzieht und umschlingt.

Eines entsteht aus dem Andern; dem Petersburger Banquier Groß lag alles daran, sich in der Gunst eines der mächtigsten Fürsten des Reichs dadurch immer fester zu stellen, daß er jeden Auftrag desselben auf das pünktlichste und schnellste ausführte.

Der englische Banquier, Sir John Murray, [39] war nicht weniger dabei interessirt, die Wünsche eines so bedeutenden Handelsfreundes, wie Herr Groß ihm war, zu erfüllen, und die zwischen ihnen beiden bestehende Connexion dadurch immer fester zu knüpfen. Daß er sein großes Übergewicht über den zwar ebenfalls reichen, aber doch, als Ladenhändler in der City, tief unter dem zum Ritter erhobenen Wechsler stehenden Strumpfhändler dabei in Anwendung brachte, kann man ihm schwerlich verargen; und daß Master Smith, abgesehen von andern noch solidern Gründen zur Gefälligkeit, durch die herablassende Freundlichkeit eines so vornehmen Mannes zu geschmeichelt sich fühlte, um nicht seinen demüthigen Gevatter und Freund, den kleinen geldarmen aber kinderreichen Strumpf-Fabrikanten durch die lockendsten Verheißungen zu seinem Willen zu bringen, liegt nun einmal in der menschlichen Natur.

Leid, sehr leid thut es uns, daß wir die [40] gute Sally, mit ihrem warmen Mutterherzen, noch gewissermaßen dem Ende dieser Kette anhängen müssen; aber abläugnen läßt es sich nicht, daß nur einer von allen Trostgründen, mit denen ihr Ehegemahl sie überschüttete, des gewünschten Eindrucks nicht ganz verfehlte.

Und wenn wir nun, vielleicht noch ehe Jahr und Tag verstreichen, mit Hülfe des von Sir John Murray und Smith & Compagnie uns verheißnen Credits, es dem stolzen Narren Bird und seinem aufgeblasenen Weibe gleich thun können? fragte er, ihr listig lächelnd ins Gesicht schauend; oder wenn, denn man kann nicht immer wissen wie alles kommt, wenn nun gar Mißtreß Wood, in ihrem eleganten neuen Landauer voll geputzter Kinder, an dem magern Einspänner der Mißtreß Bird vorüberrollend, mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken sie begrüßt? Sally! Du kleine Hexe, was sagst Du dazu? He?

[41] Sally sagte kein Wort. Sie weinte immer hin, aber sie lächelte doch ein klein, klein wenig, ganz heimlich und verschämt, mitten in ihren Thränen.

Wolle doch Keiner den ehrlichen Wood zu hart verdammen, oder wohl gar des Kinderhandels ihn beschuldigen, ohne vorher die große Gewalt eines von Jugend auf gesehenen Beispiels zu bedenken. In England, dem Markte der Welt, wie Schiller es sehr treffend nennt, ist vieles auf eine, uns Bewohnern des festen Landes unbegreifliche, ja empörende Weise verkäuflich. Offiziersstellen bei der Armee haben, bis zu einem gewissen Grade, ihren Preiß, um den jeder sie erhandeln, und wenn er sie aufzugeben geneigt ist, auch wieder verkaufen darf. Wie viel Gold und Goldeswerth ein Sitz im Parlamente kostet, ist allbekannt. Der Glückliche, der, wenn er auch nur ganz oberflächlich Theologie studirt hätte, durch Familienverbindungen oder [42] Protection, einer bedeutenden Stelle im Dienste der englischen Kirche sich erfreut, darf frei und öffentlich um geringen Sold einen ärmeren Geistlichen sich erkaufen, der alle Pflichten und Arbeiten seines Standes für ihn übernimmt, während der sehr ehrwürdige Herr, ganz mühelos, eines Einkommens von mehreren Tausenden sich erfreut.

Um die für ihn unerschwinglichen Kosten einer Klage auf Ehescheidung zu ersparen, bindet der englische Tagelöhner, durch einen uralten Gebrauch dazu berechtiget, seinem untreuen Weibe einen Strick um den Hals, und verkauft es an seinen begünstigten Nebenbuhler um wenige Schillinge auf öffentlichem Markte.

Der feine honorable Gentleman aber trägt in ähnlichem Falle die Schande seines Namens, seines Hauses, seiner Kinder vor Gericht, breitet sie dort vor den Augen der Richter auf die widerwärtigste Weise weitläuftig aus, duldet es [43] gelassen, wenn freche Zeitungsschreiber die scandalöse Geschichte zu einem pikanten Artikel in ihren Blättern benutzen, und klagt nicht auf Ehescheidung, sondern auf Schadenersatz durch Geld für den erlittenen Verlust; der denn auch von den Richtern gehörig gewürdigt und taxirt wird, ehe man die gebührende Summe ihm zuerkennt, die er auch ohne Erröthen sich richtig auszahlen läßt.

Möge denn auch der vom täglichen Beispiele verleitete Wood für seine Speculation einige Entschuldigung hier finden, von der sich doch nicht voraussagen ließ, ob sie nicht für den dabei am meisten betheiligten Richard am vortheilhaftesten ausfallen möchte.


Unter Thränen, Klagen und häuslichem Jammer aller Art, kam die verhängnißvolle Mittwoche heran. Wenn die Mutter in der Zwischenzeit [44] von Trennung sprach, so weinte Richard mit ihr, und versicherte schluchzend, daß er lieber sterben wolle, als sie verlassen; wenn aber der Vater von der Kutsche und dem prächtigen Schiffe erzählte, auf welchem Richard fahren sollte, so gerieth der kaum achtjährige Knabe in eine ganz andre Stimmung, und schien den Tag der Abreise kaum erwarten zu können. Richard war eben ein Kind, wie alle an Leib und Seele gesunde Kinder sind, der Gegenwart lebend, und immer das Allererwünschteste von der Zukunft erwartend.

Als er das Vaterhaus verlassen sollte, hing er unter lautem Geschrei am Halse der trostlos jammernden Mutter; als man von ihr ihn gewaltsam entfernte, klammerte er sich an den Fuß eines nahe an der Hausthüre stehenden Tisches an. Aber der Anblick der vier stattlichen Pferde vor der ihn erwartenden Kutsche milderte, sobald er auf der Straße war, seinen Schmerz. Die ihm [45] neue Freude des Fahrens, nebst einer Schachtel voll Confect, mit welcher James Cox sich in London zu diesem Zwecke versehen, trockneten völlig seine Thränen. Er langte ganz wohlgemuth bei seinem Pathen an, ließ all' die guten Dinge, die ihn dort erwarteten, sich wohlgefallen, weinte ein wenig, als er beim Zubettegehen die Mutter vermißte, schlief aber, reisemüde, bald ein. Er jauchzte vor Freuden, als er auf das bunt bewimpelte Schiff gebracht wurde, legte die Seereise gesund und munter zurück, und als er landete, war über die vielen neuen fremden Gegenstände, die sich ihm entgegen drängten, die Heimath so gut als vergessen.


Fürst Andreas, in dessen glänzenden Palast der kleine Fremdling sich, wie durch einen Zauberschlag, aus der engen Häuslichkeit versetzt sah, in welcher er bis dahin vegetirt hatte, war ein [46] stattlicher, vornehm aussehender Mann, in den sogenannten besten Jahren, das heißt zwischen vierzig und funfzig. Die stolze Haltung, der ernste Blick, bezeichneten in ihm das mächtige Oberhaupt einer, in vielfachen Verzweigungen durch das ganze russische Reich verbreiteten, und sowohl am Hofe als im Volke in hohem Ansehen stehenden Familie. Es lag in seiner Persönlichkeit ein gewisses Etwas, das sich ganz dazu eignete, denen, die zum erstenmal in seine Nähe kamen, ehrerbietige, oder auch, je nachdem die Leute waren, furchtsam-ängstliche Scheu einzuflößen; doch das wahrhaft menschenfreundliche milde Betragen des Fürsten, wandelte diese gar bald in Vertrauen um, das aber nie in Vertraulichkeit ausarten durfte.

Den hohen Rang, die vielen, über Tausende ihn erhebenden Vorzüge, zu welchen sein Geschick ihn geboren werden ließ, wußte Niemand mit mehr Würde und Anstand zu tragen, als Er. [47] In seinem ganzen Wesen zeigte sich keine Spur jener, fast wie Ironie aussehenden, populär sein wollenden Höflichkeit gegen Geringere, die diese nur in ängstigende Verlegenheit setzt, weil sie, aus ihrer Sphäre gehoben, den Maßstab verlieren, nach welchem sie, ohne beklemmende Besorgniß, zu viel oder zu wenig zu thun, ihr eignes Betragen einrichten könnten. Jede Ehrenbezeugung, die seinem hohen Stande gebührte, ließ er gelassen und ohne einen besondern Werth darauf zu legen, sich gefallen. Dadurch erleichterte er Jedem, auch dem Geringsten, den Umgang mit sich, ohne jemals sich selbst etwas zu vergeben.

In seiner Jugend hatte Fürst Andreas mehrere Jahre im Auslande zugebracht, hatte England, Frankreich, Italien und einen großen Theil von Deutschland mit Nutzen bereiset, und mit dem seinem Volke eignen Talente die verschiedenen Sprachen dieser Nationen sich angeeignet, [48] und war dann mit bereichertem Geiste und erweiterten Weltansichten in seine Heimath zurückgekehrt.

Glühende Vaterlandsliebe war der Grundton seines Wesens, und das Bestreben, die Kenntnisse, die er im Auslande sich erworben, zur höheren Kultur seines Volkes zu verwenden, um es mit der Zeit den gebildetesten Völkern Europas gleichzustellen, ward zum Hauptzweck seines Lebens. Dieser innigste Wunsch steigerte mit zunehmenden Jahren sich bis zur Leidenschaft, und verleitete ihn bisweilen zu manchem bedeutenden Mißgriffe; denn er verlor oft, über seine allzugroße Vorliebe für alles Ausländische, die von der Existenz seiner Landsleute unzertrennlichen, durchaus charakteristischen Eigenheiten derselben aus den Augen, und verletzte beim besten Willen, wo er ganz das Gegentheil beabsichtigte.

Seine, an Alter ihm fast gleiche Gemahlin, Eudoxia, war das mildeste Gemüth von der Welt, [49] das Mann und Kinder wie sich selbst liebte, und gleich einer segenspendenden Gottheit, und auch so verehrt, über allen den viel tausend Seelen schwebte, deren große Zahl, nach russischem Gebrauche, den überschwänglichen Reichthum des fürstlichen Hauses bezeichnete. Sie half jeder Noth ab, deren Kenntniß bis zu ihr gelangte; einem menschlichen Wesen wehe zu thun, oder auch nur es leiden zu sehen, wenn man helfen konnte, dünkte ihr unmöglich. Sie hörte es sehr gern, wenn ihre Leibeignen, nach dem naiven Gebrauche des russischen Volkes, sie Mütterchen nannten; was übrigens in jenem Lande ein Ehrenname im Munde desselben ist, dem ein geneigtes Ohr zu leihen, selbst die Kaiserin aller Reußen nicht verschmäht.

Die Fürstin Eudoxia hatte übrigens alle Ansichten ihres Gemahls sich dermaßen angeeignet, daß man wohl von ihr sagen konnte, sie sah nur mit seinen Augen, und dachte nur seine [50] Gedanken. Daß auch er menschlich irren könne, kam ihr eben so wenig in den Sinn, als daß jemals ein ihr nicht gleich Geborner die zwischen ihrer Hoheit und seiner Niedrigkeit bestehenden Schranken übersteigen wollen könne. Aufgewachsen in allen verjährten Vorurtheilen ihres hohen Standes, kannte sie nur Adlige und Leibeigne, und war, mit ächt orientalischer Ruhe, von dem in der Natur gegründeten Unterschiede dieser beiden Menschenracen fest überzeugt, ohne weiter darüber nachzudenken. Doch gerade deshalb trieb die ihr angeborne Güte des Gemüthes sie zum innigsten Mitleide mit den Unglücklichen, denen von der Natur alle innern und äußern Vorzüge schon bei ihrem Eintritte in das Leben versagt worden waren, welche die ihr Ebengebornen gleich einer Glorie umstrahlten.

Um für das ihnen angeborne Elend sie gleichsam zu entschädigen, und es ihnen dadurch [51] minder fühlbar zu machen, entsagte Eudoxia im gewöhnlichen Leben, aus ächter Barmherzigkeit, den ihrer Geburt gebührenden Ehrenbezeugungen. Sie forderte nichts, was Ihrem Gefühl nach jene Armen noch tiefer beugen konnte; aber wehe dem unter ihnen, der tactlos genug gewesen wäre, diese Äusserlichkeiten zu vergessen, ohne von der Fürstin ausdrücklich und besonders dazu aufgefordert und berechtigt worden zu sein. Es giebt keine Worte, um ihr Erstaunen über eine solche, die Möglichkeit überschreitende, an Sakrilegium gränzende Unthat, gehörig zu schildern. Glücklicherweise hatte sie bis jetzt nur selten eine solche Erfahrung gemacht, denn sie ward allgemein, von Hohen und Niedern, geliebt und verehrt.

Auch war Fürstin Eudoxia wirklich eine gute Dame, mit der es sich ganz leicht leben ließ; denn auch sie liebte die Menschen, auch die niedriggebornen, aber freilich ungefähr so, wie [52] wir Andern unsre Lieblingspferde oder Hunde lieben. Wer unter uns hat nicht schon mit mitleidigem Erbarmen auf seinen Hund niedergeblickt, wenn das treue Thier mit klugen Augen uns ansieht, und durch leises Winseln andeutet, daß es gern antworten möchte, wenn die arme stumme Kreatur nur reden könnte.

Isidor, der älteste Sohn des fürstlichen Paares, war bei Richards Ankunft schon funfzehn Jahre alt, und einem deutschen Hofmeister übergeben, unter dessen Leitung er für die diplomatische Carrière sich vorbereitete, für welche er bestimmt war. Alexis, sein um zwei Jahre jüngerer Bruder, wurde für den Militairdienst erzogen, und Eugen, der jüngste der drei Söhne, hatte so eben das siebente Jahr erst erreicht.

Von den beiden Töchtern des Hauses war Natalie, die älteste, ein sehr niedliches sechsjähriges Prinzeßchen, das unter den Händen der, übrigens sehr vorzüglichen Gouvernante, Mademoiselle [53] Duprés, schon eine ziemlich französische Tournüre erhalten hatte, und für ein Muster von Artigkeit galt. Die kleine Helena aber, ein ächtes Kind der Natur, hübsch wie ein Engelsköpfchen, frisch und blühend wie ein Mairöschen, stand noch unter der Aufsicht ihrer Amme, und war die Lust und Freude der Eltern, wie des ganzen Hauses.

Mitten in diesen Familienkreis, zu welchem noch eine bedeutende Anzahl dem fürstlichen Hause anverwandter Kinder gehörte, der auch noch täglich durch demüthigere Gespielen, Söhne und Töchter der vornehmern Dienerschaft erweitert wurde, sah der kleine Insulaner, wie ein fremdes Wunderthier, sehr unvorbereitet sich hingestellt. Befangen, blöde, daneben etwas verblüfft, sah er nach der Reihe alle die fremden Leute sich an, und das Weinen mochte ihm näher sein als das Lachen.

Doch als Fürst Andreas, in recht verständlichem,[54] wenn gleich etwas fremdartig ausgesprochnem Englisch ihn freundlich anredete, Herr Müller, Isidors Hofmeister, ebenfalls in seiner Muttersprache, ihn aufforderte guten Muthes zu sein, weil es in diesem Hause ihm nicht anders als wohl ergehen könne, und endlich sogar der sonst ziemlich zurückhaltende Isidor die paar englischen Worte, die er von Herrn Müller erlernt hatte, zusammensuchte, um den kleinen Fremdling willkommen zu heißen, da wurde diesem schon leichter um das Herz.

Das Beste dazu aber that Eugen, der kein Wort englisch wußte. Er nahm den neuen Gespielen, der seiner Meinung nach eigens für ihn verschrieben worden war, beim Kopf, fuhr mit linder loser Hand ihm liebkosend durch die lichtblonden Locken, sah ihm lächelnd in die großen blauen Augen, streichelte ihm die feuerroth glühenden Wangen, faßte ihn dann mit beiden Armen an, und sprang mit ihm ein paar Mal[55] durch das Zimmer, daß der Fußboden dröhnte, und die kleine Helena, die sich in das Spiel mischen wollte, von ihrem Bruder beinah umgerannt wurde. Doch Richard nahm noch im rechten Augenblicke sie gewandt auf, und brachte sie zu ihrer Amme; denn er war an Aufmerksamkeiten dieser Art noch von zu Hause her bei seinen kleinen Geschwistern gewöhnt.

Die Nacht mußte Richard, auf Eugens ausdrückliches Verlangen, in der nächsten Nähe seines kleinen Beschützers schlafen; am folgenden Tage wurde der Insulaner mit seinen Umgebungen schon bekannter, und fing an, sich ein Herz zu fassen; nach vier Wochen waren sämmtliche Kinder im Stande, halb in russischer halb in englischer, und wo diese nicht ausreichten, durch Zeichen und Geberden sich unter einander recht leidlich zu verständigen. Es ging freilich ein wenig wie beim babylonischen Thurmbau dabei her, aber die Lust war deshalb nur um [56] so größer, und des Lachens und Jauchzens kein Ende.


Richard wurde wirklich im Hause des Fürsten Andreas den Kindern desselben in jeder Hinsicht völlig gleich gestellt; gekleidet und bedient wie sie, theilte er Unterricht und Vergnügen mit ihnen. Ein alter freundlicher Diener war ihm, mehr zur Aufsicht als zur Bedienung beigegeben, der bei seinen kindischen Einfällen und Spielen ihm redlich half; Eugen, zu welchem Richard der Gleichheit ihres Alters wegen sich vorzugsweise hielt, bekam ein kleines Pferd zum Reiten, und am nämlichen Tage wurde auch Richard mit einem nicht minder hübschen beschenkt; lauter Dinge, an die nur zu denken, ihm daheim auch nicht im Traume eingefallen wäre.

Alle im Hause gaben sich gern und freundlich mit ihm ab, jeder Tag brachte ihm etwas [57] Neues, das ihn erfreute, und so war es denn nicht zu verwundern, wenn die Sehnsucht nach Eltern, Geschwistern, und der fernen Heimath, wo es ihm lange nicht so gut ergangen war als hier, gar bald aus seinem Gemüthe völlig schwand. Richard war kaum acht Jahre alt, ein lebhaftes glückliches Kind; möge dieses zu seiner Entschuldigung dienen, wenn er nach einem kurzen Jahre sich der vorigen Zeit kaum noch erinnerte und ihm bedünkte, wirklich zu sein, was er doch eigentlich nur zu sein schien. An was gewöhnte der Mensch sich leichter als an Wohlleben und Pracht! und was entschwindet schneller und spurloser aus der Seele, als Erinnerung an frühere Armuth und Niedrigkeit.

Aber auch von Seiten der Eltern geschah leider wenig, um ihr Andenken im Gemüthe ihres Kindes lebendig und warm zu erhalten. Gleich nach seiner Ankunft in Petersburg hatte Richard an Vater und Mutter geschrieben, baldige [58] Antwort war darauf erfolgt, doch auf einen zweiten Brief blieb diese mehrere Monate aus, und endlich erhielt er gar keine mehr. Richard gab nun ebenfalls das Schreiben auf, und die Folge davon war, daß er weder an Eltern noch Vaterland weiter dachte, und sich da, wo es ihm so wohl erging, so ganz daheim fühlte, daß ihm zu Muthe war, als sei es immer so gewesen.

Master Wood war aber auch wirklich in Nottingham vom Morgen bis zum Abend dermaßen mit Arbeit belastet, daß er kaum zu sich selbst kommen konnte. Seine Londoner Freunde hatten ihm ihr Versprechen gehalten; mit ihrer Hülfe war es ihm gelungen, sein Fabrikgeschäft um mehr als das doppelte zu erweitern, und den mit ihm rivalisirenden Nachbar Bird völlig zu überflügeln; aber nun gab es auch doppelt zu thun. Es gab so viele Geschäftsbriefe zu schreiben, daß für andre, die [59] ihm ohnehin nie sonderlich aus der Feder fließen wollten, weder Zeit noch Lust übrig blieb.

Zeit, Gewöhnung, häusliche Leiden und Freuden, hatten auch die Thränen der Mutter früher getrocknet, als sie selbst es gedacht, und über die Trennung von ihrem Lieblinge sie getröstet. Freilich hätte sie anfangs ihm gern geschrieben, wäre sie nur in Behandlung der Feder etwas geübter gewesen; als nun aber, mit dem steigenden Wohlstande ihres Hauses, auch ihr Haushalt sich bedeutend vergrößerte, und späterhin sogar ein neuer kleiner Ankömmling die Lücke wieder ausfüllte, welche Richards Entfernung in die Reihe ihrer Kinder gebracht, so daß sie deren wieder vierzehn um sich sah, da begnügte die gute Frau sich ganz gelassen mit den Nachrichten von ihrem abwesenden Sohne, die sie zuweilen durch Vermittelung der Londoner Geschäftsfreunde ihres Mannes aus der dritten Hand erhielt. Sie waren bis jetzt noch [60] immer erfreulich ausgefallen; Master Wood versäumte nie, den Richard betreffenden Punkt aus Sir Johns oder Master Smith's Briefen ihr vorzulesen. Ist es nicht vernünftig, für etwas das man ohne Mühe und Kosten erlangen kann, sich unnütze Schreibereien, und obendrein das theure Postgeld zu ersparen? pflegte er gewöhnlich nach einer solchen Vorlesung zu seiner Frau zu sprechen; und Sally nickte ihm beifällig zu, und wiegte ihr Neugebornes.


Früher noch als man es gehofft stieg Moskau, gleich dem Vogel Phönix verjüngt und verschönert, aus der Asche jenes weltgeschichtlichen Brandes wieder auf, dessen unabsehbare Folgen kommenden Beschreibern unsrer merkwürdigen Zeit noch nach Jahrhunderten Stoff zu Hypothesen liefern werden. Die reichen und vornehmen Bewohner der uralten Stadt, welche, [61] um den Schrecken jener furchtbaren Katastrophe zu entgehen, sich bei Zeiten aus derselben entfernt hatten, kehrten nach und nach in ihre wieder hergestellten Paläste zurück, und auch Fürst Andreas beeilte sich, Petersburg, wohin er damals mit den Seinen sich geflüchtet hatte, wieder zu verlassen, um bei der Vollendung seines prachtvollen Baues in Moskau selbst gegenwärtig zu sein, und die innre Einrichtung und Ausschmückung desselben, nach seinem im Auslande geläutertem Geschmacke, unter seinen eignen Augen besorgen zu lassen.

Sobald alles zu ihrem Empfange eingerichtet war, folgte die Fürstin ihrem Gemahl. Nur ihre beiden Töchter und der jetzt neunjährige Eugen nebst seinem von ihm unzertrennlichen Gefährten Richard begleiteten sie. Der älteste ihrer Söhne, Prinz Isidor, blieb mit seinem Hofmeister zurück, um seine Vorbereitung zur Universität Dorpat, die er im nächsten Jahre [62] beziehen sollte, zu vollenden. Alexis, der zweite Sohn, wurde einer der kaiserlichen Anstalten für die Bildung zur Marine übergeben; denn diesen beschwerlichen Dienst hatte er aus freiem Antriebe sich erwählt.

Das ewig heitre, mitunter wilde Treiben der beiden Knaben, die sie einen wie den andern ihre Söhne nannte, belustigte die Fürstin ungemein. Die von einem so bedeutenden Umzuge unzertrennliche Unruhe, das Hin- und Herlaufen der Arbeitsleute und Bedienten, das Packen und Hämmern, das Rufen und Lärmen vor der Abreise, und endlich die Reise selbst, beschäftigte die Kinder so angenehm und anhaltend, daß sie gar nicht dazu gelangen konnten, sich über den Abschied von ihren Petersburger Spielkameraden gehörig zu betrüben. Während der Reise, vorzüglich aber in Moskau selbst, gefiel ihnen alles ganz unendlich, denn alles war ihnen neu; der mildere Himmel, die schönere [63] Natur rings um Moskau, verfehlten späterhin nicht, diesen Eindruck bleibend zu machen.

Prinzeßchen Natalie war schon zu wohlgezogen, um mit den beiden wilden Knaben sich viel abzugeben, die sie zwar recht lieb hatte, deren lärmende Spiele ihr aber oft Unlust und Mißvergnügen erregten. Die kleine Helena hingegen, die indessen jetzt fest genug auf ihren Füßchen stand, um sich nicht so leicht umrennen zu lassen, war und blieb ihre treue Spielgefährtin, lief, kletterte, sprang mit ihren beiden Brüdern, wie sie sie nannte, um die Wette. Zwar war auch sie einer Gouvernante, und zwar einer Deutschen jetzt übergeben, doch ihre Amme Elisabeth war, von der Fürstin Eudoxia dazu berechtigt, dennoch in Rang und Würden bei ihr geblieben. Sobald es nicht dem eigentlichen Unterrichte galt, den sie freilich ihr nicht ertheilen konnte, hatte Elisabeth die specielle Aufsicht über das Kind ihres Herzens sich nicht nehmen lassen.

[64] Nach alter, ächt orientalischer Sitte, spielen überhaupt in den Familien der russischen Großen die Ammen eine sehr bedeutende Rolle. Frauen aus den höchsten Ständen hängen lebenslänglich mit unverbrüchlicher Liebe an der treuen Pflegerin ihrer hülflosen Kindheit; sie bleibt ihre Rathgeberin, die Vertraute ihrer Leiden und Freuden, und behält bei jeder großen oder kleinen Angelegenheit ihres Lebens eine oft entscheidende, nie unbeachtete Stimme.


Alle vier Kinder wuchsen im geselligsten Familienleben mit einander heran. Mit der Zeit wurden der Spielstunden weniger, der Stunden des Unterrichts hingegen mehr, und manche der letzteren wurden ihnen allen gemeinschaftlich ertheilt. In freien Stunden suchte die kleine Helena, soviel dieses anging, den beiden Knaben fortwährend zur Seite zu bleiben, und das immer [65] frohe, freundliche Kind wurde auch von ihnen als ein lieber willkommner Spielkamerad betrachtet, dem sie, weil er jünger und schwächer war, manches nachsahen und alles zu Gefallen thaten. Richard, als der älteste und stärkste, bestrebte sich besonders, Helenen überall zu vertreten und sie ritterlich in seinen Schutz zu nehmen, wenn Gefahr oder Unbill ihr drohten.

Lebte der gute August Lafontaine noch, und wären seine, fast in der Wiege aufflammenden, jetzt schon halb vergeßnen Kinderlieben noch Mode, welchen Stoff zu den rührendsten und naivesten Liebesscenen hätten die kleine russische Prinzessin und der englische Strumpfwebersbube ihm geboten! Was könnte romantischer erdacht werden, um ihn zum Ausspinnen einer höchst zart empfundenen Novelle zu verleiten. Doch Richard und Helene waren, die Wahrheit zu gestehen, zu gesunde, zu unverschrobene, zu wahrhaft kindliche, mitunter auch, selbst als sie schon ziemlich [66] herangewachsen waren, zu kindische Kinder, als daß so etwas bei ihnen nur denkbar gewesen wäre; sie nannten einander Bruder und Schwester, und liebten sich als solche recht ehrlich und offenbar.

So vergingen mehrere Jahre; Richard blieb, was er vom ersten Tage seines Eintritts in dieses Haus gewesen, der Liebling Aller, vom fürstlichen Ehepaar an bis zum Ofenheizer herab; vor allem aber Eugens innigster unzertrennlichster Freund. Wer beide, ohne sie genauer zu kennen, zusammen sah, mußte für Brüder sie halten; sie selbst hatten gänzlich vergessen, daß nur Wahlverwandtschaft, nicht Bande des Blutes sie verbänden. Alles hatten sie mit einander gemein, die Liebe der Eltern, die Vortheile welche Reichthum, Stand und Geburt, den Söhnen des Glückes gewähren; jeden Unterricht, nicht nur im Gebiete der Kunst und Wissenschaft, auch in ritterlichen Übungen, und[67] in Allem was Jünglinge aus den höhern Ständen bedürfen können, um sowohl in den bedeutendsten Stellungen des öffentlichen Lebens, als auf dem glatten Parkette der Salons, mit Anstand und Sicherheit aufzutreten.

Daß der arme Richard durch alles dieses viel zu hoch über die bescheidne Sphäre erhoben werde, welche sein Geschick beim Eintritt in das Leben ihm angewiesen hatte, daran dachte Keiner, am wenigsten er selbst; sogar das Fürstenpaar schien die zwischen dem in Dunkelheit gebornen Fremdling, und den Sprößlingen seines erlauchten Hauses bestehende Scheidelinie, ganz aus den Augen verloren zu haben.

Die Fürstin wünschte ihre Kinder, besonders ihre Töchter, das ächte Frühlingsleben der Jugend so lange als möglich genießen zu lassen; sie führte sie daher später, als sonst wohl geschieht, in die Gesellschaft der großen Welt ein; versagte ihnen aber, als sie heranwuchsen, keine [68] ihrem Alter angemessne Freude. Sogenannte Kinderbälle, musikalische Übungen, Spazierfahrten im Sommer, Schlittenpartieen an leidlichen Wintertagen, gewährten ihnen Abwechselung und Vergnügen im Überfluß; sogar ein kleines Theater wurde ihnen im Palast errichtet, auf welchem, anfangs an Geburtstagen und bei ähnlichen festlichen Gelegenheiten, kleine dramatische Vorstellungen von ihnen gegeben wurden, die sich zuletzt zu einem förmlichen Liebhabertheater gestalteten.

Alles dieses bot Gelegenheit zu mannigfaltigen Verbindungen mit andern jungen Leuten ihres Standes und Alters. Ganz unbefangen nahm Richard an allen Festen und Vergnügungen thätigen Antheil, und spielte dabei, durch seine persönlichen Vorzüge dazu berechtigt, keinesweges eine untergeordnete, sondern vielmehr eine sehr ausgezeichnete Rolle. Eltern und Heimath wurden über das alles völlig vergessen; [69] darf man ihn deshalb verdammen? Doch mitten in diesem Freudentaumel wurde er ganz unerwartet an beide erinnert, und zwar, sonderbarer Weise, von der Fürstin Eudoxia selbst.


Die Fürstin liebte es, in müßigen Stunden sich von ihrem Pflegesohne die neuesten Erzeugnisse der französischen Literatur in ihrem Kabinette vorlesen zu lassen, welche aber damals, gegen den romantisch wilden Schwung, den sie in unsern Tagen gewonnen haben, noch ziemlich nüchtern sich ausnahmen. Das neueste Werk des damals noch sehr bewunderten Herrn von Arlincourt war, zu Richards großer Freude, eines Tages beendet, und er, innerlich noch gähnend, eben im Begriff das Buch an seinen Platz zu bringen, als die heute besonders gütig gestimmte Fürstin plötzlich auf den, ihr nie zuvor gekommenen Einfall gerieth, nach seiner Familie sich [70] zu erkundigen. Sie fragte ihn, wie alt seine Mutter sei, wollte die Anzahl seiner Geschwister, Namen und Alter eines jeden derselben von ihm erfahren, lauter Fragen, die Richard nicht zu beantworten im Stande war, und die ihn beängstigten und verwirrten, weil er, nach langem Besinnen, doch nichts fand, was er darauf erwiedern könne. Durch eine schnell ersonnene Antwort rasch aus der Verlegenheit sich zu ziehen, war seinem redlichen Sinne nicht möglich, und doch war ihm nicht unbekannt, mit welcher Innigkeit alle Russen, vom Höchsten bis zum Geringsten, an den Ihrigen hangen, und mit welcher religiösen Pietät sie besonders ihre Eltern und das Andenken derselben ehrfurchtsvoll hochhalten. In diesem Augenblicke erschien das gänzliche Vergessen der Seinigen ihm beinahe wie ein Verbrechen.

Ich wurde so jung von den Meinigen getrennt – ich erhalte so selten Nachricht von ihnen, [71] stotterte er endlich, erglühend im ganzen Gesicht; Thränen traten ihm in die Augen, als er bemerkte, daß der Fürstin seine Verlegenheit nicht entging. Doch sie mochte dieselbe anders sich deuten, als er in seiner tiefen Beschämung es fürchtete; vermuthlich weil der wahre Grund derselben ihr undenkbar war; denn sie sah mitleidig lächelnd ihn an.

Guter Sohn, sprach sie, freilich liegen mehr als zehn lange Jahre, und Meere und Länder zwischen Dir und den Deinen. Aber was Du dort verlorest, hast Du hier wiedergefunden, und sollst es nie wieder verlieren.

Tief bewegt küßte Richard die ihm gebotene schöne Hand. Ich bin Willens Dir und den Deinen eine kleine Freude zu bereiten, fuhr die gütige Frau fort, Du sollst Deine Mutter und auch Deine Schwestern beschenken. Ein armenischer Kaufmann war heute Morgen bei mir, unter dessen Waarenvorrathe ich allerlei Kleinigkeiten [72] auswählte, die einer englischen Lady vielleicht gefallen können, weil sie in ihrem Lande etwas Seltenes sind.

Schwer beladen mit wirklich fürstlichen Geschenken mannigfaltiger Art, eilte Richard von der Fürstin in sein Zimmer. Seine Freude war gränzenlos; wer ihm in den Weg kam, wurde um Rath und Hülfe angegangen, wie das alles auf das sicherste und sorgfältigste einzupacken wäre. Er gönnte weder sich noch andern Ruhe, bis er seine Kostbarkeiten zur weitern Beförderung auf dem Wege nach Petersburg wußte, und sah hernach täglich nach der Windfahne, bis er Nachricht von der glücklichen Ankunft seiner Sendung aus England erhielt.


Seit Nottingham steht, hat wohl kein außerpolitisches Ereigniß in dem Städtchen mehr [73] Lärm gemacht, größeres Aufsehen erregt, als die Ankunft von Richards Sendung. Alle Bekannten, ja die halbe Stadt strömte herbei, Mißtreß Wood zu besuchen, und die nordischen Schätze zu bewundern, deren Gleichen dort nie gesehen worden waren. Die Dose von ächtem sibirischen Malachit, deren Werth Master Wood fast unermeßlich taxirte, die in Gold gefaßten türkischen Pastillen und mit wunderlichen Schriftzügen bedeckten Amulette, die blinkenden Fläschchen mit Rosenöl, die reichen Stoffe, die trefflich gearbeiteten Erzeugnisse russischer Fabriken in Stahl, Krystall und vor allem in Saffian, erregten die höchste, mit etwas Neid untermischte Bewunderung; der zu mannigfaltigem Schmucke gefaßten farbigen Edelsteine nicht einmal zu gedenken; und wenn Mißtreß Wood in ihren ächt türkischen Kaschmir-Shawl gewickelt durch die Straßen stolzierte, füllten sich alle Fenster mit ihr nachschauenden Gesichtern. Sogar die [74] Straßenbuben ließen Ball- und Reifenspiel im Stich, und zogen bewundernd ihr nach.


Richard hatte abermals von England und seinen Eltern seit längerer Zeit keine Nachricht erhalten; der dorthin abgesandten Geschenke wurde nicht weiter gedacht, und er fing eben wieder an, sich in Hinsicht auf seine Familie seiner gewohnten Gleichgültigkeit hinzugeben, als ein von dorther an ihn abgesandtes Kästchen, nebst dem Auftrage, im Namen seines Vaters, als schwachen Beweis von dessen Dankbarkeit, es der Fürstin zu überreichen, ihn sehr angenehm überraschte. Freudig eilte er es ihr selbst hinzutragen; es fand freundliche Aufnahme, und wurde sogleich geöffnet, um den Inhalt desselben zu untersuchen.

Strümpfe kamen zum Vorschein, nichts als baumwollne Strümpfe, viele, viele Dutzende, [75] für die Fürstin selbst, und für die Prinzessinnen; aber was für Strümpfe! Strümpfe wie die Welt sie nie gesehen. Wie aus Sommerfäden, von Elfenhänden gewoben, durchsichtigklar, wie der feinste Spitzengrund, an Muster und Gewebe den kostbarsten Brabanter Kanten zu vergleichen.

Eigne Maschinerien hatten zu ihrer Verfertigung erfunden werden müssen; mit unendlichen Weitläufigkeiten und großem Aufwande hatte Master Wood die geschicktesten Arbeiter in diesem Fache aus ganz England herbeigezogen, um mit ihrer Hülfe ein Meisterwerk hervorzubringen, dessen Ausführung in den Annalen des englischen Manufakturwesens seinen Namen verewigen wird.

Das Erstaunen, welches diese Sendung im fürstlichen Palaste zu Moskau erregte, war dem, in welches die gute Stadt Nottingham über die russischen Geschenke gerathen war, zu vergleichen. [76] Die Prinzessinnen, ihre Gouvernanten, die Amme Elisabeth, sogar die Kammerfrauen, wurden auf der Fürstin Geheiß herbei gerufen, um bewundern zu helfen. Des Lobens, des Außersichkommens über die unbegreifliche Feinheit, über die geschmackvolle Arbeit der Strümpfe, war kein Ende, bis der Fürst Andreas selbst zufälliger Weise in das Zimmer trat.

Auch er würdigte den Gegenstand allgemeiner Bewunderung seiner Aufmerksamkeit, und ließ über die hohe Vollendung, zu welcher Fleiß und Industrie die englischen Fabrikate hinaufgetrieben haben, sich weitläuftig aus. Dieses brachte ihn auf seine Lieblings-Idee, auf die Möglichkeit, auch in Rußland durch gehörige Leitung und Unterstützung der arbeitenden Volksklasse ähnliches zu erreichen.

Warum wäre es nicht möglich, einen geschickten Arbeiter aus dieser Fabrik nach Rußland [77] zu ziehen? rief er im Verfolg seiner Gedanken; Richard, sind die Namen des Orts, wo diese Strümpfe gemacht werden, und des Fabrikanten Dir bekannt?

Richard war eben beschäftigt, Helenas Stickrahmen aufzuspannen: Mein Vater hat sie gemacht: war seine nachlässig hingeworfene Antwort.

Die Fürstin erschrak und wurde bald bleich, bald roth.

Dein Vater? rief sie: Richard das hoffe ich nicht. Ist Dein Vater? – macht Dein Vater? – ist Dein Vater denn ein Strumpfwirker? stotterte sie sehr verlegen.

Richard war noch immer neben Helenen mit dem Stickrahmen eifrig beschäftigt.

Ich meine ja: erwiederte er gedankenlos: ich kann mich dessen zwar kaum noch erinnern, aber gewiß muß es so sein. Denn es wurden in unserm Hause immer viel Strümpfe gemacht, [78] soviel weiß ich ganz deutlich: setzte er sich bestimmend hinzu.

Eudoxia verstummte, sah aber mit einem ganz unbeschreiblichen Blicke ihn an, den Richard indessen nicht bemerkte, denn er mußte jetzt Helenen beim Durchzeichnen ihres Musters helfen. Bald darauf entfernte er sich mit den Übrigen. Helene nahm mit ihrer Arbeit hinter den tief herabhängenden Draperien eines Fensters ihren gewohnten Platz ein. Wahrscheinlich ohne ihrer gewahr zu werden, blieben der Fürst und seine Gemahlin übrigens mit einander allein.

Nun? fragte Fürst Andreas, nachdem er einige Augenblicke mit untergeschlagenen Armen vor seiner schmollenden, ihm keinen Blick gönnenden Gemahlin gestanden: nun? was zieht diese sonst immer so glatte Stirne in so krause Falten? was hat es denn gegeben, das Euer Gnaden verdrießt?

Ach Andreas Andreas! seufzte sie: das hättest [79] Du an mir nicht thun sollen! hättest Du Richards niedre Herkunft mir nicht verhehlt, wie hätte ich jemals! – nein dergleichen thut nie gut; Du weißt ich behaupte, es geht wider die Natur.

Seltsames Geschlecht! den will ich sehen der Dir alles recht machen kann! rief herzlich lachend der Fürst. Gute Eudoxia, hast Du denn jemals um Richards Herkommen mich befragt? hast Du wirklich gemeint, ein englischer Herzog oder Lord würde uns seinen Sohn für unsre Kinder herschicken?

So albern bin ich nicht, daß ich einen jungen Lord zum Gesellschafter für unsre Kinder fordern sollte: erwiederte sie, ziemlich gereizt; aber ein Handwerksbursch? – der Abstand ist zu ungeheuer! ich wollte ich hätte den unglücklichen Richard nie gesehen! ich möchte über ihn weinen.

Helena, in ihrer Fensterecke mit ihrer Stickerei [80] beschäftigt, hatte bis dahin auf das Gespräch ihrer Eltern nicht sonderlich geachtet. Jetzt ward sie aufmerksam; die Nadel entfiel ihrer Hand; sie hob sie nicht wieder auf, sondern näherte sich vorsichtig dem sie verdeckenden Vorhange, der von dem hohen Fensterbogen herabschwebte.

Aber gute theure Eudoxia, wie kannst Du mit so barmherzigen Gesinnungen Dich quälen wollen, die hier gar nicht am rechten Orte angebracht sind! erwiederte der Fürst, und faßte liebkosend seiner Gemahlin nur schwach widerstrebende Hand. Wie würde Richard über Dein unverdientes Mitleid sich verwundern, dessen Veranlassung ihm ganz unerklärlich scheinen müßte! Er ist ja nichts weniger als unglücklich oder bedauernswerth, fuhr der Fürst fort; zwar ist er kein Prinz, aber eben so wenig ein Handwerksbursche zu nennen. Richards Vater ist ein Mitglied jener höchst achtungswerthen [81] Klasse von Bürgern, welcher Großbritannien seinen Reichthum und dadurch seine Größe verdankt. So viel ich durch Herrn Groß erfahren, ist er Besitzer einer Fabrik in einem englischen Mittelstädtchen; hat viele Kinder, bei nicht sehr bedeutendem Vermögen; und entschloß sich deshalb, einen seiner jüngern Söhne im Auslande zu versorgen. Was liegt denn darin so Entsetzliches? Gewiß wird er noch obendrein in kurzer Zeit sehr reich werden, wenn er es nicht schon geworden ist. Denn diese Probe seiner Fabrikate ist ein Beweis, daß er durch Erfindungsgeist und Industrie sich vor vielen andern auszeichnet, und sich auf dem rechten Wege befindet, sein Glück zu machen.

Was liegt daran? klagte Eudoxia; und wenn er Millionen erwürbe, das ändert nichts. Die Geburt entscheidet; ein geborner Leibeigner bleibt es ewig.

Aber es giebt keine Leibeigenen in jenem Lande,[82] wo selbst der an der Küste von Guinea für baares Geld erkaufte Neger ein Freier wird, sobald er den Fuß auf englischen Boden setzt: erwiederte etwas ungeduldig der Fürst.

Das alles habe auch ich in Büchern gelesen, antwortete Eudoxia im nämlichen Tone; aber wenn dem auch so ist – wenn das gemeine Volk, Arbeitsleute, Diener, Handwerker, und jene Manufakturisten, die sich nur dadurch von diesen letzteren unterscheiden, daß sie das Handwerk mehr ins Große treiben, wenn das alles auch dort nicht leibeigen genannt wird, es gehört doch zu einer Klasse – genug, es ist ebenso von uns verschieden, als das armselige Haidekraut von der Rose, die doch auch alle beide zum Pflanzenreiche gezählt werden.

Deine Klagen werden wirklich poetisch: rief der Fürst gutmüthig spottend.

Wie bedauernswürdig ist der arme Richard! fuhr Eudoxia fort; warum mußte er von der [83] Natur für ein weit höheres Loos ausgestattet werden, als das ist, wozu sie ihn bestimmte! Ich meinte er sei wenigstens der Sohn eines Kaufmanns, wie Herr Groß in Petersburg und Andre, die zuweilen Zutritt zu uns haben, weil sie gewissermaßen den Übergang zu den niedrigen Volksklassen bilden, zu denen sie nur halb gezählt werden können. Ich habe gehört, daß der jüngere Bruder eines Lords sich in England oft dem Kaufmannsstande widmen muß, weil nur der älteste Erbe der Familiengüter und des mit diesen verbundenen Adels werden kann. Ich habe das oft gehört und gelesen, und konnte, nach Richards vortheilhaftem Äußern zu urtheilen, nur denken, daß er Abkömmling eines solchen edeln Stammes sei; und nun muß ich heute erfahren, daß er im niedrigsten Stande, aus unedlem Blute – –

Halt, halt, rief lachend der Fürst: machst Du doch aus lauter Liebe und reinem Mitleid den armen [84] Jungen vollends zum Paria. Dann setzte er zu ihr sich hin, und gab, ernster werdend, sich alle ersinnliche Mühe, ihre Ideen über diesen Punkt zu berichtigen.

Seine Reden und Gründe glitten an dem unbeugsamen Glauben der Fürstin ganz wirkungslos ab; desto größern Eindruck aber machten sie auf Helenen, die bis dahin mit gespannter Aufmerksamkeit dem Gespräche ihrer Eltern zugehört hatte. Sie fing schon an sich mit ihrer Mutter über Richards, ihr freilich ganz unverständliches Unglück, recht von Herzen zu betrüben, und die Thränen traten ihr darüber in die Augen; aber die Worte ihres Vaters, dem sie gewöhnt war unbedingt zu vertrauen, ermuthigten und trösteten sie wieder. Sie kehrte leichteren Herzens zu ihrem Stickrahmen zurück, als das Gespräch Familienangelegenheiten sich zuwandte, die sie wenig interessirten; doch als sie im Verlaufe desselben ihren eignen Namen nennen [85] hörte, mußte sie wider Willen abermals darauf achten.

Wahr ist es, hörte sie die Mutter sagen, Helenen kann man beinahe ganz erwachsen nennen; das ist so gekommen, ohne daß ich es recht gewahr worden bin. Die Jahre vergehen so unbemerkt und schnell, die Veränderungen, die sie mit sich bringen, treten so leise, so allmälig ein, daß man nur zufällig, zu eigner großer Überraschung sie entdeckt, als wären sie durch ein Wunder im nämlichen Augenblicke erst entstanden. Die liebe kleine Helena! wenn wir kommenden Winter die Verlobung ihrer Schwester mit dem Fürsten Konstantin feiern, werde ich es schwerlich vermeiden können, auch sie in die Welt zu führen, und doch hätte ich es gern, wenigstens noch um ein Jahr verschoben. Ich möchte die frohe Jugendzeit ihr noch lange erhalten; sie lebt jetzt ihre glücklichsten Tage; diese vergehen schnell und kehren nie wieder.

[86] Wohl wahr, erwiederte der Fürst, doch diese Tage, so schön sie auch sein mögen, müssen, wie jeder andre Tag im Leben, endlich andern Tagen weichen. Helena wird sich endlich doch bequemen müssen, auch scheinen zu wollen was sie ist, ein erwachsenes Mädchen. Mich dünkt es wäre endlich Zeit, daß sie die Spielkameraden ihrem Bruder überließe, und sich mit Gespielinnen begnügte. Mag diese Veränderung ihrer Lebensweise immer einige Monate früher eintreten, ehe sie nothwendig wird, damit sie sich daran gewöhnt, ehe sie den Fesseln sich beugen muß, welche Konvenienz, Geschlecht und Stand, ihr wie jedem jungen Mädchen ihres Alters anlegen. Ich muß Dir gestehen, Eudoxia, ich habe in der letzten Zeit, nicht ohne stille Besorgniß, sie so ganz unbefangen und zwanglos mit Eugens Freunden umgehen sehen; wie leicht könnte sich da etwas anspinnen, [87] das uns, wenn Helena älter wird, der bösen Tage genug machen würde.

Wo waren meine Sinne! auch daran habe ich nicht gedacht! rief die Fürstin sehr lebhaft. Du hast Recht, vollkommen Recht. Die große wöchentliche Tanzstunde, der musikalische Verein, müssen sobald als möglich abbestellt werden; da ist der, und der, und der, – sie nannte die Namen mehrerer jungen Leute, Söhne vornehmer und angesehener Familien, welche täglich ihr Haus und ihre Kinder besuchten, – es sind Eugens Jugendfreunde, – und mögen sie es immer bleiben, setzte sie hinzu, aber für unsre Tochter – – nun ich hoffe es ist noch nicht zu spät.

Das hoffe ich auch, sprach lächelnd der Fürst. Eudoxia, fuhr er nach einer kleinen Pause ernster werdend fort, Du zweifelst nicht an meinem festen Vertrauen; Du weißt es, ich kenne Dein Gemüth, Deinen klaren Verstand, den nur hier [88] und dort kleine unschädliche, Dir mit der Muttermilch eingeflöste Vorurtheile zuweilen umdunkeln; ich ehre Dein schönes Talent, mit sanfter Hand alles zum Besten zu leiten, ohne durch die Güte Deines Herzens Dich von Deinem Zwecke abführen zu lassen. In allem was unsre Töchter betrifft laß ich Dir freie Hand, denn die Ehre wie der Vortheil unsres Hauses liegen Dir nicht minder am Herzen als mir. Nur suche nie unsern Eugen von den Freunden zu entfernen, mit denen schon die Spiele seiner Kindheit ihn verbanden, das Einzige erbitte ich von Dir. Was ist in späteren Tagen dem Manne von höherem Werthe, als ein treuer Jugendfreund! in Noth und Tod, in Sturm und Gewitter, beut er ihm eine sichre Zuflucht, oder geht Arm in Arm mit ihm zu Grunde. Ach! und es werden Tage kommen, schwere heiße Kämpfe, wo es wohl Noth thun wird fest an [89] einander zu halten! setzte er sehr bewegt, halb leise hinzu.

Die Fürstin war in diesem Augenblicke mit ihren eignen Ideen zu beschäftigt, um diese Andeutungen so zu beachten, als sie es zu andrer Zeit gethan haben würde. In Hinsicht auf Eugen hast Du vollkommen Recht, erwiederte sie, aber unsre Töchter dürfen solche Konnexionen nicht bilden. Sie können ihrem Geschick nicht vorgreifen, sie müssen geduldig abwarten, was Gott und ihre Eltern über ihre Zukunft beschließen. Übrigens will ich noch heute über die ihrem Alter angemessenen Beschäftigungen unsrer jüngsten Tochter, und über die nothwendige Beschränkung ihrer Gesellschaft mit Madame Sommerfeldt mich berathen; Helenas Gouvernante ist eine verständige welterfahrne Frau; sie wird auf meine Ansichten eingehen, und alles dem gemäß anzuordnen wissen.

Und Richard? muß auch er aus Helenas [90] Nähe verbannt werden? fragte ein wenig spottend der Fürst; Helena horchte hoch auf.

Ach, warum quälst Du mich so! Du weißt es ja, von dem kann ja hier gar nicht die Rede sein, das bleibt wie es ist, erwiederte die Fürstin etwas ungeduldig.

Beide verließen das Zimmer, und Helena gewann dadurch Zeit, unbemerkt aus ihrem Verstecke zu entkommen.


Helena war der Pflege ihrer Amme zwar schon längst entwachsen; doch diese ließ es sich dennoch nicht nehmen, die Nachttoilette ihres Lieblinges zu besorgen, wie sie von jeher es gewohnt gewesen war. Obgleich mehr als zwanzig Hände sich herbei drängten, dieses Geschäft, das sie mit mütterlichem Eifer als unerläßliche Pflicht betrieb, ihr abzunehmen, so litt sie doch nie den mindesten Eingriff in ihre Rechte. Das [91] ungemessenste Vertrauen des holdseligen Wesens, das in unbeschreiblicher Anmuth unter ihren pflegenden Händen gleichsam erblühte, lohnte überreichlich ihre treue Anhänglichkeit. Die junge Prinzessin hatte von frühester Kindheit an sich gewöhnt, Abends beim Auskleiden ihrer Elisabeth von allem, was sie den Tag über erfahren oder gethan, ausführlichen Bericht abzustatten; auch die Fürstin Eudoxia pflegte des Morgens, gleich nach ihrem Erwachen, sie zu sich zu berufen, um alles, was in dem unermeßlich großen Haushalte, und selbst in der Familie des fürstlichen Hauses sich ereignete, mit ihr allein zu besprechen. Und so war denn die gute Frau besser als irgend Jemand, die Fürstin selbst nicht ausgenommen, im Stande, alles im Ganzen zu überschauen, und nicht selten durch ihren Rath, oder selbst thätig, in die Leitung desselben einzugreifen.

Auch an jenem Abende versäumte Helena nicht, ihr Herz vor der treuen Amme auszuschütten; [92] es war ihr dieses sogar mehr als sonst ein Bedürfniß; denn sie fühlte das Unrecht, das sie begangen, indem sie, wenn gleich Anfangs unabsichtlich, ihre Eltern belauschte, und sie schämte sich deshalb nicht wenig. Indessen die Beichte wurde abgelegt, und daß Frau Elisabeth, als eine höchst moralische Person, sie darüber sehr ernstlich schalt und ermahnte, war dem guten frommen Kinde, als wohlverdiente Buße, eine Art von Trost. Doch die gute Amme konnte ihrem Lieblinge nicht lange zürnen; als sie die innere Zerknirschung desselben über den begangenen Fehler bemerkte, ging sie zu Beruhigungsgründen über und sprach so lange, so eindringlich, mit so sanft gemilderter Stimme, daß ihre Rede endlich wie ein Wiegenliedchen wirkte. Als Helena am andern Morgen erwachte, waren sowohl das, was sie von dem Gespräche ihrer Eltern vernommen, als die Ermahnungen und Tröstungen [93] der Amme ihr fast ganz aus dem Gedächtniß entschwunden.


Die heimliche Liebe des jungen Fürsten Konstantin und der Prinzessin Natalia war für Helena längst kein Geheimniß mehr gewesen; denn welchem funfzehnjährigen Mädchen wäre ein solches, unter ihren Augen entstehendes Verhältniß jemals entgangen? in dieser Hinsicht hatte sie also aus dem Gespräche ihrer Eltern nichts erfahren, das ihr nicht schon bekannt gewesen wäre. Daß sie selbst ihrem Eintritte in die große Welt so nahe stehe, war ihr allerdings neu; denn mit ihrem Loose völlig zufrieden, hatte sie bis dahin noch gar nicht daran gedacht, und wußte auch jetzt noch nicht recht, ob sie sich darauf freuen, oder davor fürchten solle. Da aber doch erst von kommendem Winter die Rede gewesen war, bis zu welchem noch mehrere Monate vergehen [94] mußten, – in ihrem Alter eine unermeßlich lange Zeit, – so hielt sie es für das Beste, auch jetzt noch nicht weiter darüber nachzudenken, und schlug mit ächt jugendlichem Frohsinne sich die ganze Sache fürs erste aus dem Kopfe.

Die Voranstalten zu dieser Hauptepoche in Helenas Jugendleben wurden indessen allmälig getroffen; aber ganz unmerklich langsam und leise; denn Eudoxia war eine zu weltkluge Dame, um nicht alles was sie unternahm mit großer Überlegung auszuführen. Natalias nahe Verlobung blieb fürs erste noch ein öffentliches Geheimniß, aber sie wurde jetzt doch, als eine ganz erwachsene junge Dame, in die Gesellschaft eingeführt. Ihre Erziehung wurde für vollendet erklärt, und dieses bot von selbst Gelegenheit, die große Tanzstunde aufhören zu lassen, die sonst wöchentlich im Palaste des Fürsten Andreas statt fand, und die gar bald in eine Art Gesellschaftsball sich umgewandelt hatte, zu welchem [95] Moskaus heranwachsende brillanteste Jugend beiderlei Geschlechts, beinahe ohne andre Aufsicht als die des Tanzmeisters, sich versammelte.

Die großen musikalischen Übungen hatten aus dem nämlichen Grunde gar bald das nämliche Schicksal; und unter dem Vorwande einiger nothwendig damit vorzunehmender Reparaturen, wurde auch das kleine Haustheater einstweilen zugeschlossen.

So zog der Kreis, welcher Helenen von der fröhlichen blühenden Jugendwelt abschloß, sich immer enger zusammen, während die glänzendsten Feste in dem Hause ihrer Eltern sich mehrten, und Natalie als die Königin derselben glänzte. Madame Sommerfeldt wich ihrem Zöglinge fast nie mehr von der Seite; nur in ihrer Gegenwart durfte Helena die Besuche ihrer jungen Freundinnen annehmen, nur in ihrer, oder in der Fürstin Begleitung, sie erwiedern; Eugens Freunde waren, ohne daß dieses ausgesprochen [96] worden wäre, durch diese neuen Einrichtungen aus ihrer Nähe gänzlich entfernt.

Alle diese Veränderungen wurden, ohne ein Wort darüber zu verlieren, gleichsam eine aus der andern entstehend, so ganz allmälig eingeführt, daß Helena derselben schon gewohnt worden war, ehe sie nur bemerkte, daß sie gegen sonst ein fast klösterliches Leben führe. Ihr heitrer, still zufriedener Sinn blieb dabei völlig unbefangen; war sie doch, vom Morgen bis zum Abend, auf eine Weise beschäftigt, die Langeweile und üble Laune fern von ihr hielt. Um die Zeit, die ihr bis zu ihrem Eintritte in die Welt noch übrig blieb, recht zu benutzen, waren fast alle Stunden ihres Unterrichts verdoppelt worden; sie las, zeichnete, malte, sang und spielte; Richard war nach wie vor bei ihren Übungen ihr zur Hand, so oft sie seiner bedurfte. Der Tag verging, der Morgen wurde zum Abende, [97] ehe sie sich dessen versah; sie war zufrieden, als hätte sie nie anders gelebt.

Natalia, von Bewunderern umgeben, im Wonnetaumel der ersten Liebe, von einem glänzenden Feste zu einem andern eilend, wurde der vereinsamten jüngern Schwester bei dieser ganz verschiedenen Lebensart zwar etwas entfremdet, und mochte selten genug ihrer gedenken; doch Eugen und Richard vergaßen die Verlassene nicht. Auch sie waren jetzt in der Gesellschaft eingeführt, doch Richard entfernte sich aus derselben, sobald es der Anstand erlaubte, um der einsamen Helena ein Paar lange Abendstunden durch gemeinschaftliche Lectüre zu kürzen, und auch Eugen folgte ihm zuweilen. Richard schlich sich nicht heimlich zu ihr; der Fürst, die Fürstin, Alle wußten darum und gönnten ihr gern diese Erheiterung, während das ganze Haus in festlichem Glanze strahlte.

Madame Sommerfeldt war eines Abends zu [98] einer Freundin geladen; eine sehr zahlreiche und brillante Assemblée wogte in den weiten Sälen des Palastes, während Richard sich früher als sonst zu Helena begeben, um mit ihr Walter Scotts Lady of the Lake zu lesen. Die Amme, welche diesmal, wie immer in solchen Fällen, die Stelle der Gouvernante bei der jungen Prinzessin vertrat, war eben im Begriffe, in ihrem weichen bequemen Armstuhle hinter dem großen Ofenschirme in sanften Schlummer zu gerathen, als ebenfalls weit früher als gewöhnlich, und augenscheinlich etwas verdrießlich, Eugen zu ihnen sich gesellte.

Sitzt Ihr doch da, als befändet Ihr Euch selbst auf einer unbewohnten Insel mitten in See, rief er, nachdem er einen Blick auf das Gedicht, welches sie mit einander lasen, geworfen; ist es hier doch so still, so heimlich, so ruhig; und keine funfzig Schritte von Euch tobt der langweiligste Saus und Braus, den man[99] sich denken kann. Arme, kleine Helena, ich habe mich fortgeschlichen, um mich ein Stündchen bei Dir zu erholen, aber hier ist es doch gewaltig einsam und still! setzte er sich dehnend, mit schlecht verhehltem Gähnen hinzu; sage mir nur, was in aller Welt hat seit einiger Zeit unsre Mama bewogen, Dich wieder in die Kinderstube zu versetzen?

Helene versicherte, sich dabei sehr wohl zu befinden, auch Richard meinte, es wäre doch sonst fast zu lebhaft hier zugegangen, Eugen aber wollte das Alles nicht gelten lassen.

Warum müssen denn meine Freunde aus Deiner Gegenwart, Schwester, gänzlich verbannt sein? fragte er: warum treffe ich sogar Deine Freundinnen niemals mehr bei Dir an? warum darfst Du von ihnen nur förmliche Visiten annehmen und erwiedern? Was sind das alles für Neuerungen, und was ist der Grund davon? Sind doch alle Freuden, die sonst hier herrschten, [100] uns wie abgeschnitten! Scherz und Spiel! Lachen und Tanz und Herzenslust! wo seid ihr hin! setzte er mit komischem Pathos, tragirend und deklamirend hinzu.

Das geht nicht mehr so, wie Du es wohl meinst; ich habe keine Zeit zu verlieren, wenn ich noch alles lernen soll, was ich lernen muß. Glaube mir, Bruder, die Langeweile plagt mich nicht, ich habe vom Morgen bis zum Abend vollauf zu arbeiten: erwiederte Helene, und sah ganz allerliebst altklug dazu aus.

Das alles ist wahr und gut; aber man muß doch auch nach der Arbeit seine Erholungsstunden haben: sprach Eugen.

Auch an diesen fehlt es mir nicht, wie Du siehst, erwiederte Helene, indem sie lächelnd auf Richard und das vor ihnen liegende Buch deutete.

Ich seh' es wohl, rief Eugen halb lachend, halb ärgerlich, Richard ist nun einmal der Auserwählte; [101] aber warum können denn wir, ich und meine übrigen Freunde, nicht eben so. gut als er, uns mit Dir erholen?

Ich weiß es wohl und sag' es nicht, erwiederte Helene mit lächelndem Trotz, kreuzte die runden weißen Arme über einander, und lehnte, ein Liedchen summend, im Sofa sich zurück.

Kleines eigensinniges Ding, Du sagst es nicht? aber ich erfahre es doch, lachte Eugen, und holte mit schmeichelnder Gewalt die Amme aus ihrer dunkeln Ecke hinter dem Ofenschirme hervor. Mütterchen, liebe Alte, bat er, komm Du unser alles wissendes Hausorakel; komm, setze Dich hieher zu uns, weise, vielerfahrne Pythia, und beantworte mir die Fragen, auf welche der kleine Trotzkopf nicht antworten will.

Aber so thut doch nur die Augen auf, so könnt Ihr Eure Fragen Euch selbst gar leicht beantworten, sprach lachend die Amme; schaut Euch selbst nur an, und meine junge Gebieterin [102] dazu; seid Ihr aus den beiden kleinen Bübchen, die mir mein Herzenskind oft genug umgerannt haben, nicht ein paar stattliche, junge Herren geworden? und meint Ihr, mein Prinzeßchen wäre hinter Euch zurückgeblieben? Urtheilt selbst, ob es für ein junges erwachsenes Fräulein sich wohl schicken würde, mit Euresgleichen Ball- und Pfänderspiel zu spielen. Oder soll sie etwa auch, wie ihre Schwester Natalie, in der großen Tanzstunde ihr Herzchen verlieren? wer kann wissen ob der, welcher es etwa aufnähme, den Eltern so genehm wäre, als Fürst Konstantin zum Glück es ist; und da hätten wir des Herzeleids genug; setzte die Amme, über ihre eigne Übereilung augenscheinlich erschreckend, hinzu.

Darum also? etwas mag daran sein, erwiederte Eugen langsam gedehnt. Nun, Freund Richard, setzte er hinzu, mache Dich also nur darauf gefaßt, nächster Tage wirst auch Du verbannt.

[103] Das wird er nicht, gewiß nicht; fiel Helene sehr lebhaft ein.

Nicht? und warum er allein nicht? fragte Eugen.

Warum? das ist mir nicht recht klar; aber wäre das auch, ich sagte es doch nicht; übrigens weiß ich es gewiß, antwortete Helene.

Ich weiß es auch, nebst dem Grunde dazu, aber ich sage es ebenfalls nicht; mir ist als hätte ich schon zu viel gesagt; sprach mit bedenklichem Kopfschütteln die Amme.

Der Gouvernante Ankunft beendete dieses Gespräch, und Eugen begab sich mit seinem ziemlich nachdenklich gewordenen Freunde wieder zur Gesellschaft zurück.


Schon am folgenden Tage ließ Richard sein Nicht-Erscheinen an der Tafel mit einem unbedeutenden [104] Unwohlsein entschuldigen; dennoch wieß er alle ärztliche Hülfe von sich ab. Trübe und einsam weilte er mehrere Tage lang in seinem Zimmer, ohne dasselbe zu verlassen; und sogar dem Einzigen, dem er den Zutritt nicht versagte, weil er sich nicht abweisen ließ, sogar seinem Freunde Eugen gelang es nicht, ihm ordentlich Rede abzugewinnen. Mit allen Bitten und Fragen war nichts weiter aus Richard herauszubringen, als fast ängstliches Flehen, Geduld mit ihm zu haben, ihn nur noch wenige Tage sich selbst zu überlassen, und Versicherungen, daß er gewiß sehr bald gesunden werde, wenn man ihm nur erlauben wolle, kurze Zeit ganz einsam zu bleiben.

Eugen verkannte den Ausdruck tiefen innern Leidens an seinem Freunde nicht, aber er sah auch, daß nicht eigentliches Kranksein, kein physischer Schmerz, diesem Leiden zum Grunde liege. An Verzweiflung gränzender Gram, namenloses [105] Seelenleiden, furchtbarer Kampf sich widerstrebender Gefühle, tobten im innersten Gemüthe des Unglückseligen. Eugen sah es wohl, aber er wußte den Grund dazu auf keine Weise sich zu erklären.

Er gab es auf, den Freund, dessen täglich mehr verfallende Gestalt mit banger Besorgniß ihn erfüllte, mit Fragen länger zu quälen, die immer nur mit rührenden Bitten um Nachsicht, um Geduld, um Einsamkeit, erwiedert wurden; aber er fing an, ihn mit scharfer Aufmerksamkeit zu beobachten, um zu errathen, was man ihm nicht bekennen wollte. Oft überfiel er ihn in seinem Zimmer, wenn Richard sich dessen am wenigsten versah, und wenn er in später Nacht vom Balle oder von andern Festen zurückkehrte, blieb er lauschend an Richards Thüre stehen. Gewöhnlich hörte er ihn dann noch mit unruhigen Schritten im Zimmer auf und abgehen, oft sogar laut und vernehmlich mit sich selbst[106] sprechen, eine Gewohnheit, welche Richard von seiner Kindheit an gehabt hatte. Ein verborgner Sinn lag in Richards Worten, das ließ sich nicht ableugnen, aber wie diesen heraus finden? Zuweilen brach er auch in halb ersticktes bittres Lachen aus, und der Gedanke, irgend ein großes unbekanntes Unheil sei über seinen Freund hereingebrochen, das bei dieser ängstlichen Art es zu verhehlen ihn dem Wahnsinne zuführen könne, erfüllte den lauschenden Eugen mit unbeschreiblichem Grauen.

Thor, blinder erbärmlicher Thor! die sprechendsten Beweise unbegränzter Verachtung treffen dich, und du nimmst sie für Auszeichnung, für Gunstbezeigungen, und triumphirst darüber innerlich! ist es nicht zum Todtlachen? sprach Richard einst heftig bewegt zu sich selbst. Willst du es denn wirklich abwarten, daß man in den Sumpf dich zurückwirft, aus welchem man zu augenblicklichem Gebrauche dich gezogen? setzte [107] er nach einigem Schweigen, mit gedämpfter Stimme, fast flüsternd hinzu.

Der Schooshund darf in der vornehmsten Gesellschaft am Ofen liegen bleiben, die Hauskatze darf in allen Winkeln herumschnurren, und an die Füße der Herrin sich vertraulich schmiegen, was thut es? was ist an solchen Hausthieren gelegen? wer achtet auf sie? sprach er einst im Tone ruhiger Überlegung. Sie haben es sehr gut in der Welt, denn sie amüsiren, fuhr er weiter fort; sie werden gepflegt, gefüttert, gestreichelt, sie haben es ganz außerordentlich gut, diese Thiere. Warum sollte ein Mensch es nicht eben so gut haben wollen, wenn er es haben kann? Geduldet werden, weil man zu unbedeutend ist! es ist das bequemste Leben von der Welt, setzte er ironisch lachend hinzu. Pfui! pfui! und hundertmal pfui! rief er plötzlich laut aufstampfend, und ging heftig, mit zornigen Schritten, im Zimmer [108] umher. Eugen hörte es schaudernd, und suchte vergebens sich zu erklären was er hörte.

Altes redseliges Hausorakel, weise viel erfahrne Pythia, so nannte er dich ja? dir danke ich viel, und du verdienst den Namen: sprach Richard ein andermal. Und als ob in düstrer Nacht ein unerwarteter Strahl des Lichtes ihn träfe, so fuhr Eugen zusammen, der wieder lauschend an der Thüre stand.

Die Amme! ja sie war es die Richard meinte, sie mußte es sein, und Eugen begriff nicht wie es möglich sei, daß er nicht schon längst auf den Gedanken gekommen, sie um Rath zu fragen. War sie doch die Vertraute der Fürstin Eudoxia, wie der kindlich ihr ergebenen Helena; blieb ihr doch nichts was im Palaste seines Vaters vorging verborgen, erfuhr sie doch jedes Wort, das gesprochen wurde im Prunkgemache der Fürstin, wie in der dumpfigen Kammer des niedrigsten Knechtes!

[109] Eugen erinnerte sich jetzt deutlich, daß Richard am Morgen nach jenem letzten Abend, den sie beide bei Helenen zugebracht, die Amme besucht habe, was sehr selten geschah. Er selbst hatte ihn gesehen, wie er ziemlich bleich, mit wankendem Schritte aus ihrem Zimmer in das Seine ging, das er seitdem nicht wieder verlassen. Sie war folglich die letzte gewesen, die in gesundem Zustande ihn gesehen, und sie allein konnte wissen, welch unerwartetes Unheil in der kurzen Zwischenzeit vom Abend bis zum Morgen über den Unglücklichen hereingebrochen sei, das in diesen unerklärlichen Zustand ihn versetzte. Eugen beschloß dies Geheimniß von ihr herauszubringen, es koste was es wolle.

Es war kein leichtes Unternehmen; denn bei aller ihrer Redseligkeit war Frau Elisabeth doch nichts weniger als schwatzhaft. Sie hatte verschweigen gelernt; mit dem ihrem Geschlechte wie ihrem Stande eignen Mutterwitze hatte sie [110] eine gewisse schlaue Vorsicht sich angeeignet, welche durch lange Gewohnheit ihr zur zweiten Natur geworden war, und nicht leicht entschlüpfte ihr ein unüberlegtes Wort. Auch hätte Eugen den Inhalt ihres letzten Gespräches mit Richard wohl schwerlich aus der verschwiegenen Vertrauten des ganzen Hauses herausgebracht, wenn er nicht durch seine lebhafte Beschreibung des traurigen Zustandes des Kranken zuerst ihr innigstes Mitleid zu erregen, und hinterdrein durch verständliche Andeutungen der Gefahr, daß er in Wahnsinn verfallen könne, sie in Furcht und Schrecken zu versetzen gewußt.

Vor allem lag der vorsichtigen Frau daran, unter diesen Umständen ihre eigne Schuldlosigkeit an Richards Erkranken ins hellste Licht zu stellen; sie gestand, daß er an jenem Morgen sehr düster, sehr schwermüthig zu ihr gekommen sei, um sich bei ihr Rathes zu erholen; aber [111] sie behauptete auch, daß er vollkommen erheitert und getröstet sie verlassen habe. Nichts habe, versicherte sie, ihn zu ihr getrieben, als die ihn quälende Sorge, daß, ungeachtet aller Versicherungen des Gegentheils, er selbst eben so wohl als Eugens andre Freunde, am Ende doch noch aus Helenas Nähe verbannt, von ihrem näheren vertrauteren Umgange ausgeschlossen werden würde.

Nie, nie werde ich mich trösten, wenn auf diese Weise mir der einzige Weg verschlossen wird, dem edlen Hause, das so viel an mir gethan, dadurch nützlich zu werden, daß ich fortfahre, die mir unter dem Schutze desselben erworbenen Kenntnisse zur Ausbildung der seltnen Talente der jungen Prinzessin zu verwenden, wie ich bis jetzt es gethan: hatte Richard mit dem Ausdrucke inniger Betrübniß so lange wiederholt, sich so bestimmt geweigert, den Versicherungen der Amme, daß dieses keinesweges zu befürchten[112] stehe, Glauben zu schenken, bis sie durch Gründe von der Wahrheit derselben ihn zu überzeugen sich entschloß. In klaren, nichts bemäntelnden Worten hatte sie, freilich unter der Bedingung unverbrüchlicher Verschwiegenheit, ihm nicht nur alles entdeckt, was Helena damals aus dem Gespräche ihrer Eltern über diesen Gegenstand entnommen, sondern auch wie die Fürstin Eudoxia selbst, und in noch weit stärkeren Ausdrücken, gegen sie, die Amme, sich darüber geäußert.

Genug, Richard hatte auf durchaus nicht schonende Weise von Frau Elisabeth erfahren, was ihm ewig hätte verborgen bleiben müssen, und diese glaubte es ganz vortrefflich gemacht zu haben, während sein stolzes Herz unter dem Gefühle lange unwissend ertragener tiefer Entwürdigung brechen wollte. Der Amme fiel es nie ein, an ihrer Herrin zu zweifeln; und weil diese von dem in der Natur gegründeten Unterschiede [113] zwischen hoch und niedrig Gebornen überzeugt war, so glaubte auch sie daran, ohne sich dadurch im mindesten verletzt oder verachtet zu fühlen. Im Himmel wird es anders sein, dachte sie zuweilen, dort sind wir alle gleich, sagen die Popen; und doch, wer weiß?

Von allem was er hier vernommen seltsam ergriffen und bewegt, verließ Eugen die Amme. Daß er weit davon entfernt war die Ansichten seiner Mutter mit ihr zu theilen, bedarf wohl kaum der Erwähnung; aber die wirkliche Lage seines Freundes, die ihm jetzt zum erstenmal klar geworden war, fiel, eben weil sie so plötzlich vor ihm aufstand, mit Centnerschwere ihm auf das Herz. Auch er, eben so wenig als Richard selbst, hatte früher nie an die wesentliche Verschiedenheit ihrer beiderseitigen Stellung in der Weltge dacht, auch nicht an den gewaltigen Abstand der Ansprüche, welche sie beide an das Leben zu machen berechtiget waren. Richard [114] war ihm von jeher nur als ein geliebter Bruder erschienen, mit dem er alles theilte; wie anders mußte von heute an es werden! Er begriff ganz den bittern Unmuth, die stille Verzweiflung des Freundes, er litt mit ihm schmerzlich und tief; aber ihm blieb der Trost, der jenem mangelte; denn fest und unerschütterlich stand der Entschluß in seinem Gemüthe, alles anzuwenden, um den Freund seinem unwürdigen Zustande zu entreißen, ihn zu heben, zu tragen, und um jeden Preiß die zwischen ihnen im Innern herrschende Gleichheit auch im Äußern wieder herzustellen, und zwar auf immer.


Beim regsten innigsten Mitgefühle vermochte Eugen doch nicht, die ganze Schwere des Unglücks, das auf seinem Freunde lastete, zu ermessen. Als verwöhnte Lieblingskinder des [115] Glückes waren beide neben einander erwachsen, und ihre Jugenderinnerungen konnten nur freudiger Art sein; denn von allem, was frühere bedrücktere Zustände ihm zurückrufen konnte, war auch Richarden, wie schon erwähnt wurde, nichts geblieben als seine Muttersprache, die ihm überdem sogar in diesem fremden Lande als ein besonderer Vorzug angerechnet wurde, um dessentwillen er von vielen gesucht ward. Plötzlich aufgerüttelt aus der süßen Unbewußtheit goldner Jugendträume, mußte ihm jetzt zu Muthe sein wie einem, der auf seidnem Lager entschlief, und unter Sturm und Gewitter, auf öden meerumspülten Felsen, allein und verlassen erwacht.

Ärmer als er jetzt sich fühlte, hat noch kein Menschenkind sich jemals gefühlt. Von allem was ihn umgab, was er sonst, ohne alles Bedenken, als ihm angehörig betrachtet hatte, war, wie es ihm schien, außer dem nackten Leben [116] nichts mehr Sein; er wähnte nicht einmal mehr auf das Obdach über seinem Haupte ein Anrecht zu haben; fürstliche Gnade hatte ihn darunter aufgenommen, fürstliche Laune konnte ihn verjagen, sobald es ihr beliebte, ihn nicht mehr darunter zu dulden.

Immer wilder, immer verworrener wogten, kreuzten sich seine Gedanken, bis sein Elend den höchsten Gipfel erreichte, und er vor Jammer und Mitleid mit sich selbst zu vergehen glaubte; da endlich erwachte sein eigenes besseres Selbst.

Und bin ich denn aber wirklich so elend? so ganz auf fremde Hülfe angewiesen? rief eine tröstende Stimme in seinem Innern: habe ich nicht auch Eltern? ein Vaterhaus, ein schönes hochgepriesenes Vaterland, wo ich hin gehöre, wo ich daheim bin? Nur wer sich selbst aufgiebt, sich selbst verläßt, ist warhaft verlassen.

Er suchte sein aufgeregtes Gemüth auf alle [117] Weise zu beschwichtigen; er schloß die Augen, und strebte mühsam, dunkle Erinnerungen seiner frühesten Kindheit, die traumartig Jahre lang in ihm geschlummert hatten, hinauf an das Tageslicht zu beschwören. Sie erwachten, sie traten aus dem Dunkel hervor. Das schmuzige enge Städtchen Nottingham, das kleine unscheinbare Haus, in welchem seine Eltern wohnten, die räuchrige kellerartige Küche, in der seine Mutter das spärliche Mittagsmahl für die Familie mühselig bereitete. Er sah die Arbeiter unter den staubigen Baumwollenballen, im niedrigen Magazine herumstören, er glaubte sogar die scheltende Stimme seines Vaters zu hören, vor der er sich oft in den dunkelsten, abgelegensten Winkeln des Hauses verborgen, und fühlte dem Allen sich gänzlich entfremdet. In seiner Brust regte sich kein liebendes Gefühl; mit innerem Grauen erfüllte ihn der Gedanke an jenes dunkle enge Leben, zu welchem er doch eigentlich geboren [118] war; ihm schauderte davor, aber verloren gab er sich darum doch nicht.

Richard nahm alle seine Kraft zusammen, um zu nüchternem gelassnem Besinnen sich zu zwingen. Greise, Weiber, Kinder, mögen klagen und jammern, rief er, Männer helfen sich selbst, oder gehen unter im Versuch; nur der ist verlassen, der sich selbst verläßt, sei künftig mein Wahlspruch. Zwar habe ich mein zwanzigstes Jahr noch nicht vollendet, aber ich bin eine frühreife Frucht meines Geschicks, es hat vor der Zeit mich mündig gesprochen, und ich darf sagen, ich bin ein Mann.

So kaltblütig als es ihm nur immer möglich war, fing er jetzt an, alle Vortheile und Nachtheile seiner Zustände zu überlegen, und gelangte endlich zu dem Entschlusse, in die Welt zu gehen, die weit offen vor ihm lag: zunächst nach Amerika, wo so viele seines Gleichen Glück oder Untergang suchen und finden. Der Einzelne [119] kommt überall leicht durch, tröstete er sich selbst, nur Freiheit! Unabhängigkeit! Selbstständigkeit! sei es meinetwegen auch bei Wasser und Brod.

Er gefiel sich in dem Gedanken, und malte mit den lebhaftesten Farben seiner ohnehin sehr gespannten Fantasie ihn sich aus. Schmerzliche Wehmuth ergriff ihn, indem er den Abschied von seinen fürstlichen Pflegeeltern sich dachte, die immer ihm wohlgethan, die er mehr als seine eignen Eltern geehrt und geliebt; von dem vertrauten innigsten Freunde seines Herzens, von Eugen, der mehr als Bruder ihm gewesen, von Helena – da war es plötzlich um seinen Muth gethan! auch Sie sollte er nicht mehr sehen, nicht mehr hören; die Hauptbeschäftigung seines bisherigen Lebens, jeden ihrer Wünsche zu errathen und zu erfüllen, die Freude, bei allen ihren schönen anmuthigen Arbeiten ihr hülfreich zur Seite zu stehen, sollte er aufgeben auf [120] immer und immer: es war ihm undenkbar. Was die süßeste Gewohnheit ihm Jahre lang verborgen gehalten, ward jetzt in einem Augenblicke ihm furchtbar klar, und zum erstenmale fühlte er, welche unzerreißbare Bande ihn an den Boden fesselten, den sie betrat.

Strenge ging er mit sich selbst jetzt ins Gericht, und sprach von jeder vorgefaßten Hoffnung, von jedem thörichten Wunsche sich frei, den er in seiner jetzigen Lage für unverzeihlichen Unsinn erklären mußte. Nichts glaubte er zu wollen, als sie sehen, die nämliche Luft mit ihr athmen, ihr dienen; in jener so verzeihlichen Schwärmerei der ersten Liebe eines reinen jugendlichen Gemüths war er überzeugt, daß er nie Höheres wollen noch wünschen werde. Doch diesem Glück zu entsagen schien ihm unmöglich, er fühlte mit unbeschreiblicher Seelenangst seine Unfähigkeit, mit fester Hand in seine Zukunft einzugreifen, und versank von neuem in hoffnungslose [121] düstre Trostlosigkeit. So fand ihn Eugen, als er zu ungewohnt später Stunde zu ihm zurückkehrte.

Mit so viel äußerlicher Unbefangenheit, als er nur erzwingen konnte, legte dieser jetzt seinem Freunde von seinem langen Außenbleiben Rechenschaft ab; erzählte von Besuchen, die er doch endlich einmal habe machen müssen, ohne jedoch den bei der Amme zu erwähnen; brachte von seiner Mutter und seinen Schwestern Grüße und Ermahnungen, sich wohl zu pflegen, um recht bald wieder zu gesunden, und kündigte zuletzt ganz unbefangen, als etwas ganz Gleichgültiges, den nahen Besuch seines Vaters an, der nur noch einiger überlästigen Visiten sich zu entledigen habe, ehe er selbst komme, um sich durch den Augenschein von Richards Befinden zu überzeugen.

Als ob etwas ganz Unerhörtes vor seinen Augen sich zutrüge, starrte Richard seinen Freund [122] an. Der Fürst selbst? Fürst Andreas? zu mir will er kommen? er selbst, und hieher, zu mir? flüsterte er todtenbleich, beinahe unhörbar; die Stimme versagte ihm vor innrer Bewegung.

Thust doch als geschähe es zum erstenmal, sprach lächelnd Eugen; besinne Dich doch nur, wie bist Du denn heute? haben nicht beide, mein Vater und meine Mutter, oft an Deinem Bette gestanden, wenn Du krank warst? Seit wir nicht mehr Kinder sind, und mit Kinderkrankheiten nichts mehr zu thun haben, ist glücklicherweise der Fall nicht wieder vorgekommen; aber was ist es denn Besonderes, wenn ein Vater seinen kranken Sohn besucht? Und hat er nicht stets Dich als solchen gehalten und geliebt, und warst Du nicht immer mein Bruder und bist Du es nicht noch?

O stille! stille! stille! kaum habe ich meine Vernunft wieder erlangt, verlocke mich nicht von neuem, sprach Richard sehr bewegt. Ich weiß [123] jetzt, ich weiß, wiederholte er einigemal, und sank, ohne seine Rede vollenden zu können, dem Freunde durch und durch erschüttert an die Brust.


Der verheißene Besuch des Fürsten Andreas unterbrach eine Scene, die für beide Freunde zu angreifend zu werden drohte; doch sah und hörte er beim Eintreten in das Zimmer noch genug davon, um sich in der schon durch Eugens Bericht vorgefaßten Meinung zu bestärken, daß Richard mehr geistig als körperlich leide. Er liebte wahrhaft den Jüngling, der unter seinen Augen, man möchte sagen, unter seiner Pflege, so kräftig und schön heranblühte, und war in diesem Augenblicke nur darauf bedacht, ihn vor dem geistigen Untergange zu bewahren, der, wenn er so fortführe, ihm drohte. Mit wirklich väterlicher Milde und Freundlichkeit suchte er anfänglich durch anscheinend gleichgültiges Gespräch [124] die zu heftige Anspannung dieses reizbaren Gemüthes herabzustimmen, und ergriff, nachdem ihm dieses gelungen, den ersten günstigen Augenblick, um fest und bestimmt zu erklären, daß Richard nur einer ernsten Beschäftigung bedürfe, um schnell und für immer von seinen Leiden geheilt zu werden, die ich, setzte der Fürst freundlich hinzu, mit Deiner Erlaubniß am liebsten Grillen und Einbildungen nennen möchte.

Mit dem lebhaftesten Eifer trat Eugen der Ansicht seines Vaters bei; Richard war an Leib und Seele zu abgespannt, zu gedrückt, zu froh, auf fremde Hülfe in seiner Unentschlossenheit sich stützen zu können, um gegen Vater und Sohn anzukämpfen, die beide jetzt in ihn drangen, sich zur Wahl eines, seine Zukunft fest bestimmenden Planes zu entschließen, zu dessen Ausführung ihm alles zu Gebote stehen solle, was er nur bedürfen könne. Von ihm durch keinen Widerspruch gehindert, fing Richards wohlmeinender [125] Beschützer nun an, dem noch immer in dumpfen Trübsinn Versunkenen eine lange Reihe glänzender Vorschläge für den Lebensweg vorzulegen, an dessen Wendepunkte er jetzt stand. Der zuerst mit zartester Schonung kaum angedeutete, im Falle ihn das Heimweh ergriffen, ihn zurück nach England zu senden, und auch dort allen Beistand, dessen er bedürfen könne, ihm zu gewähren, wurde von dem ehrgeizigen Jünglinge widerwillig, fast zürnend zurückgewiesen, und der Fürst rechnete in seinem Herzen diese Weigerung als einen Beweis seiner liebenden Anhänglichkeit ihm hoch an. Andre Vorschläge, die diesem ersten folgten, wurden zwar besprochen und geprüft, dennoch aber am Ende, unter irgend einem scheinbaren Vorwande, dankend ausgeschlagen.

Das Gespräch zog sich gewaltig in die Länge. Meistens von Richard selbst aufgefundene Schwierigkeiten thürmten überall dem trefflichen Wollen des Fürsten sich entgegen, der vielleicht nicht [126] mehr fern davon war, die Geduld darüber zu verlieren, als Richard plötzlich wie inspirirt aufsprang, und mit krankhafter Heftigkeit höchst überraschend für die militairische Laufbahn im Dienste der russischen Krone sich erklärte. Fürst Andreas und sein Sohn blickten beide verwundert ihn an, und mochten ihren Sinnen kaum trauen. Nie, selbst nicht als Knabe, hatte Richard die mindeste Neigung zum Soldatenstande gezeigt, weshalb sie diesen in die Reihe der ihm dargelegten Vorschläge auch gar nicht aufgenommen hatten.

Der Ort, das Land, wo wir geboren wurden, ist darum noch nicht unser Vaterland! rief Richard mit sein ganzes Wesen verklärendem Enthusiasmus. England war nichts weiter als meine Wiege; früh genug warf sie, achtlos was aus mir würde, mich aus! Hier, wo mein eigentliches Leben unter dem Schutze und der Pflege der Edelsten des Landes erst begann, hier in [127] Rußland ist meine wahre Heimath. Rußland, dem ich Alles verdanke, ist mein Vaterland, und von heute an weih' ich mich feierlich seinem Dienste bis ans Ende meiner Tage.

Nun bist Du wahrhaft mein Bruder! rief Eugen mit glänzendem Auge und drückte, in freudiger Überraschung, den Freund an die Brust; auch der Fürst umarmte ihn, und sprach in den wärmsten Ausdrücken seine Zufriedenheit mit diesem Entschlusse aus. Sie blieben alle drei noch lange beisammen; mancherlei, auf Richards Vorbereitung zu der von ihm erwählten Lebensbahn Bezug habendes, wurde besprochen; manches Beispiel von tapfern bedeutenden Männern, älterer und neuerer Zeit, wurde erwähnt, die ohne durch hohe Geburt oder großen Reichthum unterstützt worden zu sein, zu den höchsten Ehrenstellen in der Armee sich hinaufschwangen.

Und so war denn wirklich diese Abendstunde zu dem am Morgen dieses Tages von ihm selbst [128] noch nicht geahneten Wendepunkte in Richards Leben geworden; doch nicht allein die Zukunft eines bis dahin unbedeutenden englischen Knaben, auch die vieler hundert andren Menschen, vielleicht selbst die eines großen Reiches, wurde durch diese Stunde bestimmt. Darum wage keiner, auch auf das anscheinend unbedeutendste Ereigniß achtlos herunter zu sehen. Wer kann wissen, ob es nicht die Schneeflocke ist, die vom Hochgebirge niederschwebend, zum Kern der Lawine wird, welche in ihrem zerstörenden Laufe zum Ungeheuern sich vergrößernd, Hütten, Wandrer und Heerden dem Untergange zuschleudert.

Ein ganzes Jahr verging, ohne daß in Richards früheren glücklichen Verhältnissen die mindeste Abänderung eingetreten wäre. Mit brennendem Eifer strebte er im Laufe desselben die, für seine künftige Bestimmung ihm noch mangelnden Kenntnisse sich zu erwerben, und Gesundheit und Frohsinn kehrten bei rastloser, wohl angewandter [129] Thätigkeit ihm wieder zurück. War es Mitleid? war es früh ihr zur Gewohnheit gewordene Liebe? wahrscheinlich war es beides, was die Fürstin Eudoxia bewog, während dieser Zeit sich fast noch milder und freundlicher als zuvor gegen den Jüngling zu bezeigen, dessen ihrer Ansicht nach ihm angebornes Mißgeschick ihre innige Theilnahme erregte. Als endlich der Zeitpunkt erschien, wo Richard das gastliche Dach, das in früher Kindheit ihn aufnahm, verlassen mußte, um seiner künftigen Bestimmung zu folgen, da war es Eudoxia, die zuerst auf den Gedanken kam, ihn, dessen bloßer Anblick verrieth, wie schwer jetzt am Scheidepunkte das Gefühl des Verlassenseins von neuem auf ihm laste, durch mannigfaltige Beweise der Theilnahme und des Andenkens beim Eintritte in seine neue Wohnung trostbringend begrüßen zu lassen.


[130] Von nun an fühlte Richard sich weit glücklicher und freier, als er in seinem früheren Mißmuthe für möglich gehalten. Bedeutend abgekürzt durch den Einfluß des mächtigen Fürsten Andreas, war seine Dienstzeit als gemeiner Soldat innerhalb weniger Monate überstanden und er zum Unteroffizier erhoben. Daß er als solcher, durch seinen Rang, von der Gesellschaft aus geschlossen war, zu welcher er früher, als zum Hause des Fürsten Andreas gehörig, unbedingt gezählt wurde, kümmerte ihn wenig. Ungern mochte er jetzt jener Zeit gedenken, die er, in glücklicher Unbekanntschaft mit seiner eigentlichen Stellung, in einer fast ununterbrochenen Folge von Festen und Vergnügungen verlebt hatte; sie erschien ihm jetzt wie ein langer bethörender Rausch, an den man beim späten Erwachen nur mit Ekel und Widerwillen sich erinnern mag. Sein stolzer Sinn schauderte vor dem Gedanken zurück, auch noch ferner in erborgtem Schimmer [131] zu glänzen; aber wenn er Abends an den hellerleuchteten Fenstern der Säle vorüberkam, zu welchen der Zutritt ihm jetzt versagt war, konnte er doch nicht unterlassen, mit innerm Behagen und berechnender Zuversicht der vielleicht nicht ganz fernen Zeit sich im Geiste zuzuwenden, in welcher durch Rang und Verdienst gehoben, es nur von ihm abhängen würde, mit besserem Rechte als ehemals, seine frühere Stelle dort wieder einzunehmen – wenn es ihm nämlich so beliebe.

Aus erbittertem Trotz gegen das, was er in trüben Stunden des Mißmuths als eine Unbill des Schicksals gegen ihn betrachtete, hätte er vielleicht einen seinem jetzigen Range, wenn gleich nicht seiner geistigen Bildung angemesseneren Umgang sich erwählt, und wäre darüber in einen Strudel von lockenden Verführungen und Gemeinheit gerathen; doch Eugen stand wie sein guter Engel ihm treulich zur Seite, er wußte[132] jeden Schatten eines Verdachtes, als sei irgend etwas zwischen ihnen beiden anders geworden, von seinem Freunde fern zu halten; keinen Tag ließ er vergehen, ohne ihn in sein väterliches Haus zu führen, wo Richard stets als ein willkommner, von Allen gern gesehener Gast empfangen ward. Sobald andre Besuche dieses nicht verhinderten, durfte er völlig zwanglos und frei dem häuslichen Kreise dieser edlen Familie sich anschließen, und wurde gleich den Söhnen des Hauses behandelt; auch in seinem Verhältnisse zu Helena war nichts abgeändert worden, allen andern jungen Freunden ihrer Brüder blieb sie unsichtbar, auf ihr einsames Zimmer und den Besuch einiger Freundinnen beschränkt; doch Richard durfte in Eugens Begleitung, oft aber auch allein, in Gegenwart der Madame Sommerfeldt oder auch nur der Amme, sie dort besuchen, um ihre stillen Abende auf gewohnte Weise zu erheitern, deren sie jetzt mehr als sonst [133] hatte, seit Nataliens Verlobung mit dem Fürsten Konstantin bekannt gemacht worden war.

Auch die Fürstin Eudoxia blieb in ihrem freundlichen Benehmen gegen ihn sich gleich. Das herbe, verletzende Gefühl, welches die Amme durch ihre unvorsichtigen Mittheilungen in ihm aufgeregt hatte, wurde dadurch zwar nicht ganz besiegt, aber doch sehr gemildert; er vermochte nicht, der sich ihm aufdringenden Überzeugung zu widerstehen, daß die Worte der sonst so zart fühlenden Fürstin unmöglich in dem Sinne gemeint gewesen sein könnten, welchen die Amme, nach ihrer gemeineren Art, ihnen untergelegt, und daß Frau Elisabeth in ihrer Redseligkeit sich manche Übertreibung habe zu Schulden kommen lassen, ohne es eigentlich zu wollen. Und so trug denn alles dazu bei, ihn zu beruhigen, und ihm die Veränderung seiner Lage weit minder fühlbar zu machen, als er es erwartet hatte.

Von der andern Seite war der unbeschränktere[134] Blick in die ihm näher gebrachte Welt, in die Leiden und Freuden, in alle ihm bis jetzt unbekannt gebliebene wechselnde Zustände des bürgerlichen Lebens, für ihn unstreitig ein Gewinn, der nur durch diese Veränderung seiner ganzen Existenz ihm hatte werden können. So seltsam und selbst verletzend Iwan Yakuchins Glückwunsch, zur Befreiung aus der vornehmen parfümirten Atmosphäre seiner hohen Beschützer, an jenem ersten Abende in seiner neuen Wohnung ihm geklungen haben mochte, so fühlte er doch nach wenigen Monaten, wie viel Wahres darin gelegen. Er war sich bewußt, jetzt weit fester und sichrer aufzutreten, da niemand mehr ihm zur Seite stand, um im Nothfalle ihn zu stützen oder zu leiten; er gewann mit jedem Tage mehr Vertrauen in sich und seine Kraft. In zweifelhaften Fällen wagte er es eine eigne Meinung zu haben, und wußte sich selbst zu rathen, ohne zu Andern seine Zuflucht zu nehmen.

[135] Seit er dem hemmenden Einflusse der die sogenannte gute Gesellschaft beherrschenden Konvenienzen entgangen war, bewegte er sich in einem ihm ganz neuen Kreise, in welchem Iwan anfänglich sein Führer, und hernach sein von ihm unzertrennlicher Begleiter wurde. Überall sah man die Beiden zusammen; im Theater, wo Richard nicht mehr von seines Gleichen geschieden, in einer Loge des ersten Ranges thronte, wie an öffentlichen Belustigungsorten. Moskau wimmelte damals von, aus dem allgemeinen Befreiungskriege erst seit kurzer Zeit heimgekehrten jungen Leuten; mehrere derselben schlossen den beiden Freunden zu vertrauterem Umgange sich an. Mancher Abend wurde in jubelnder Lust, öftrer noch in ernstem, tief eindringendem Gespräche in diesen Versammlungen hingebracht; denn seit jenen großen Ereignissen schien in Moskau wie überall der Geist unbefangener Fröhlichkeit allmälig von der Jugend zu weichen, und Gedanken [136] und Betrachtungen, wie früher nur das reifere Mannesalter sie hegte, waren an dessen Stelle getreten. Die dunkeln Stunden der langen nordischen Nächte zogen über den Erzählungen der jungen Helden von dem, was sie im Auslande gethan und gesehen, ungezählt vorüber. Fromme Wünsche, sogar leise angedeutete Pläne zur Verbesserung des im Vaterlande Bestehenden, kamen zur Sprache. Immer noch glühte jene Begeisterung in ihren Herzen, die zuerst Moskau in Flammen setzte, dann die halbe Welt ergriff, und durch die allein jene Wunder von Ausdauer und Tapferkeit möglich geworden waren, welche nach langen Jahrhunderten noch die späteste Nachwelt mit bewundernder Verehrung erfüllen werden.

Mehreren der aus dem Kriege Heimgekehrten war es gelungen, die strenge Aufsicht, welche an der russischen Gränze die Einführung ausländischer Bücher erschwert, zu umgehen. [137] Kriegslieder, Aufrufe an die deutschen Völker zum gemeinschaftlichen Kampfe, diese alles elektrifirenden Vorläufer jener denkwürdigen Zeit, waren mitgebracht, und wurden mit Enthusiasmus in Zusammenkünften gesungen und gelesen. Aber nicht nur diese allein, auch andre von dem, nach so gewaltsamer Erregung nicht gleich das nöthige Gleichgewicht wiederfindenden Freiheitssinne eingegebene Schriften, hatten auf gleiche Weise den Weg in jene vertraulichen Vereine gefunden; auch sie wurden übersetzt, vorgelesen, besprochen, bestritten, oder auch mit lautem Jubel aufgenommen. Im Auslande schwindlig gewordene junge Brauseköpfe, rissen durch feurige Beredsamkeit ihre Zuhörer zu Plänen und Vorschlägen für das Wohl des Vaterlandes hin; sprachen von nicht länger aufzuschiebenden, zum all gemeinen Besten durchaus nothwendigen Abänderungen verjährter Mißbräuche, und wähnten von reiner Vaterlandsliebe sich [138] beseelt, ohne hinter dieser glänzenden, sie selbst täuschenden Maske, die tief im eignen Gemütheverborgenen Regungen unruhigen Ehrgeizes zu erkennen.

Mit aller Gluth eines lebhaften, in der Welt noch ganz neuen Gemüthes, hing Iwan dann an den Lippen der Redner; ernster und mehr in sich gekehrt, zeigte Richard sich nur als aufmerksamen Zuhörer, dem nicht alles neu war, was er hier vernahm. Zuweilen glaubte er Äußerungen zu hören, über die, nur weitläuftiger und mit andern Worten, der Fürst Andreas sich schon ausgesprochen hatte, dann aber kam auch wieder so vieles zu jenem nicht Passendes, ihm widersinnig Dünkendes dazwischen, das ihn irre machte. Er wünschte von Herzen, die Unterhaltung möge eine fröhlichere, dem jugendlichen Alter angemessenere Wendung nehmen; doch daran war nicht zu denken. Ein heimlich unter der Asche glimmendes Feuer hatte die Gemüther ergriffen, und verbreitete sich im Verborgenen [139] immer weiter und weiter. Gern hätte er diese Gesellschaft, in der er sich nie recht behaglich fühlte, ganz aufgegeben; nicht aus Besorgniß um die möglichen Folgen, an die er nicht glauben konnte, indem er in allen diesen Berathungen nur ein nutzloses, zeitraubendes Spiel müßiger Köpfe sah; aber weil jedes unberufene Einmischen in ernste Angelegenheiten, geschähe es auch nur durch in den Wind verhallende Worte, ihm tief im Innersten der Seele zuwider war. Um Iwans willen, den jede Äußerung seines Mißbehagens tief zu kränken schien, hatte er indessen nicht den Muth, aus einem Kreise zu scheiden, an welchem dieser das höchste Interesse nahm, und ließ es sich zuweilen sogar gefallen, zu später Nachtzeit, nach einigen auf ganz andre Weise in Helenas Nähe froh verlebten Stunden, von seinem Freunde in diese Gesellschaft sich schleppen zu lassen.


[140] Fürst Andreas war mit seinem künftigen Schwiegersohne und mit dem jungen Fürsten Eugen der Einladung zu einer großen Jagdpartie gefolgt; eine leichte Erkältung hielt indessen die Fürstin Eudoxia in ihren Zimmern gebannt, wo ihre beiden Töchter den ganzen Tag über ihr Gesellschaft leisten mußten, weil sie keine Besuche annahm. Richard selbst war in dieser Zeit von Morgen bis Abend mit Vorübungen zu einer Revüe beschäftigt gewesen, die nächstens Statt haben sollte; alles dieses hatte mehrere Tage lang ihn von Helena und dem ganzen fürstlichen Hause entfernt gehalten. Jetzt endlich war aber alles überstanden; die militairischen Übungen waren beendet, des Fürsten Rückkunft wurde stündlich erwartet, und auch Eudoxia war von ihrem Unwohlsein völlig wieder hergestellt.

In der vornehmen Welt war es noch ziemlich früh am Tage, als Richard, von Ungeduld [141] getrieben, eine für Helena bestimmte Rolle frisch angekommner musikalischer Novitäten unter dem Arme, über den weiten Vorhof einer Seitenthüre des Palais zueilen wollte, welche in den von den beiden jungen Fürstinnen bewohnten Flügel desselben führte. Zu seinem höchsten Erstaunen fand er aber schon am großen Thorwege den Weg versperrt. Remisen und Ställe standen weit offen, die Lieblingspferde des Fürsten wurden hinausgeführt, eine Unzahl von Reisekutschen, Packwagen, Fuhrwerken aller Art, bildeten im Hofe eine fast undurchdringliche Wagenburg. Kisten und Koffer von allen Formen und Dimensionen lagen neben und über einander aufgethürmt dazwischen, und singend, fluchend, pfeifend, schreiend, hämmernd, rufend sprang, lief, kletterte eine Armee von Stallknechten, Sattlern, Dienern, Schmieden und Wagnern in diesem Chaos umher. Richard wußte nicht wie ihm geschehen; bis zu jener [142] Seitenthüre durchzudringen war unmöglich; vergebens bestürmte er mit Fragen die an ihm vorbeistreifenden Diener; vor lauter Geschäftigkeit konnte keiner derselben ihm Rede stehen. Endlich gelang es ihm, bis zu dem Haupteingange des Palais sich durch das Getümmel hindurch zu arbeiten; kaum hatte er hier die große Treppe erreicht, als ein Diener der Für stin Eudoxia ihn in Empfang nahm, der sehr erfreut war ihn anzutreffen, weil er so eben Befehl erhalten, ihn sogleich aufzusuchen und zu seiner Gebieterin zu führen.

In ihm selbst unverständlicher, dumpfer Angst befangen, wankte Richard, wie ein Träumender, den ihm von Kindheit auf bekannten Weg zu den Zimmern der Fürstin hinan, und konnte nur mit Mühe sich zurecht finden; denn Treppen, Korridor, Vorzimmer, alle seit langen Jahren täglich gesehene Gegenstände, kamen in seiner innern Verstörtheit ihm ganz fremdartig vor. Nur [143] als beim Öffnen der Thüre die, aus dem köstlichsten Blumendufte und den ausgesuchtesten Parfümerien zusammengesetzte Atmosphäre ihm entgegen wallte, welche gewöhnlich die Fürstin umgab, kam er einigermaßen wieder zu sich selbst.

Der erste Blick auf die in blühender Gesundheit von ihrem gewohnten Platze ihm entgegen lächelnde Eudoxia, mußte jeden Gedanken an einen ihr oder ihrem Hause widerfahrnen Unfall aus Richards Gemüthe verscheuchen; aber die Last, die beim Anblick der unten im Hofe herrschenden Unordnung ihm schwer auf das Herz gefallen war, abzuschütteln, blieb ihm noch unmöglich; er zitterte fühlbar, indem er die freundlich ihm gebotene Hand an seine Lippen drückte.

Närrchen, was hast Du denn? fragte die Fürstin nach ihrer gegen ihn noch immer beibehaltenen mütterlichen Weise; weißt Du etwa [144] schon? nun was ist es denn weiter! gewiß Du sollst dadurch nichts verlieren.

Richard starrte sie an, wollte antworten, und die Stimme versagte ihm. Ja das ist nun nicht zu ändern, es ist nun einmal nicht anders, wir gehen nach Petersburg, nahm Eudoxia mit großer Gelassenheit wieder das Wort.

Zwischen mir und Andreas war diese Reise zwar schon seit geraumer Zeit so gut als beschlossen, aber so lange die Sache noch einigermaßen zweifelhaft blieb, haben sogar unsre Kinder nichts davon erfahren. Die vielen Fragen in der Gesellschaft, Sie reisen? wann? weshalb? wann kommen Sie wieder? bringen Einen um alle Geduld. Helena selbst weiß erst seit diesem Morgen, daß wir reisen. Ein Theil unsrer Dienerschaft geht mit der Hälfte unseres Gepäckes noch heute ab, morgen oder übermorgen folgt das übrige, und wir mit unsern Töchtern treten in acht bis zehn Tagen die Reise [145] an: denn einen kleinen Vorsprung müssen wir unsern Leuten doch lassen.

Ein tiefer Schmerzenslaut entrang sich Richards Brust; verwundert blickte die Fürstin zu ihm auf; bleich, fassungslos stand er wie vernichtet neben ihrem Armsessel; seine Hand hielt die Rücklehne desselben krampfhaft umfaßt, als bedürfe er dieser Stütze, um nicht umzusinken.

Du bist krank! rief Eudoxia: was überkam Dich so plötzlich? setz' Dich hierher, Du kannst Dich ja kaum aufrecht halten; mein Gott, was ist Dir denn geschehen? fragte sie mütterlich besorgt.

Richard sank zu ihren Füßen hin, und verhüllte seine thränenden Augen in den Saum ihres Kleides.

Du weinst? fragte sie mitleidig: arme, gute, treue Seele, wäre es unsre Abreise, was Dich so betrübt? verlieren und wiederfinden ist ja die ganze Geschichte des Lebens der Menschen auf [146] Erden, das bedenke; das ist nun einmal nicht zu ändern, und man muß sich darein ergeben. Und sei versichert, auch aus der weitesten Ferne sorgen wir für Dich, Du sollst durch unsre Entfernung nichts verlieren; ich und mein Gemahl werden immer als zu unserm Hause gehörend Dich betrachten.

In diesen letzten, gewiß gut gemeinten Worten, im Tone mit dem sie ausgesprochen wurden, lag etwas ungemein Schmerzliches für Richard, das wie ein elektrischer Schlag ihn durchzuckte. Fast vergessene Erinnerungen an das, was die Amme ihm von der Fürstin stolzem Sinne früher bekannte, wachten in ihm auf, und spornten ihn sich zu ermannen. Seine Thränen versiegten, er erhob sich, und nahm der Fürstin gegenüber den Platz ein, den sie vorher ihm angewiesen.

Kann meine gütige Beschützerin mich so mißverstehen? erwiederte er, zwar mit geziemender Ehrfurcht, aber frei ihr ins Auge blickend: kann [147] sie mich, der unter ihren Augen, unter ihrer Leitung vom Kinde zum Manne heranwuchs, für so eigennützig, für so niedrig achten, daß ich in einem solchen Augenblicke eines solchen Trostes bedürfte? ja daß ich nur fähig wäre ihn anzunehmen? Was ich bin, was ich außer dem nackten Leben besitze, verdanke ich meinen edlen Beschützern, fuhr er sehr erregt mit flammenden Augen fort; aber die höchste der Gaben, die ich aus Ihrem Hause mit fortnehme, durch die mein innigstes Dankgefühl mich Ihnen ewig zu eigen macht, ist, daß ich durch Sie in den Stand gesetzt bin, sorglos in die Zukunft zu blicken, und überall das Gefühl mit mir trage, mir selbst auch ohne äußre Hülfe durch die Welt helfen zu können. Aber wie ich es aushalten werde, dieses Haus künftig verödet zu sehen! wie ich alle die vielen langen Tage, die von nun an einander folgen, von denen keiner mir – ach! ich vermag nicht es [148] auszusprechen; der geringste Diener in Ihrem Gefolge scheint mir jetzt beneidenswerth.

Guter dankbarer Sohn, sprach die wirklich gerührte Fürstin; das also ist es allein? liebst Du uns so? aber Deine treue Anhänglichkeit an uns und unser Haus ist mir ja längst bekannt, und auch ich, das glaube nur fest, auch ich werde oft Deiner gedenken, und Dich vermissen. Doch jeder, in welcher Lage er sich auch befinden mag, muß sich das Unabänderliche mit Fassung gefallen lassen, und wenigstens den Trost wirst Du nicht verschmähen, daß wir nicht auf immer von Dir scheiden. In Jahresfrist, vielleicht noch früher, kehren wir zurück, denn ich und Andreas lieben diesen Aufenthalt, und möchten ihn mit keinem andern vertauschen.

Die Minuten, die ich für Dich aufgespart, sind verflossen, und draußen warten hundert Augen auf mich, sprach die Fürstin, indem sie [149] auf ihre Uhr sah. In wenigen Worten will ich Dir noch die Veranlassung dieser Reise erklären, die Dich so betrübt, denn ob wir uns wieder allein werden sehen, ist zweifelhaft. Die künftigen Schwiegereltern meiner Natalie bestehen darauf, das Hochzeitsfest in ihrem Familienkreise zu feiern, und wir, wir müssen aus Rücksichten für das Glück unsrer Tochter ihrem Wunsche nachgeben, obgleich unsre Absicht eigentlich war, Natalien mit ihrem jungen Gemahl erst nach ihrer Vermählung nach Petersburg gehen zu lassen. Nach reifer Überlegung finden wir selbst es rathsam und schicklich, nach langer Abwesenheit uns dem Hofe wieder einmal zu nähern; ich selbst werde meine beiden Töchter dort einführen, und sie dem Kaiser und der Kaiserin vorstellen, denn auch Helena hat das dazu gehörige Alter jetzt erreicht. Und nun geh', guter Richard, der Fürst wird bald hier sein. Bei Tafel sehen wir Dich wieder, andre Gäste werden [150] heute nicht empfangen, Du aber bist ja gleichsam das Kind vom Hause. Fasse Muth und hoffe auf die Zukunft, wenn Dich der Augenblick drückt.

Richard hatte eben noch Besinnung genug, um die ihm abermals gebotne Hand zu küssen, und wankte weit trostloser als er gekommen war zur Thüre hinaus.

Oben an der großen Treppe stand er einen Augenblick still, und blickte hinab in den Vorhof. Das Getümmel hatte dort unten wo möglich noch zugenommen, man fing eben an die Packwagen zu beladen, und das Singen, Lachen und Pfeifen der dabei Beschäftigten klang ihm wie der unmenschlichste Hohn. So wie ihm damals, mag dem Verurtheilten zu Muthe sein, der indem er in seinen Kerker zurück geführt wird, das Schafott erbauen sieht. Ihm schwindelte, er hatte weder Muth noch Kraft die Treppe hinab zu gehen, und durch diese Vorbereitungen [151] zur Zerstörung des ganzen Glücks seines Lebens sich abermals hindurch zu drängen, er wandte der andern Seite des Vorsaales sich zu. In Eugens abgelegeneren Zimmern, zu denen das Getöse im Vorhofe nicht dringen konnte, dachte er einige Augenblicke zu verweilen, um sich dort, in der Einsamkeit, einigermaßen wieder zu sammeln.

Gut, daß ich Dich treffe! rief die auf dem Wege dorthin ihm begegnende Amme ihm entgegen: aber wie siehst Du aus! bist Du krank? hast Du Fieber?

Richard machte eine verneinende Bewegung, reden konnte er noch nicht.

Nun das ist mir lieb, denn zum Kranksein ist jetzt nicht die Zeit, sprach die Amme; hernach, wenn wir fort sind, magst Du Dich legen und pflegen, zu arg wird es doch hoffentlich nicht mit Dir werden. Ja, ja, dann wird es still genug hier im Hause sein, todtenstill, [152] wie im Grabe; jetzt ist es desto lauter. Was nur die Großen von ihrer heillosen Art haben mögen, ihre Befehle immer erst in der letzten Stunde von sich zu geben! so daß man, wenn's ans Ausführen gehen soll, nicht Beine genug hat, um alles zu belaufen, und nicht Kopf genug, um alles zu bedenken. Sieh einmal her, wie ich beladen bin, Kaschmirs, Schmuck, Spitzen und Gott weiß was alles noch; das alles muß auf das Sorgfältigste besorgt werden. Keine Seele von uns hat heute Zeit, Gott helf'! zu rufen, wenn die andre niest; so wird es gewiß bis nach Mitternacht fortgehn, und auf mir liegt alles, ich hab' es am schlimmsten dabei.

In sich selbst versunken setzte Richard, während des unaufhaltsamen Geschwätzes der neben ihm hergehenden Amme, seinen Weg an ihrer Seite fort, ohne ein Wort darauf zu erwiedern. Halt! rief sie, als er in den Korridor einbiegen wollte, der zu Eugens Zimmer führte, wo willst [153] Du hin? der junge Fürst ist noch nicht daheim, und auf jeden Fall mußt Du mit mir zu Helenen, mit der heute gar nicht auszukommen ist; es ist als thäte sie es mir zum Verdruß, damit ich vollends recht rabiat werde. Denke Dir, da sitzt die Kleine in ihrem Zimmer, und rührt sich nicht, und weint, und weint, als wolle sie in Thränen sich auflösen! Weint, wo Andre vor Freude außer sich gerathen würden! Die große Kaiserstadt Petersburg! Hochzeit, Putz, Feste ohne Ende, dem Kaiser, der Kaiserin vorgestellt werden! Die Sinne vergehen Einem, wenn man sich das alles nur recht denkt. Und was wetten wir, sie kommt als Braut wieder, oder gar nicht; he?

Richard wurde noch bleicher. Aber was hast Du denn? rief die Amme; komm' doch, ich habe wahrlich keinen Augenblick Zeit. Madame Sommerfeldt ist ausgefahren, um Abschiedsvisiten zu machen, und kommt schwerlich vor Abend wieder, [154] und da sitzt nun Helene ganz allein, und das ist ihr nicht gut. Keine Einzige von uns, nicht einmal ein Kammermädchen, hat in diesem Wirrwarr Zeit bei ihr zu bleiben; ich am wenigsten, denn wie gesagt, auf mir liegt alles. Du mußt ihr Gesellschaft leisten, mache Musik mit ihr, das wird sie aufheitern; und rede ihr zu, lieber Sohn, sie hat immer viel auf Dich gehalten, gewiß Du vermagst alles über sie. Rede ihr zu, damit sie sich fasse, und mir nicht etwa mit dickgeschwollnen Augen an die Tafel kommt; die Fürstin ist heute ohnehin nicht eben in der göttlichsten Laune.

Unter diesem Geplauder der Amme waren sie an die Thüre von Helenas Vorzimmer gelangt. Die Amme öffnete dieselbe, schob Richard hinein, machte hinter ihm wieder zu, und eilte davon, um über die mit Einpacken beschäftigte weibliche Dienerschaft das Regiment zu führen.


[155] Überwältigt vom ersten Sturme in ihrem Frühlingsleben, war Helene bei Richards unerwartetem Anblicke, von ihrem Sopha herabgleitend, mit einem kleinen Schrei in seine Arme gesunken; sie hielt seinen Nacken umschlungen, wie er neben ihr kniete; das liebliche Köpfchen lehnte an seiner Brust, er fühlte das Wehen ihres Athems, das bange heftige Klopfen ihres Herzens, er sah, dicht vor seinen Augen, das schöne Gesicht von Thränen überströmt, das er noch nie anders als lächelnd gesehen; alles andre um ihn her wurde von der reichen Fülle ihrer langen blonden Locken ihm verborgen, die wie ein dichter Schleier ihn umwallten.

So! so! in diesem Übermaße von Wonne und Schmerz vergehen! war sein einziger Gedanke; wortlos gestaltete er sich in seinem Innern zum heißesten Wunsch, zum glühendsten Gebet. Zum erstenmal hielt sein Arm sie umfaßt; Helenas Wangen, ihre Lippen glühten zum erstenmal [156] dicht an den Seinen. In ihrem Anschauen verloren blickte er regungslos sie an; so still, so frei von jedem irdischen Wunsche, mögen Fromme der Vorzeit, die einer himmlischen Erscheinung gewürdiget wurden, zu ihrer Heiligen aufgeblickt haben.

Ohne sich dessen deutlich bewußt zu sein, hatten Beide aus ihrer knieenden Stellung sich erhoben. Hand in Hand, Auge in Auge, saßen sie schweigend neben einander. Das lange nicht geahnete, hoffnungslose Geheimniß ihres unschuldigen Herzens hatte dieser schmerzliche Augenblick Helenen enthüllt, auch Richard vermochte nicht mehr sich abzuleugnen, was er so lange vor sich selbst zu verbergen gestrebt hatte. Keine Erklärung, kein Geständniß kam über ihre Lippen, ihre Herzen hatten gesprochen, hatten sich verstanden; sie bedurften keiner Worte.

Plötzlich stand Eugen vor ihnen; im ersten Augenblicke fuhr er wie erschreckt zusammen, faßte [157] sich aber schnell wieder; den ernsten traurigen Blick auf den Freund und die Schwester geheftet, stand er ziemlich lange da, ehe einer von ihnen seiner gewahr wurde; laut weinend sank Helena an das Herz des geliebten Bruders.

Mit sanfter Gewalt drängte er sie zurück auf das Sopha, ergriff ihre und Richards Hand, und hielt beide vereint in der Seinen. Auch sein Auge erglänzte in Thränen, auch sein Herz war schwer und beklommen. Ihm war, als ob der undurchdringliche Vorhang der Zukunft sich eine Sekunde lang vor ihm lüften wolle, und schwere Ahnung, bange Besorgniß wollten sich seiner bemeistern. Doch sein froher Jugendmuth, seine ihm angeborne Art, immer das Beste zu hoffen, hielten ihn aufrecht.

O weine nicht so, meine Helena, mein liebes holdes Kind, es bricht mir das Herz, sprach er, und trocknete liebkosend ihre Wange; und Du, mein Bruder, sieh nicht so ungewiß, so zweifelnd [158] mich an, setzte er zu Richard gewendet hinzu. Strebe nicht, Dein Gefühl mir zu verbergen, Du bemühst Dich vergebens; hast Du vergessen, daß ich die Kunst verstehe, in Deiner Seele, wie in einem offenen Buche zu lesen? Arme Helena! Du weinst Deine ersten wahrhaft bittern Thränen, ach! warum mußt auch Du den Schmerz des Lebens so frühe kennen lernen! sprach er leise und gerührt.

Du weißt es also auch schon? hat auch Dir der Vater es erst heute entdeckt, wie mir die Mutter? klagte Helena; Eugen, lieber guter Bruder, ich soll fort von hier, Du auch, wir müssen nach Petersburg, auf lange Zeit, vielleicht auf immer, denn die Amme meint, sie wollen mich dort verheirathen, und Du weißt, die Mutter sagt ihr alles. Richard soll hier bleiben, und ich kann ohne ihn in der großen fremden Stadt nicht sein, ich kann, ich will keinen von Euch Beiden entbehren, auch keinem Dritten angehören;[159] Du und er sind meine Welt. Sie hätten uns, mich und Richard, nicht so an einander gewöhnen, einander nicht so lieb gewinnen lassen sollen, wenn sie uns nicht zusammen lassen wollten! setzte sie, beinahe wie ein trotziges Kind, hinzu.

In welchem Lichte steh' ich jetzt vor Dir, Eugen? sprach Richard; doch wenn Du wirklich noch in meiner Seele, wie in einem offenen Buche zu lesen weißt, so wirst Du Deinen Freund – –

Bedauern? vielleicht; entschuldigen? gewiß nicht; Dich nicht, und auch Helena nicht, denn Ihr seid Beide reinen Herzens und ohne Schuld, unterbrach ihn Eugen; wer könnte mit Euch hadern wollen, weil Ihr nicht stärker seid als die Natur? Die Kleine hat leider recht, setzte er wehmüthig lächelnd hinzu; wollten sie vermeiden, was jetzt geschehen, so hätten sie Euch nicht in so vertrauter Gemeinschaft – aber wie wäre [160] das auszuführen möglich gewesen? Und war es ein Irrthum unsrer Eltern, daß sie nicht gleich bei Zeiten eine Scheidewand errichteten, die jeden von uns in dem ihm vorgeschriebenen Gleise erhielt, so wollen wir sie deshalb nicht tadeln; wir alle Drei verdanken diesem Irrthume eine höchst glückliche Kindheit, eine fröhliche unverkümmerte Jugend, diese holde Blüthenzeit des Lebens, auf die selbst der Glücklichste in spätern Jahren noch mit Sehnsucht zurücksieht. Und ist es denn so ganz unwiderruflich bestimmt, daß diese Blüthen abfallen müssen, ohne uns Früchte zu bringen?

Richard wie Helena fühlten tief im Gemüthe den wohlthuenden Einfluß von Eugens mildem gelassnem Benehmen in einer, für ihn gewiß nicht leicht in allen ihren Folgen zu übersehenden Situation. Die furchtbare Spannung, zu der sie durch das ganz Unerwartete hinauf getrieben worden waren, ließ nach, und sie gelangten allmälig zu einer ruhigeren Stimmung.

[161] Ist jemand unter uns als schuldig zu bezeichnen, so bin ich es, sprach Eugen im Verlaufe des jetzt unter ihnen entstandenen, weniger leidenschaftlichen Gespräches; ich war der Unbefangenere, an mir wäre es gewesen, für Euch Beide zu überlegen, zu bedenken, zwischen Euch vermittelnd einzutreten, Dich zu warnen, mein Bruder, Dich, meine süße Helena, zurückzuhalten, und hätte es auch gewaltsam geschehen müssen. Und doch! was hätte meine Weisheit am Ende gefruchtet? wahrscheinlich so wenig, als alle Weisheit auf Erden, sobald ein mächtigeres Gefühl das Steuerruder ergreift. Nun so sei es darum, das Vergangene sei vergangen, nur von der Zukunft dürfen wir unser Heil erwarten, und ihr nicht nur würdig, sondern auch vorsichtig entgegen treten, keinen Schritt zu viel, aber auch keinen zu wenig. Dies sei von nun an Deine Aufgabe, Richard; die meinige, als treuer Berather und Helfer Dir zur Seite zu bleiben.

[162] O, die Zukunft! was kann, was darf ich Unglücklicher, Namenloser vernünftiger Weise von ihr hoffen oder erwarten? rief Richard.

Alles! habe nur dazu den Muth, erwiederte Eugen. Zur Erreichung eines weit höheren Zieles, als das Deine, von Andern, die in keiner Hinsicht mehr waren als Du bist, wurden in unsrer vielbewegten ereignißreichen Zeit wohl ganz andere Schwierigkeiten besiegt, als die sind, welche Dir im Wege liegen. Soll ich eine Reihe, aus den verschiedensten Ländern stammende Namen Dir nennen, die vor kurzem aus tiefem Dunkel auftauchend, jetzt als leuchtende Sterne auf der nämlichen Bahn glänzen, die Du Dir erwählt hast? Und schüttle nur nicht so ungläubig den Kopf; früher, weit früher als Du denkst, können, werden Ereignisse eintreten, die Dir überflüßige Gelegenheit bieten, auch Deinen Namen jenen glänzenden Erscheinungen, die ich Dir andeutete, anzuschließen.

[163] Zwar hörte Helena sehr aufmerksam auf alles, was ihre beiden Brüder, wie sie dieselben noch immer nannte, sprachen, doch ohne deutlich zu fassen, wie sie es eigentlich meinten. Ihr einfacher Sinn verlangte und erwartete von der Zukunft fürs erste nur, daß sie alles bleiben und bestehen lasse, wie es gewesen, so lange sie denken konnte. Richard täglich sehen, in den nämlichen Verhältnissen wie bisher, war alles was, wie sie wähnte, ihr zum Glücklichsein unentbehrlich war; an eine nähere Verbindung mit ihm kam ihr noch kein Gedanke. Aber die Idee, daß ihre Eltern beabsichtigen könnten, sie in Petersburg zu verheirathen, mit der die Amme sie eingeschüchtert hatte, war ihr unbeschreiblich ängstlich, und sie erklärte schon im voraus ihren festen Entschluß, nie darein zu willigen.

Im Übrigen ergab sie sich mit großer Bereitwilligkeit darein, sich Eugens Leitung ganz zu überlassen; sie versprach ihm, nie, unter keiner [164] Bedingung an Richard zu schreiben. Auch dieser gelobte dem Freunde das Nämliche, der dagegen Beiden verhieß, auch hier als Mittelsperson zwischen ihnen einzutreten, und sie nie ohne gegenseitige Nachricht von einander zu lassen.

Richard und Helena brachten von nun an die, bis zur Abschiedsstunde noch verfließende Zeit, in stetem Schwanken zwischen Wonne und Schmerz hin. Zwar sahen sie sich täglich, doch immer nur für kurze abgerissene Momente; und nur selten mochte es Eugens unermüdlicher Vorsorge gelingen, eine geräuschlose Viertelstunde, die ein ungestörtes Beisammensein ihnen gewähren konnte, ihnen zu gewinnen.


Von nun an schlichen die langweiligen Tage träge und bleiern, in ihrer grauen Farblosigkeit einer dem andern völlig gleich, dem verlassenen Richard vor über. Eugen hielt zwar sein Versprechen, [165] aber wie wenig ist ein Brief für das in Sehnsucht und Ungewißheit zagende Herz! Mehrere Monate vergingen auf diese Weise, Nataliens Hochzeit war längst in Petersburg mit großer Pracht gefeiert, Helena am Hofe vorgestellt, des Winters Annäherung wurde schon merkbar: da endlich fiel ein heller Morgenstrahl in Richards sternlose Nacht; das Regiment, bei welchem er stand, wurde nach Petersburg verlegt, er selbst zu einem höheren Dienstgrade befördert.

Wiedersehn! welch ein Zauber liegt in diesem kleinen Worte! der selbst bis an den Rand des Grabes seine Wunderkraft nicht verliert; der den Sterbenden ermuthigt, und den Zurückbleibenden dem Übermaße des Schmerzes nicht ganz erliegen läßt.

Richards Freude war gränzenlos; Iwan Yakuchin, dem es im Grunde ziemlich einerlei war, ob er in Moskau oder Petersburg lebe, freute [166] ehrlich und treuherzig sich mit ihm, eben nur, weil Richard sich freute; denn er für seinen Theil wäre wohl lieber in Moskau bei seinen Bekannten geblieben, wenn man ihm die Entscheidung überlassen hätte, doch ohne Richard nimmermehr.

Wie alle guten und bösen Stunden des Lebens, ward auch die für Richards glühende Ungeduld höchst peinliche Zeit der Erwartung bis zum Auszuge des Regiments, und der nicht minder ihn fast zur Verzweiflung bringende langsame Marsch, nebst allen damit verknüpften Beschwerden und Unfällen, endlich überstanden. Eugen nahm bei seiner Ankunft in Petersburg seinen Freund sogleich in Empfang, und Richard erlag fast der überwältigenden Freude dieses Wiedersehens, das der Verkündiger eines noch schmerzlicher ersehnten ihm war.

Der Fürst, die Fürstin, Natalia und ihr junger Gemahl, sie alle nahmen mit dem nämlichen [167] herzlichen Wohlwollen, mit welchem sie von ihm geschieden waren, ihren Schützling als ganz zu ihnen gehörend wieder auf. Auch Eugens ältere Brüder fand er in ihrem väterlichen Hause versammelt, und die jahrelange Trennung von den Gefährten seiner Kindheit hatte keinen von ihnen ihm entfremdet. Der älteste, Fürst Isidor, der nur um seine Eltern wiederzusehen, und der Vermählung seiner Schwester beizuwohnen, nach Petersburg gekommen war, suchte auf das Freundlichste ihn zu ermuthigen, und ging auf mehr als halbem Wege dem Jünglinge entgegen, den er vor vielen Jahren in seinem väterlichen Hause als Kind gesehen, und der beim ersten Anblick der ihm ganz fremd gewordenen, imposanten Gestalt des schönen jungen Mannes, zögernd und verlegen vor ihm stand. Anders war es mit dem Fürsten Alex, Eugens zweitem Bruder, welcher in der Zeit ebenfalls zu einem recht stattlichen Marineoffizier sich entwickelt [168] hatte. Dieser war durch die größere Gleichheit ihres Alters Richarden schon früher weit näher gebracht, als der von Jugend auf ernste weit ältere Bruder, der immer von den jüngern Knaben wie eine Art Respektsperson betrachtet worden war. Mit recht treuherziger Beredsamkeit sprach Alex seine Freude über das Wiedersehen seines alten Spielkameraden aus; manch lustiges Ereigniß aus ihrer frühen Knabenzeit kam unter den Beiden gleich in der ersten Stunde wieder zur Sprache; Eugen verfehlte nicht, lebhaften Antheil daran zu nehmen, und unter fröhlichem Geplauder, unter Lachen und Scherz, fühlte Richard zum erstenmal seit langer Zeit sich wieder zu Hause, unter den Seinen.

Helena allein war bei Richards Empfange im Kreise ihrer Familie nicht zugegen gewesen; denn Eugen hatte unter einem leicht zu findenden Vorwande die nichts ahnende Schwester vom Hause entfernt gehalten. Richard war [169] darauf vorbereitet gewesen sie nicht zu finden, und mußte, wenn gleich mit schwerem Herzen, die Vorsicht des treuen Freundes billigen, die beide der schweren Aufgabe entziehen wollte, ein solches Wiedersehen vor Zeugen zu bestehen, ohne ihr eignes theuerstes Geheimniß zu verrathen; um so heftiger aber war Helenas Zorn, als sie Eugens Verrath, wie sie es nannte, bei ihrer Zuhausekunft erfuhr. Sie blieb die ganze, in schlafloser Erwartung zugebrachte Nacht hindurch unversöhnlich, bis Morgens, zur gewohnten Stunde, der Freund von ihrem Bruder geleitet in ihr Zimmer trat. Er fand, wie vorauszusehen war, sie allein.

Ein Wiedersehen wurde gefeiert, das unbeschrieben bleiben mag. Nicht Jahre, nur Monate lagen zwischen dieser Stunde und der des Scheidens, aber um so wunderbarer mußte die auffallende Veränderung erscheinen, die während dieses kurzen Zeitraums mit der jungen [170] Fürstin vorgegangen war. Ohne an süßem Liebreitze oder anspruchsloser Natürlichkeit dadurch zu verlieren, war das fröhlich-unbefangne Kind, wie durch einen Zauberschlag, zur lieblichsten Jungfrau erblüht. Helena schien größer geworden zu sein, ihr Auge strahlender; ihre Gestalt hatte in seltener Vollkommenheit sich entwickelt. Alles an ihr, ihr Gang, ihr Blick, der Ton ihrer Sprache, deutete bei liebenswürdigster Anmuth auf eine eigne Sinnesfreiheit, ein Selbstbewußtsein, eine Sicherheit des Geistes hin, die bei ungeheuchelter Bescheidenheit zu einer der blendendsten Erscheinungen sie erhob. So durchbricht während einer einzigen lauwarmen Frühlingsnacht die junge Rose die sie verbergende grüne Umhüllung, und entzückt alle Augen und Herzen, indem ihre der Knospe entquellenden Purpurblätter die hohe Pracht verkünden, die sie später, in duftendem Schimmer völlig erblühend, vor der Sonne entfalten wird.

[171] Du siehst so verwundert, so befremdet mich an? fragte Helena lächelnd, sobald der erste, jeden andern Gedanken überwältigende Freudentaumel es erlaubte.

Und kann ich anders? erwiederte Richard: ich sehe Dich, ich halte Dich; Du bist es und Du bist es nicht. Entzückt, betäubt stehe ich vor Dir; Du bist mir so bekannt und doch so fremd. Ich möchte anbetend vor Dir hinknieen, wie vor einem Wunderbilde, das vor meinen geblendeten Augen ein Götterhauch von oben belebte. Helena, sage mir, was ist mit Dir vorgegangen?

Was soll denn mit ihr vorgegangen sein? sie hat die Kinderschuhe ausgezogen und ist eine große vornehme Dame geworden, wie es ihr denn auch nicht anders gebührt. Am Hofe wie in der Stadt wird sie allgemein bewundert und verehrt; da muß sie doch wohl den Kopf ein wenig höher halten als sonst? rief eine laute, etwas [172] kreischende Stimme dazwischen. Es war die Amme, die sich herbei drängte, um auch ihrerseits den lange nicht Gesehenen zu begrüßen, und die beim Eintritte in das Zimmer Richards letzte Worte, aber auch nur diese, gehört hatte.

Ja so ist es, die alte Pythia hat wahr gesprochen, seufzte Richard, nachdem die Amme sich wieder entfernt hatte. Du schöner Stern! Du wandelst in aller Deiner glanzvollen Herrlichkeit hoch über mir, auf Deiner Dir gemessenen Bahn; bewundernd blickt eine Welt anbetender Verehrer zu Dir auf; sie alle, vor nehm, reich, brillant, wie Du selbst es bist, dürfen Dir folgen, Dir dienen, um Deine Huld sich bewerben, während ich armer dunkler Erdensohn im Staube, unbemerkt, tief unter ihnen und Dir – –

Kein Wort weiter, kein einziges dieser Art mehr, wenn Du nicht absichtlich mich erzürnen willst, gebot ihn unterbrechend Helena, und richtete sehr ernst sich hoch empor. Was sollen [173] solche Jämmerlichkeiten zwischen uns? kennst Du mich so wenig? fuhr sie sehr lebhaft fort. Ich kann und will Dir nicht heucheln, denn ich bin von Natur jeder Lüge abhold; ich kann Dich nicht glauben machen wollen, daß ich nicht gern bin was ich bin, oder daß ich lieber in einer Hütte leben möchte, als im Palaste meiner Eltern. Ich wäre ein unnatürliches Geschöpf, wenn ich nicht lieber Gefallen als Mißfallen erregte, wenn Tanz, Musik und aller Glanz, der mich umgiebt, mir keine Freude machten, und darf von Dir fordern, daß Du diese Freude gern mir gönnst. Denn Du mußt mir vertrauen wie ich Dir vertraue, und keine armselige Eifersüchtelei darf zwischen uns treten. Im Herzen bin ich Dein, und bleibe es, denn ich kann nicht anders; Du gehörst zu mir, wie ein Theil von mir selbst; dies Gefühl ist mit mir aufgewachsen; ich kann mir gar nicht denken wie es wäre, wenn ich Dich nicht hätte oder nie gehabt [174] hätte. So bleibt es, daran laß' Dir genügen; mag es übrigens um uns her werden wie es wolle, ich bleibe wie ich bin.


Auch in Petersburg, wie früher in Moskau, war Iwan Yakuchin Richards treuer Freund geblieben. Die heitre Gegenwart des stets lebenslustigen Gesellen trug nicht wenig dazu bei, ihm über manche dunkle Stunde hinaus zu helfen, deren er jetzt leider nicht wenige zählte. Tage, ja Wochen vergingen, während welchen Helena und selbst Eugen, hingerissen von dem geräuschvollen Treiben der großen Welt, in deren Mitte sie jetzt lebten, ihm kaum einige, gleichsam im Fluge zu erhaschende Augenblicke schenken konnten. Der Abstand zwischen sich und ihnen ward ihm dann so fühlbar, so drückend, daß er darüber in Trübsinn und Hoffnungslosigkeit rettungslos hätte untergehen müssen, wäre Iwan [175] mit seiner unversiegbaren Fröhlichkeit nicht dazwischen getreten, und hätte ihn zu Vergnügungen fortgerissen, die ihm zwar wenig Genuß, aber doch Zerstreuung gewährten.

Auf diese Weise gerieth Richard auf Kaffeehäusern, in Restaurationen und an ähnlichen Orten in eine zahllose Menge von Bekanntschaften, von denen nur sehr wenige seinem verfeinerten Gefühle für Geselligkeit zusagen konnten. Doch um so weniger durfte er es wagen, seinen gar zu treuherzigen Freund ihnen allein zu übergeben. Der gutmüthige, nichts weniger als argwöhnische Iwan hatte sich sogar schon einigemal an Orte verlocken lassen, wo in Vergnügen verkleidete Raubsucht in tiefer Verborgenheit ihr wüstes Wesen treibt, und nur Richards Gegenwart war es gelungen, den Unvorsichtigen aus ihren Klauen zu befreien, und ihn vor allerlei andern gefährlichen Abenteuern zu bewahren.

[176] Eines Abends gingen beide Freunde mit eintretender Dämmerung Arm in Arm ihrer Wohnung zu. Es war um die Zeit, wo der Winter dem im Norden mit rascheren Schritten heraneilenden Frühlinge zu weichen beginnt; die Newa hatte ihre starre Eisdecke abgeworfen, der Schnee war verschwunden, und ein scharfer Ostwind hatte, selbst in dem sehr abgelegenen, etwas verrufenen Quartiere der Stadt, in welchem sie sich eben befanden, das Labyrinth von engen Gäßchen gangbar gemacht, das nur selten der Fuß der Bewohner der breiten prächtigen Straßen von Petersburg zu betreten pflegte.

Beide Freunde befanden sich eben in keiner rosenfarbnen Stimmung. Richard, durch einen glücklichen Zufall geleitet, hatte abermals seinen leichtsinnigen Schützling in einem der berüchtigtsten heimlichen Spielvereine aufgefunden, und ihn mit sich fortgeführt. Er war in einer sehr nachdrücklichen Strafpredigt begriffen, die Iwan, [177] in seiner großen Unzufriedenheit mit sich selbst, geduldig und reuevoll über sich ergehen ließ, denn er hatte so eben den größten Theil seiner Baarschaft am grünen Tische zurückgelassen. Einige demüthige Versprechungen sich zu bessern waren alles, was er seinem zürnenden und beredten Freunde entgegenzustellen wagte; doch er hatte diese schon zu oft geleistet, und zu oft gebrochen, um einen gewichtigen Eindruck davon hoffen zu können.

Endlich wurde er aber doch des bloßen Anhörens müde: Es geht nicht mit rechten Dingen zu, ich sage Dir ich bin behext, rief er sehr lebhaft. Richy, Du weißt es ja selbst, daß ich am eigentlichen Spielen nicht mehr Freude habe als Du. Wenn es auch anfänglich mich amüsirt, es wird mir immer gleich wieder langweilig, besonders wenn ich gewinne. Anderer Leute Gold einzusäckeln schäme ich mich, ich spiele weiter fort, um es wieder los zu werden; dann [178] geht gemeiniglich auch mein eigenes mit zum T....l, das verdrießt mich, ich spiele weiter, um es wieder zu bekommen, und so wird das Übel immer ärger. Daß man mit solchen Gesinnungen kein Spieler vom Fach werden kann, siehst Du doch ein. Aber ich will mich bessern, das schwöre ich Dir zu, Richy; wenn nur die lustige Gesellschaft mich nicht lockte, ich rührte zeitlebens weder Karte noch Würfel an.

Die lustige Gesellschaft? eiferte Richard: wahrhaftig eine saubere Gesellschaft! Giebt es in der Welt ein abstoßenderes Gesicht, als das im braunen Überrocke, das Dir heute schon zum drittenmal gegenüber saß. Ich meine den großen starken Mann, mit der grünen Brille vor den Augen. In seinem Wesen liegt etwas, das ihm das Ansehen eines Mannes von Stande giebt.

Das ist er aber auch, fiel Iwan, froh dem Gespräche eine andere Wendung geben zu können, hastig ein; sie nennen ihn alle Herr Baron, [179] seinen Namen habe ich aber noch nicht erfahren können.

Sei er was und wer er wolle, sprach Richard sehr unmuthig, er ist mir tief in der Seele zuwider. Was man eigentlich häßlich nennen könnte ist er nicht, aber sein versteinertes Gesicht sieht wie der verödete Wahlplatz aller nur möglichen gehässigen Leidenschaften aus, die jemals eine enge Menschenbrust durchtobten. Nimm dazu den gleißenden Heuchlerschein, mit dem er seine innere Verworfenheit zu überkleistern strebt; recht wie ein getünchtes Grab, von außen Schaumgold, von innen Greuel der Verwesung. Dich in seiner Nähe zu sehen, kann ich nun einmal gar nicht ertragen.

Still! denk' an das Sprichwort vom Wolf; wenn nicht alles mich täuscht, biegt er dort, zwanzig Schritte vor uns, um die Ecke, flüsterte Iwan, und strengte seine, durch das frühere Leben im Gebirge mit der Schärfe eines Wilden [180] begabten Augen und Ohren an, um die neblige Dämmerung die vor ihm lag zu durchdringen. Richard sah nur undeutliche Umrisse einer vor ihnen sich bewegenden Gestalt. Ich höre seine Stimme, ich höre auch eine weibliche klagende; schnell, da müssen wir hin, rief Iwan plötzlich, und riß seinen Freund im Sturmschritt mit sich vorwärts.

Sie erreichten in wenig Secunden eine seltsame Gruppe; eine schlanke, jugendliche, in Mantel und Schleier sittsam verhüllte Gestalt, eine kurze, dicke, theatralisch bunt aufgeputzte ältliche Frau von durchaus nicht einladendem Äußern, und neben ihnen den eben besprochenen Baron, der eben hinzutrat. Das Mädchen zitterte in sichtbarer Angst, die Alte keifte, der Baron suchte mit einschmeichelnder Rede das Mädchen zu beruhigen.

Ich danke Ihnen sehr, gewiß ich bin Ihnen recht dankbar, liebe Madame, sprach es fast weinend [181] in gebrochnem Russisch; aber lassen Sie sich erbitten, und nennen mir endlich den Namen der Straße, wohin ich will und Sie die Güte haben wollen, mich zu führen; ich habe ihn zwar vergessen, aber ich besinne mich gleich wieder darauf, wenn ich ihn höre; es ist nur, damit ich gewiß weiß, daß Sie sich nicht vergebliche Mühe mit mir machen.

Was für Umstände! was denken Sie denn, wofür halten Sie mich? meinen Sie ich hätte Zeit und Lust, stundenlang hier mit Ihnen zu verweilen? erwiederte mit harter keifender Stimme die Alte. Wenn ich Ihnen nun sage, Herr Lange ist mein guter Bekannter und nächster Nachbar, ist das nicht genug? Kurz und gut, Jungfer, entweder Sie gehen mit mir, oder Sie bleiben hier allein, mitten unter dem betrunkenen Volke, das gleich hier aus den Branntweinskneipen herauskommen wird.

Frau Marina ist heftig, aber grundgut, sie [182] ist meine alte Freundin, und Sie können sich ihr sicher anvertrauen, nahm jetzt der Baron das Wort.

Ach, ich fürchte mich so! seufzte das Mädchen.

Aber wovor? fragte der Baron, der erst seit ein paar Minuten den beiden sich zugesellt hatte; ich höre an Ihrem Dialekte, daß Sie eine Deutsche sind, und so bitte ich Sie, vertrauen Sie dem Worte eines Landsmannes Sie sind unter Freunden, fuhr er in deutscher Sprache fort, die gute. Frau wird Sie sicher führen. Ich selbst will sie beide begleiten, setzte er in russischer Sprache hinzu, der Weg ist zwar ein wenig weit, aber wir treffen wohl bald einen Wagen –

Ach, mein Herr, weit von hier kann es nicht sein, das ist nicht möglich, unterbrach ihn das Mädchen; ich habe mich verirrt, und kann mich allein nicht wieder zurecht finden, aber ich bin gar nicht lange gegangen; weit von Hause bin ich gewiß nicht.

[183] Wenn man in der Angst vorwärts läuft, zählt man weder Schritte noch Minuten, erwiederte der Baron, daher nehmen Sie nur ganz unbesorgt den Arm an, den die gute Frau Marina Ihnen bietet, und lassen Sie uns machen, daß wir fort kommen.

Zwar unter Zittern und Zagen, aber doch hingerissen von dem vaterländischen Laute, war das Mädchen wirklich schon mehr als halb entschlossen, diesem Rathe zu folgen, als Iwan plötzlich dazwischen trat.

Halt! rief er; auch ich kenne die gute Frau Marina, wenn gleich nur dem Rufe nach; doch das ist genug, um nimmer zugeben zu können, daß eine junge Dame, wie Sie, mit ihr geht. Hier steht mein Kamerad, wir beide sind bereit Sie hinzuführen, wohin Sie wollen, aber mit der da, wenn Ehre und – –

Wahrhaftig ein paar treffliche Begleiter, die sich Ihnen so ganz unverhofft anbieten, schrie [184] die Alte laut auflachend: nun Jüngferchen, Glück zu, wenn Sie etwa lieber bei Nacht und Nebel mit ein paar jungen Militärs die Stadt durchziehen wollen, als mit einer ehrbaren Frau gehen – –

So bin ich wenigstens noch da, um mich meiner Landsmännin anzunehmen, und werde solch einen Scandal nimmermehr zugeben, rief der Baron, und trat auf die beiden Freunde zu, während das geängstete Mädchen jetzt wirklich anfing laut zu weinen. Wie, Ihr Herren, was unterfangt Ihr Euch, fuhr er fort, eine junge Dame auf öffentlicher Straße – wißt Ihr wohl wer und was – –

Was giebt es hier? Worüber weint die junge Person? erscholl plötzlich eine wohltönende, gebietende Stimme. Ein großer, in Mantel und Hut tief verhüllter Mann, der schon lange in einiger Entfernung den beiden Freunden gefolgt war, und wahrscheinlich ihr Gespräch, wenigstens [185] zum Theil mit angehört hatte, stand mitten unter ihnen; alles schwieg, betroffen von der eben so unerwarteten, als imposanten Erscheinung.

Sagen Sie mir, was Sie so traurig macht, Mademoiselle? vielleicht kann ich helfen, wiederholte mild aber ernst der Unbekannte. Wer sind Sie, wie heißen Sie? fragte er nochmals, als er von dem erschrockenen Mädchen keine Antwort erhielt.

Ach ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich bin hier fremd, und habe in der großen Stadt mich verloren, schluchzte das Mädchen besinnungslos.

Nun wie Sie heißen, und bei wem Sie wohnen, werden Sie doch wissen; denken Sie nur ein wenig nach, erwiederte der Unbekannte mit einem gewissen Tone der Stimme, der deutlich verrieth, daß es ihm schwer werde, das Lachen zu unterdrücken.

Mittlerweile war das furchtsame Kind doch wieder zu einiger Fassung gelangt. Ich heiße Julie [186] Reinert, sprach sie rasch und ängstlich hinter einander weg; ich habe keine Eltern, mein Vormund hat mich von Königsberg hieher zu seinem Bruder, dem Musiker Lange geschickt; ich bin erst seit vier Tagen hier; ich habe die Schwester der Frau Lange besucht, und habe auf dem Rückwege mich verirrt.

Also bei dem Pianofortisten Lange wohnen Sie? erwiederte der Unbekannte sehr freundlich; ich kenne ihn, und auch seine Frau; sie war früher eine sehr beliebte Sängerin bei unserm deutschen Theater. Fassen Sie Muth, mein Kind, Sie sind bei braven Leuten. Aber was hatten denn Sie, Madame, mit diesem jungen Frauenzimmer zu streiten? fragte er im Verhör fortfahrend, und wollte an Frau Marina sich wenden, doch die Stelle, wo diese gestanden, war leer, sie sowohl als der Baron waren mittlerweile unbemerkt verschwunden. Hatte der Wind das edle Paar durch die Lüfte fortgeführt? hatte [187] die Erde es verschlungen? keine Spur davon war weder hörbar noch sichtbar.

Sonderbar! sprach der Unbekannte vor sich hin; es waren ihrer zwei, wo sind sie hin? kannten Sie diese Leute? und wer waren sie? fragte er, an den ihm zunächst stehenden Richard sich wendend.

Nur von Ansehen, versicherte dieser in seinem und seines Freundes Namen.

Es lag in der Gestalt, im Wesen, in der Sprache des Unbekannten etwas seltsam Überwältigendes, Ehrfurcht und Gehorsam Gebietendes, dem weder Richard noch Iwan zu widerstehen vermochten. Offen und wahr gaben beide ihm alle Auskunft über sich selbst, die er verlangte. Auch Julie Reinert wurde ruhiger, als fühle sie sich unter der Obhut eines mächtigen, ihr wohlwollenden Beschützers. Auf seinen Befehl überließ sie sich ohne Weigerung der Führung der beiden jungen Männer, denen er den [188] Weg zu der wirklich nicht sehr entfernten Wohnung des Musikers Lange deutlich beschrieb. Noch heute werde ich mich erkundigen lassen, ob das Ihrem Schutze empfohlene Frauenzimmer sicher zu Hause gekommen ist; übrigens sind auch Ihre beiden Namen mir nicht fremd, rief er beim Fortgehen mit ernstem Nachdruck den Freunden noch zu, und war nach wenig Augenblicken den ihm nachschauenden Augen, in der schon zur Nacht sich verdickenden nebelhaften Dämmerung verschwunden.

Still und schweigend gingen alle Drei raschen Schrittes den ihnen angedeuteten Weg, und gelangten, ehe sie es vermutheten, aus dem verworrenen Labyrinthe der engen Gäßchen in eine der breiten, hell erleuchteten und volkreich belebten Straßen von Petersburg, ganz nahe an Herrn Langes Wohnung.

Ist mir doch als hätte ich lebendigen Leibes, mit weit offenen Augen, ein Mährchen erlebt, [189] wie man sie sonst wohl auf dem Theater nur aufführen sieht, fing Iwan jetzt an. War es doch als stünde ein mächtiger Zauberer vor uns, dem wir gehorchen und Rede stehen mußten, wie er es verlangte. Und wo sind nur der Baron und die saubre Frau Marina hingekommen? Begreifst Du etwas von dem Allen, Richy? Du bist doch sonst immer viel verständiger als ich.

Es wäre gewiß verzeihlich, wenn man sich hier verleitet fühlte, an eine überirdische Erscheinung zu glauben, die der Unschuld sich annimmt, und böse Geister verscheucht. Wer kann dieser Unbegreifliche sein? erwiederte Richard nachdenklich.

Mein schützender Engel in Menschengestalt! frohlockte Julie Reinert, die, seit sie jenes Gewinde enger Gäßchen hinter sich gelassen hatten, ganz getrost worden war. Ein kleiner, in Mütze und Pelz wohl verwahrter, mit einem keulenartigen Stocke und einem Regenschirme wohl bewaffneter [190] Mann, trat in diesem Augenblicke ganz keck auf sie zu; Julie, sobald sie ihn gewahrte, warf mit einem Freudensprunge sich ihm in die Arme, so daß der Kleine Stock und Regenschirm darüber fallen lassen mußte.

Bist Du es? bist Du es auch ganz gewiß? rief er auf deutsch, und zog sie vorwärts, um beim Schein einer Straßenlaterne sie besser zu betrachten. Ja Du bist es, Du desertirter Kanarienvogel, herein mit Dir in Deinen Käfig; ob Du uns Noth gemacht hast, Du malitiöse Person! Jetzt eben jagte Frau Karoline mich zum Hause hinaus, ohne Dich soll ich ihr nicht wieder vor die Augen kommen. Aber ist das auch eine Art? bis in die sinkende Nacht, so ganz allein – aber wo ist mein Schirm und mein Stock – ei da sind ja auch ein paar Herren, also nicht ganz allein? Guten Abend, meine Herren, wen habe ich die Ehre zu sprechen? damit stellte der kleine bepelzte Mann sich kerzengerade,[191] dicht vor die beiden Freunde, in einer etwas herausfordernden Stellung hin.

Mühsam des Lachens sich erwehrend, beantworteten Iwan und Richard auf das Höflichste die an sie ergangene Frage; berichteten dann in wenigen Worten, wie sie die junge Dame in einiger Verlegenheit getroffen, weil sie sich nicht nach Hause zu finden gewußt, wie sie sich ein Vergnügen daraus gemacht hätten, sie sicher zu begleiten, und wie sie sich jetzt empfehlen wollten, indem sie das Fräulein in Sicherheit bei den Ihrigen sähen.

Aber der Kleine wollte das nicht erlauben; halt, rief er, das gilt nicht; wie der Fuchs vom Taubenschlage wegschleichen, ohne förmlichen Bericht? ohne schuldige Danksagung von unsrer Seite, wollte ich sagen; setzte er sich besinnend hinzu. Die da lacht zwar jetzt, aber das soll ihr schon vergehen, wenn die gestrenge Hausfrau dort oben ein schweres Gericht über sie [192] ergehen lassen wird, wie sie es denn nicht anders verdient.

Die gestrenge Hausfrau, wie Herr Lange seine eigene hübsche Frau nannte, erschien in diesem Augenblicke selbst; ein allerliebstes, kugelrundes Figürchen, nicht zu jung, nicht zu alt. Sie lachte und weinte, sie schalt und liebkoste Julien, alles das in einem Athem, indem sie dieselbe in Empfang nahm. Unter ununterbrochenem liebenswürdigem Geschwätz eilte sie mit ihr ins Haus, die Treppe hinauf, ins Zimmer hinein; dankte zehnmal den Begleitern ihres Lieblings, versicherte, gleich morgenden Tages der Schwester einen derben Leviten lesen zu wollen, weil sie die Kleine habe allein gehen lassen, schilderte die Todesangst, die sie über das lange Außenbleiben derselben inzwischen ausgestanden, schalt ihren Eheherrn einen Träumer, weil er sich nicht rechtschaffen mit ihr geängstiget habe, wie es doch seine Pflicht wäre, schäfftelte dabei immer im [193] Zimmer umher, und kam nicht eher zur Ruhe, bis Alle um den schneeweiß bedeckten runden Tisch geordnet saßen, und der Duft des köstlichen Karavanen-Thees, wie man nur in Rußland ihn trinkt, die Luft mit Wohlgeruch erfüllte.

Nun ging es an ein Fragen ohne Ende, bis Julie sich erbot, alles getreulich zu berichten, wenn man nur ein ruhiges Anhören ihr gewähren wolle. Der Uranfang alles Unheils an diesem verhängnißvollsten Abende ihres ruhigen kurzen Lebens, war ein nicht bedeutendes Unwohlsein der Schwester der Frau Lange gewesen. Der Weg zu der Wohnung der guten Dame war nicht weit, Julie hatte einigemal, freilich nicht unbegleitet, ihn zurück gelegt; und um die Kranke nicht ihrer Bedienung zu berauben, hatte sie es gewagt, sich allein nach Hause finden zu wollen.

Es war noch ziemlich heller Tag, als ich zum Hause hinaustrat, sprach Julie, aber ich muß gleich anfangs es versehen haben, denn ich [194] war noch gar nicht weit gegangen, als ich gewahr wurde, daß ich in einer mir ganz unbekannten Gegend der Stadt mich befand; ich wollte wieder zur Tante zurück gehen, aber ich gerieth aus einem engen Gäßchen in das andre. Es wurde neblig, es wurde dunkel, es wurde immer dunkler, Angstschweiß trat mir auf die Stirne, das Herz schlug mir unbändig, hoch und immer höher bis in die Kehle hinauf. Ich lief herum, und wieder herum, bis zum schwindlig werden; wohl zehnmal kam ich immer wieder auf den nämlichen Fleck zurück, ich konnte nicht rückwärts, nicht vorwärts, ich wußte weder ein noch aus. Einige Russen mit langen Bärten traten aus einem kleinen hölzernen Hause heraus; bis jetzt war ich noch keinem einzigen Menschen begegnet, hatte auch fast kein Haus gesehen, denn ich war meistens zwischen hohen Hof- oder Gartenplanken umhergeirrt. Die Männer sahen mich an und lachten mich aus, wie [195] ich so da stand, zitternd vor Angst. Ich wollte mir aber doch ein Herz fassen, und mein bischen Russisch zusammennehmen, um sie um den Weg zu befragen: da entdeckte ich mit einemmal, zu meinem unsäglichen Schrecken, daß ich in der Angst den Namen der Straße, in der wir wohnen, rein vergessen hatte. Die Männer gingen weiter, ich gab mich nun ganz verloren, tausend Schreckbilder drangen auf mich ein, meine Kniee brachen unter mir zusammen, ich sank auf einen Stein, und weinte bitterlich, wie ein kleines Kind.

Ausbrüche des herzlichsten Mitleids brachten hier eine kleine Pause in der Erzählung hervor. Dann sprach Julie weiter:

Wie lange ich so gesessen weiß ich nicht, ich war kaum mehr meiner Sinne mir bewußt. Man ergriff meine Hand, das brachte mich wieder zu mir selbst; eine ältliche Frau stand vor mir, wo sie hergekommen sei wußte ich nicht, [196] mir erschien sie, in dem Augenblicke, wie ein Engel vom Himmel gesandt.

Die berüchtigte Frau Marina war der Engel, der, als wir dazu kamen, eben im Begriff war, das Fräulein in sein Paradies abzuführen, setzte Richard hinzu.

Bei diesem Namen schrieen Lange und seine Frau laut auf. O über die schändliche, verworfene Kreatur! rief er: Julie, arme Julie, was wäre aus Dir geworden, hätte sich diese Deiner bemächtigt! Nie, oder mit Schimpf und Schande bedeckt, hätten unsere Augen Dich unglückliches Kind wieder gesehen. Wie nur die weise Regierung, wie nur der liebe Gott selbst, einen solchen Höllenpfuhl wie ihr verruchtes Haus mitten in der schönen Stadt dulden kann! Aber man behauptet ja offen, solche Krebsschäden wären großen Städten als Abzugsmittel unentbehrlich.

In diesem Augenblicke wurde Herr Lange [197] zu jemanden abgerufen, der ihn zu sprechen verlangte, und sich durchaus nicht wollte abweisen lassen; er folgte sehr widerwillig dem Rufe; nur kein Wort weiter, kein einziges, bis ich wieder da bin, bat er im Gehen. In augenscheinlicher heftiger Bewegung, bleich, erschrocken kehrte er nach einiger Zeit in das Zimmer zurück, und doch schien ein Strahl innerer Freude aus seinen Augen zu leuchten. Alle sahen verwundert ihn an, wie er, keines Wortes mächtig, neben Julien hintrat, und ihre Hände ergriff, indem er ihr forschend ins Gesicht sah.

Julie, sprach er endlich, was hast Du mit dem Kaiser? oder vielmehr, was hat der Kaiser mit Dir? Julie sah bestürzt und ängstlich zu ihm auf.

Seine allerhöchste Majestät, der große Czaar Alexander, der unumschränkte Herr und Gebieter aller Reußen, läßt sich erkundigen, ob die Herrn Richard Wood und Iwan Yakuchin [198] Dich kleines unbedeutendes Persönchen heute Abend sicher und wohlbehalten nach Hause geleitet haben: sprach Lange, so feierlich als möglich. Wie geht das zu? gieb gleich Rede und Antwort! setzte er gleich darauf nach seiner gewohnten lebhaften Art hinzu.

Nun? Du sprichst kein Wort? so laß uns wenigstens das Ende Deiner Abenteuer vernehmen, rief er heftig aufstampfend, als alle verwundert ihn ansahen und Niemand begriff, was er eigentlich meine.

Julie erzählte: Er war es! er war es! Er war es selbst, rief Lange überlaut, ergriff das erschrockene Mädchen, walzte singend und jubelnd mit ihr im Zimmer herum, rückte Tische, Stühle und was ihm im Wege stand, von seiner Stelle fort, so daß das Zimmer in kurzem aussah, als ob Meublesauction darin gehalten werden sollte, gerieth endlich über einen widerspenstigen Nähtisch seiner Frau in's Stolpern, und sank dann [199] athemlos einem Lehnstuhl in die Arme; Iwan und Richard sahen verwundert dem Unwesen zu, Frau Lange aber, die ihren Mann besser zu begreifen schien als die Übrigen, saß in einer Ecke und weinte helle Freudenthränen.

Julie, was bist Du für ein Mädchen! ich bitte Dich um tausendgotteswillen, geliebte Seele, sei kein Klotz! fing Lange wieder an, als er zu Athem gekommen war: ich bitte Dich inständigst, werde vor Freude wenigstens so toll wie ich. Begreifst Du es denn noch immer nicht? der Kaiser war Dein Unbekannter, der Kaiser selbst; gleich fall' auf Deine Kniee und danke dem Himmel für die Ehre, die er Dir angedeihen ließ. Der Kaiser hat mit Dir gesprochen, hat für Dich gesorgt, denke Dir das! er hat der Obhut dieser beiden Herrn Dich empfohlen, und jetzt sogar sich Deiner noch erinnert. Und Ihr, Ihr Herrn Militärs, Die Ihr mit bedenklichen Gesichtern stumm dasteht, fühlt [200] Ihr denn gar nicht, was auch Euch heute Großes wider fahren ist? Aber sagt mir nur, wie ging es zu, daß Ihr nicht gleich ihn erkannt habt? zwar war es nicht mehr ganz heller Tag, aber den da, dächte ich, sollte man auch in finsterer Nacht erkennen können; so wie er sieht nicht leicht ein gewöhnliches Menschenkind aus.

Aber bedenken Sie doch den Ort, die Tageszeit, und alle übrigen Umstände; Sie irren gewiß, es ist ja nicht möglich, wandte Richard ein.

Haben Sie jemals den Kaiser gesehen? fragte Lange ärgerlich.

Nur zweimal, von Ferne, bei der Revüe, und zwar zu Pferde: war die Antwort.

Bah! das will nicht viel mehr als gar nichts sagen, erwiederte Lange den Kopf aufwerfend; ich habe dreimal dicht vor ihm gestanden, und er hat zu mir gesprochen, so leutselig! und hat mir, als ich einmal mich vor ihm hören ließ, [201] eine herrliche Dose geschenkt, Karoline soll sie Ihnen zeigen.

Julie wurde jetzt aufgefordert, die Gestalt ihres Befreiers zu beschreiben; sie that es, so gut und so umständlich, als Angst und Dunkelheit ihr erlaubt hatten, dieselbe aufzufassen.

Es ist nicht mehr daran zu zweifeln, alles trifft aufs Genaueste zu; es war der Kaiser, rief Lange; und wie wäre es denn zu erklären, daß er kaum eine Stunde nach Juliens Heimkehr hier nachfragen ließ? nach Julien, deren Existenz sogar bis jetzt ihm unbekannt ge blieben, setzte Frau Lange hinzu: wie hätte ein solches, für jeden, außer uns, im Grunde unwichtiges Ereigniß, so schnell bis zu ihm gelangen, und er so lebhaft dafür sich interessiren können?

Dieses war freilich ein Grund, gegen den sich wenig einwenden ließ. Aber der Kaiser, ohne alle Begleitung, ganz allein, bei sinkender Nacht, in jenem abgelegenen verrufensten Winkel [202] der Stadt? es ist kaum denkbar! wandten Richard und Iwan noch immer etwas ungläubig ein.

Nehmt mir's nicht übel, ihr Herrn, aber das schwatzt wie ein neugebornes Kind, sprach Lange; Ihr müßt in unsrer Kaiserstadt noch gewaltig neu sein, wenn Ihr nicht schon gehört habt, was jeder Narr hier weiß: daß nämlich der große Czaar Alexander, gleich seinem Vorgänger, dem großen Kalifen von Persien, – Dings da, wie hieß er gleich? nun gleichviel! – daß nämlich unser Kaiser, den Gott erhalte, zuweilen, und zwar nicht selten, unbegleitet, ganz einfach angethan, meistens unerkannt, bei Tage wie bei Nacht, unter seinen Unterthanen umher wandelt. Aber nicht etwa um, wie jener Kalif, auf Abenteuer auszugehen; nein es ist wie Goethe sagt,


Soll er strafen, soll er lohnen,
Muß er Menschen menschlich sehn.

Und denken Sie dabei nur nicht an Gefahr [203] für ihn, setzte Frau Lange freudig bewegt hinzu; der milde, der gerechte, der allgeliebte Vater seiner Unterthanen, für den jeder unter uns willig das Leben lassen würde, was hätte er unter seinen Kindern zu fürchten!

Eine Magd trat in diesem Augenblicke ins Zimmer: Katinka, rief Frau Lange ihr zu, der Kaiser hat Julien begegnet, als sie in Angst war, weil sie sich nicht nach Hause zu finden wußte; er hat freundlich mit ihr gesprochen, und sie, von diesen Herren sicher begleitet, zu uns führen lassen.

Freudig erstaunt schlug Katinka beide Hände zusammen, küßte Juliens Kleider, ihre Hände, und eilte hinaus. Gleich darauf hörte man die ganze Dienerschaft des Hauses im Vorzimmer laut werden, Katinka erzählte, alle jubelten über den menschenfreundlichen Kaiser, fast jeder unter ihnen wußte einen ähnlichen Zug von ihm vorzutragen, sie priesen und segneten ihn ohne Ende.

[204] Sehen Sie, so finden Sie es überall. Keine Hütte ist so klein, kein Russe so arm, daß nicht Czaar Alexander, unbewacht und allein, unter dem Schutze desselben sein Haupt sorglos zum Schlummer niederlegen könnte, sprach Frau Lange.


Der berühmte Pianofortist, Heinrich Lange, gehörte ungeachtet seiner ausgezeichneten Talente zu jenen barocken, anfangs abstoßenden Erscheinungen im Leben, die man erst bei näherer Bekanntschaft erträglich, später aber achtungswerth findet. Seine Gestalt, mehr noch als diese seine Art sich zu kleiden, gaben ihm einen Anstrich von Lächerlichkeit, der zwar belustigt, aber weder Liebe noch Achtung erweckt.

Er stand in jenem etwas zweideutigen Mannesalter, schwankend zwischen vierzig und funfzig, in welchem Viele nicht recht zu wissen scheinen, ob sie noch zu den Jungen gehören, oder [205] schon zu den Alten sich zählen müssen; was denn zuweilen auch sein Fall sein mochte. Seine hagre, auffallend kleine Gestalt, hatte etwas Verdrehtes, Windschiefes, durch das man verleitet wurde, ihn für ein wenig verwachsen zu halten, was er doch eigentlich nicht war. Der Fehler lag in dem Mißverhältnisse aller seiner Glieder; sein Kopf war zu groß, seine Arme zu lang, keines paßte zu dem andern, und auch die Züge seines eigentlich geistreichen Gesichts wollten nicht mit einander harmoniren. Aus dieser übermäßig hohen Stirne, dieser keck in die Welt hinaus strebenden Nase, diesem unermeßlich langen Raume zwischen ihr und dem Munde, aus den dunkeln buschigen Augenbrauen, unter denen ein paar kleine farblose Augen kaum sichtbar hervorblinzelten, hätte ein geschickter Zeichner, mit wenigen Abänderungen, eine der ergötzlichsten Karrikaturen bilden können, ohne dabei die Ähnlichkeit allzu sehr zu verletzen.

[206] Eine hohe uhlanenartige Mütze von rothem Sammet, mit großen goldnen Quasten übermäßig verziert, die er selbst innerhalb seiner vier Wände selten ablegte, schwebte, ein wenig gegen das linke Ohr gedrückt, auf der Spitze seines Scheitels; dazu wandelte er gern auf kothurnartigen Absätzen einher, trug einen enganschließenden, ihm fast bis auf die Füße reichenden, sogenannten polnischen Rock von sehr heller, ins Hechtgraue und Röthliche spielender Farbe, mit so vielen Litzen und Troddeln geschmückt, als sich nur darauf anbringen ließen. Ein leicht um den Hals geschlungenes türkisches Tuch, so hell und buntfarbig als möglich, ein breites zierlich gefaltetes Jabot, nebst den dazu gehörigen Manschetten, vollendeten diese seltsame Toilette, die augenscheinlich darauf abzweckte, der Länge des kleinen Mannes, wenn nicht eine Elle, doch wenigstens einige Zoll zuzusetzen.

Die quecksilberartige Lebhaftigkeit seiner Bewegungen, [207] die jeden Augenblick durch ein gewisses, ihm eignes Ungeschick in der Art sie zu regieren gehemmt wurde, sei der letzte Pinselstrich zur Vollendung dieses wunderlichen Porträts.

Aber wie so ganz verschieden von seinem eignen Selbst erschien dieser nämliche Heinrich Lange, wie verschwand alles so gänzlich, was an ihm als lächerlich auffallen konnte, wenn er vor seinem trefflichen Flügel saß, wenn der in ihm wohnende Genius auf mächtigen Schwingen der Phantasie sich erhob, und im Reiche der Töne sich kund gab! Denn dort war seine eigentliche Heimath, dort herrschte er allgewaltig, dort sprach er Ideen, Gedanken, Gefühle aus, für die er im gewöhnlichen Leben keine Worte finden konnte.

In Emilia Galotti läßt Lessing den Maler Conti die Möglichkeit eines ohne Arme gebornen Raphaels annehmen; in diesem Sinne war Heinrich Lange ebenfalls ein geborner großer Poet; aber bei seinem Entstehen jeder Möglichkeit beraubt, [208] anders als mit Hülfe der Saiten, den Gedanken und Empfindungen seines reichen Gemüthes Leben und Gestaltung zu verleihen.

Übrigens war er die harmloseste, zufriedenste Seele von der Welt. Sein Kaiser war, nächst Gott, der Gegenstand seiner innigsten Verehrung, die bis zur Leidenschaft sich steigerte, seit er das Glück gehabt, durch sein Talent ihm bemerkbar zu werden, dadurch einigemal in die nächste Nähe des hohen Beherrschers zu gelangen, und mit ein paar freundlich-lobenden Worten von ihm angeredet zu werden. Von diesem Augenblicke an war Lange dem Kaiser Alexander mit Leib und Seele völlig zu eigen; jede neue, das Lob desselben vermehrende Anekdote, wie man damals unendlich viele in Petersburg erzählte, wurde gleich dem werthvollsten Geschenk von ihm aufgenommen; und daß ein Mitglied seiner Familie sogar eine Hauptrolle in einer solchen gespielt hatte, hob ihn auf den Gipfel [209] des Glücks. Seit ihrem Zusammentreffen mit dem Kaiser war Julie ihm noch einmal so lieb geworden, und selbst auf Iwan und Richard fiel ein Strahl der von demselben ausgehenden Verklärung zurück.

Ungeachtet des auffallendsten Contrastes in ihrer äußern Erscheinung, hat es doch nie ein besser assortirtes Ehepaar auf der Welt gegeben, als Heinrich Lange und seine kleine Frau. Freilich war sie wenigstens um zehn Jahre jünger als er, doch dieser Unterschied wird in der Ehe allmälig ausgeglichen, weil die Jugendzeit der Frauen zwar weit früher beginnt, als die der Männer, aber auch früher endet. Frau Karoline war das zierlichste, anmuthigste, graziöseste kleine Figürchen, das sich nur erdenken läßt. Von der Natur mit einer ächten Nachtigallstimme ausgestattet, die sie, von einem trefflichen Meister geleitet, auf das glücklichste zu benutzen gelernt hatte, war sie einige Jahre hindurch erst in [210] Deutschland, dann auf dem Theater in Petersburg als erste Sängerin aufgetreten, und hatte überall, wo sie sich nur zeigte, Furore gemacht. Aber sie entsagte sehr früh dem theatralischen Glanze, und ward, zu allgemeinster Verwunderung, die bescheidene Hausfrau der wunderlichsten Figur in der ganzen großen Residenz. Ihr Herz sowohl, als ihr guter Verstand führten sie in die Arme des Mannes, der unter einer nicht eben für ihn einnehmenden Außenseite alle Eigenschaften verbarg, sie zu einer der glücklichsten ihres Geschlechtes zu erheben.

Sie hatte die größte Freude an seinem Talente, liebte was er liebte, that was ihm gefiel, und schalt und zankte alle Tage mit ihm. Nie war sie hübscher, als wenn sie zornig sich zeigte, oder vielmehr, wie es meistens der Fall war, sich stellte als ob sie es wäre, um hinterdrein über seine ungeschickten Entschuldigungen ihn recht herzlich auszulachen. Im Grunde war sie die [211] Gutmüthigkeit, die Fröhlichkeit selbst; witzig, von unverwüstlich guter Laune, voll jener theatralischen Einfälle, Anspielungen, Citationen, die keiner los wird, der jemals, sei es auch nur auf kurze Zeit, die Breter betrat »die die Welt bedeuten.«

Julie Reinert, die dritte Person in diesem fröhlichen Haushalte, war ein gutes unerfahrnes Kind, achtzehn Jahre alt, mit so viel Geist, Mutterwitz und Verstand von der Natur begabt, als solch ein Wesen eben nöthig hat, um mit sich selbst und überhaupt mit dem Leben recht leidlich fertig zu werden. Sie war von ihrer frühesten Kindheit an in Königsberg, im Hause eines ziemlich wohlhabenden Kaufmannes aufgewachsen, der für ihren Vormund galt. Zur Ausbildung einer, etwas spät entdeckten, sehr schönen Stimme von ungewöhnlichem Umfange, wurde sie von diesem nach Petersburg, zu seinem Bruder Heinrich Lange geschickt, wo ihr [212] vom ersten Augenblicke an die herzlichste Aufnahme ward. Um das Miteinanderleben sich gegenseitig zu erleichtern, wurde sie sogleich für Langes Nichte erklärt, und fühlte nach weniger als vierundzwanzig Stunden sich so einheimisch bei diesen freundlichen Leuten, als hätte sie nie in andern Verhältnissen gelebt.

Was nun Juliens Gestalt betrifft, so sei hiemit jeder junge Leser dieser Blätter freundlichst gebeten, ihr einstweilen die der Dame seines Herzens zu leihen; und jede junge Leserin, sich nach dem Portrait der hübschen Julie Reinert in ihrem Spiegel umzusehen.


Ächte, traulich entgegenkommende Gastfreiheit wohnt nicht im reichen üppigen Süden, wo die entnervende Sonnengluth nur die unbeweglichste Ruhe wünschenswerth macht, und der Mensch den Menschen leichter entbehrt, weil jeder [213] fast mühelos sich verschaffen kann, was er zur Erhaltung seines Lebens bedarf. Aber im hohen eisigen Norden ist sie recht eigentlich zu Hause, und jeder Schritt, der den Wandrer diesem Ziele nähert, wird ihm zur Bestätigung dieser Bemerkung dienen können. Die erstarrende Kälte eines unwirthbaren Himmelsstriches bannt dort, wenigstens acht Monate im Jahre, die Bewohner zwischen ihre vier Wände; die langen, fast endlos scheinenden Winternächte, laden unwiderstehlich zur Geselligkeit ein, jeder Besuch wird zum heiteren Feste, der Fremde, der zum erstenmale die Schwelle des gastlichen Hauses betritt, wird wie ein lieber Bekannte empfangen, er wird bei den nächsten Freunden eingeführt, die man eines solchen angenehmen Ereignisses ebenfalls theilhaftig machen möchte, diese beeifern sich ihn wieder ihren Freunden zuzuführen, und es kann nur von seinem Willen und Benehmen abhängen, sich so lange Zeit als Mitglied [214] nicht nur der Familie, deren Gastfreund er ursprünglich war, sondern auch aller mit dieser verbündeter, zu betrachten, als es ihm selbst angenehm oder bequem ist.

Nirgends aber giebt diese, aus den kultivirtesten europäischen Ländern immer mehr verschwindende Tugend auf liebenswürdigere Weise sich kund, als in Petersburg, wo alle Vortheile sich vereinen, die eine große glänzende Residenzstadt nur gewähren kann; wo man nicht nur alle verfeinerten Genüsse des Lebens, sondern auch, und obendrein mit großer Leichtigkeit, alle eigentlichen Bedürfnisse desselben sich verschafft. Auch Heinrich Lange machte in seinem nicht luxuriösen, aber sehr anständig geführten Haushalte, von der allgemein herrschenden Lebensweise keine Ausnahme. Seine Thüre stand täglich allen seinen Freunden offen, und Juliens beide Befreier waren ihm, als solche, ein paar sehr werthe, zwiefach willkommene Gäste.

[215] Für Iwan war die Bekanntschaft mit dieser ausgezeichnet trefflichen Familie von sehr großer Bedeutung, denn seine ganze bisherige Lebensweise erhielt dadurch einen neuen, für ihn höchst vortheilhaften Umschwung. Überall, wo seine zahlreichen Bekannten fast täglich mit Sicherheit darauf rechnen konnten, ihn anzutreffen, wurde er jetzt vergeblich von ihnen aufgesucht; der ihm sonst so gefährliche grüne Tisch, war für ihn gar nicht mehr in der Welt; der enthusiastische Eifer, mit dem er plötzlich dem Studium der deutschen Sprache sich ergab, von der er bis dahin nur einzelne Worte gekannt, und die er jetzt für die ihm unentbehrlichste erklärte, hatte dieses fast unglaublich große Wunder bewirkt.

Dankbarkeit für den ihr geleisteten Beistand, bewog Julie Reinert zu dem etwas schwierigen Unternehmen, seine Lehrerin zu werden; und nun brachte er jede Stunde, welche der Dienst und anderweitige Beschäftigungen ihm Vormittags [216] frei ließen, eifrigst studirend bei ihr zu. Frau Karoline, wie diese gewöhnlich genannt wurde, ging, nebenbei ihren Haushalt besorgend, dabei im Zimmer aus und ein, trat als Oberlehrerin auf, wenn Juliens grammatikalische Kenntnisse nicht ganz zureichen wollten, und half auch schelten, wenn der etwas ungelenke Schüler unachtsam oder zerstreut sich bewies.

Abends pflegte ein nicht großer, aber interessanter Kreis, sich gewöhnlich in diesem Hause zu versammeln, in welchem Iwan niemals fehlte, und den auch Richard oft und gern besuchte. Fremde, ohne Unterschied des Standes, besonders Deutsche, Gelehrte, Künstler und Künstlerinnen, bildeten einen eben so zwanglosen als angenehmen Verein, in welchem jeder das Seine zur allgemeinen Unterhaltung beizutragen suchte. Scherz und Lachen wechselten mit ernsteren und unterrichtenden Gesprächen über die Geschichte des Tages, oder über Kunst und schöne Literatur;[217] doch Musik blieb, wie es denn auch in diesem Hause nicht anders sein konnte, das Hauptelement der Unterhaltung. Karolinens seelenvoller Gesang entzückte den kleinen Kreis ihrer Freunde, wie er früher das große Publikum zu begeisterndem Enthusiasmus aufgeregt hatte; Juliens Lerchenkehle, wie ihr Lehrer Lange sie sehr bezeichnend nannte, wirbelte in silberreinen Tönen; auch fehlte es nie an Tonkünstlern vom ersten Range, die hier zum allgemeinen Ergötzen ihre glänzenden Talente vereinten.

Am Ende eines solchen musikalischen Abends, um welchen die Vornehmsten des großen Reiches den guten Lange mit Recht hätten beneiden mögen, ließ er sich zuweilen erbitten, mit seiner ächten Kapellmeisterstimme, dumpf und klanglos wie ein geborstner Topf, aber durch Vortrag und Ausdruck unwiderstehlich zum Herzen sprechend, ein Lied von Goethe nach Zelters, oder auch wohl von eigner Composition zu singen; [218] »das thut Keiner ihm nach,« flüsterten dann die Meister unter einander; und auch seine eigne Frau gab dieses zu, obgleich sie vor den Leuten ihn lächelnd einen alten Dudelsack schalt.

Auch Richard wurde in diesem gastlichen Hause zum erstenmale in das bürgerliche Leben des gebildeten, wohlhabenden Mittelstandes eingeführt. Bis dahin hatte er in der fürstlichen Familie, in welcher er auferzogen wurde, nur das vornehme, prunkvolle, von Genüssen aller Art übersatte Leben der Großen gekannt; und später, als Gegenstück zu demselben, das völlig zwang- und regellose, mitunter ziemlich wüste Treiben von Iwans Freunden, lauter jungen Männern, die weder durch Familienbande noch Rücksichten in ihrer Freiheit gehemmt, nach eigner Wahl diese benutzten.

Eugen und dessen Bruder Alex, hatten auf ihr dringendes Verlangen, unter Richards Schutz, ebenfalls in diesem Hause Zutritt erhalten, das [219] in musikalischer Hinsicht ihnen Genüsse bot, die sie in glänzenderen Zirkeln vergebens suchen mußten, und für welche beide Brüder viel Sinn hatten. Die Gegenwart der jungen Fürsten brachte in Frau Karolinens häuslicher Einrichtung zwar nicht die mindeste Abänderung oder Störung hervor, denn sie war auch an Gäste dieses Ranges zu gewöhnt, um sich durch sie irren zu lassen; aber sie benahm bei der Einladung derselben sich doch immer sehr vorsichtig, und es gehörte ein Fürsprecher wie Richard war dazu, um die Zurückhaltung, die in dieser Hinsicht Grundsatz bei ihr geworden war, zu überwinden.

Gott behüte in Gnaden unsre kleinen Abendgesellschaften vor dem Unglück, Mode zu werden! sprach sie; dann wäre es bald damit aus und vorbei! Vor all' den Ordensbändern, Sternen und Federhüten würden wir selbst kaum Platz im Hause behalten, denn in Petersburg ist es nicht anders, als in andern großen Städten, [220] wo viele vornehme, reiche und müßige Leute bei einander wohnen, die nicht immer wissen, wo sie mit ihrem Überflusse an Zeit hin sollen.


Eines Abends hatte die Gesellschaft zahlreicher als gewöhnlich sich versammelt; in der heitersten glücklichsten Stimmung waren die berühmtesten der damals in Petersburg anwesenden Tonkünstler alle zugegen, um den Geburtstag ihres Freundes Lange recht festlich zu begehen. Mancherlei musikalische, größtentheils humoristische Excesse, wurden bei dieser Gelegenheit getrieben, bis endlich, ganz unverabredet, eine Art Wettkampf daraus entstand, bei welchem jeder von ihnen alles aufbot, um die wenigen, nicht thätig dabei beschäftigten Zuhörer, in einen Rausch von Entzücken zu versetzen.

Eugen und Richard hatten sich in die entfernteste Ecke des Zimmers zurück gezogen. Schweigend, [221] mit gesenkten Augen, gab der junge Fürst der Gewalt der Töne sich hin. Erst als der letzte verhallte, richtete er sich auf, um seinen bewundernden Beifall laut werden zu lassen; sein Blick fiel zuerst auf Richard; tief gebückt, unbeweglich, beide Hände vor dem Gesicht, saß dieser neben ihm, augenscheinlich in düstre Trauer versunken.

Heimweh ohne Zweck und Ziel, Heimweh eines Heimathslosen! war, von einem tiefen Seufzer begleitet, die kaum hörbar geflüsterte Antwort, welche Eugen auf sein besorgtes Fragen von ihm erhielt.

Eugen blickte staunend ihn an. Ach, hätte ich Rußland nie gesehen! setzte er, gleich einem Träumenden unwillkürlich in sich hinein redend, nach kurzem Schweigen noch hinzu.

Jetzt begann Eugen in der That, ein seinem Freunde widerfahrnes Unglück zu fürchten, und hörte nicht auf mit bittenden Fragen in ihn zu dringen. Richard blickte mit jenem trüben Lächeln [222] zu ihm auf, das weit schmerzlichere Klagen ausspricht, als Thränen es könnten.

Du frägst so mitleidig, was mir geschehen? sprach er sehr leise: ach! nichts und alles, und nicht erst heute oder gestern. Sieh um Dich, so recht mit Deinem innern Auge. Sieh das prunklose, einfache, genußreiche Leben um uns her, betrachte es genau. Sieh und fühle, wie durch des Tages Arbeit und Mühen die Freude des Abends erst zur Freude erhoben wird. Dies ist das Leben, das Glück des Mittelstandes; zu diesem wurde ich geboren, und wurde früh dafür verdorben, das ist mein Schmerz! Was hier Reichthum ist, würde in Deiner Sphäre Armuth heißen, und welche Genüsse bietet diese glückliche Armuth! Hierher gehöre ich; warum mußte ich aus meinem tiefen Thale auf Eure sonnige Felsenhöhe verpflanzt werden, wo ich nie festwurzeln werde, wo ich, im nutzlosen Streben danach, am Ende doch verkümmern muß?

[223] Und Helena? erwiederte mit einem Händedruck Eugen.

Ach, stünde sie in der Welt nicht höher als jene Julie! seufzte Richard.

Und könnte sie dann noch Helena sein? fragte Eugen.

Ich weiß, ich fühle, es ist wie es ist, und keine Gewalt im Himmel und auf Erden kann die verworrene Zerrissenheit meines unseligen Daseins zu einem Ganzen umbilden, klagte Richard. Aber verarge es mir wer da kann, ich bin müde dieses Harrens auf eine unbestimmte Zukunft, dieses Hoffens ins weite Blaue hinein müde, müde bis zum Tode. Die Luftschlösser, die ich mit Hülfe Deiner sorgenden Liebe mir erbaute, was ist aus ihnen geworden? sie lösen in Nebel sich auf. Langsam kriecht der Schneckengang meines Lebens von einem Tage zum andern mit mir fort. Was hilft mir Deines Vaters Wohlwollen? der mächtige Schutz Deines [224] Hauses? was hilft es mir sogar, daß, wie Du sagst, der Kaiser, seit jenem seltsamen Zusammentreffen mit ihm, meinen Namen kennt, und gnädig meiner erwähnte? Mein Ziel rückt immer weiter hinaus, ein Wunder nur könnte mich retten, und Wunder geschehen nicht mehr!

Mit bewundernswürdiger Geduld hatte Eugen diese lange Jeremiade seines Freundes bis ans Ende angehört, doch jetzt brach er mit fast strafendem Ernste los: Kleinmüthiger, Verzagter, sprach er, Wunder geschehen nicht mehr! bist Du denn dessen so gewiß? Hast Du den Schleier der Zukunft gelüftet? weißt Du was vielleicht dicht neben Dir sich bereitet? bist Du im Stande genau zu berechnen, was, vielleicht in sehr kurzem, sich Unerwartetes ereignen kann? Sohn unsrer ereignißreichen Zeit, die schon so viele Wunder ihm vorführte, wie darfst Du behaupten, es geschehen keine Wunder mehr!

Mit diesen Worten brach Eugen das Gespräch [225] ab, und wendete der übrigen Gesellschaft sich zu; Richard glaubte zu bemerken, daß er im Verlaufe dieses Abends jede Gelegenheit, es wieder anzuknüpfen, absichtlich vermied.


Im vergeblichen Streben, die eigentliche Meinung von Eugens letzten Worten sich zu erklären, brachte Richard eine lange schlaflose Nacht hin, und stand am Morgen mit dem festen Vorsatze auf, die Sonne nicht untergehen zu lassen, ohne diese Erklärung von seinem Freunde erhalten zu haben. Dienstverhältnisse von seiner, andere Verhinderungen von Seiten Eugens, hielten indessen, sehr wider ihren Willen, beide Freunde während mehrerer Tage von einander entfernt; und selbst am letzten von diesen wollte es Richard nur zur ungewohnt späten Abendstunde gelingen, zu Eugen eilen zu können.

Eine ruhige, von jedem Geräusche möglichst [226] entfernte Wohnung, war von jeher, selbst mit Aufopferung mancher andern Bequemlichkeit, Eugens Lieblingswunsch gewesen. Daher hatte er auch in Petersburg, wie früher in Moskau, in einem abgelegenen, vom Hauptgebäude wie von der Straße entfernten Seitenflügel des Palastes seines Vaters seine Zimmer sich gewählt, deren Fenster auf öde, mit hohen Mauern umgebene Höfe hinaus gingen, die fast nie ein menschlicher Fuß betrat. Richard wunderte sich, die Thüre diesmal verschlossen zu finden, was sonst nie der Fall war; auf sein Klopfen wurde ihm zwar gleich geöffnet, und zwar, was als nicht minder ungewöhnlich ihm auffiel, von dem vertrauten Leibjäger des jungen Fürsten, dem einzigen Diener, der in diesem Zimmer sich befand, in welchem es sonst, nach Sitte großer russischer Häuser, von dienstbaren Geistern wimmelte.

Alles schien an diesem Abende ein fremdes, unheimliches Ansehen hier gewonnen zu haben. [227] Fast verlegen stand der ihm sonst so freundlich ergebene Jäger Wladimir vor ihm; er, der in diesem Hause mit seinem jetzigen Herrn und Richard als beider demüthiger Spielkamerad aufgewachsen war, und manche kleine Freiheit sich herausnehmen durfte, wagte es heute kaum ihn seitwärts, mit scheuen verstohlenen Blicken zu betrachten; Richard selbst fühlte sich dadurch beängstigt; er sah schweigend um sich her, und wurde in einer Ecke einen Haufen abgeworfner Mäntel, Säbel, Federhüte und Mützen gewahr, die auf eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft im Zimmer des Fürsten Eugen schließen ließen. Dieses brachte ihn auf den Gedanken, ob er nicht vielleicht hier in eine Gesellschaft gerathen könne, zu welcher ihm der Zugang versagt sei, zu der selbst dieser Diener Bedenken trüge ihn zuzulassen, hier, in den Zimmern seines innigsten Freundes, bei dem Bruder seiner Geliebten! Sein stolzer Sinn fing an sich mächtig zu regen, [228] sein Herz schwoll, Empfindungen wurden in ihm wach, welche bei ähnlichen Anlässen ihn schon oft um so peinlicher gequält hatten, je ängstlicher er sich bemühte, sie aller Welt, wo möglich sich selbst, zu verhehlen. Schon war er im Begriff, hier an der Schwelle umzukehren, um sich nicht vielleicht einer Beleidigung auszusetzen, die er ungeahndet nicht hätte ertragen können, und nur Scheu, einen ihm schmachvoll dünkenden Schritt in Gegenwart des Dieners seines Freundes zu thun, hielt ihn noch zurück. Doch Wladimir schien plötzlich andres Sinnes geworden; mit gewohnter Ehrerbietung näherte er sich geschäftig, ihm den Mantel abzunehmen und öffnete, wie sonst immer, die Thüre zu dem Wohnzimmer seines Herrn. Jetzt erst erinnerte sich Richard, daß Gesellschaften der Art, wie er hier eine anzutreffen gefürchtet hatte, sich zwar nicht selten bei dem Fürsten Andreas und dessen Gemahlin zu versammeln pflegten, aber [229] nie bei den Söhnen derselben. Ohne alles Bedenken trat er jetzt durch die ihm offen stehende Thüre, die gleich, sehr behutsam alles Geräusch vermeidend, hinter ihm geschlossen wurde, und fand abermals zu seiner großen Verwunderung auch hier sich allein, wo er fest darauf gerechnet hatte, seinen Freund anzutreffen.

Doch ein dumpfes Geräusch in dem anstoßenden größern, und deshalb selten gebrauchten Besuchszimmer seines Freundes, schien die Gegenwart mehrerer dort versammelter Personen anzukündigen; von neuem zweifelhaft geworden, ob unbemerkt sich zurückzuziehen nicht noch immer das Gerathenste für ihn wäre, stand er abermals unschlüssig da. Einige bekannte, ihm freundlich tönende Stimmen ließen jetzt aus dem dumpfen Gemurmel der übrigen sich unterscheiden. Richard fing an, der zu reizbaren Furcht vor Verletzung seines Ehrgefühls sich recht herzlich zu schämen; er ging, zwar mit noch immer etwas [230] unsichren Schritten, auf die nur angelehnte Thüre zu; unhörbar leise drehte sie sich in ihren Angeln. Richard stand erstarrt.

Dreißig bis vierzig Männer, einige stehend, andere sitzend, bildeten in zwei- bis dreifachen Reihen einen Kreis rings um den nicht sehr großen, aber doch geräumigen Salon. Die der Thüre zunächst Stehenden waren mit dem Rücken ihr zugewendet, Richard konnte unbemerkt alles überschauen, denn die allgemeine Aufmerksamkeit schien von einem in der Mitte des Kreises befindlichen Gegenstande gefesselt, der für den Augenblick aber ihm noch nicht sichtbar war. Daß ein allgemeiner, sehr großer und ernster, aber auch geheimer Zweck diese Alle hier versammle, war unverkennbar.

Noch war es Zeit, noch konnte Richard unbemerkt, wie er gekommen, sich zurück ziehen. Gern hätte er es gethan; aber ihm gerade gegenüber, in einem Armstuhle sitzend, gewahrte [231] er die ehrfurchtgebietende Gestalt seines Wohlthäters, des Fürsten Andreas; ein unbeschreiblich bängliches Gefühl, eine Ahnung herannahenden Unheils, bemächtigte bei diesem Anblicke sich seiner, und fesselte ihn an den Platz, wo er eben stand.

Doch nicht nur der Fürst selbst, auch dessen Söhne Eugen und Alex, der Fürst Konstantin Nataliens Gemahl, fast alle Verwandte, alle näher Befreundete des Hauses waren zugegen. Nächst diesen viele Männer von anerkannt edlem Charakter aus den geachtetsten und vornehmsten Familien des russischen Reiches, die mehresten unter ihnen Richard wohlbekannt, und zum Theil in näherem freundlichem Verhältnisse ihm zugethan.

Die Gegenwart aller dieser Personen hätte über den Zweck dieser Versammlung ihn füglich beruhigen können; höchstens hätte er eine Berathung über irgend einen jener Lieblingspläne [232] des Fürsten Andreas darunter vermuthet, mit denen dieser sich noch immer gern beschäftigte, und auch seine Söhne dafür zu interessiren sich bemühte; etwa ein Projekt zur Verbreitung höherer Kultur unter dem Volke, oder sonst ein auf die Verbesserung des bürgerlichen Wohlstandes abzweckendes Unternehmen. Aber diesen geliebten und verehrten Gestalten waren auch ihm ebenfalls wohl bekannte andrer Art, wie Unkraut dem Weizen beigemischt. Leute, von denen ihm auch nicht im Traume eingefallen wäre, daß sie jemals hier hätten Zutritt erlangen können, erblickte er, völlig wie einheimisch sich geberdend.

Da stand Einer unter andern, ihm gerade gegenüber, im Hintergrunde des Saales, einige Schritte hinter dem Armstuhle des Fürsten Andreas, ein vielleicht absichtlich gewählter Platz. Richard hätte unbedenklich es beschwören mögen, daß dieser Mann kein andrer sei als der Freund [233] der Frau Marina, der sogenannte Baron vom Pharaotisch. Zwar hatte er den braunen Überrock sammt der grünen Brille abgelegt, auch waren seine Haare bedeutend dunkler; solche leicht auszuführende Veränderungen aber täuschen nicht leicht den aufmerksam beobachtenden Blick eines Unbefangenen.

Andere Figuren, augenscheinlich vom nämlichen Gelichter, befanden sich, wie durch Zufall, einzeln durch alle Reihen der Anwesenden zerstreut; Leute, denen an andern, mitunter ziemlich zweideutigen Orten begegnet zu sein, sich Richard deutlich erinnerte, ohne jedoch ihre Namen zu kennen. Je länger seine Blicke im Saale umherstreiften, je mehr bekannte Gesichter traten ihm entgegen, großentheils namen- und sittenlose junge Leute, dem Trunke, dem Spiele und jeder Ausschweifung ergeben, in deren Umgang er zu seinem großen Leidwesen seinen Freund Iwan verstrickt gefunden; zu seinem höchsten [234] Erstaunen erblickte er sogar einige eifrige Mitglieder und Beförderer jener die Welt verbessernden Gesellschaft in Moskau, in welche er selbst, sehr gegen seinen Willen, durch Iwan verwickelt gewesen, und die er in Petersburg anzutreffen nimmer vermuthet hätte. Wie das alles hier, in Eugens Zimmer, zusammengekommen sei, war und blieb ihm ein unauflösbares Räthsel.

Wenig Minuten waren hinreichend, um alle diese Bemerkungen zu machen; doch überrascht von dem Unerwarteten, war Richard während derselben kaum seines Daseins sich bewußt geblieben. Das Herz klopfte hörbar ihm in der Brust, wild jagte, mit betäubendem Sausen, das Blut durch alle seine Adern; erst als dieser Tumult in seinem Innern sich etwas legte, und er dadurch zu einiger Besinnung gelangte, ward er auf eine Stimme aufmerksam, die bis jetzt in klangloser unverständlicher Monotonie unbeachtet an ihm vorüberrauschte. Eine unter den [235] vor ihm in der Thüre Stehenden zufällig sich bildende kleine Lücke, zeigte ihm in der Mitte des Saales einen mit Schreibmaterialien, Journalen, Broschüren, Mappen und Büchern bedeckten Tisch, und hinter demselben, den Rücken der Thüre und folglich auch ihm zugewendet, einen stattlichen Mann, von militairischem Ansehen, der nach kurzem Ausruhen in diesem Augenblicke den Faden seiner Rede wieder aufnahm.

Vereinte zum Bunde des Heils, ächte getreue Kinder des Vaterlandes, Boyaren, Männer und Brüder, sprach er, ihr habt aus meinem Vortrage jetzt vernommen, daß die aus unsrer Mitte erwählte Elite, bei welcher ich den Vorsitz zu führen gewürdiget worden bin, sich aus hinreichenden Gründen bewogen gefühlt hat, den von einem der getreuesten Söhne des Vaterlandes, Alexander Murawieff ausgegangenen, und von den nicht minder würdigen und getreuen, [236] Obrist Fürst Trubetzkoy und Nikita Murawieff unterstützten Vorschlag, nach reiflicher Überlegung einstimmig als unausführbar zu verwerfen.

Allerdings muß der Gedanke auf den ersten Anblick groß und im blendendsten Glanze erscheinen, unsern neuen Bund für das wahre Heil unsres geliebten heiligen Vaterlandes mit jener, seit Jahrtausenden bestehenden ehrwürdigen Verbindung der Freimaurer, und den unter dem Schleier des tiefsten Geheimnisses allen Ungeweihten verborgnen Gesetzen und Gebräuchen der Loge, zu verbinden und in Einklang zu bringen; aber die Wissenden unter uns, die wenigen Eingeweihten, die tiefer in jene Geheimnisse eingeführt wurden, sind gewiß schon längst durch ernsteres eigenes Nachdenken in ihrem Herzen überzeugt, wie unmöglich dies sei. Durch die eben vorgetragenen Gründe, denen noch mehrere hinzugefügt werden könnten, welche aber [237] alle hier auseinander zu setzen, zu zeitzersplitternd werden möchte, hoffe ich auch meine übrigen Zuhörer, sie mögen nun in jene Geheimnisse theilweise eingeweiht sein oder nicht, über die Unausführbarkeit jenes Vorschlages vollkommen ins Klare gesetzt zu haben.

Der triftigste, alle andern überwiegende, jedem einleuchtende Grund gegen diese, sonst so wünschenswürdige Vereinigung, bleibt immer der, daß jene ehrwürdige Gesellschaft, obgleich über ganz Europa verbreitet, durch ihren Ursprung, ihre innere Einrichtung, ja durch ihre nicht zu umstoßenden Urgesetze, verpflichtet ist, bei ihrer großen Ausdehnung sich dennoch auf eine verhältnißmäßig kleine Anzahl ihrer Verbündeten zu beschränken. Sie gleichen edlen Schatzgräbern, die beim Scheine des dem Himmel entwandten heiligen Feuers des Prometheus, im Dunkel der Nächte, und in ehrwürdiger Verborgenheit, dem edlen Karfunkel nachstreben, dessen alles überstrahlender [238] Glanz, dereinst zu Tage gefördert, wetteifernd mit der Sonne, die blöde, träge Welt aus ihrem Schlummer erwecken soll.

Wir aber, wir Vereinte zum Bunde des Heils, sind anders gestellt. Unser Bund gleiche der aufgehenden Sonne eines glorreichen Sommertages, die ihre Segen spendenden Strahlen über alle Kinder unseres weiten unermessenen Vaterlandes, Licht und Leben überall verbreitend, ergießt. Keine Höhle, keine Kluft, keine noch so tief in endlosem Schnee vergrabene Hütte, bleibe von ihr unerleuchtet. Fest an einander haltend, alles überwältigend, müssen wir zum Lichte durchdringen. Das ganze Reich, jede in demselben athmende Seele, muß dieses Heiles theilhaftig werden, daher darf nichts die Zahl der Anhänger des Bundes für dasselbe beschränken. Daher habe ich in den eurem Wunsche gemäß von mir verfaßten, und von Euch gebilligten Statuten desselben, es unsern Brüdern allen als heiligste [239] Pflicht auferlegt, zur Verbreitung unsres Bundes selbst unter den Geringsten im Volke – –

Ein Verräther in unsrer Mitte! – ein Spion! riefen einige Stimmen. Der Redner war unterbrochen, ein furchtbarer Tumult entstand in der Gegend der Thüre. Festgehalten, vorwärts gestoßen, umklammert, erdrückt von den ihn Umdrängenden, war für Richard an keinen Widerstand zu denken. Nieder, nieder mit ihm! erscholl es von mehreren Seiten mitten durch das rasende Toben, durch das wilde mit Flüchen und Schwüren gemischte Geschrei. Säbel und Degen waren mit den Hüten und Mänteln im Vorzimmer abgelegt, aber gefährlichere heimlichere Waffen, kleine blinkende Dolche, leicht zu verbergende Taschenterzerole wurden in vielen Händen sichtbar; drohende Geberden, wuthblitzende Augen, überall, wohin Richard die Blicke wandte.

Ruhe, Ruhe! gebot Fürst Andreas, als Herr [240] des Hauses. Niemand hörte auf ihn, bis es ihm endlich gelang, unter dem Beistande seiner Söhne zu dem Gegenstande der allgemeinen Erbitterung durchzudringen.

Du bist es, mein Sohn? Niemand als Du? rief er erstaunt, als er Richard recht ins Auge faßte. Laßt ihn unbesorgt los, Ihr Herren, dieser da ist kein gefährlicher Verräther, sprach er, indem er seine Hand ergriff und ihn an Eugens Seite führte. Nun wahrlich, dies heißt doch mit Recht, viel Lärm um Nichts, setzte er hinzu; und suchte, wenn gleich mit bleicher zitternder Lippe, ein heitres Lächeln zu erzwingen.

Wie Vielen unter uns wäre er denn so ganz unbekannt? Freunde, Brüder, besinnt Euch doch, setzte, vom ersten Schrecken sich erholend, der Fürst hinzu; es ist ja kein hier eingedrungener Fremdling; es ist Richard, mein in meiner Familie, mit meinen Söhnen, unter meinen Augen erwachsener lieber Pflegesohn.

[241] Wie kam er hieher? – wie durfte er es wagen? – wie konnte er ohne Verrath bis zu uns durchdringen? – Verrath! – eingeschlichen – ein Engländer – erkauft – Spion – nieder mit ihm – Schlange, die der edle Fürst in seinem Busen erzog – fort mit dem Undankbaren – nieder, nieder mit ihm! – brüllte es von allen Seiten. Die wenigen, Richard in Schutz nehmenden Stimmen, drangen nicht durch das verwirrende Geschrei; und immer gefährlicher, tobender, drohender, wurde die allgemeine Stimmung.

Mein Leben für meinen Bruder Richard! rief Fürst Alex, sprang herbei, ihn mit seinen Armen umschlingend. Voreiliger! konntest Du es denn nicht abwarten? flüsterte Eugen ihm zu, und warf die wehrlose Brust den wüthend auf ihn eindringenden Feinden seines Freundes entgegen.

Wer will in meinem Hause es wagen, mit [242] frevelnder Hand den unter meinem Schutze Stehenden zu berühren! rief Fürst Andreas mit aller ihm zustehenden Würde.

Ruhe! gebot eine kräftige, den lauten Tumult hell übertönende Stimme. Der Redner von vorhin drängte sich hervor: Befleckt nicht durch Mord unsern heiligen Bund; hört ihn an, ehe Ihr über ihn das Urtheil fällt, sprach er mit gebietendem, ernstem Tone; ergriff Richards Arm, zog ihn aus der Mitte der ihn umtobenden Schreier, stellte frei, allen sichtbar, mitten im Saale ihn neben sich hin, und befahl den Übrigen, einen eng geschlossenen Kreis in ziemender Entfernung um sie Beide zu bilden. Alles dieses mit so überraschender, kaltblütiger Gelassenheit, als wäre er hier König, und müsse ihm alles gehorchen.

Wer Muth hat, mit fester sicherer Hand das Steuer zu ergreifen, bleibt mitten im Sturme der Gebieter der wüthenden oder zagenden Menge, [243] die nie weiß, was sie eigentlich will oder zuerst zu ergreifen hat. So war es denn auch hier; man rangirte sich rings an den Wänden hin, wie es Obrist Pestel, denn dieser war der Redner, gebot, und der Aufruhr war für den Augenblick gänzlich beschwichtigt.

Richard Wood, jetzt befrage ich Sie, im Namen des Bundes zum Heil des Vaterlandes, nahm Pestel mit dem Anstande und der Würde eines dazu befugten Richters das Wort, wie gelang es Ihnen, uns so ganz unvermuthet hier zu überfallen, und was beabsichtigten Sie damit? Sprechen Sie frei und furchtlos, aber bedenken Sie Ihre Worte. Die kleinste Verletzung der Wahrheit wäre gefahrdrohend. Ich warne Sie wohlmeinend.

Richard war inzwischen auch wieder zur Besinnung gelangt, um welche das betäubende Geschrei, das wüthende Eindringen auf ihn, anfangs ihn gebracht hatte. Er beantwortete offen und [244] wahr die an ihn gerichteten Fragen, und erklärte nebenher, wie eine Reihe unbedeutender Zufälligkeiten ihn bewogen, seinen, seit mehreren Tagen nicht gesehenen Freund, den Fürsten Eugen, zur ungewohnt späten Abendstunde noch aufzusuchen.

So ohne alle Umstände? sans façon, ungemeldet? in Häusern wie dieses, pflegt das doch sonst nicht gebräuchlich zu sein; wandte mit anmaßendem Hohnlachen ein junger, sehr wüst und roh aussehender Mann ein. Er hieß Lunin, Richard war ihm früher in Moskau, in jener ihm so wenig zusagenden Gesellschaft, zuweilen begegnet.

Unter Brüdern bedarf es keines solchen Ceremoniels; Richard hat bei mir Bruderrecht; erwiederte kurz und stolz Eugen.

Sind Sie bereit, Ihre Aussage mit einem heiligen Eide hier feierlich zu bekräftigen? fragte ernst, aber nicht unfreundlich, Obrist Pestel.

[245] Dann bringt nur gleich eine Bibel herbei, eine englische, rief sehr überlaut Lunin; ich kenne ihn, er ist ein Engländer. Das Volk ist wie die Juden; nach den Gebräuchen seines Landes und Glaubens muß man ihn schwören lassen, sonst hält er sich dadurch zu nichts verbunden; er muß das Buch küssen, sonst gilt sein Eid nichts; setzte er frech lachend hinzu.

Richard blickte verachtend ihn an. Ich bin in England geboren, erwiederte er mit ernster Würde: ich bin weit davon entfernt, das Land meiner Geburt verläugnen zu wollen, aber ich bekenne zugleich, Rußland ist mein eigentliches geliebteres Vaterland, dem ich alles verdanke, seit ich fühle und denke; denn mein Geschick hat in sehr früher Jugend mich meinem Geburtslande völlig entfremdet. Dankbarkeit, Gewohnheit, Erziehung und das heiligste innerste Gefühl meiner Brust, haben mich hier längst nationalisirt; der Kaiser dieses großen Reiches ist [246] auch der meinige, setzte er, diese letzten Worte betonend, mit einem Blicke auf seine Uniform hinzu; für die Wahrheit meiner Aussage bin ich bereit mein Ehrenwort zu verpfänden, doch einen andern Eid leiste ich nicht. Wer aber einer Lüge mich verdächtig machen will, der trete gegen mich auf, Mann gegen Mann.

Auch ich setze mein Ehrenwort an das Seinige, rief in schönem Eifer Fürst Alex.

Ich stimme dafür, daß der Eid gegen sein Ehrenwort ihm erlassen werde, denn, wäre er ein Niederträchtiger, dem dieses nichts gilt, so würde auch der feierlichste Eid ihn nicht binden; entschied Obrist Pestel.

Freunde, Brüder! nahm Fürst Andreas jetzt das Wort, indem er hervor neben den Obristen Pestel trat; gönnt mir einige Augenblicke Eure Aufmerksamkeit mit dem Vertrauen, das ich von Euch erwarten zu dürfen mir bewußt bin. Beseligt durch das freudigste Vatergefühl, habe ich [247] meine beiden Söhne unserm hohen heiligen Bunde der ächten treuen Kinder unseres großen Vaterlandes zugeführt; überzeugt, daß auch mein geliebter Pflegesohn Richard, den heute ein tückischer Zufall, leider störend und unerwartet, in unsre Mitte geworfen, ein nicht minder würdiges Mitglied desselben werden würde, lag es stets in meinem Plane, auch diesen Euch zur Prüfung vorzuschlagen; es war sogar meine Absicht, noch vor dem Schlusse unsrer heutigen Versammlung diesen meinen Vorsatz in Ausführung zu bringen, der durch die Entfernung, in welcher Richard bis vor kurzem in Moskau lebte, aufgeschoben worden war.

Die Zeit der Überlegung, der Berathung, welche mehr das ernste Erforschen dessen, was Noth ist, von Seiten der Erfahrenern, Zeit- und Weltkundigeren unter uns erforderte, als den zwar wohlmeinenden, aber oft übereilten Eifer unsrer jüngeren Brüder, ist nun größtentheils [248] vorüber. Die Statuten unsres Bundes, die Gesetze desselben, die Pflichten, welche zu erfüllen wir beim Eintritte in denselben uns anheischig machen, sind endlich festgestellt. Die Zeit des Wirkens und Schaffens, der Ausführung des früher zum Wohle des heiligen Vaterlandes Beschlossenen ist da; sie wird der rüstigen Thatkraft unserer jüngeren Brüder ein weites Feld eröffnen, und in jeder Hinsicht die Vermehrung ihrer Zahl wünschenswerth machen.

Und nun tritt hervor, mein Sohn, setzte Fürst Andreas hinzu, indem er Richards Hand ergriff; frei darf ich es aussprechen, dieser Jüngling ist würdig, bei dem großen Werke, das wir unternommen und mit der Hülfe Gottes ausführen werden, als Bruder und Helfer uns zur Seite zu stehen, denn ich kenne ihn; unter meinen Augen wuchs er auf, mit meinen Söhnen zugleich habe ich in meinen Grundsätzen ihn erzogen, und der glücklichste Erfolg lohnte mein [249] redliches Bemühen. An Geist und Gemüth, an Muth und Festigkeit, an Willen und Beharrlichkeit, das Gute und Rechte zu fördern, steht er keinem der Besten unter uns nach. Und nun, Brüder, entscheidet über ihn.

Der Fürst setzte nichts weiter hinzu, auch seine Zuhörer schwiegen, nur ein leises Geflüster lief durch die Reihen derselben. Endlich nahm Obrist Pestel wieder das Wort:

Richard Wood entferne sich unter der Aufsicht seiner brüderlichen Freunde, der Fürsten Eugen und Alex, während die Ältesten, nach unserm Gebrauche, über seine Aufnahme in unserm Bunde mit einander Rath pflegen. Unsre allgemeine Versammlung ist für heute geschlossen; Ort, Tag und Stunde der nächsten wird den Brüdern auf gewohnte Weise kund gethan werden. Wandelt hin, durch Dunkel zum Licht! setzte er verabschiedend hinzu.

Der größte Theil der Anwesenden zerstreute [250] sich; durch verschiedene Ausgänge verloren sie sich einzeln und lautlos in den an Eugens Wohnung anstoßenden öden Höfen und Gärten. Gleich einem Nachtgesicht waren alle nach wenigen Minuten spurlos verschwunden. Eugen und Alex zogen sich mit Richard in ein Kabinet, welches keinen andern Ausgang als durch den Saal hatte, zurück, und unter dem Vorsitze des Obristen Pestel blieben nur die Ältesten und Angesehensten der Verbündeten, die Fürsten Andreas, Trubetzkoy, die Murawieffs und noch einige Andre im Saale versammelt.


Haltet mich fest an Eurer Brust, blickt wie ehedem mit Euern treuen guten Augen mich an, damit ich wieder unter Menschen mich fühle, sprach Richard, mächtig aufgeregt, als er sich mit Eugen und Alex in jenem Kabinette allein sah; windet nicht so schnell aus meinen Armen [251] Euch los! alles wankt rings um mich her, mich schwindelts, mir ist wie einem Fieberkranken, der aus wilden Phantasien zu halbem Bewußtsein erwacht. Habe ich geträumt? träume ich vielleicht noch? welch ein Traum! wer doch erwachen könnte! Der Vater! und Du, Eugen, und Du, Alex, Verschworne! Ihr Alle im Bunde mit Lunin! zu welchem Zwecke! setzte er schaudernd hinzu, und verbarg sein Gesicht in beiden Händen.

Zum Herrlichsten! für Freiheit, Licht, geistiges Leben, für das Wohl von Millionen unsrer Brüder, die in geistigen und leiblichen Banden noch mit Elend und Dunkelheit kämpfen! erwiederte wie begeistert Eugen.

Revolution! rief Richard, und schlug heftig beide Hände zusammen; das Heil, das aus diesem Quelle der Welt zufließen kann, ist allbekannt. Aber der Wurf ist gefallen; komme was da wolle, Gefahr und Untergang, ich theile es mit Euch; [252] denn inniger als je zuvor fühle ich es, ich gehöre zu Euch. Das Vertrauen, die Liebe Eures, ja, meines edlen Vaters, soll an mir nicht zu Schanden werden; nicht vergebens hat Fürst Andreas mich öffentlich Sohn genannt; ich weihe mich mit Euch und ihm dem Untergange; das Schwert, das über Euern Häuptern an einem schwachen Haare drohend hängt, in seinem Falle zerschmettre es auch mich!

Aber so komme doch endlich wieder zu Dir, und setze Dich ruhig hieher; an Gefahr und Untergang ist hier gar nicht zu denken, fiel Eugen ganz fröhlich ihm ein; freilich, als Du so, gleichsam mit der Thüre uns ins Haus fielst, gab es wohl einige Gefahr für Dich, aber die ist vorüber und kommt nicht wieder; höre darum auf, uns und Dich mit so edelmüthigem Unsinn zu plagen.

Ich glaube, ich verstehe ihn besser, als Du ihn verstehst, oder auch vielleicht nur verstehen willst, nahm der gutmüthige Alex jetzt das Wort; [253] sein Zweifelmuth jammert mich; warum wollen wir denn nicht mit einem einzigen Worte ihn so ruhig machen als wir es sind, da dieses in unsrer Macht steht? Höre mich, Richard, und vertraue mir; von Verschwörung und daraus entspringender Gefahr, ist, kann hier nicht die Rede sein, denn (hier dämpfte Alex seine Stimme bis zum leisen Geflüster) denn ein einziger großer Name steht auf der Liste der für unsern Bund zunächst zu werbenden Mitglieder obenan. Harre nur noch eine kleine Weile, bis unser weit umfassender Plan sich zur höchsten Klarheit gestaltet hat, daß man ihn deutlich vorlegen kann. Dann steht jener, ohne dessen Willen in diesem Reiche nichts geschehen soll, an unsrer Spitze, mit aller Kraft seines mächtigen Wollens, seiner großen, für Gott, Vaterland, Menschenrecht glühenden Seele; er, dem das Wohl der Millionen, die ihm unterthan sind, wärmer am Herzen liegt, als das eigne Leben.

[254] Alex! Alex! versteh' ich Dich? rief Richard ihn wild anstarrend.

Du hast mich verstanden. Der Kaiser, flüsterte Alex.

Er? Du träumst; er, er selbst!

Alex ist wach, aber voreilig, in seinen Äußerungen wenigstens, wenn gleich nicht in seinem Glauben. Was noch nicht ist, kann werden, und wird es, sprach Eugen.

Er, den ich nicht nenne! und Lunin! und jener verworfene Spieler, und so manche ähnlichen Gelichters, die ich in Eurer Versammlung erkannte! Alle Mitgenossen eines Bundes? Es ist nicht, es kann nicht sein! erwiederte Richard.

Und doch, und doch. »Es muß auch solche Käuze geben« sagt der große Poet; sprach lächelnd Alex.

Schafft die Natur denn nur Rosen und Lilien und Ananas? erwiederte Eugen; erzeugt sie nicht auch Wermuth und Bilsenkraut? Nesseln [255] und Schierling? und noch hundert andere giftige und bittre Kräuter, die alle unentbehrlich sind, weil der, so sie zu behandeln weiß, jedes an seinem Orte zu den heilsamsten Arzneien verwendet? Auch stehen wir alle nur scheinbar neben einander. Wir wirken zu einem Zwecke, aber Jeder auf ihm angewiesene Weise; es giebt unter uns Grade des Wissens und Wirkens, die nicht Alle erreichen, setzte er mit gedämpftem Tone hinzu.

Übrigens ist Lunin zwar ausgelassen, wild und roh, aber eine grundehrliche Haut, versicherte Alex; und der Andre, den Du meinst, ist auch nicht der verrufene Baron mit der grünen Brille, sondern einer, Namens Torson; die Ähnlichkeit zwischen beiden ist aber auffallend, vielleicht ist Torson dem Brillenmanne verwandt.

Die Konferenz da drinnen wird jetzt bald ihr Ende finden, ich höre Pestel herum gehen, die Stimmen in Gestalt goldener und bleierner [256] Kugeln zu sammeln; doch ehe wir hinein gerufen werden, muß ich noch eine Gewissensfrage an Dich richten, sprach Eugen, und trat mit Richard in eine Fenstervertiefung. Gestehe es, Aug' in Auge, die Hand auf dem Herzen, Du hegtest Argwohn gegen mich, und hegst ihn vielleicht noch. Richard, konnte, durfte ich Dir entdecken, was des Vaters ausgesprochener Befehl und ein heiliger Eid mir zu verschweigen geboten? Die Zeit Deiner Dir unbewußten Prüfung von Seiten meines, Dich nie aus den Augen verlierenden Vaters, war abgelaufen, nur wenige Tage des Schweigens waren mir noch auferlegt; kaum hielt ich mich noch; weißt Du den letzten Abend, den wir bei unserm Freunde Lange zubrachten? erinnerst Du Dich noch der Andeutung meiner Hoffnungen für Dein Glück, die ich mir damals entschlüpfen ließ? ich mußte den ganzen übrigen Abend Dir aus dem Wege gehen, um in der Freude meines Herzens Dir [257] nicht zu viel zu verrathen. Und verstehst Du mich denn jetzt? weißt Du jetzt, worauf meine Hoffnungen beruhen? kannst Du Dir deuten, wie ich es meine? fühlst Du meines Vaters Betragen gegen Dich? sprach er immer wärmer werdend. – Ach Richard, soll ich die Dir nennen, für die, wie für Dich, am heutigen Abend ein herrliches Morgenroth aufgeht?

Helena! hauchte Richard ganz leise, leise an der treuen Freundesbrust.


Auf Flügeln der Hoffnung getragen, kehrte Richard in den Saal zu der ihn erwartenden Versammlung zurück, die er in ganz andrer Stimmung verlassen. Die Häupter des Bundes hatten in der Zwischenzeit über seine Zukunft entschieden, aller Augen kehrten mit sichtbarem Wohlwollen sich ihm zu, die ganze Art des von dem ersten himmelweit verschiednen Empfanges, [258] der ihm jetzt wurde, verrieth deutlich den mächtigen Einfluß des Fürsten Andreas.

Selbst der Obrist Pestel trat zuvorkommend ihm entgegen, und erklärte ihm, als derzeitiger Präsident des Bundes und im Namen desselben, daß man aus hinlänglichen Bewegungsgründen beschlossen, mit seinem Ehrenworte zufrieden zu sein, ohne auf den in solchen Fällen üblichen Eid der Verschwiegenheit zu bestehen. Eine Auszeichnung, die vor Ihnen noch keinem gewährt wurde: setzte er sehr wichtig hinzu.

Richard erkannte diese ihm gewährte Vergünstigung mit geziemendem Danke an, und gelobte dann kurz und bestimmt bei seiner Ehre, alles was er hier gesehen und vernommen, lebenslänglich als ein hochheiliges Geheimniß zu bewahren; keinem lebenden Menschen auf Erden, er sei wer er wolle, nie, unter keiner Bedingung, durch Worte oder Zeichen, ganz oder theilweise, etwas davon zu vertrauen, oder auch nur errathen zu lassen.

[259] Sie sind jetzt frei wie die Luft, nahm jetzt Pestel wieder das Wort; von Ihnen allein hängt es ab, diese Versammlung augenblicklich zu verlassen, um nie wieder zu derselben zurück zu kehren. Ein andres wäre es, wenn Sie, wie Ihr edler Pflegevater uns angedeutet hat, den Wunsch hegten, unserm Bunde der wahren und getreuen Kinder des Vaterlandes sich anzuschließen. Meiner Pflicht als Vorstand desselben gemäß, richte ich also die Frage an Sie: sind Sie ent schlossen sich diesem Bunde zu weihen, seinen Gesetzen, wie seinen Verpflichtungen sich ohne Ausnahme zu unterwerfen?

Ein bänglich vorahnendes Gefühl wollte sich Richards bemächtigen, indem er schon im Begriff war, diese Frage mit dem verhängnißvollen: Ja, zu beantworten; fast wähnte er seinen Schutzgeist in Helenas Gestalt warnend neben sich aufsteigen zu sehen. Der feste Entschluß, mit welchem er den Saal betreten, wurde einen Augenblick [260] wankend; doch ein Blick auf seine beiden Freunde, die in vertrauender Sicherheit ihm zur Seite standen, ein ermuthigender Wink des Fürsten Andreas – und seine Zweifel schwanden. Das Wort, das man von ihm erwartete, war gesprochen.

Der helle Streif im Osten verkündet das Ende der kurzen Sommernacht. Mitternacht ist längst vorüber. Ich trage darauf an, daß die feierliche Aufnahme unsers neuen Bruders auf unsre nächste Versammlung festgestellt werde: sprach Sergius, der Secretair des Bundes.

Unser Bund braucht das Licht der Sonne nicht zu scheuen, die bald glorreich von ihrer Mittagshöhe herab seine Thaten beleuchten soll: erwiederte Pestel sehr pathetisch. Zur Aufnahme dieses unsres Bruders, fuhr er gelassen fort, bedarf es keiner weitläuftigen Vorbereitungen, indem alle Prüfungen des ersten Grades ihm erlassen sind, und er mit Übergehung desselben sogleich [261] in den zweiten, in den der Männer eintreten wird. Die enge Verbindung, in der er zu dem hohen Hause steht, das unser Bund mit Recht als seine festeste Stütze betrachtet, berechtigt ihn zu diesem selten gewährten Vorzuge. Bruder Richard! setzte er wieder in jenen pathetischen Ton verfallend hinzu, nur Ihrem eignen Willen bleibe hier die Wahl überlassen; wünschen Sie Aufschub? Bedenkzeit? oder soll diese symbolisch schöne Stunde der Morgendämmerung, in welcher die lichtscheue Nacht mit ihren dunkeln Phantomen vor dem hellen Tagesscheine sich verbirgt, auch Ihnen die Klarheit gewähren, die von nun an Ihrem ferneren Lebenspfade leuchten soll?

Noch ehe ich berufen ward, zum zweitenmal in dieser Versammlung zu erscheinen, war mein Entschluß fest gestellt; es bedarf keiner weitern Bedenkzeit, antwortete Richard.

Fürst Andreas, seine Söhne, alle gegenwärtigen[262] Freunde seines Hauses erhoben sich jetzt, um Richards männlichen schnellgefaßten Entschluß zu preisen, und mit Freundschaftsbezeigungen und Beweisen des herzlichsten Wohlwollens ihn zu überschütten, während Pestel und Sergius die einfachsten Vorbereitungen zu dem feierlichen Eide trafen, der zufolge der Statuten des Bundes, beim wirklichen Eintritte in denselben, ihm nicht mehr erlassen werden durfte.

Von allen jenen, in den mannigfaltigsten Modificationen üblichen Ceremonien, die jeder bei der Aufnahme in eine geheime Gesellschaft sich gefallen lassen muß, diese mag nun in den geweihten Sälen einer Loge, oder in irgend einer dunkeln Kneipe ihr Wesen treiben, war hier gar nicht die Rede. Zwar ließ aus einigen leicht hingeworfenen Worten des Präsidenten Pestel sich schließen, daß dieses eine durch Zeitmangel bedingte Ausnahme von der gewohnten Regel sei; doch darf man dem gewandten weltklugen Manne[263] wohl zutrauen, daß diese Ausnahme nicht ganz unabsichtlich Statt finde. Er besaß Menschenkenntniß genug um einzusehen, daß der ganze Apparat von dunkeln Gemächern, bloßen Degen, Todtenschädeln, symbolischen Pflanzen und dergleichen, hier den gewünschten Eindruck völlig verfehlen würde, und er höchstens nur an die enge Scheidegränze zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen dadurch erinnern könne.

Sergius trug ganz einfach die auf Verlangen des Bundes von Pestel verfaßten Statuten desselben vor, aus denen zuvörderst die Eintheilung der Mitglieder in drei Klassen oder Grade hervorging. Die erste, bei weitem zahlreichste, wurde die der Brüder genannt; die zweite, bedeutendere und mit dem Zwecke, wie mit den Fortschritten des Bundes vertrautere, war die der Männer, in welche Richard jetzt aufgenommen wurde. Der dritte, höchste Grad wurde nur Wenigen durch Macht, Reichthum, Familienverbindungen [264] oder glühenden Eifer Ausgezeichneten ertheilt: sie wurden Boyaren genannt, und bildeten den höchsten Rath der Alten. Aus ihrer Mitte wurden drei Direktoren erwählt, der Präsident, der Aufseher, und der Secretair. Die gegenwärtige Versammlung war eigentlich der Rath der Alten, und sämmtliche Boyaren, mit weniger Ausnahme, waren dabei zugegen.

Vernichtung verjährter, für die jetzige Zeit nicht mehr passender Institutionen und jeder an orientalischen Despotismus erinnernden Einrichtung, wurde als das Hauptziel des Bundes angegeben; nächst diesem unermüdliches Bestreben, durch Abschaffung von Mißbräuchen, durch Verbreitung nützlicher Kenntnisse, durch Verbesserung des Landbaues, durch Einführung neuer Erwerbsquellen, zur Aufklärung, und durch diese zur Verbesserung des Wohlstandes der niedrigeren Volksklasse beizutragen. Bei jeder Gelegenheit die Rechte des Volks öffentlich zu vertreten, [265] und die Bekanntschaft mit denselben zu verbreiten, wurde als nicht zu umgehende Pflicht eingeschärft; auch war den Verbündeten auferlegt, über genaue Handhabung der Gesetze zu wachen, die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten, wie das Betragen der Beamten jedes Ranges, genau zu beobachten, und jede Handlung derselben, durch welche sie sich des in sie gesetzten Vertrauens unwürdig bewiesen, ans Licht zu ziehen und zu veröffentlichen.

Verbreitung des Bundes durch Anwerbung treugesinnter talentvoller Mitglieder, vorzüglich vom Militairstande, um auf jede Weise die Macht wie die Zahl desselben zu mehren und ihn immer sichrer zu stellen, wurde noch als letzte, aber unumgängliche Verpflichtung besonders empfohlen.

Alles dieses klang so unverfänglich, so Recht liebend, so durchaus wünschenswerth zum allgemeinen Besten; Ähnliches, wenn gleich anders [266] ausgedrückt, hatte Richard unzähligemal von den Lippen seines Pflegevaters im engsten Familienkreise vernommen. Zweifel und Mißtrauen schwanden; begeistert für die gute Sache, sprach er Wort für Wort den ihm vorgesagten Eid nach, bis ans Ende; und würde in dieser glücklichen Stimmung geblieben sein, wäre nicht ganz zuletzt unbedingte Unterwerfung unter den Rath der Alten von ihm gefordert worden. Er stockte einen Augenblick; und doch! er war zu weit vorgeschritten, um zurücktreten zu können.


Jede widerwärtige Empfindung, welche bei seinem ersten, ihn selbst überraschenden Eintritte in jene Verbindung, sich Richards bemächtiget hatte, verschwand indessen bei ruhigerem Besinnen gar bald aus seinem Gemüthe. Er war sogar auf gutem Wege, eines der eifrigsten Mitglieder des Bundes zu werden, ohne durch so manches, [267] was ihm anfangs als abschreckend erschienen war, sich weiter irren zu lassen. Sogar die unbedingte Unterwerfung unter die Beschlüsse und Anordnungen des Rathes der Alten, welche er hatte geloben müssen, machte ihm keine Sorge mehr.

Im Militairdienste war die Nothwendigkeit strenger Subordination, sobald es gilt, die Gesammtkräfte vieler tausend Einzelner zur Ausführung eines großen Zweckes zu vereinen, ihm deutlich geworden; und was für Männer standen an der Spitze dieses sogenannten Rathes der Alten, dem er blinde Unterwerfung gelobt!

Fürst Andreas, seine Söhne, die nächsten Verwandten und Freunde seines Hauses, anerkannt edle Männer, an Rang, Ansehen, und warmer Begeisterung für das Wohl des Vaterlandes ihm gleich. Wo diese walteten, mußte jede Spur von Besorgniß verschwinden. Wie hätten sie, wie hätte Fürst Andreas, etwas dem allgemeinen Besten, oder dem mit diesem so [268] enge verbundenen allgeliebten Kaiser Gefahrdrohendes geschehen lassen oder gar anordnen können!

Im Verlaufe der Zeit würde Richard seinen Eintritt in den Bund, vielleicht sogar die Existenz desselben ganz vergessen haben, hätte nicht der ihm so groß, so ungemein wünschenswerth erscheinende Zweck des selben, ihn auf das lebhafteste unaufhörlich beschäftigt.

Die Versammlungen des Bundes wurden immer seltner; Monate gingen oft darüber hin, ohne daß Richard aufgefordert wurde in denselben zu erscheinen, und fast immer kehrte er mit dem bittern Gefühle zwecklos verlorner Zeit nach Hause zurück. Die Anordnung feierlicher, Sinne betäubender Ceremonien zur Aufnahme neuer Brüder, die ohne sonderliche Auswahl, augenscheinlich nur, um die Zahl der Mitglieder zu vergrößern, schaarenweise herbeigezogen wurden, schien jetzt die einzige Beschäftigung jener Versammlungen geworden zu sein.

[269] Diese Neuangeworbenen, deren Anzahl sich bald bis ins Unglaubliche vergrößerte, waren größtentheils junge Leute, die gar nicht begriffen, gar nicht wußten, wovon eigentlich hier die Rede sei, auch gar nicht verlangten dieses zu ergründen; sondern, entweder vom Reize des geheimnißvoll Feierlichen angezogen, oder auf Zureden und nach dem Beispiele ihnen ähnlicher Freunde in den Bund sich hatten aufnehmen lassen, ohne etwas andres dabei sich zu denken, als was sie auch bei jeder andern geschlossnen Gesellschaft sich gedacht haben würden.

Ein großer Theil derselben bestand aber auch aus Soldaten, guten ehrlichen Gemüthern, die auf Treu und Glauben hinnahmen, was man unter dem Siegel des Geheimnisses ihnen flüsternd vertraute: daß Kaiser Alexander selbst um alles wisse, alles leite, nur ihren Vortheil dabei beabsichtige, aus politischen Gründen aber noch nicht öffentlich auftreten wolle. So eingewiegt [270] von goldnen Hoffnungen, waren sie darauf gefaßt und bereit, sich zu allem was von ihnen gefordert werden würde herzugeben; als blindes Werkzeug höherer Gewalten alle ihre Kraft, und wenn es sein müßte ihr Herzblut, für ihnen unbekannte Zwecke zu verwenden. Es waren die nämlichen treuen, aber unwissenden Seelen, welche einige Jahre später mit großem Geschrei die Constitution hoch leben ließen, weil sie meinten, dies sei Name oder Titel der Gemahlin ihres Czaarewitsch Konstantin.

Richard hatte anfänglich vor dem zu plötzlichen Ausbruche der Flamme gezittert, deren zündender Funke hier im Verborgnen gehegt wurde; jetzt setzte die Unthätigkeit des Bundes ihn in zweifelndes Erstaunen. Er äußerte dieses zuerst gegen seine vertrauteren Freunde, dann auch gegen Pestel und andre der bedeutenderen Mitverschwornen, aber es fehlte diesen nicht an Gründen, um ihn zu beruhigen. Noch ist es nicht [271] an der Zeit: die Frucht muß reifen, ehe sie gebrochen wird: Übereilung ist die gefährlichste Feindin jedes großen Unternehmens; so hieß es, wohin er sich auch wenden mochte. Er gewöhnte sich endlich daran, keine andere Antwort zu hören, fing an für voll gelten zu lassen, was ihm zuerst als abgedroschner Gemeinplatz geklungen hatte, und gab sich zufrieden.

Auch hatte er gegründete Ursache zufrieden zu sein; eine neue, ihn durch und durch erwärmende Glückssonne, war seit jenem stürmischen Abende an seinem Lebenshorizonte aufgegangen. Nie zuvor, selbst nicht in den Jahren seiner ersten Jugendzeit, hatte er seinen Pflegeeltern so enge verbunden sich gefühlt, nie hatten sie selbst so ganz offenbar und rücksichtslos als ganz zu den Ihrigen gehörend ihn anerkannt, als eben jetzt. Und diese glückliche Veränderung seiner Lage beschränkte sich nicht allein auf das Haus des Fürsten Andreas; sie ging von diesem[272] auf die nächsten Freunde und Verwandten desselben über.

Die von der größern Gesellschaft ihn ausschließenden Schranken, welche Rang, Etikette und Konvenienz um ihn gezogen, waren plötzlich gesunken; man sah in ihm nur den fein gebildeten jungen Mann, den liebenswürdigen Gesellschafter, und von dem niedern Range, auf dem er noch immer bei seinem Regimente stand, nahm Niemand mehr Notiz. Das Beispiel bedeutender Personen, die bei seiner Aufnahme in den Bund zugegen gewesen waren, hatte dieses Wunder bewirkt, und Richard war, ohne daß er es wollte oder wußte, in der übrigen vornehmen Welt, die eben so wenig wußte warum, gewissermaßen Mode geworden. Ausgenommen bei großen feierlichen Gelegenheiten, wo eine scharf gezogne Linie das Zulässige bezeichnet, und die er von jeher gern vermieden hatte, standen immer die Thüren ihm offen, aber Erfahrung [273] hatte ihn Vorsicht gelehrt. Er beschränkte sich auf das Haus seiner Wohlthäter und der diesen zunächst Verbundenen, und vermied auch dort, in größern Kreisen zu erscheinen.

Vor Allen andern zog eines der thätigsten und begeistertsten Häupter des Bundes ihn an, und kam mit gleicher ungeheuchelter Neigung, auf mehr als halbem Wege ihm ebenfalls entgegen; Graf Stephan, den man wohl mit Recht als einen Schüler des Fürsten Andreas bezeichnen könnte, war bedeutend jünger als dieser und doch schon dessen vieljähriger Freund. Sein vor wenigen Jahren verstorbener Vater hatte mit dem Fürsten in sehr vertrautem Verhältnisse gestanden, der junge Stephan wurde von Jugend auf Zeuge des ernsten viel umfassenden Gesprächs dieser beiden, von Freiheitsgefühl und Vaterlandsliebe durchdrungenen Männer, und seine Verehrung und Bewunderung des Fürsten Andreas stieg darüber bis zur Leidenschaft.

[274] Nach des alten Grafen Tode ging das Vertrauen und die Liebe des Fürsten auf den Sohn über; rückhaltslos überließ er sich der Gewohnheit, ihm alles zu offenbaren, was seit Jahren seinen Geist ausschließend beschäftigte; seine Pläne, seine Wünsche für die Verbreitung allgemeinerer Kultur und Verbesserung des bürgerlichen Zustandes seines Volkes, und aller der Ideen, die mit der Zeit sich so ganz seiner bemächtiget hatten, daß man wohl sagen kann, sie waren die Seele seines Lebens geworden.

Stephan gehörte zu jenen milden und doch ernsten tiefen Naturen, die jeden großen Gedanken, den sie einmal erfaßt, so lange von allen Seiten beleuchten, bis er von ihrem innern Wesen untrennbar wird, und sie gezwungen alles daran setzen müssen, um das, was erst nur in ihrer Phantasie lebte, zur Wirklichkeit umzugestalten.

Der lebhaftere Geist des weit jüngeren Mannes [275] begnügte sich nicht damit, den Gedanken des älteren Freundes Schritt für Schritt zu folgen, er nahm einen weit kühneren Aufschwung. Wahre Begeisterung läßt gleich der Flamme schlecht sich verhehlen: dem Grafen Gleichgesinnte fanden ihn bald und schlossen sich ihm an, und so entstand aus diesen eine kleine, aus acht bis zehn wohlgesinnten, von Vaterlandsliebe beseelten Männern bestehende Gesellschaft, die ohne Nebenabsicht und ohne Aufsehen erregen zu wollen, zusammen kamen, um über Dinge, die ihnen zunächst am Herzen lagen, ihre Gedanken einander mitzutheilen. Daß aus diesem kleinen Keime eine so weit umsichgreifende Verzweigung entstehen solle, lag weder in ihrem Plane, noch kam die Möglichkeit davon ihnen in den Sinn.

Mehrere Jahre, ehe der damals in Moskau lebende Fürst Andreas sich ihr anschließen konnte, dauerte diese Gesellschaft zu aller Zufriedenheit in der Stille fort, bis der Zufall den Obrist Pesiel [276] ihr zuführte, dessen kühner übermüthiger Geist schon deshalb ein großes Übergewicht gewinnen mußte, weil er jede Farbe anzunehmen verstand, und von ganz andern Gedanken und Plänen erfüllt, kein Mittel scheute, um zu seinem Zwecke zu gelangen. Mit kecker Hand ergriff er die Zügel, und ehe die Übrigen es gewahrten, hatte unter seiner Leitung alles eine andre Gestaltung gewonnen.

Richard fühlte in dem vertrauteren Umgange mit seinem neuen Freunde sich sehr glücklich, er verlebte viele schöne Stunden in dem engen Familienkreise desselben, mit der sanften, schönen, aber oft leidenden Gemahlin des Grafen, mit den hoffnungsvollen Kindern, die, sobald er sich zeigte, ihn jauchzend umtanzten.

Aber wie ganz anders noch war es, wenn Fürst Andreas zu Hause ihn Sohn nannte, wenn sogar Eudoxia, den Strumpfwirker ganz vergessend, zwischen ihm und ihren eignen Kindern [277] keinen Unterschied merkbar werden ließ! wenn beiden im lebhaften Gespräche so manche Äußerung über seine Zukunft entschlüpfte, so manche Andeutung einer nahenden, alle seine Erwartungen übertreffenden glänzenden Zeit; dann wußte er kaum sein in kühner Hoffnung hochaufschwellendes Herz zu bemeistern. Selbst in Gegenwart ihrer Eltern gestaltete sein Umgang mit Helena sich immer zwangloser und freier, mit dem vollen Ausdrucke innern Glücks trat sie stets ihm lächelnd entgegen. Aus Furcht vor sich selbst wußte er dem Vorgefühle, das sich seiner ganz bemächtigte, und das er doch als allzu kühn verdammen mußte, keine Worte zu geben. Doch sein fragender Blick suchte Antwort in den Augen seiner brüderlichen Freunde, denn auch Alex war jetzt der Vertraute seiner Liebe geworden. Alex reichte ihm die Hand, Eugen drückte ihn an die treue Brust; beide schwiegen.

Es ist ein Traum! ein himmlisch schöner [278] Traum! o Gott, laß das Erwachen mich nicht erleben, lieber den martervollsten Tod! seufzte er oft, wenn sein Glück, wie eine schwere Bürde, auf seinem ahnungsvollen Herzen lastete.

Helena, wenn sie mit Richard allein war, gab jetzt oft und geflissentlich dem Gespräche eine sehr ernste, auf die Lieblings-Ideen ihres Vaters Bezug habende Wendung, von denen auch sie ganz erfüllt war. Auch Eudoxia, ungeachtet ihrer festen Überzeugung von dem in der Natur begründeten Unterschiede zwischen hoch und niedrig Gebornen, nahm lebhaften Antheil daran; die ihr angeborne Herzensgüte gewährte ihr eine Art Trost in dem Gedanken, das Unglück der Letztern durch Verbesserung ihrer bürgerlichen Zustände einst mildern zu können. Öfter, offener, umständlicher als je zuvor ließ ihr Gemahl im engen Kreise seiner Familie und seiner Vertrautesten, zu denen natürlicher Weise auch Richard und Stephan gehörten, über alles, was sein [279] Gemüth seit Jahren erfüllte, sich aus; die Gegenwart der Frauen dabei vergessend, streifte er bisweilen ganz nahe an das Geheimniß des Bundes, ohne es jedoch zu verletzen. Eudoxia suchte oft Gelegenheit, mit Richard über die nämlichen Gegenstände sich zu unterhalten, um manches, was ihr nicht recht deutlich geworden, sich erklären zu lassen. Mutter und Tochter äußerten sich zuweilen auf eine Weise, die gewissermaßen einige Kenntniß von dem geheimen Bunde verrieth.

Wissen die Frauen? fragte, durch alles dieses zweifelhaft geworden, Richard seinen Eugen.

Wissen? erwiederte Eugen lächelnd, die Frage ist schwer zu beantworten. Wissen – was man so eigentlich wissen nennen kann – das gewiß nicht, und das kannst Du auch mit Deiner Frage nicht meinen. Aber Frauen sind nun einmal ihrer Natur nach die ächten wahren Inspirirten, das ist ein von den Göttern ihnen Gegebenes. Sie haben nicht nöthig etwas zu lernen oder zu [280] erfahren, um es zu wissen; auch wissen sie eigentlich meistens blutwenig, aber sie ahnen alles; die Ungebildeteren unter ihnen nennen das im gemeinen Leben: merken. Indessen sehe ich doch nichts Außerordentliches darin, daß meine Mutter und Schwestern sich lebhaft für Dinge interessiren, über welche sie meinen Vater täglich sprechen hören.


Geh' nur, Richy, geh', Du machst mir nichts mehr weiß; Du hast kein Herz für mich, wie ich für Dich es habe. Du hast sehr viel Verstand, Du bist sehr klug, sehr gelehrt, der arme Iwan ist das alles nicht. Aber ich trage mein Herz auf meiner Hand; ich bin nicht geheimnißvoll wie Du; aber wer mich liebt, den liebe ich wieder, und der kann sich auf mich verlassen, in jeder Gefahr.

Gieb Dir keine Mühe, rede mir nichts ein, [281] es hilft Dir nichts; fuhr Iwan fort, als Richard versuchen wollte, seinen schmollenden Freund zu versöhnen, den seit geraumer Zeit etwas vernachlässiget zu haben, er sich bewußt war. Ich weiß Du traust mir nicht, aber Du sollst erfahren, daß auch Iwan schweigen kann. Hinterm Berge wohnen auch Leute, und es ist noch nicht aller Tage Abend. Ich weiß mehr als Du glaubst, aber fürchte Du nur nichts von mir, geh' Du nur ruhig zu Deinen Kneesen und Grafen.

Warum sieht man Dich nicht mehr bei unserm Kapellmeister? schalt Iwan weiter, ohne auf Richards Entschuldigungen hören zu wollen; ist es recht, ist es billig, brave Leute, die Dich herzlich lieb haben, einen Abend nach dem andern vergeblich auf sich warten zu lassen? Julie ist sehr schlecht auf Dich zu sprechen, Frau Karoline auch. Lange, die ehrliche Seele, nimmt allein noch Deiner sich an, und weiß immer noch etwas aufzufinden, das Dich entschuldigen [282] soll. Nun wie steht es, kommst Du heute Abend?

Heute, gerade heute Abend? stotterte Richard verlegen.

Du kommst nicht, das habe ich mir schon gedacht, lachte Iwan spottend. Nun gleichviel, heute Abend sehen wir uns doch.

Das wird kaum möglich sein, erwiederte Richard etwas kleinlaut; dringende Geschäfte – aber nächstens, morgen Abend gewiß. Ich fühle ordentlich eine Sehnsucht, mich von Frau Karolinen ausschelten zu lassen; wie die liebe Sonne nach einem derben Gewitterregen, zeigt auch sie sich hernach nur um so wärmer und freundlicher. Also morgen, lieber Iwan, morgen Abend.

Morgen halte es wie Du willst, ich sehe Dich noch heute Abend, verlaß' Dich darauf; rief Iwan im Fortgehen ganz trocken ihm zu.

Richard schaute betroffen ihm nach; das Benehmen, das ganze Betragen des Freundes schien [283] auf unbegreifliche Weise verändert. Ist er in den wenigen Monaten mir doch wie verwildert! ich habe zu lange, zu anhaltend ihn vernachlässiget, und was er von nun an auch beginnen mag, ich habe es verschuldet; sprach Richard reuevoll zu sich selbst.

Eine für diesen Abend angesagte große Bundesversammlung, die abermals nur zur Aufnahme mehrerer neuer Mitglieder Statt finden sollte, hatte Richard verhindert, auf Iwans Vorschlag einzugehen. Spät gekommen, drängte er sich mißmüthig durch die Reihen der Aufzunehmenden, ohne sie anzusehen, und entdeckte, als die Ceremonie begann, zu seinem höchsten, wahrlich nicht angenehmen Erstaunen, seinen Freund Iwan mitten unter ihnen. Eine ganz eigne, fast komische Mischung von Trotz und Schalkheit lag in dem sarkastischen Lächeln, mit welchem dieser im Vorübergehen verstohlen zu ihm aufblickte. Mark und Bein durchzuckend, stieg ein unbeschreiblich[284] bängliches Gefühl bei diesem Anblicke in Richards Seele auf; ihm war als sähe er den Freund in dringender Gefahr, als müsse er bei den Haaren von dem Platze, wo er eben stand, ihn fortreißen. Aber es wollte sogar den ganzen übrigen Abend hindurch ihm nicht einmal gelingen, sich Iwan zu nähern; Torson oder Lunin hielten abwechselnd eine Art Wache über ihn, einer von diesen blieb fortwährend ihm zur Seite, und als spät nach Mitternacht die Versammlung aufgehoben wurde, und Richard seinen Freund aufsuchte, in der Hoffnung ihn auf dem Wege nach Hause zu begleiten, war er mit jenen beiden ihm völlig aus den Augen entschwunden.


Iwan! Iwan! was hast Du gethan, ohne Dich vorher mit mir zu berathen; rief Richard am folgenden Morgen seinem Freunde zu, als [285] er nach langem vergeblichen Suchen ihn endlich antraf, eben im Begriffe sein Pferd zu besteigen.

Richy, Richy! was hast Du unterlassen, ohne Dich im geringsten um mich zu bekümmern, antwortete dieser ihn parodirend, und galoppirte davon.

Trübe und gedankenvoll eilte Richard jetzt zum Kapellmeister Lange, um wo möglich dort einige Aufklärung über Iwans auffallend seltsames Betragen gegen ihn zu erhalten. Nicht ohne einiges Herzklopfen betrat er das Zimmer, in welchem er die beiden Eheleute allein traf, aber der Empfang, der ihm von ihnen wurde, übertraf all sein Hoffen und auch sein Verdienst, wie er selbst reuevoll gestand. Der kleine Kapellmeister war über das Wiedererscheinen des Hausfreundes zu erfreut, um des langen Außenbleibens desselben zu gedenken; er gerieth in eine wahre Entzückungswuth; sang, jubelte, tanzte, die rothsammtne Troddelmütze flog von einem Ohre zum [286] andern, Frau Karoline konnte vor Lachen über die possierlichen Freudenbezeigungen ihres Eheherrn gar nicht dazu kommen, dem Frevler gebührend den Text zu lesen, wie sie es sich doch fest vorgenommen hatte.

Übrigens kam keiner von diesen Dreien diesmal zu einem vernünftigen Worte; ein Fragen, ein Erzählen ohne Ende begann, keiner hörte auf den andern, aber sie verstanden sich doch.

Und abermals war Richard bei diesen so ganz menschlichen Menschen in liebender Wärme das Herz aufgegangen. Als er wieder in seiner Wohnung sich befand, schwur er sich selbst es zu, diese treuen Freunde, es komme wie es wolle, sich zu erhalten, sie nie wieder zu vernachlässigen, sich in diesem heitern bürgerlichen Stillleben zum Widerstande gegen jene Hoffnungsphantome zu erkräftigen, die, in Regenbogenfarben glänzenden Seifenblasen ähnlich, ihn wachend und im Traume umtanzten, und die ein [287] einziger Hauch vernichten konnte. Doch leider hielten solche Entschlüsse in Richards Seele nie Stand; mochte er noch so eifrig sich ermahnen, vernünftig zu sein, unwiderstehlich zog es ihn in jene Pracht, in welcher in all' ihrer äußern und innern Glorie Helena thronte, und die arme hülflose Vernunft immer tiefer und enger von dem goldnen Netze der Wahrscheinlichkeiten umstrickt wurde, das rings um ihn her sich erhob.

Den ganzen übrigen Tag suchte Richard vergeblich seinen Iwan auf; am Abend kehrte er zu seinen wieder neugewonnenen Freunden zurück, in der festen Überzeugung, ihn doch gewiß dort, im gewohnten, ihm so lieben Kreise anzutreffen; auch glaubte er wirklich beim Eintreten in das Zimmer ihn neben Julien in der entferntesten Ecke desselben zu erblicken, und eilte freudig auf ihn zu, fuhr aber erschrocken, wie beim unerwarteten Anblicke einer giftigen Schlange, gleich wieder zurück.

[288] Nicht Iwan war es, der entfernt von der übrigen Gesellschaft, in dem traulichen Eckdivan neben der Geliebten saß, der nur eben für zwei Personen Raum bot; Torsons verhaßte Züge starrten ihm entgegen, das Gesicht jenes Abenteurers, von dessen Identität mit dem grünbebrillten Baron vom Spieltische er noch immer fest überzeugt war. Da saß der Widerwärtige, traulich-dicht neben Julien, betrachtete sie mit süßlächelnder Protektions-Miene, und spielte mit den schlanken Fingern ihrer zarten Hand, an welchen juwelenreiche Ringe ihm entgegen blitzten, die Richard an dem jungen Mädchen nie zuvor gesehen. Im Ganzen war mit ihrem Äußern eine bedeutende Veränderung vorgegangen, die bürgerliche Einfachheit ihrer Tracht war verschwunden, sie war reich gekleidet, und mit einer Reihe sehr schöner Perlen um den Hals, diamantnen Ohrringen und einer schweren goldnen Kette geschmückt.

[289] So geputzt saß sie da, wie eine junge Braut, die halb verlegen, halb geschmeichelt, auf das angelegentliche Geflüster des ältlichen ungeliebten Mannes lächelnd horcht, der Rang und Reichthum ihr zu Füßen legt, um derentwillen sie die Forderungen des eignen jugendlichen Herzens zu ersticken bemüht ist.

Da hast Du ihn, den Wildfang! rief Lange, der leise herbei geschlichen war, und jetzt Richard dicht vor Julien hinschob; Strafe muß sein, aber verfahre gnädig mit ihm, denn er bereut und will sich bessern. Dann, als ob er sich plötzlich besönne, nahm der Kleine ein gewisses förmliches Wesen an, das ihm sonst nicht eigen war; Herr Torson, ein neugewonnener Freund unsres Hauses, Herr Richard Wood, den Herr Torson noch nicht bei uns gesehen; sprach er, die beiden Männer einander vorstellend.

Steif und stumm verbeugte Richard sich fast unmerklich.

[290] Ich wünschte mir früher schon das Vergnügen – erwiederte Torson sehr höflich, und streckte die Hand aus, um nach englischem Gebrauche Richards Hand zu schütteln; Richard reichte sie ihm nicht, er zog sie zurück. Julie und Lange sahen einander und ihn verlegen an, ein paar Secunden herrschte ängstliche Stille, bis Torson in überlautes Lachen ausbrach.

Bei meinem Leben! rief er und wischte sich die vor Lachen thränenden Augen, bei meinem Leben, mein Doppelgänger, um den ich schon so viel leiden mußte, der sogenannte grünbebrillte Baron fängt wieder an zu spuken. Wäre es möglich! auch ein Mann von dem ausgezeichneten Geiste des Herrn Wood kann in solchen Irrthum verfallen? Die Ähnlichkeit, die auch Sie bis zu einem solchen Grade täuschen kann, muß in der That sehr groß sein. Möchte es mir doch nur einmal in meinem Leben gelingen, der seltsamen Erscheinung gegenüber zu stehen, die überall [291] wo ich hinkomme sich gezeigt hat, und nur mir allein unsichtbar bleibt.

Die Erfüllung dieses Wunsches wird Ihnen schwerlich jemals werden können; sprach Richard ironisch lächelnd.

Das sehe ich nicht ein, erwiederte der gutmüthige Kapellmeister; ist er doch schon einmal in Petersburg gewesen; so viel ich weiß ist kein Grund vorhanden, der ihn verhindern könnte wiederzukommen. Auf dem Theater haben die Ähnlichkeiten mir Langeweile genug gemacht, aber wenn so ein Paar einander durchaus gleiche Menschen im wirklichen Leben vor mir stünden, das wäre doch eine Lust!

Nun wenn ich den vermaledeiten Popanz einmal wirklich antreffe, so möchte der Spaß nicht sehr lustig ausfallen, nahm Torson wieder das Wort; ich bin eben nicht streitsüchtig, aber Mord und Todtschlag wäre hier unvermeidlich. Ich schieße ihn nieder, um einmal Ruhe vor ihm [292] zu bekommen – oder vielleicht auch, er mich: setzte er hinzu.

Das möchte ich sehen, wenn solch ein paar Leute auf einander schießen wollten, von denen man gar nicht sagen kann, welcher welcher ist! rief Lange sich fröhlich die Hände reibend. Ich wette keiner von Ihnen hätte das Herz dazu, es müßte ihnen ja vorkommen als ob sie nach sich selbst zielten. Aber da schwatzen wir, und am Ende wäre die Ähnlichkeit doch nicht so täuschend, wenn man beide neben einander sähe. Was sagst Du dazu, Julie, Du hast ja auch den Baron gesehen?

Und bei meinem ersten Besuche hielt sie mich ja ebenfalls für denselben; sprach Torson.

Nur das allererstemal, der Unterschied fiel mir aber bald auf, erwiederte Julie. So viel Angst und Dämmerung an jenem Abende mich bemerken ließen, ist Herr Torson größer, auch jünger, sein Haar ist viel dunkler. Die größte [293] Verschiedenheit aber finde ich in der Sprache und im Tone der Stimmen; des Barons Stimme ist viel tiefer und rauher, er drückte sich mit großer Geläufigkeit in deutscher Sprache aus; Herr Torson spricht zwar auch deutsch, aber fremdartig, gezwungen, möchte ich sagen, als würde es ihm etwas schwer.

Das wird es auch: sprach Torson: es ist nicht meine Muttersprache, sondern eine erlernte, ich bin ein Norwege, wie Sie wissen. Übrigens mag der Empfehlungsbrief, der hier bei Herrn Lange mich einführte, Herrn Wood jeden Zweifel über meine Persönlichkeit benehmen, wenn er etwa dergleichen noch hegen sollte: setzte er, stolz sich in die Brust werfend, hinzu.

Richard beachtete dieses nicht, ein andrer Gegenstand nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Er sah Iwan Arm in Arm mit Lunin in das Zimmer treten, beide in überlustiger aufgeregter Stimmung, und es fehlte nicht viel, so hätte er [294] vor Schrecken laut aufgeschrieen; Lunin, der freche übermüthige sittenlose Geselle in diesem Hause! es war unbegreiflich.

Nun, endlich hast Du Dich doch wieder einmal hergefunden! flüsterte Iwan ihm zu, indem er ganz nahe an Richard vorüberstreifte, um zu Julien zu gelangen. Der Hausherr nahm Lunin sogleich mit großem Vergnügen in Empfang, und fing an allerlei lustige Possen mit ihm zu treiben, die andeuteten, daß er ein hier wohlbekannter, gerngesehener Gast sei, der sich schon etwas herausnehmen darf.

In fast ängstlicher Spannung suchte Richard Frau Karoline auf, um vielleicht von ihr einige Erklärung all' des Räthselhaften zu erhalten, das an diesem Abende ihm hier sich entgegendrängte. Doch Torson trat ihm in den Weg, ehe er zu ihr gelangen konnte, und bat höflich, aber dringend, auf ein paar Augenblicke in ein anstoßendes Kabinet mit ihm zu treten.

[295] Sie grollen mir, fing Torson und zwar in englischer Sprache an, als beide allein waren und er sich sorgfältig umgesehen, ob man sie nicht belausche; Sie grollen mir, Herr Wood, weil ich Ihrem eigenen Vorsatze zuvorkam, indem ich Ihren Freund unserm Bunde zuführte; aber Sie bedenken nicht, daß sowohl ich, als unsre Brüder, gerechte Ursache hätten, uns darüber zu beklagen, daß Sie selbst ein so würdiges Mitglied desselben uns zu lange vorenthielten.

Sollte der Rath der Alten über diese Säumniß mich zur Rechenschaft ziehen wollen, so werde ich ihm, aber keinem Andern der sich dessen erkühnen möchte, Rede stehen: war Richards kurze kalte Antwort.

Mir wenigstens wird dergleichen nie einfallen, sprach Torson sehr höflich. Was ich sagte, war nur eine etwas ungeschickte Einleitung zu dem, was ich Ihnen sagen wollte, die ich in der Verlegenheit ergriff.

[296] Verlegenheit und Torson! erwiederte Richard, spöttisch lächelnd.

Ich gestehe gern, daß ich eben nicht gewöhnt bin vor Männern verlegen zu stehen: antwortete Torson: aber ich leugne auch nicht, daß ich jetzt Ihnen gegenüber es bin; nicht, weil ich Sie fürchte, sondern weil ich gerade mit Ihnen gern in Frieden leben möchte, und doch weiß, welch ein ungegründetes Vorurtheil Sie gegen mich gefaßt haben. Ich will mir nicht anmaßen gleich einem Engel des Lichtes Ihnen zu erscheinen, aber Sie sollen auch nicht den schwarzen Dämon in mir sehen, der ich nicht bin, und für den Sie dennoch mich halten.

Desto besser für Sie, wenn Sie es nicht sind, und ich gratulire auf den Fall von Herzen: erwiederte Richard spöttisch lächelnd; aber jetzt bitte ich doch zum Zwecke zu kommen, meine Zeit ist gemessen, wie meine Geduld. Was verlangen [297] Sie von mir? denn etwas werden Sie doch verlangen.

Torsons Züge zuckten krampfhaft bewegt, er biß sich in die Lippen, seine immer unstäten Augen sprühten ein seltsam flackerndes Feuer; aber er fuhr sich schnell mit der Hand übers Gesicht, und stand im nächsten Augenblicke mit dem gewohnten stereotypen Ausdrucke seiner Miene wieder da.

Sie haben es errathen; ich habe zweierlei von Ihnen mir zu erbitten, was mir wichtig ist; sprach er, anscheinend ruhig. Zuerst daß Sie, bei näherer Bekanntschaft mit mir, die Sie, wie alles jetzt steht, doch schwerlich werden vermeiden können, daß Sie, sage ich, sich die Mühe nehmen wollen mich genauer zu beobachten, um das mir eben so ungünstige, als in sich ungerechte Vorurtheil gegen mich zu besiegen, oder doch zu berichtigen; und nächstdem, daß Sie in diesem Hause allen, ohne Ausnahme, verschweigen,[298] daß wir hier nicht zum erstenmal uns antrafen.

Herr Torson kann überzeugt sein, daß es mir nie und nirgends einfallen wird, mich seiner früheren oder späteren Bekanntschaft zu rühmen; erwiederte Richard, ziemlich wegwerfend. Sein ganzes Betragen hatte den Schein, als suche er Händel mit einem Menschen, von dem er selbst nicht wußte ob er ihn mehr hasse oder verachte.

Torson zuckte abermals, faßte sich aber schneller als zuvor. Erlauben Sie mir Ihnen bemerkbar zu machen, sprach er so gelassen als möglich, daß außer Ihnen, Ihrem Freunde Iwan, mir und Lunin, Niemand von dem glorreichen Unternehmen, zu welchem wir uns vereinigt haben, in diesem Kreise die kleinste Ahnung hat. Ich bitte, ich beschwöre Sie, es dabei bewenden zu lassen. Ohne meine Vergünstigung darf Lunin sich nicht regen, er ist ganz in meiner Gewalt; Iwan ist durch seinen Eid gefesselt, [299] den er treu halten wird. Ihm, dem im ersten Grade des Bundes Aufgenommenen, ist es nach unsern Statuten noch nicht erlaubt, neue Mitglieder für diesen zu werben. Von Ihnen und mir allein hängt es also ab, jede Kenntniß unsres großen Geheimnisses von unserm gemeinschaftlichen Freunde, dem Kapellmeister Lange fern zu halten. Lassen Sie uns wenigstens in diesem Punkte eines Sinnes sein, vereinigen Sie nur in diesem einzigen sich mit mir, den heitern Sinn, die beneidenswerthe Ruhe dieses zufriedenen, stets fröhlichen Gemüths nicht durch Dinge zu trüben, die – –

O gewiß, gewiß! fiel Richard eilig ein, und reichte ihm sogar in freudiger Vergessenheit die dem Verhaßten früher verweigerte Hand, welche dieser aber nur eben berührte, ohne sie zu fassen. Die gute freundliche Seele! was sollte die in unsrer geheimnißvollen Mitte! fuhr Richard fort: Nein, Lange darf nie in jenes zweideutige, dunkle, [300] unruhige Treiben gezogen werden; frei, offen, sorglos, muß er seinen harmlosen Gang durchs Leben gehen. Und möge er einst in Freuden ernten, wo wir in Dunkelheit säeten. Wenn es wirklich noch zu einer erfreulichen Ernte einst kommen sollte! setzte er fast unhörbar hinzu.

Torson erwiederte keine Sylbe, Richard schwieg ebenfalls. Dann nahm er wieder das Wort:

Ich will über ihn wachen, ich will mit aller Anstrengung zu verhindern suchen, daß kein Laut von dorther bis zu ihm durchdringe, das gelobe ich bei Allem, was mir heilig und werth ist, und fordre das Nämliche von Ihnen.

Torson versprach unbedingt, was er verlangte.

Sollte er jedoch, ohne daß ich es erführe, ohne daß ich es verhindern könnte, wider meinen Willen in jenen Bund gezogen werden, dann Torson, mächtiger Mann, der über Lunin und andre ähnlichen Gelichters unbeschränkte Gewalt zu üben sich rühmt, dann sind Sie, Sie allein [301] mir dafür verantwortlich; setzte er, plötzlich in lange unterdrücktem Zorne aufflammend, hinzu, und entfernte sich.


Gleich der guten Stunde erscheinen Sie; unerwartet, aber nicht unerwünscht, und sind deßhalb nur um so schöner willkommen: rief am folgenden Morgen Frau Karoline Richard entgegen, der, nach vielen mißlungenen Versuchen, am vorigen Abende es endlich aufgegeben hatte, zu einem ruhigen Gespräche mit ihr zu gelangen. Die Zeit hat mich in dergleichen Unterhandlungen ein wenig aus der Übung gebracht, fuhr sie im heitersten Humor fort; ich quälte mich so eben mit Ausdenken, wie ich es anfangen könnte, Sie ohne Vorwissen meines Eheherrn zu einem Stelldichein zu laden, und nun überheben Sie ganz von selbst mich der Mühe. Aber Moderation, Moderation, Falkenstein! Er liebt mich so [302] zärtlich, es rührt ihn der Schlag! trillerte sie lachend, in die Rolle der Tante imMatrimonio Secreto, eine ihrer liebsten, sich versetzend, während Richard ganz verlegen sie anstarrte.

Ungeachtet seiner innern Beklommenheit konnte aber auch er das Lachen nicht lassen; die bängste Sorge, um einen Freund – stotterte er endlich.

Das ist der Punkt, vom dem ich reden wollte: unterbrach Frau Karoline ihn, pathetisch tragirend, winkte ihm, sich traulich neben ihr nieder zu lassen, und fuhr dann, ganz ernsthaft, zu ihm zu sprechen fort:

Wir, ich und mein Mann nämlich, oder vielmehr mein Mann und ich, haben bis jetzt, in Hinsicht auf unsre Julie, in einem gewaltigen Irrthume gestanden, dem auch Sie, und durch Sie ihren Freund Iwan zu entreißen, mir Gewissenssache ist. Wir meinten das Mädchen sei die verwaisete Tochter eines Freundes, unseres [303] Bruders in Königsberg, deren er menschenfreundlich sich angenommen. Ihre Stellung in der Welt schien eben nicht zu großen Ansprüchen sie zu berechtigen. Ihr Vormund hatte seine Rechte auf uns übertragen, wir sahen deshalb Iwans Bewerbungen um ihre Gunst mit Zufriedenheit zu, und hatten auch nichts gegen die später aufflammende gegenseitige Neigung des jungen Paares. Lieben sie sich, was geht das uns an, dachten wir, mögen sie sich immerhin lieben: eine ächte Jugendliebe bewahrt vor weit schlimmern Thorheiten; dagegen aber ist ein junges unbeschäftigtes Herz, besonders ein Mädchenherz, das gefährlichste Ding von der Welt. Löset diese erste Jugendliebe sich später in Rauch und Nebel auf, je nun! sie sehen mir beide nicht darnach aus, als ob sie vor Herzweh' darüber sterben würden; und bewährt sie sich als eine ächte Liebe wie sie sein soll, so kann ja mit der Zeit auch eine Ehe wie sie sein soll daraus werden, [304] beide sind jung und können es abwarten. So philosophirten wir, und eben nicht unvernünftig, meine ich. Doch mit dem Allen ist es nun rein aus und vorbei, und unsere Weisheit ist zur Thorheit worden. Dieses, und manches Andere was noch darum und daran hängt, mußten Sie durch mich, und soll ihr Freund durch Sie erfahren, damit wir kein Unglück er leben; wie Sie es ihm beibringen wollen, sei Ihnen überlassen.

Julie ist Torsons Braut? rief Richard, aufflammend in heftigem Zorne.

Warum nicht gar! so weit sind wir noch lange nicht, war die sehr gelassene Antwort. Was, wer, wohin, woher sie ist, wissen weder ich, noch mein Kapellmeister, noch Julie, noch ihr Vormund in Königsberg, es ist damit wie mit der Höhe des Berges Sinai. Niemand weiß es als Torson, das übrige steht bei den Göttern, setzte sie singend hinzu, von neuem in theatralischen Muthwillen verfallend.

[305] O liebe gütige Frau! nur jetzt keine Räthsel, keine Scherze, sie peinigen mich furchtbar: flehte Richard.

Nun dann, also ganz plane, im Geschichtsstyle meiner Mutter Gans, erwiederte sie, sich zusammennehmend, und setzte wie eine Mährchenerzählerin ganz gravitätisch sich zurecht. Sechzehn Jahre mögen es her sein, als unsrem Bruder in Königsberg von unbekannter Hand ein kleines zweijähriges Mädchen ins Haus prakticirt wurde, mit ihr zugleich eine nicht ganz unbedeutende Summe Geld, der Abdruck eines wunderlich verschnörkelten Siegels, auf welchem kein Buchstabe sich entziffern ließ, und ein Brief, in welchem er gebeten wurde Vormundsstelle bei dem Kinde zu vertreten, es von dem Ertrage des Kapitals einfach bürgerlich zu erziehen, über die Art, wie es in sein Haus gekommen, gegen Jedermann, wie auch gegen das Mädchen selbst, das strengste Stillschweigen zu [306] beobachten, den Abdruck des Siegels wohl zu bewahren, und die Zeit abzuwarten, bis Jemand käme, der ein Schreiben von der nämlichen Hand, und den genau auf das Siegel passenden Siegelring ihm überbrächte. Was dann ferner mit dem Kinde geschehen solle, würde aus jenem zweiten Briefe sich ergeben. Unser Bruder hat, was von ihm gefordert wurde, so gewissenhaft erfüllt, daß selbst wir dieses alles erst jetzt von ihm erfahren haben.

Ungemein romantisch! rief Richard in bitterm Unmuthe; und Herr Torson sind wahrscheinlich der Überbringer des verhängnißvollen Siegelringes?

So ist's, mein Feldherr, erwiederte Frau Karoline nach gewohnter Art.

Und hat erklärt, daß er gekommen sei, Julien zu ihren Eltern abzuholen? fragte Richard.

Das noch nicht, das wollen wir abwarten; ist's erst gethan, wird's auch zur Sprache kommen; [307] war die Antwort der kleinen Frau, der es nun einmal unmöglich schien, lange über einen Gegenstand mit gebührendem Ernste zu sprechen.

Aus Verdruß darüber stampfte Richard ein klein wenig mit dem Fuße, bedachte sich aber gleich wieder eines Bessern; also Julie ist eine anonyme Prinzeß? fragte er wieder.

So gründlich anonym, daß sie selbst nicht weiß wer sie ist, noch wie sie heißt; erwiederte Frau Karoline.

Und dieser vermaledeite Torson ist ebenfalls solch ein anonymes Räthsel! rief, bleich vor Zorn und mit den Zähnen knirschend, Richard, der sich nicht mehr zu fassen im Stande war.

Moderation, Moderation, sonst nehme ich mir ein Herz und laufe davon; ermahnte seine Freundin.

Wie fing er es an, um in dieser anmaßenden Stellung in Ihrem Hause festen Fuß zu fassen? Was wissen Sie Bestimmtes, was glauben, [308] was halten Sie von ihm? Was steht in dem Empfehlungsbriefe, den er mitbrachte, und auf welchen er bei jeder Gelegenheit sich beruft? Aus Barmherzigkeit sagen Sie mir Alles! Um Juliens, um meines Freundes, um Ihrer selbst willen, verheimlichen Sie mir nichts, flehte Richard; der Elende betrügt Julien, meinen Freund, Sie, mich, uns Alle. Er ist, ich bleibe fest dabei, er ist der Spieler, der grünbebrillte, der Julien der Frau Marina überliefern wollte. Und wenn er mit tausend heiligen Eiden es abläugnet, ich setze mein Leben zum Pfande, es ist wie ich sage.

Eile mit Weile, Eile mit Weile, sagte der Imperator – können Ew. Wohlgeboren mir nicht sagen, welcher Imperator zuerst gesagt hat, Eile mit Weile? erwiederte die muthwillige Frau; aber sie wurde gewahr, in welchen furchtbaren Zustand Richard dar über versetzt wurde, und lenkte gleich sehr besonnen wieder ein.

[309] Ereifern Sie sich nicht über die alberne Thörin, sprach sie begütigend; sie ist nun einmal wie sie ist, aber sie meint es ehrlich und wird, Ihnen zu Gefallen, sich eines vernünftigen Ernstes befleißigen, wenn es gleich gegen ihre Natur geht. Also, pro primo, wie kam Torson in unser Haus? Unvermuthet und unerwartet, »wie aus himmlischen Höhen die Stunde des Glückes erscheint«; oder, wenn Ihnen das besser gefällt, wie eine Bombe durchs Fenster, die innerlich zischend und kochend eine Weile daliegt, bis sie platzt und Unheil und Verderben um sich verbreitet. Er brachte einen Brief von Juliens Vormund, der das wenige enthält, was ich von dem bisherigen Geschicke des jungen Mädchens Ihnen eben mitgetheilt habe, und uns meldet, Herr Torson, aus Drontheim, habe den bewußten Siegelring und das früher angekündigte Schreiben mitgebracht, das neben dem Ringe als Abgesandten der Personen, von denen Julie [310] abhängt, ihn genügend legitimirt; auch ihren bisherigen Vormund auffordert, diesem würdigen, vortrefflichen, seiner Tugenden und liebenswürdigen Eigenschaften wegen nicht genug zu empfehlenden Manne, alle seine Rechte auf seine bisherige Mündel abzutreten, wozu er denn auch, wenn gleich sehr ungern, sich verstanden hat, und uns nun bittet, seinem Beispiele zu folgen.

Und Sie werden es? Um der ewigen Barmherzigkeit willen, sagen Sie Nein!

Mein Kapellmeister, die gute, arglose, jeder Disharmonie feindliche Seele, ist immer nur allzu geneigt, fünfe für gerade gelten zu lassen, und ließe sich wohl mit dem Allen zufrieden stellen besonders da er noch keine Anstalten sich Juliens zu bemächtigen sieht. Daß aber ich auf eine solche anonyme Empfehlung aus der dritten Hand keinen besondern Werth legen werde, trauen Sie mir hoffentlich zu. Indessen, kommt Zeit, kommt Rath.

[311] Das ist nun einmal wieder solch ein Sprüchwort, das! – fuhr Richard auf, dessen Ungeduld jetzt den höchsten Grad erreicht hatte; die Zeit kommt gewiß, der Rath aber gewöhnlich erst hinterdrein, wenn die Zeit sich nicht mehr einholen läßt. Aber weiter, weiter, wie beträgt sich Torson gegen Julien, was scheint sie von ihm zu halten?

Zuerst blutwenig, beim ersten Auftreten mißfiel er ihr durchaus, aber der Mensch ist wahrscheinlich ein lappländischer Zauberer, denn mit rechten Dingen kann dergleichen nicht zugehen. Kaum daß er eine ziemlich lange Unterredung unter vier Augen mit ihr gehabt hatte, die er beinahe erzwingen mußte, so erschien sie mit einemmale wie umgewandelt. Sie hat nur Augen und Ohren für ihn, ist für ihn die personificirte Hingebung, hängt an seinen Blicken, duldet daß er ihre Hände küßt, ihr Wangen und Arme streichelt, nimmt Geschenke von ihm an, [312] putzt sich damit, nach seiner Anordnung. Gegen uns aber, besonders gegen mich, ist sie zurückhaltend, und doch dabei so gut und lieb. Will ich forschen, warnen, ermahnen, was ich doch wahrlich nicht ganz lassen kann, indem ihr Schicksal mir sehr am Herzen liegt, so fällt sie mir um den Hals, antwortet keine Sylbe, läßt schweigend alles über sich ergehen; aber in ihren guten treuen Augen liegt eine so rührende Bitte um Schonung – dem widerstehe, wer da kann, mir bricht das Herz dabei.

Und Iwan! Iwan! duldet er das alles?

Auch ihn hat der lappländische Hexenmeister umstrickt, er ist wie mit Blindheit geschlagen, war die Antwort; er ist der unerklärlichen Macht dieses Menschen dermaßen verfallen, daß er nichts sieht noch hört, als was jener ihn sehen und hören lassen will. Torson ist listig und fein genug, um in Iwans Verhältnisse zu Julien keinen sichtbaren Zwang eintreten zu lassen, und [313] das beruhigt diesen. Zwar ist er nie mit Julien allein, Torson steht immer als dritte Person zwischen den beiden, weiß sie aber so zu leiten, daß er nie störend erscheint.

Nirgends, nirgends ein Ausweg! ich fange an die ganze Gewalt des Zaubers zu begreifen, dem Iwan verfallen ist; es giebt Dinge, Verhältnisse, theure Freundin, die ich nie gegen Sie aussprechen darf, und eben deshalb sehe ich keine Hülfe! klagte Richard, und ging trostlos die Hände ringend, im Zimmer auf und ab.

Sie können viel, Sie können Alles, wollen Sie nur; jeder kann was er will, wenn er recht will; erwiederte Frau Karoline mit großem Ernste, der ihr seltsam genug stand, aber eben deshalb um so imposanter auf Richard wirkte. Für Julien sein Sie unbesorgt, die steht unter meiner Obhut, ich wache über sie; jener Elende soll sich ihrer nicht bemächtigen, und müßte ich selbst mich zu den Füßen unsers Kaisers werfen, um [314] seinen Schutz für sie aufzurufen. Sie aber sorgen für Ihren Freund; verlieren Sie ihn so wenig als möglich aus den Augen; bei seiner und Juliens großen Unbekanntschaft mit der Welt, sind beide ja nur als unmündige Kinder zu betrachten. Wenden Sie alles an, schonen Sie weder Geld noch Mühe, um deutliche, schlagende Beweise beizubringen, daß Torson nicht der ist, der er sein will, sondern vielmehr der, für den Sie, wie auch ich, aus gültigen Gründen ihn halten. Das Nothwendigste aber ist fürs erste, daß Sie den verblendeten Iwan den Schlingen Lunins entziehen, selbst mit Gewalt, wenn es sein müßte. Dieser gefährliche Taugenichts, wenn er nicht noch einen weit schlimmern Namen verdient, den Torson zu nur ihm bekannten Zwecken bei uns einführte, umwindet den Arglosen gleich einer Riesenschlange, und wird von ihm nicht ablassen, bis er jedes edlere Gefühl in seiner Seele erstickt hat. Julie und mein Kapellmeister [315] sehen zwar nur einen harmlosen, mitunter etwas plumpen Spaßmacher in ihm, der sie amüsirt; mir aber grauset's dabei; wenn er seine lustigsten Scherze treibt, grinset eine Teufelsfratze aus seinen Augen mich an, und das Kainszeichen glüht hell und deutlich auf seiner Stirne.

Das Gespräch ging auf diese Weise endlich in gelassenere Berathung über, die aber leider zu keinem bestimmten Resultate führen konnte. Die kluge, welterfahrne Frau ermahnte beiher ihren jungen Freund, ihrem eignen Beispiele zu folgen, in seinem Betragen gegen Torson sich einiger Mäßigung zu befleißigen, und Haß, Argwohn, Verachtung tief in das Innerste seiner Brust zurück zu drängen, um, indem er sich selbst für getäuscht hingab, den schlauen Betrüger wo möglich selbst zu täuschen, oder doch wenigstens die immer rege Aufmerksamkeit desselben von sich abzulenken.

Ich fühle, setzte sie hinzu, daß ich Ihnen [316] etwas zumuthe, was Ihrer offenen, jeder Unwahrheit abholden Natur, durchaus entgegen sein muß, aber wie soll man anders sich helfen? so ganz rein und unbefleckt kommt nun einmal keiner durch dieses Erdenleben, im Umgange mit schlechten Menschen verliert man immer selbst an eigenem Werthe, und wie wäre es möglich dem ganz zu entgehen? Übrigens sehe ich auch darin kein so schreiendes Unrecht, wenn man Leute, die uns übel wollen, mit den nämlichen Waffen bekämpft, die sie gegen uns in Anwendung bringen möchten.

Der Kapellmeister, und, wie zu erwarten stand, Torson mit ihm, stellten jetzt sich ein. Zum erstenmale sah Richard diesen ganz in der Nähe, bei hellem Tageslichte, und meinte deutliche Spuren der unendlichen Sorgfalt zu entdecken, mit welcher vermittelst Anwendung von allerlei Toilettenkünsten er sich bemüht hatte, sein Äußeres durchaus zu verändern. Richard war indessen [317] der eben erhaltenen Ermahnungen noch zu eingedenk, um nicht sein früheres abstoßendes Betragen gegen Torson in gleichgültige Höflichkeit umzuwandeln, und es mißlang ihm nicht. Torson, dem nichts so leicht entging, wurde zwar anfangs darüber etwas stutzig; fein und listig suchte er den Grund dieser Veränderung zu entdecken, aber auch Richard war auf seiner Hut. Ein Wink seiner Freundin munterte ihn auf, die einmal übernommene Rolle durchzuspielen, und er spielte sie gut, ohne Übertreibung.

Richard nahm sogar seinen Hut, um, da beider Weg nach Hause eine ziemliche Strecke lang der nämliche war, Torson zu begleiten, als dieser Abschied nahm. Beide gingen schnell neben einander her, sie sprachen wenig unterweges, bis sie der Stelle sich näherten, wo ihr Weg sich trennte; Torson fing jetzt an langsamer zu gehen, Richard hielt mit ihm gleichen Schritt.

Suchen Sie nur nicht es mir zu verheimlichen, [318] Ihren heutigen Besuch hat Madame Lange mir, und einzig mir zu verdanken, fing Torson plötzlich an; und nur von mir allein ist zwischen Ihnen beiden die Rede gewesen; ich sah noch meinen Namen auf Ihren Lippen schweben, als ich ins Zimmer trat. Ich freue mich darüber, da der Erfolg dieser Unterredung mir, wie es scheint, die Erfüllung des Wunsches verspricht, Sie in Zukunft wenigstens nicht feindlich mir gegenüber stehen zu sehen.

Sie werden sich erinnern, Herr Torson, erwiederte Richard, daß Sie selbst mich aufforderten, bei unsern Freunden – –

Torson unterbrach ihn schnell: Keine Entschuldigung, wo es deren durchaus nicht bedarf, sprach er freundlich und bot ihm die Hand, welche diesmal auch nicht zurück gewiesen wurde; unsre Freundin hat, wie ich sehe, Ihre Meinung von mir ein wenig berichtiget, ein wenig gemildert; und das verdanke ich ihr von Herzen, [319] nicht nur für mich, auch für Sie, denn auch Sie gewinnen dadurch. Das Übrige, was sonst noch wünschenswerth wäre, überlassen wir indessen der Zeit.

Beide gingen nun eine Weile wieder schweigend neben einander her, bis an den Scheidepunkt; hier stand Torson still und faßte abermals Richards Hand.

Sie sind mein Freund nicht, und werden niemals es werden; aber es wird ein Tag kommen, an welchem ich dennoch in einem andern Lichte vor Ihnen stehen werde, als eben jetzt; sprach er mit eindringendem Ernste. Fleckenlos kann ich niemals, weder vor Gott, noch vor Ihnen, noch vor mir selbst erscheinen; nicht etwa daß ich dieses im Sinne des allgemeinen Bekenntnisses der Christen sage, als: wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms! Nein, Schwereres lastet auf mir; das Schicksal hat auf weit dunkleren Wegen, als tausend Andre [320] mich geführt, und es giebt Punkte in meinem Leben, von denen ich gern auf ewig mich abwenden möchte. Nur Eines, ein Einziges wird mir dereinst Ihre Achtung und zugleich Ihr tiefstes Mitleid erwerben, dessen bin ich gewiß, und gerade das, was mich Ihren Augen jetzt am verdammlichsten zeigt; vergessen Sie diese meine Worte nicht, und beurtheilen Sie mich milder. Man erzählt, daß eine ganze sündige lastervolle Stadt um eines einzigen Gerechten willen, der in ihr wohnte, verschont ward; sollten gute, tugendhafte Menschen, wie Sie einer sind, die ein günstiger Zufall der Gefahr eines tiefen Sturzes nie aussetzte, diesem Beispiele nicht folgen, und um eines einzigen, wahrhaft edlen, lobenswerthen Gefühls willen, das selbst mit bedeutender Aufopferung zu einer guten That ihn bewegt, den übrigens tief Gesunkenen nicht schonen wollen? sich nicht hüten, mit unbarmherziger Hand [321] ihn noch tiefer hinabzustoßen, bis jedes Sichwiedererheben ihm unmöglich wird?

Torsons Stimme hatte zuletzt einen ganz eigenen, fast zitternd bewegten Ton angenommen, seine Haltung schien verändert, sein Auge sich zu umdunkeln. Er wandte sich ab, drückte den Hut tiefer in die Stirne, und schritt eilends davon.

Richard stand nachsinnend eine Weile da. Komödiant! murmelte er endlich, und warf mit verachtendem Lächeln den Kopf auf.


Unser Vornehmen ist meistens löblich, aber gelähmt durch mancherlei unvorhergesehene Hindernisse, hinkt leider nur zu oft die Ausführung desselben hinterdrein, und kommt darüber gar nicht zu Stande. Schwache, zur Trägheit hinneigende Naturen pflegen in der ihnen angebornen Gelassenheit sich dann damit zu trösten, daß [322] sie das Beste gewollt, nur daß man unglücklicher Weise nicht immer kann was man will. Feurige Gemüther möchten über alles, was ihnen bei ihrem Vorhaben in den Weg tritt, vor Ungeduld außer sich kommen, arbeiten nutzlos bis zur Ermüdung sich ab, wollen erzwingen was sich nicht erzwingen läßt, gerathen darüber in Hader, Zorn und Mißmuth mit der Welt und mit sich selbst, bis sie endlich aus Überdruß alles lassen wie es ist.

In Richards Thun lag etwas von Beiden. Er nahm sich anfangs vor sehr umsichtig zu Werke zu gehen, besonders gegen Torson. Leise auftretend verfolgte er diesen Schritt für Schritt, hatte überall ein aufmerksames Auge, horchte überall hin, um die Kreuz- und Querschliche seines Feindes ausfindig zu machen. Gehüllt in einen unscheinbaren Überrock, um seine Uniform dadurch zu verdecken, suchte er jene Spielhäuser auf, in welchen er früher den Grünbebrillten angetroffen; [323] doch die Bewohner solcher Orte sind wandelbar, wie das Glück, dessen Priester sie sind. Er fand überall lauter neue Gesichter; von dem, welchen er suchte, wollte keine Seele jemals etwas gesehen oder gehört haben.

Er würde es sogar nicht gescheut haben sich zur Frau Marina zu begeben, um von dieser, durch was für Mittel es immer sei, etwas herauszubringen; aber seit Juliens Zusammentreffen mit ihr, war die gefällige Dame mit ihrem ganzen Institute aus ihrer Wohnung verschwunden, und nie wieder in Petersburg gesehen worden.

Somit war denn jede Spur erloschen, welche die Vergangenheit ihm bieten konnte; Richard hätte darüber mit dem Kopfe gegen die Wand laufen mögen, wie man im gemeinen Leben zu sagen pflegt. Er wandte, unter einem wohl ersonnenen Vorwande, um Nachricht von Torson sich an die Polizei; sie wußte nichts ihm zu sagen, als daß schon vor längerer Zeit[324] ein Norwege Namens Torson, aus Königsberg in Preußen nach Petersburg gekommen sei, wohl versehen mit Pässen, gegen welche sich nichts einwenden ließ; daß er ein durchaus nicht verdächtiges ruhiges Leben hier führe, seinen Wirth und alle Welt ordentlich bezahle, und folglich als eine ganz achtungswerthe, durchaus unverdächtige Person zu betrachten sei.

Mit nicht glücklicherem Erfolge erkundigte sich Richard nach ihm im Postbüreau. Torson erhielt nie Briefe, wenigstens kamen keine unter seiner Adresse an ihn an.

In einer Art wilder Verzweiflung, ließ Richard sich sogar zu einem Schritte herab, den er selbst verächtlich fand, und dessen er vor sich selbst sich schämen mußte; er machte sich an Torsons Diener, den einzigen den dieser hielt, um von diesem etwas zu erforschen.

Der Mensch war ein Stock-Russe, tief aus dem Innern des Landes, und war gleich bei seiner [325] Ankunft in seinen jetzigen Dienst gekommen. Von seinem Herrn wußte er nichts zu sagen, als daß er guten Sold, viel Schnaps und blutwenig Prügel von ihm erhalte, sogar nach Herzenswunsch alle Talglichter getrost verspeisen könne, welche eigentlich dienen sollten, Treppe und Vorsaal zu erleuchten, ohne daß ihm darüber nur ein zorniges Gesicht gemacht würde. Übrigens, wenn er Morgens seinen Herrn an- und Abends wieder ausgekleidet habe, hätte er den ganzen Tag über nichts zu thun als zu essen, sich zu betrinken, den Rausch wieder auszuschlafen, und führe daher bei seinem Gebieter ein Leben, wie die Engel im Himmel. Richard stampfte mit dem Fuße, aber was half ihm das?


Richards Unmuth, über dieses völlige Mißlingen aller seiner Pläne in Hinsicht auf Torson, war gränzenlos, aber das Benehmen seines noch [326] immer geliebten Freundes, den er obendrein von heimlichen Gefahren umringt sich dachte, traf ihn noch schmerzlicher. Iwans Vertrauen wieder zu gewinnen schien unmöglich, soviel er auch sich darum bemühte; denn Iwan hatte nicht sowohl sich von ihm abgewendet, als vielmehr sich von ihm abgewöhnt. Er fühlte nicht mehr das Bedürfniß, Abends dem Freunde alles mitzutheilen, was er den Tag über erlebt, vollbracht, ja sogar was er gedacht, weil Richard mehrere Monate hindurch sich hatte vermissen lassen, gerade in den Stunden, die er sonst täglich mit ihm zuzubringen pflegte.

Der Mensch ist ein Sklave der Gewohnheit, besonders der weniger gebildete; es wurde dem schlauen Lunin ungemein leicht, die in Iwans Herzen wie in seiner Lebensweise aus Richards Abwesenheit entstehende Leere, welche durch das kränkende Gefühl der Vernachlässigung nur noch fühlbarer wurde, nach Gefallen zu benutzen. Neue [327] Bekanntschaften mußten die Lücke ausfüllen, Zerstreuungen, Lustparthien ihn betäuben helfen, bis er keiner einzigen seiner freien Stunden mehr Herr war. Durch Vermittelung seiner neuen Freunde war er abermals in einen Strudel geselliger Freuden gerathen, von denen manche der Art waren, daß er weder vor Julien noch vor Richard sich ihrer hätte rühmen mögen. Auch bewog Lunin durch allerlei Neckereien ihn sehr bald, seinem alten Freunde absichtlich aus dem Wege zu gehen, um den überlästigen Ermahnungen und Strafpredigten des überweisen Herrn Hofmeisters, wie Lunin ihn nannte, auszuweichen; besonders war dies der Fall, wenn Iwan kein ganz reines Gewissen hatte, und der kam leider nur zu oft.

Und so blieb denn Richards treues Bemühen, sich dem irre geführten Freunde wieder zu nähern, ebenfalls ohne Erfolg; nicht nur, daß ihm jeder Versuch, Iwan über Lunins Unwerth [328] die Augen zu öffnen, mißlang, Iwan gerieth jedesmal darüber in kaum zu bändigenden Zorn; und es bedurfte wirklich all' der alten Liebe, die Richard noch in seinem Herzen zu ihm trug, all' des Mitleids, welches diese eben so unbegreifliche als gefährliche Verblendung in ihm erregte, um dabei in leidlicher Fassung zu bleiben, und durch schwer zu erringende Mäßigung einen nie zu heilenden Bruch abzuwenden, der für beide nur höchst verderblich ausfallen konnte.

Iwans Gefühl für Torson schien von dem, was er für Lunin empfand sehr verschieden, es glich mehr scheuer Verehrung als inniger Liebe. Jede Äusserung zum Nachtheil desselben, jedes ihn tadelnde Wort, nahm er als eine ihm selbst widerfahrne Beleidigung auf, und vertheidigte ihn nach besten Kräften mit Gründen oder mit Heftigkeit und Drohungen, wie es eben gehen wollte. Andeutung, oder Anspielungen auf jene oft besprochne Ähnlichkeit, die er nur in sehr geringem [329] Grade zugab, duldete er durchaus nicht; dagegen wurde jedes Wort des hochverehrten Mannes gleich einem weisen, keinem Zweifel unterworfnen Orakelspruche aufgenommen, und wehe dem, der etwas dagegen einzuwenden wagte.

Richard wußte sich endlich nicht anders zu rathen, als daß er auf Torsons sehr vertrautes Betragen gegen Julien ihn aufmerksam machte, auf die reichen Geschenke, welche diese ohne Weigerung von dem fremden Manne annahm, Iwan brach darüber in helles Lachen aus.

Warum, sprach er, sollte sie diese theuern Flitter, die ihr Freude machen und die ich ihr nicht kaufen kann, nicht annehmen? sie werden mit dem größten Vergnügen ihr geboten, und sie braucht nur die Hand darnach auszustrecken, ohne sich dadurch irgend eine Verbindlichkeit aufzuladen. Hast Du denn nicht das nämliche gethan? weißt Du noch an jenem Abende, dem ersten in der Kaserne, wo ich von lauter solchen[330] Kostbarkeiten Dich umringt fand? Und was den vertraulichen Ton betrifft, der Dir so sehr an ihm mißfällt! soll man denn immer aus dem Komplimentirbuche sprechen? ich gestehe es Dir, ich bin des faden geschnörkelten Wesens müde, es thut mir im Herzen wohl, wenn ich einmal ein gerades, aus offner Brust gesprochnes Wort zu hören bekomme. Auf Julie verlaß ich mich, sie ist rein und treu wie Gold; Torfon kommt neben ihr mir vor, wie so ein Onkel aus Mexiko oder Lissabon oder Jamaika, was weiß ich, den wir letzthin auf dem Theater spielen sahen. Gönne doch den beiden ihr unschuldiges Vergnügen an einander! wenn ich es zufrieden bin, was geht es Dich weiter an? Und ich bitte Dich um Gotteswillen, mache Dich nur nicht lächerlich, indem Du mich eifersüchtig machen willst; ich eifersüchtig auf den alten Herrn! trüge ich nur die kleinste Anlage zur Eifersucht in mir, so gäbe es doch noch ganz andere Leute, die zu [331] dieser Albernheit mich bewegen könnten, und das ganz in der Nähe – Du selbst zum Exempel, mein überweiser Freund.


Seit längerer, oder vielmehr seit langer Zeit, hatte keine Versammlung des Bundes Statt gehabt; die Gemüther waren für des Obrist Pestels sonst so mächtigen Einfluß durch nicht ganz erfreuliche Nachrichten etwas weniger empfänglich geworden; denn keiner seiner, als unfehlbar von ihm angekündigten Versuche, aus den in Moskau und andern Theilen des russischen Reichs bestehenden Vereinen zum Wohl des Vaterlandes mit dem Petersburger Bunde der ächten Kinder desselben ein Ganzes bilden zu wollen, war ihm gelungen. Niemand wollte zu jener blinden Unterwerfung unter den Willen des Rathes der Alten sich verstehen, dessen Oberhaupt Pestel, als Präsident desselben, eigentlich [332] war, weil dieser unbedingte Gehorsam zu den gräßlichsten Verbrechen führen konnte.

Der Vorsatz, mit großer Mäßigung und vieler Umsicht zu verfahren, sprach von allen Seiten sich aus. Man wünschte durch Lehre und Beispiel das Volk auf die Verbesserung seiner bürgerlichen Zustände allmälig vorzubereiten, die allgemeine Verbreitung nützlicher Kenntnisse herbeizuführen, die Sitten zu verbessern, und auf Vernichtung alter, tief eingewurzelter Volksvorurtheile hinzuarbeiten.

In diesem Sinne auf die Nation zu wirken, wurde von den edleren und mächtigeren Mitgliedern jener Vereine für allein wünschenswerth erklärt; sie waren bereit, mit aller Kraft zur Erhöhung des allgemeinen Wohlstandes beizutragen, nur mußte jede Gewaltthat vermieden werden; und von einem Eide, der zu willenlosen Werkzeugen sie herabwürdigen sollte, wandten alle mit Entsetzen und Widerwillen sich ab.

[333] Innerlich ergrimmt über diese seinen noch tief verborgenen Plänen entgegentretenden Hindernisse, besaß Pestel, ungeachtet seiner schwererrungenen Selbstbeherrschung, doch nicht immer Kraft genug, um das Gefühl das in ihm tobte ganz zu unterdrücken, wenn er, was wiederholt der Fall war, von dem schlechten Erfolge seiner Unterhandlungen Bericht ablegen mußte.

Die Verblendeten! rief er einst, unwillkürlich von Zorn hingerissen, in einer Versammlung des engsten Ausschusses, in welcher keines der jüngern Mitglieder, folglich weder Richard noch die beiden Söhne des Fürsten Andreas gegenwärtig waren: Die Verblendeten! die Thoren! die nicht sehen, nicht ahnen, daß mit schonendem, einen jeden mit erläuternden Gründen dessen was von ihm gefordert wird bedienendem Geschwätze, hier nichts gethan werden kann. Sie begreifen nicht, daß gerade der Weg den sie einschlagen möchten, zum Gräuel aller Gräuel nothwendig [334] führen muß, zur wildesten Anarchie eines kaum zur Hälfte kultivirten Volkes, wo keiner gehorchen, alle befehlen wollen, bis darüber alles zu Grunde geht, und die Trümmer über Kluge und Narren zu sammen schlagen.

Nein, meine Brüder, Krebsschäden lassen nicht mit Rosenwasser sich heilen; Gehorsam, blinder Gehorsam der rohen Menge, unbekannten Obern und unbekannten Gesetzen auf Tod und Leben gewidmet, ist die einzige solide Basis, auf welche der Grundstein zum Bau allgemeinen Wohls und allgemeiner Freiheit sicher und dauernd gelegt werden kann, müßte selbst einiges Blut dabei als Mörtel dienen. Ist dieses einmal vollbracht, dann ist es an den kundigen Meistern, den Bau im hellen Sonnenlichte weiter zu fördern, ihn zu vollenden, so groß, so strahlend, so herrlich, als menschlicher Sinn und menschliche Kraft es vermögen.

Wie dieser Gehorsam zu erzwingen sei, da [335] er, wie es scheint, in Güte uns nicht werden soll, dem sei von heute an unser angestrengtestes Nachdenken geweiht; jeder von uns möge, bei unsrer nächsten Zusammenkunft, das Resultat seines ernsten Überlegens den Andern zur Berathung darüber mittheilen.

Nur auf eines erlaube ich mir, die Versammlung aufmerksam zu machen. In unsrer nächsten Nähe, in den Reihen unsrer Brüder steht Einer, von der Natur mit Allem ausgerüstet, um uns für diesen Zweck als tüchtigstes Werkzeug zu dienen, und alles niederzuwerfen, was sich uns entgegen stellen möchte. Mit riesengleicher körperlicher Stärke, geistig mit eisernem Willen, mit dem furchtlosesten Muthe, mit einer Brust ohne Erbarmen, sobald es unsrem Bunde gilt, der ihm alles ist, Gott, Religion und Gesetz; mit einem Worte ein Mann, dem außer dem Bunde nichts heilig ist, der das Wort Berücksichtigung nicht kennt, den kein Band an das [336] bürgerliche Leben fesselt, kein Vater, keine Mutter, weder Geschwister noch Verwandte, weder ein Freund noch eine Geliebte. Isolirt wie er, steht und stand vielleicht noch nie einer in der Welt.

Leute die ihn kennen, nennen ihn einen ruchlosen Abenteurer, ich möchte sagen er sei mehr, er sei der inkarnirte Teufel in Person, aber das hindert nichts; uns ist er treu, und wenn die Noth gebietet, darf man wohl die Hülfe böser Dämonen benutzen, sobald man nur der rechten Zauberformel gewiß ist, sie im gehörigen Augenblicke wieder fest zu bannen.

Der den ich meine ist Lunin, der uns allen wohlbekannte. Er hat schon einige ihm ähnliche junge Leute, von denen aber keiner mit ihm auf gleicher Höhe steht, an sich gezogen; andre stehen in der Nähe wie in der Ferne bereit, auf einen Wink von ihm herbei zu eilen, roh, leidenschaftlich, zügellos, voll der ausgesprochensten [337] Lebensverachtung, wie er selbst. Im Nu kann er deren einige Hundert um sich versammeln, die er erbötig ist, unter dem Namen einer verlornen Kohorte, sich selbst an der Spitze, zu unsrer Disposition zu stellen. Kommt nun der große Tag, lassen wir diese Würgengel los, um – –

Ein überlauter allgemeiner Schrei des Entsetzens, des empörtesten. Widerwillens, unterbrach den Redner, und ließ ihn nicht wieder zum Worte kommen; ein Fall, den er noch nie erlebt hatte. Er selbst mochte wohl fühlen, daß er zu weit gegangen sei, daß er von Unmuth und heimlichem Zürnen sich habe verleiten lassen, der ihm sonst eignen Vorsicht zu vergessen und seine Karten aufzudecken, ehe das Spiel gewonnen war. Er wollte wieder einlenken, mildern, erläutern, doch seine Stimme konnte durch das allgemeine aufgebrachte Tosen nicht durchdringen. Eigentlich wurde keine einzelne recht vernehmbar; [338] gleich den empörten Meereswogen stürmten alle durch einander, und nur in Geberden, Blicken und lautem unverständlichem Geschrei sprach das allgemeine Mißfallen sich aus.

Lange währte es, bevor es den Gemäßigsten und Angesehensten gelang, die empörten Gemüther durch ernstes Zureden in sofern zu beschwichtigen, daß sie wieder zu einiger Besinnung gelangten, und die Versammlung ohne förmlichen Bruch auseinander ging. Obrist Pestel aber hütete sich weislich dafür, sie so bald wieder zusammen zu berufen, und überließ es inzwischen der Zeit, den üblen Eindruck, den sein letzter Vortrag hinterlassen hatte, wieder zu verlöschen.


Richard war durch Dienstgeschäfte zu einer kleinen Reise veranlaßt worden, die einige Tage länger, als er es erwartet hatte, von Petersburg ihn entfernt hielt. Er war die ganze Zeit [339] über ohne Nachricht von dort her geblieben, und hatte bei seiner Rückkehr sich eben voll ungeduldiger Erwartung aus dem Sattel geschwungen, als eine dringende Aufforderung, noch am Abende des nämlichen Tages in der Bundesversammlung unfehlbar zu erscheinen, ihn bis zum Erschrecken überraschte. Seit vielen, vielen Monaten war, wie eben erwähnt worden ist, von keiner solchen die Rede gewesen, und das Ungewohnte derselben mochte die wunderliche Angst, das unheilwitternde Grausen erregen, das schaudernd durch Mark und Gebein ihm dabei fuhr, und sich weder weglachen, noch wegdemonstriren lassen wollte. Er schämte sich dessen nicht wenig, aber das Herz wurde ihm deshalb um nichts leichter.

Seine Unruhe trieb ihn zum Grafen Stephan, um bei diesem Schutz gegen sich selbst zu suchen, und auch vielleicht etwas Bestimmtes über die Veranlassung zu dem Aufrufe, der ihn so beunruhigte, [340] zu erfahren; er fand ihn nicht daheim, und auch die Gräfin konnte seinen Besuch nicht annehmen, weil zwei ihrer Kinder plötzlich und heftig erkrankt waren.

Er eilte zum Fürsten Konstantin, dessen Palast ganz in der Nähe lag; der Fürst war eben ausgefahren.

Nicht anders ging es ihm beim Fürsten Andreas; er fand weder diesen noch einen seiner beiden Söhne. Richards innere Beklommenheit steigerte sich furchtbar; er wollte als rein körperlich, als Vorgefühl einer herannahenden schweren Krankheit sie sich erklären, denn er wußte nicht mehr woran er mit sich selbst war; aber er fühlte sich vollkommen gesund, ohne die kleinste Spur eines Übelbefindens.

Ist der Fall denn etwas so ganz Unerhörtes, daß man zur allgemein üblichen Visitenstunde keinen zu Hause antrifft, weil alle auf verschiedenen Wegen zerstreut sind, um diese lästige Gesellschaftspflicht [341] zu erfüllen? fragte er sich selbst; ist es nicht mir und jedem, der in der Gesellschaft lebt, schon unzählige Male begegnet, warum muß es denn gerade heute so sehr mir auffallen?

Fast beschämt, beim Wiedersehen nach tagelanger Abwesenheit in dieser unverantwortlich trüben Stimmung zu erscheinen, konnte Richard es sich doch nicht versagen, Trost und Ermuthigung dort zu suchen, wo er sicher sein konnte, beides zu finden. Helena war bei ihrer Mutter in einer kleinen Gesellschaft, die sich zum Frühstück dort versammelt hatte. Richard erhielt sogleich Zutritt, sobald sein Name genannt wurde, Eudoxia empfing ihn mit gewohnter Huld und Freundlichkeit; die größtentheils aus Damen bestehende Gesellschaft folgte ihrem Beispiele, und Helenas lächelnder Gruß drang wie ein erwärmender Sonnenstrahl in sein getrübtes Gemüth.

Das durch Richards Ankunft unterbrochene [342] allgemeine Gespräch wurde wieder angeknüpft, das neueste Stück im Theater, die gestrige Assemblée, die heutige Tagesgeschichte wurden lebhaft vorgetragen, besprochen, belacht; Scherz, Lust, Zufriedenheit leuchteten aus allen diesen muntern Augen.

Warum hängt denn Diesen der Himmel so voll Geigen, und über mir allein so schwer und dunkel herab? doch wohl nur, weil ich ein hypochondrischer Thor bin! dachte Richard, und strebte nach einem ihn aufrichtenden Blicke von Helenen.

Ihr Auge begegnete dem Seinen, doch ach! der bei seinem unerwarteten Erscheinen es belebende Glanz war erloschen, ein unverkennbarer Ausdruck von Niedergeschlagenheit und bangem Besorgtsein hatte ihn verdrängt, so viel Mühe sie sich auch geben mochte, dies der Gesellschaft zu verbergen.

Sie weiß! sie weiß, wovon die Andern noch [343] nichts wissen! rief es in Richards vorahnendem Gemüthe. Er wollte in ihre Nähe gelangen, aber auch nur zwei Worte in dieser Umgebung ihr unbelauscht zuzuflüstern, war unmöglich.

Die Gesellschaft erhob sich, die Wagen fuhren vor; jetzt endlich, jetzt! jubelte Richard innerlich; aber sie Alle waren zusammen gekommen, um nach dem Frühstück gemeinschaftlich in das Konzert eines berühmten Violinisten sich zu begeben, welches für die späteren Vormittagsstunden der vornehmen Welt angekündigt worden war, und Richard wurde von der Fürstin Eudoxia eingeladen, sie zu begleiten. Er mußte den Vorsatz aufgeben, den Kapellmeister Lange zu besuchen, um vielleicht in dessen Hause etwas zu erfahren. Er hoffte im Konzert ihn anzutreffen, aber auch dort, wo er und die Seinen nie zu fehlen gewohnt waren, suchte er zu seiner großen Verwunderung ihn vergebens; selbst Torson und Julie waren nicht zugegen, [344] was seine immer steigende Besorgniß noch vermehrte.

Der ganze Tag blieb übrigens für ihn einer von jenen nicht genug zu verwünschenden, an welchen man durch tausend unbedeutende Zufälligkeiten abgehalten wird zu thun, was man möchte, und zu dem was man nicht will, sich gezwungen sieht; bis endlich die Stunde schlug, welche in die Versammlung ihn rief.


Bis zur letzten Stunde von dem ihn neckenden Mißgeschicke des heutigen Tages verfolgt und aufgehalten, war Richard der zuletzt dort Ankommende; gleich hinter ihm wurde die Thüre, und zwar diesmal mit ungewöhnlicher Sorgfalt geschlossen.

Obrist Pestel schien nur seine Ankunft abgewartet zu haben; denn, sobald Richard seinen gewohnten Platz eingenommen, bereitete er sich, [345] die Sitzung, wie er immer zu thun pflegte, mit einer Anrede an die Versammlung zu eröffnen, die diesesmal ungewöhnlich zahlreich, und, mit nicht zu verkennender Auswahl, aus allen drei Graden der Verbündeten zusammen gesetzt war. Richards Blicke irrten forschend umher; die ernsten Gesichter der Mehrzahl trugen nur den Ausdruck gespanntester Erwartung; Fürst Andreas und die zu ihm sich hielten, blickten schweigend vor sich hin, ohne in Haltung und Miene das Geringste von dem, was in ihnen vorgehen mochte, zu verrathen. Mit wild funkelnden Augen, rohen Trotz in den leidenschaftlich verzerrten Zügen, stand seitwärts eine etwas abgesonderte Gruppe junger Männer um Lunin versammelt, von der Richard mit Widerwillen sich abwandte, herzlich froh seinen Iwan nicht unter diesen zu erblicken. Sein Auge suchte den Grafen Stephan, und fand ihn bald an seinem gewohnten Platze; regungslos, in sich selbst versunken, [346] mit tief gebeugtem Haupte saß er da, ein Schmerzensbild.

Feierlich-langsam, mit tiefer gemäßigter Stimme begann Obrist Pestel jetzt seine Rede; sie klang wie Trauergeläute, das dem Leichenzuge des Glückes eines ganzen Hauses vorangeht, alle die es hören auf ein großes Unheil vorbereitend, das im Begriffe zerschmetternd auf sie zu stürzen, in diesem Augenblicke noch über ihrem Haupte hängt. Dann zog der Redner ein Papier hervor, entfaltete es mit vieler Feierlichkeit, um es vorzulesen; es war ein Brief von einem eben abwesenden Mitgliede des Bundes, einem der angesehensten und eifrigsten, das sogar zu den ersten Stiftern desselben gehörte. Das Schreiben war an den Grafen Stephan gerichtet und Pestel mitgetheilt worden.

Ein banges Aufstöhnen, gleich dem eines unter Qualen Verscheidenden, zitterte durch das allgemeine Schweigen; es rang aus Stephans [347] Brust sich los, immer tiefer und tiefer sank sein vorhin schon gebeugtes Haupt fast bis auf seine Kniee herab; seine Hände falteten sich konvulsivisch über demselben, und verbargen völlig sein Angesicht. Richard hatte keinen Athem mehr; kein Laut rings umher, nur das Picken der Taschenuhren, und die Stimme des Vorlesers waren zu hören.

Der Kaiser, so verkündete jener Brief, der Kaiser, wie man aus sichrer Hand weiß, hat beschlossen, alle eroberten Provinzen Polen wiederzugeben, sich selbst, nebst seinem Hofe, nach Warschau zurückzuziehen, und das unglückliche Rußland, unbeschützt, rathlos und hülflos, der diesem Schritte entspringenden wilden Unordnung, der mörderischen Wuth, der rasenden Anarchie des auf das Äußerste gebrachten, zügellosen Volkes zu überlassen.

Eine Sekunde lang herrschte Schweigen, lautloses Schweigen wie im Grabe; dann brach der [348] Sturm aus. Ähnlich jenen Orkanen der Tropenländer, die, plötzlich aus tiefster Stille er wachend, Felsen zersplittern, tausendjährige Bäume entwurzeln, Seen und Inseln vernichten und schaffen, und den Lauf der Ströme verändern, tobte der furchtbarste Tumult. Der schadenfroheste Dämon, der jemals der Hölle sich entschwang, hatte über sie Alle die Schaale der Verblendung ausgegossen; so viele helle Köpfe unter ihnen! die gewiß in bessern Momenten das schlecht ersonnene Mährchen höhnend verlacht haben würden! sie glaubten Alle daran.

Zuerst vereinten alle diese Kehlen sich in einem einzigen Schreckensschrei; es war als ob davor die Wände erbebend einstürzen, die Decke des Saales aus den Fugen gehoben, weit weg in die Lüfte fortgeschleudert werden müsse. Einzelne Gruppen, von den übrigen sich absondernd, bildeten sich, Waffen blitzten in vielen Händen; furchtbarer noch als diese, erglühten Augen in [349] wilder Raserei. Gleich gereizten Hyänen, mit gesträubtem Haar, schäumend vor innerer Wuth, unter unerhörten Flüchen und Verwünschungen stürzten einige auf die Kniee, der blutigsten Rache sich zu weihen; vertraute Freunde verbanden durch einen furchtbaren Eid sich zum schonungslosesten Kampfe auf Leben und Tod. Alte, im Dienste ergraute Krieger weinten vor Zorn brennend heiße Thränen, Andre starrten, vor Schreck über das Unerhörte, mit weit offenen, erstorbenen Augen in den Tumult hinein; noch Andre brachen in laute Klagen, in Verwünschungen ihres Geschickes aus, zerrauften ihr Haar, rissen Sterne und Orden, die sie schmückten, von ihren Kleidern herunter und traten sie mit Füßen. Wuth, Empörung, Verzweiflung überall! eine Scene, die nur Dante, der Sänger der Hölle, in ihrer entsetzlichen Wahrheit zu schildern vermöchte.

Endlich führte physische Ermattung einen [350] kurzen Anschein von Ruhe herbei. Pestel wollte diese benutzen: Der große Augenblick ist gekommen, die uns gegebene Kraft zu bewähren, rief er mit lauter klangvoller Stimme; die hehre, dem heiligen Vaterlande geweihte Stunde schlägt, wo die verlorne Kohorte, den tapfern Lunin an ihrer Spitze, alles vor sich niedermähend, uns den Weg bahnen – –

Er ward nicht weiter gehört; lauter, grimmiger noch als vorher, rasete von neuem der Tumult. Selbst Pestel wurde einen Augenblick bleich; Lunins kolossale Gestalt hatte katzenartig, gleich einem zum Sprunge auf sein Opfer bereiten Raubthiere, sich bis zu ihm durchgewunden, er verschwand sogleich auf einen Wink seines Meisters in die entfernteste Ecke des Saales. Richard folgte ihm mit den Augen; Torson, den dieser Blick suchte, den er schon lange vermißt hatte, schien unbegreiflicher Weise gar nicht zugegen zu sein, auch Iwan war nirgends zu erblicken.

[351] Nur Einer ist der Schuldige, und dieser Eine büße es mit dem Leben! Schonung und Rache dem verrathenen Volke, Tod und Untergang dem Verräther! rief eine, den wilden Tumult übertönende, durchdringend laute Stimme, und plötzliche Stille entstand. Fürst Theodor, Obrist eines Regiments, dem seine Zeitgenossen den bezeichnenden Beinamen, der Tiger, beilegten, hatte diese Worte gerufen.

Und nun – zum erstenmale wurde von den Verbündeten jenes grausenvolle Wort ausgesprochen, jenes Wort, das nie gefunden sein sollte, Kaisermord!

Die stärksten Nerven erbebten, die lautesten Kehlen verstummten vor dem schauervollen, wenn gleich fast tonlos ausgestoßenen Klange, er bebte erschütternd in jedem Ohre, gleich dem Donner des Weltenrichters.

Doch diese Stille wurde bald wieder unterbrochen; neue Debatten, bei denen Pestel sein [352] gewohntes Übergewicht wieder geltend machte, erhoben sich, aber leider nicht um gegen ein Verbrechen anzukämpfen, das bei der gegenwärtigen Lage der Dinge von der Mehrzahl als unvermeidlich nothwendig angesehen wurde; die wenigen besser Gesinnten, die gegen diese Ansicht sich erhoben, wurden schnell überstimmt und mußten verstummen.

Und nun noch das Gräßlichste! die hier leise geflüsterten, dort laut gepflogenen, oder in thierischer Wuth laut gebrüllten Berathungen über das Wie und Wann! Sie währten lange, sie drohten immer heftiger und verworrener zu werden, bis die alle übertönende Donnerstimme des Tigerfürsten ihnen ein Ende machte.

Wartet! rief er, wartet, bis in nächster Woche mein Regiment die Wachen bezieht! Dann vollbringe Einer unter uns, was zur Rettung Aller vollbracht werden muß. Dazu braucht es nur eines Kopfes, eines Arms, was sollen da [353] viele? Doch welchen unter uns das Geschick zu dieser großen That erkoren hat, das werde hier, und noch in dieser Stunde, durch das Loos bestimmt, ehe wir für heute aus einander gehen.

Von allen Seiten wurde diesem Vorschlage stürmischer Beifall gezollt, der dem langwierigen, immer mehr sich erbitternden Streite ein Ende zu machen versprach. Was man zu dem grausigen Spiele nothwendig brauchte, war zur Hand, wenn gleich zu andern Zwecken bestimmt; die Voranstalten dazu waren also in wenigen Minuten bewerkstelligt, die Häupter der Anwesenden gezählt; Sergius, als Secretair des Bundes, brachte die verhängnißvolle Urne herbei, und warf eine gleiche Anzahl weißer Kugeln hinein, nur eine, eine Einzige unter diesen, blinkte in rothem trügerischem Goldglanze. Das Geräusch mit welchem jede derselben langsam gezählt und einzeln auf den Boden des Gefäßes hinabgelassen wurde, [354] durchschauerte auch die muthigsten Heldenherzen mit innerm Grauen.

Jetzt sollte das Todesloos gezogen werden, doch keine Hand regte sich, um die Ziehung zu beginnen. Von drückender Vorahnung befangen, mit bleichen Gesichtern und hochaufathmender Brust, standen sie Alle wie am Boden festgebannt umher. Keiner von diesen Vielen, die noch vor wenigen Minuten den wildesten Ausbrüchen ungemäßigter Leidenschaftlichkeit sich hingaben, wollte hier der Erste sein, kein Einziger von denen, die sonst überall es sein wollten. Auch Pestel suchte noch nach Worten, eindringend genug, um den Bann zu lösen, der sie gefesselt hielt; er selbst konnte nicht der Erste sein, der sein Loos zog, denn als Präsident des Bundes war die ganz zuletzt auf dem Boden der Urne zurückbleibende Kugel für ihn bestimmt.

Ein ängstlicher, unartikulirt, wie in höchster Todesnoth ausgestoßener Schrei schreckte alle aus [355] der düstern Versunkenheit auf, die sie befangen hielt; mit alles was ihr im Wege stand vor sich niederwerfender Riesenkraft, drängte sich aus dem Hintergrunde des Saales durch die Reihen der Brüder hindurch, bis dicht vor Pestel hin eine Gestalt, die beim ersten Anblicke Niemand erkannte. Ein Schreckensbild höchster Verzweiflung, mit weit hervorquellenden, blutunterlaufenen starren Augen, mit wild sich sträubendem, verworrenem Haar, mit wie im Todeskampfe konvulsivisch verzerrtem bleichem Gesicht. Er schleuderte mit mächtigem Arm die Urne mit den Kugeln fort, sie fiel zu Boden, die Kugeln rollten im Saale umher, und die goldene führte der Zufall dicht zu seinen Füßen hin.

Er raffte unter lautem dämonischen Gelächter sie auf, und hielt hoch über seinem Haupte sie der Versammlung entgegen: ein Wunder! jubelte er; ein sichtbares Zeichen von dort Oben – oder vielleicht von dort Unten? – gleichviel, ich bin der Erwählte!

[356] Yakuchin! Iwan Yakuchin! erscholl es von mehreren Seiten. Es war der unglückliche, es war Richards Iwan, den man jetzt an der Stimme erkannte.

Richard drängte zu dem Wahnsinnigen sich hin, denn dafür hielt er, und mußten Alle ihn halten, aber ein einziger gewaltiger Stoß warf ihn weit zurück.

Wer sich selbst lieb hat, der rühre mich nicht an, der wage nicht mir zu nahe zu kommen, rief Iwan. Ihr meint, ich sei rasend; ich bin es nicht, aber ich warne Euch dennoch, ich bin gefährlich. Ich kenne Niemand mehr, weder Feind noch Freund, Ihr Alle, die ganze Welt ist mir wie Staub unterm Fuße, denn das Schicksal hat in mir, in mir allein sein Opfer auserkoren. Verlassener, verrathener als ich, lebt Keiner auf Erden! dieses Jammerleben, was soll es mir? ich werfe es von mir.

Richard, Alex und noch Einige, die Mitleid [357] für den Jüngling empfanden, sogar Obrist Pestel, näherten sich ihm abermals; bleibt zurück! rief er befehlend, und sie gehorchten der gebietenden Gewalt hoffnungslosesten Unglücks, das offen und kühn dem Mächtigsten entgegen treten darf, so bald es nichts mehr weder zu schonen noch zu fürchten hat. Sie bildeten einen dicht geschlossenen Kreis um Iwan her, hielten sich aber in der von ihm gebotenen Entfernung.

Iwan zog jetzt sein Schwert aus der Scheide; Alle, den traurigsten Ausgang erwartend, erbebten bei dem Anblicke; und doch hielt die Furcht, diesen zu beschleunigen, sie an ihren Plätzen zurück. Er aber kniete anscheinend gelassen in der Mitte des um ihn geschlossenen Kreises nieder, faßte den Griff des Schwertes mit beiden Händen, hielt ihn dicht vor der Brust, und blickte unverwandt zu der Spitze desselben auf; nur das Weiße seiner Augen blieb sichtbar, er sah aus, als ob er bete, mit unaussprechlicher Inbrunst.

[358] Das währte so einige Sekunden; dann aber, immer in der nämlichen Stellung verbleibend, erhob er die Stimme zum furchtbarsten Eide, den je eine menschliche Seele erdacht. Mit Worten, vor denen Alle schauderten, die sie vernahmen, weihte er sich dem Untergange, dem zeitlichen wie dem ewigen, indem er den Kaiser zu tödten gelobte, und gleich nach vollbrachter That sich selbst; denn wer könnte dann noch leben wollen! setzte er mit eisiger Kälte hinzu, indem er sich von den Knieen erhob, das verworren herabhängende Haar aus der Stirne strich, und das Schwert zurück in die Scheide stieß.

Und nun gebt mir meine Ordre, ich bin zu jeder Stunde zu Allem bereit, sprach er fast verachtend, wollte sich in militärischer Stellung hoch aufrichten, wurde aber im nämlichen Augenblicke sein Bild in einem ihm gegenüber angebrachten großen Spiegel gewahr. Unmäßiges Grauen vor seiner eigenen Gestalt überkam ihn, er taumelte, [359] seine Kniee brachen unter ihm zusammen; hätten die, welche ihm am nächsten standen, ihn nicht in ihren Armen aufgefangen, er wäre, wie aufgelöset in allen Gelenken, unfehlbar zu Boden gesunken.

Der Zustand währte indessen wieder nur einige Sekunden. Iwan erholte sich schnell, machte von denen so ihn hielten sich los, und stand frei da, den ernsten fragenden Blick auf die gerichtet, von welchen er Antwort erwartete.

Jetzt, da sie vor der Ausführung der Frevelthat standen, die Sie kurz vorher, in blinder Wuth, unter ungeheuerm Toben gefordert hatten, und nur noch die nähere Anordnung des Vollbringens von ihnen erwartet wurde, regte sich keiner; lautloses Schweigen, überall. Übermannt von geheimem Schrecken, bleich, mit gesenktem Blicke standen sie da, bis einer unter ihnen sich erhob. Es war ein Officier von bedeutendem militärischem Range, dem Namen [360] nach, vielleicht auch von Geburt ein Deutscher, wenigstens von deutscher Abkunft. Mit großer Geistesgegenwart ergriff er glücklich den einzigen günstigen Augenblick Pesteln zuvorzukommen, um hier, wo bis dahin nur blinder Eifer und die aufgeregteste Leidenschaftlichkeit das Wort geführt hatten, auch die besänftigende Stimme der Vernunft laut werden zu lassen; ein Unternehmen, an dessen Ausführung vorhin, bei dem allgemeinen Toben, gar nicht zu denken gewesen wäre.

Allen vernehmbar, umständlich, ohne durch Weitschweifigkeit zu ermüden, bestrebte sich der wohlwollende besonnene Mann das Unwahre der Nachricht, die bis zu diesem Grade sie empören konnte, ihnen klar und deutlich auseinander zu setzen; bewies, mit nicht zu widerlegenden Gründen, die jedem einleuchten mußten, die Unmöglichkeit derselben. Schmucklos, aber eindringlich, von unerkünstelter Überzeugung ihm eingegeben, waren [361] seine Worte; sie entsprangen aus vollem warmem Herzen, und konnten daher den Weg zu den Herzen seiner Zuhörer nicht verfehlen. Auch glätteten viele umdüsterte Stirnen sich wieder, die bleichen Gesichter färbten sich, in manchem abgewendeten Auge blinkte eine heimliche Thräne der Reue, und Dank und Beifall wurde dem Redner von allen Seiten laut gezollt.

Ermuthiget durch dieses Beispiel, bemächtigte jetzt auch Sergius sich des Worts, ehe der etwas aus der Fassung gerathne Obrist Pestel dazu kommen konnte es zu ergreifen. Beide, er und Graf Stephan, hatten zu jenen ersten Stiftern der durchaus harmlosen Gesellschaft gehört, aus welcher später, im Verlaufe der Jahre, der jetzige Bund, unter Pestels Leitung, so ganz verschieden von jenem ersten Anfange sich entwickelt hatte. Auch in dieser umgewandelten Gestalt war Sergius noch immer einer der treuesten und eifrigsten Anhänger desselben geblieben; er bekleidete, [362] wie schon mehrmals erwähnt worden ist, die Stelle eines Secretairs des Bundes, und gehörte als solcher zu den drei Direktoren, den Häuptern des Rathes der Alten.

Nachdem Sergius seine vollkommene Übereinstimmung mit den Ansichten seines edlen und geistreichen Vorgängers in den wärmsten Ausdrücken ausgesprochen hatte, erbat er sich die Erlaubniß jene Nachricht, die sie alle in nicht genugsam zu bereuende schmerzliche Verwirrung gestürzt habe, auch noch von einer andern Seite zu beleuchten, um auf diese Weise auch die letzte Spur ihrer zu nicht zu berechnendem Unheile führenden Nachwirkung zu vertilgen. Er sagte, er wolle für einen Augenblick das Unglaubliche, ja Unmögliche, als Wahrheit annehmen, und den Fall setzen, der Kaiser habe, wie jener unselige Brief es berichte, den unglücklichen Entschluß sein Volk zu verlassen wirklich gefaßt; und ergoß sich dann mit unglaublichem Scharfsinne [363] und anschaulichster Klarheit in Beweisen, daß selbst in diesem undenklichen Falle jenes Verbrechen, das er nicht mehr zu nennen wagen möchte, nur die unheilvollsten Folgen nach sich ziehen könne, ohne den eigentlichen Zweck des Bundes der ächten Kinder des Vaterlandes im mindesten zu fördern. Im Gegentheile müsse jede Möglichkeit des Gelingens dadurch auf immer vernichtet werden, aus dem einfachen Grunde, weil es dem Bunde seiner innern Einrichtung nach an allen Mitteln fehle, eine solche Unthat, würde sie auch glücklich vollbracht, zu benutzen. In den glühendsten Farben schilderte er ihnen nun alle Gräuel der zügellosesten Empörung, die einer solchen Verletzung aller göttlichen und menschlichen Gesetze auf dem Fuße nachfolgen müsse, indem er zugleich an die dem Königsmorde in Frankreich unmittelbar folgende Schreckenszeit sie erinnerte.

Bin ich noch lebend der Gemeinschaft böser [364] Geister verfallen? oder bin ich noch wirklich unter Menschen? rief plötzlich in heftigem Zorne auffahrend Iwan Yakuchin, nachdem er mit gespanntester Aufmerksamkeit den Reden jener beiden gefolgt war. Ihr Teufel in Menschengestalt, was habe ich Euch gethan, daß Ihr mein ehrlich ruhiges Gewissen mir nicht gönnt? daß Ihr mit einem innern Vorwurfe es belasten mußtet, den ich nimmer verwinden kann? Ihr Bösewichte, ihr teuflischen Verführer, habt zuerst durch blendende Höllenkünste mich zu dem gräßlichen Vorsatze gebracht, das Verbrechen zu begehen, für welches weder im Himmel noch auf Erden Vergebung ist, denn Kaisermord und Vatermord sind eins; und nun verwerft Ihr selbst als nutzlos, als überflüßig die ungeheuere That? Wie nun, wenn Ihr diese Entdeckung später gemacht hättet, nachdem ich vollbracht – – was wäre in dieser und jener Welt aus mir geworden, und kann ich [365] jemals vergessen, daß ich es vollbringen gewollt?

Gleich einer überirdischen Erscheinung, gleich einem Rache heischenden Dämon, stand der zornentflammte Jüngling in seiner gänzlichen Verlassenheit vor ihnen, und keiner hatte das Herz sich ihm thätig entgegenzustellen, oder auch nur ihn mit Ernst zur Ruhe zu verweisen. Einige versuchten mit besänftigenden Worten ihn zu beschwichtigen, er hörte nicht darauf.

Eure wohlgesetzten Reden, Eure trefflichen Statuten, Euere herrlichen Pläne für das allgemeine Wohl des Vaterlandes, führen sie zum Ersinnen solcher Thaten? – fuhr Iwan fort: – nun so bleibt von heute an Euer Rath fern von meiner Seele, ich trete aus eurer Gemeinschaft hinaus, und scheide auf immer von Euch! Wollt Ihr vorher nicht Rath halten, ob es für Eure Sicherheit nicht etwa erforderlich wäre mich hier zu ermorden, ehe ich den Fuß über die Schwelle[366] setze? fragte er mit kalter schneidender Ironie. Thut es, tödtet mich, was liegt mir daran, was noch am Leben? Für eine Nußschale werfe ich es Euch hin. Nur so viel noch: dieser kleine Mord wäre nicht minder überflüßig, als jener große es gewesen wäre, und dürfte in seinen Folgen doch unbequem für Euch werden, wenn er entdeckt würde. Ihr habt meinen Eid, den ich nie brechen kann, und hätte ich der Hölle ihn geschworen; schweigen muß ich, ich sei lebend oder todt. Ihr antwortet nicht? Nun so schüttle ich an Eurer Thüre den Staub von meinen Füßen und gehe nie wiederzukehren. Mögt Ihr indessen Euch nach Bequemlichkeit über mein Leben oder meinen Tod unter Euch berathen.

Iwan wandte sich zum Gehen, Alle traten zurück ihm freie Bahn zu lassen; mit festem Schritte ging er langsam bis zur Thüre, dort schien er wie von Schwindel ergriffen zu wanken, [367] dann betäubt im Begriff taumelnd zu sinken. Richard und Alex eilten ihm nach, ergriffen noch zur rechten Zeit ihn am Arme, und führten ihn hinaus.


Trübseliger, als jemals in seinem Leben, lag der gute kleine Kapellmeister Lange auf seinem Sopha; krank war er nicht, glaubte aber es zu sein, und meinte zuweilen sogar die Annäherung des Todes zu fühlen. Eigentlich war er nur tief betrübt, und der sonst immer zufrieden Glückliche wußte in diesen ihm ganz neuen Zustand sich nicht zu finden. Völlig entmuthiget, versagte er allen seinen Freunden den Zutritt, sogar sein Flügel blieb verschlossen, und so fehlte ihm denn Alles, was sonst sein eigentlichstes Leben ausmachte.

Nur seine treue Hausfrau war ihm geblieben; gleich einem tröstenden Engel wich sie ihm [368] fast nie von der Seite, obgleich sie noch schmerzlicher verletzt war, als er selbst. Auch jetzt saß sie, bei der sorgfältig verhüllten Lampe, an ihrem Tischchen neben ihm; um von seinen traurigen Gedanken ihn abzuziehen, hatte sie versucht ihm vorzulesen, schlug aber das Buch wieder zu, als sie gewahr wurde, wie ihre Worte unbeachtet an ihm vorüber glitten.

Ist er gestorben? fragte sie leise, mit zitterndem Tone, als sie die Thüre hinter sich öffnen hörte, ohne nach dem Eintretenden sich umzusehen.

Er lebt und vielleicht dürfen wir wieder zu hoffen wagen, denn Iwan Yakuchin ist es doch den Sie meinen? antwortete eine weit sonorere Stimme als die ihres alten Dieners Jegor war, die sie zu vernehmen erwartete; erschrocken sprang sie von ihrem Sitze auf, und Fürst Eugen stand vor ihr.

Seit zehn Tagen zum erstenmal, ruht der [369] zerrüttete Geist des Armen in tiefem Schlummer von seinen langen Qualen aus; möge diese Nachricht es entschuldigen, daß ich gegen Ihr Verbot mich hier einzudrängen wage: sprach Eugen mit der ihm eignen, ihn so wohl kleidenden Herzlichkeit.

Noch ehe Frau Karoline nur ein Wort antworten konnte, flog ihr Mann mit Blitzesschnelle von seinem Sopha, wie ein Pfeil von der Sehne auf. Die Gegenwart Eugens wirkte auf ihn mit magischer Gewalt, er vergaß daß er sterbend sei, suchte in der entferntesten Zimmerecke seine goldbetroddelte Mütze hervor, wo sie seit vielen Tagen völlig unbeachtet geruht hatte, verlor darüber in der Eile einen seiner Pantoffeln von gesticktem Saffian, der weit weg, quer über den Fußboden hingeschleudert wurde, bemerkte jetzt mit einemmal seine sehr vernachlässigte Toilette, fing an sich gewaltig seines Schlafpelzes von astrachanischem Lämmerfelle zu schämen, [370] in welchem sonst kein fremdes Auge ihn erblicken durfte, und kam über dem Allen dermaßen außer Fassung, daß er nicht anders sich zu helfen wußte, als indem er einen gewaltigen Anlauf nahm, mit gleichen Füßen wieder auf das Sopha sprang, und eiligst in der Stellung eines Todtkranken sich darauf hinwarf.

Ungeachtet große Thränen noch in ihren Augen perlten, mußte Frau Karoline über die Hastigkeit, mit der dieses Alles vollbracht wurde, laut auflachen; Eugen konnte sich nicht enthalten ihrem Beispiele zu folgen, und auch der Kapellmeister stimmte zuletzt mit ein, und lachte lauter als die Andern über sein eignes wunderliches Treiben.

Die Lampe wurde von ihrer Umhüllung befreit, das Zimmer wie gewöhnlich erleuchtet, der Kapellmeister über sein astrachanisches Lämmerfell getröstet, der Befehl, jeden weitern Besuch abzuweisen, der Dienerschaft wiederholt eingeschärft, [371] und in weniger als zehn Minuten saßen die drei Freunde in traulicher, wenn gleich nicht fröhlicher Mittheilung beisammen. Rede und Gegenrede erleichterten ihnen die beklommene Brust, sie fühlten, wie der Mensch nie des Menschen mehr bedarf, als in Trübsal und Schmerz.

Einsamkeit, so wünschenswerth sie dem Trauernden auch erscheinen mag, ist alsdann unser größter Feind: alles ausschließende Einsamkeit, die keine ist, noch sein kann! denn wer entfloh jemals seinen eigenen düstern Gedanken? In Mittheilung aber geht das Herz uns wieder auf; und wenn auch die Freunde nicht immer begreifen was und wie wir leiden, wenn sie auch durch ungeschicktes Tröstenwollen die Wunde, die sie heilen möchten, vielleicht zu unsanft berühren, so lernen wir doch, indem wir ihm Worte leihen, unser Unglück und auch uns selbst besser verstehen, und treten wieder in die allgemeine Bahn [372] des Lebens ein, von der man ohne Gefahr nie abweichen darf.

Das Geschick des Einzelnen verschwindet in dem gewaltigen Lebensstrome, der das kolossale Petersburg durchbrauset, wie der einzelne Regentropfen in den Wellen der Newa sich verliert; und so war denn auch erst an diesem nämlichen Tage, und nur durch Zufall, die Kunde von Iwans lebensgefährlichem Zustande durch des Kapellmeisters selbst gewählte Abgeschiedenheit von der Außenwelt bis zu diesem durchgedrungen. Ein dumpfes Gerücht ließ sogar Iwans Tod befürchten, und die gutmüthigen Menschen hatten sogleich ihren treuesten Diener um Nachricht von dem Leben oder Tode des Jünglings ausgesandt, den über ihren eigenen Schmerz so ganz vernachlässiget zu haben, sie jetzt sehr bereueten. Treuer, umständlicher, als Jegor diese bringen konnte, hofften sie jetzt von Eugen sie zu erhalten.

[373] Nicht ganz unbefangen, suchte Eugen, aus leicht zu errathendem Grunde, über den ersten Ausbruch von Iwans Krankheit so schnell als möglich hinwegzueilen, und erwähnte nur, daß sein Brudex Alex und Richard, in todtenähnlicher Betäubung, von der er auf der Straße plötzlich befallen worden wäre, ihn in seine Wohnung gebracht hätten.

Mehrere Stunden vergingen, ehe er aus tiefer Ohnmacht erwachte, fuhr Eugen sehr bewegt fort: doch welch ein Erwachen war das! so mag dereinst am Tage des Weltgerichts das Erwachen des zu ewigen Höllenqualen verdammten Sünders sein. In wilder, nur gewaltsam zu bändigender Raserei, kämpfte der Unglückliche mit den gräßlichsten Greuelbildern seiner Phantasie! und zehn ganze Tage, zehn endlose Nächte hindurch, hat keine Minute Schlaf, kein einziger heller Augenblick, sein gränzenloses Leiden unterbrochen! Die Sorge für die Pflege des Armen blieb Richard [374] allein überlassen; ich und mein Bruder waren durch anderweitige Pflicht zu ernstlich in Anspruch genommen, um sie mit ihm theilen zu können, und so durfte er Tag und Nacht von Iwans Seite nicht weichen. Auch nur für eine Stunde ihn Fremden zu übergeben, durfte Richard nicht wagen, denn wie leicht konnten Iwans wilde unzusammenhängende Reden – – Eugen stockte hier in sichtlicher Verwirrung, fuhr aber nach kurzem Besinnen wieder fort: wie leicht, wollte ich sagen, kann bei der Pflege Gemüthskranker dieser Art die kleinste Vernachlässigung die traurigsten Folgen nach sich ziehen! In welchem Zustande aber unser Freund Richard sich jetzt befindet, wie abgespannt, wie an allen Kräften erschöpft, mögen Sie selbst ermessen.

Und Iwan! hoffen Sie wirklich? wird er genesen? wird er leben? fragten beide zugleich, Lange und seine Frau.

[375] Die Jugendkraft unterliegt endlich, die in seiner Qual unerschöpflich schien, erwiederte Eugen. Iwan schläft, tief und fest.

Er ist todt? rief der Kapellmeister.

Er schläft, war die sehr gemessene Antwort Eugens: er schläft, und der treuste aller Freunde, beinahe nicht minder Ruhe bedürfend als der Kranke, sitzt neben seinem Lager und bewacht seine Athemzüge. Der eilfte Tag ist heute, nach dem Ausspruche des Arztes, der entscheidende über Leben und Tod. Iwans ruhiger Schlaf giebt uns einige, wenn gleich schwache Hoffnung. Mit dieser Nachricht schickt mich Richard zu Ihnen, und wünscht zugleich zu erfahren ob Julie um Iwans traurigen Zustand weiß, und wie sie – –

Halt! halt! halt! nur den Namen und noch Einen nicht! schrie der Kapellmeister, und hielt in zitternder Hast beide Ohren sich zu.

Und Sie wüßten nicht? Sie und auch Richard wüßten wirklich nicht, welche unerhörte [376] Schändlichkeit, welcher Verrath an Allem, was dem Menschen heilig sein muß, den armen Iwan rasend machte, ihn vernichtete? rief zu gleicher Zeit Frau Karoline in ungewöhnlicher Heftigkeit.

Eugen erbleichte über die Auslegung dieser Worte, die wider seinen Willen sich ihm aufdrängte. Unmöglich konnte Iwans Krankheit, die überdem erst vor einigen Stunden ihnen bekannt geworden war, die einzige Veranlassung des tiefen Schmerzes sein, der in dem ganzen Wesen dieser beiden sich aussprach, und noch weniger der völligen Zurückgezogenheit, in der sie seit mehreren Tagen ganz gegen ihre sonstige Weise lebten. Das bedachte er erst jetzt; auch wie sie mit Herz und Seele ihren Kaiser verehrten, wie sie auf Leben und Tod, in unverbrüchlicher Treue ihm ergeben waren, und hell und deutlich leuchtete der furchtbare Gedanke in ihm auf, sie wissen um das Geheimniß jener Nacht, in welcher Iwans Krankheit ausbrach, und Torson, [377] der jetzt sich nirgends finden läßt, hat es ihnen verrathen. Regungslos, fassungslos, stand Eugen wie versteinert da, und wußte nicht wohin er die Blicke wenden sollte.

Julie ist nicht mehr bei uns – auch seit zehn Tagen – uns verlassen – mit Torson entflohn – heimlich in dunkler Nacht: – brachte Frau Karoline mit abgewandtem Gesicht, in kurzen abgebrochenen Sätzen mühsam hervor.

Gott sei Dank, daß es nichts Schlimmeres ist! hätte Eugen beinahe überlaut gerufen; glücklicher Weise besann er sich noch zu rechter Zeit, und nur ein tief geholter Seufzer, den seine treuherzigen Freunde seiner Theilnahme an ihrem Kummer zuschrieben, half ihm die bange Sorge abschütteln, die ihn eben um Fassung und Besinnung bringen wollte.

Wer mag es mir verdenken, daß die Gesellschaft und das Leben in ihr, und die sogenannten guten Freunde, und alle die freundlichen [378] Leute um mich her seit dieser Erfahrung mir so widrig ekelhaft vorkommen, daß ich von dem allen nichts mehr hören noch sehen mag? nahm jetzt Lange mit dem Ausdrucke der tiefsten innersten Trauer das Wort, der an dem sonst immer heitern, freundlichen Manne nur um so rührender erschien. Du Karoline, fuhr er fort, bist ein treues Herz und ohne Falsch, Du allein, und nur an Dich allein will ich mich halten, und an Dich glauben, und sonst an keinen Andern. Thu' mir nur noch den einzigen Gefallen und stirb mir nicht, so lange ich noch lebe; hernach magst Du es halten wie Du willst. Ohne Dich könnte ich ja nimmermehr zurecht kommen, mir müßte ja sein, als wäre die liebe Sonne vom Himmel gefallen.

Helle Thränen rollten bei diesen Worten ihm über die Wangen; Frau Karoline drückte schweigend ihr Gesicht in ihr Taschentuch; Eugen war durch das seltsame Wesen des Kleinen [379] zu bewegt, um ein Wort aufbringen zu können.

Wie haben wir das Kind geliebt! fing der Kapellmeister nach einer kleinen Weile wieder an; auf Händen getragen haben wir sie. Und sie konnte uns schmeicheln, uns schön thun, und viele Monate lang Trug und Verrath im Herzen hegen! Ja, das konnte sie, ein kaum neunzehnjähriges Geschöpf, noch halb ein Kind! Nie werde ich darüber getröstet werden, das kann ich nie vergessen noch verwinden. Denn es ist mir nicht um Julien allein. Es ist mir weit mehr darum, daß so etwas wirklich geschehen, daß der Mensch so schlecht werden kann. Das ist es, was Muth, Vertrauen und alle Lust am Leben in mir vernichtet; klagte er mit rührender Beredsamkeit, die an ihm, der sonst fast nur in Tönen sprechen konnte, höchst seltsam auffiel.

Alle Drei saßen schweigend da. Ich habe keinen Bruder, nie einen gehabt, sprach Lange [380] dann weiter; aber hätte ich einen, und wäre er mein Zwillingsbruder, der mit mir zugleich unter dem Herzen meiner Mutter geruht, und hätte ich zeitlebens nichts anderes gethan, als für diesen Bruder gesorgt, und er ginge nun in einer bösen dunkeln Stunde hin, und raubte mir Alles, so daß mir nichts übrig bliebe, als das kahle Leben, und die Luft, die ich einathme, – ich weiß gewiß, ich fände noch etwas aus, das ihn entschuldigte. Noth hat ihn getrieben, mein Bruder wußte nicht was er that, in einem unbewachten Augenblicke ist der Teufel in sein Herz eingezogen, würde ich sagen und auch denken. Aber diesen fein ausgesonnenen Plan Wochen, ja Monate lang mit sich herumtragen, täglich, stündlich uns heuchelnd betrügen, und dabei aussehen wie das Bild der Unschuld, – das kann die ewige Barmherzigkeit selbst nicht vergeben, und der Gedanke, wie schlecht es der Unglücklichen vielleicht in dieser Stunde schon ergehen mag,[381] peinigt mich alten Narren weit mehr, als es für mich anständig wäre.

Eugen wollte jetzt ein paar begütigende Worte einzuschieben versuchen, er nannte Torson, aber der Kapellmeister fuhr darüber sehr heftig auf.

Das ist ja eben der zweite Name, den ich nie wieder zu hören wünsche, mein Fürst! rief er mit zornblitzenden Augen; der ist es ja eben, und doch darf man kaum ihn anklagen, denn gegen seine Mitschuldige gehalten, steht er rein und klar, wie ein Engel des Lichts da; seine Schuld wird, verglichen mit der ihrigen, winzig klein. Wahr ist es, er hat mich betrogen; aber warum ließ ich mich betrügen, da ich es hindern konnte? Nicht er, meine Blindheit, und daß ich zu feig war die Augen aufzuthun und um mich zu schauen, tragen die Schuld. Wenn jene Verlorne unglücklich wird, wer gab die erste Veranlassung dazu? ich selbst! und das ist ein Wurm mehr, der mir am Gewissen nagt. [382] Ich hätte jenen verkappten Satan entlarven, ihn durchschauen müssen; ich war gewarnt durch meine Hausfrau, die immer zehnmal so gescheit ist als ich; aber weise Worte verhallen unbeachtet in einem thörichten Ohr.

Weise Worte! meine Weisheit! rief Frau Karoline bitter lachend; meine eitle Einbildung war es, die mich abhielt, Dir alles weit dringender vorzustellen. Gebrechlichkeit, Dein Nam' ist Weib! ich habe dem Prinzen Hamlet diesen ungezogenen Ausspruch immer sehr übel genommen, doch diesesmal muß ich ihm beistimmen. Hätte ich nicht alles allein vollbringen wollen, hätte ich nicht in schnöder Sicherheit auf meine Vorsicht gebaut, und gemeint ich wäre – doch was hilft uns das alles jetzt – damals wäre es noch Zeit gewesen Dir die Augen zu öffnen, indem ich Dir alles weit klarer und dringender vorstellte, als ich es leider gethan, jetzt ist es zu spät. Julie ist verloren, und der arme unglückliche [383] Iwan ebenfalls. Ich hätte beide retten können. Ach! der Übel größtes ist die Schuld!

Die Bahn war gebrochen; Frau Karoline war, sich selbst unbewußt, wieder in ihre gewohnte Weise gerathen, und Eugen erhielt endlich von ihr einen umständlichen Bericht von Juliens Flucht, oder Entführung, wie er lieber es nennen mochte.

Beide, Julie und Torson, hatten bis zur letzten Stunde jede Vermuthung ihres Vorhabens durch ihr Betragen von sich fern zu halten gewußt. Nur am Abende des letzten Tages, den sie in dem gastlichen Hause zubrachte, klagte Julie über einen leisen Anflug von Migräne, der sie zuweilen unterworfen war. Der Schmerz steigerte sich oft zu einem hohen Grade, hielt aber nie lange genug an, um ernstliche Besorgniß zu erregen. Frau Karoline rieth ihr, sich gleich zur Ruhe zu begeben, wie sie in solchen Fällen immer that, half ihr sich unbemerkt aus [384] der Gesellschaft zu entfernen, in welcher auch Iwan und Lunin gegenwärtig waren, und begleitete sie auf ihr Zimmer.

Dort versprach sie jedes Geräusch von der mit jeder Minute scheinbar mehr Leidenden möglichst fern zu halten, vor allen Dingen aber sie nicht wecken zu lassen, und sollte sie darüber auch den Mittag verschlafen. Alles das war in ähnlichem Falle schon unzähligemal geschehen, und konnte unmöglich als etwas Ungewöhnliches auffallen. Frau Karoline umarmte Julien, wünschte ihr eine leidliche Nacht, und ging.

Ging! und das verstockte Kannibalen-Herz äußerte nicht das kleinste Zeichen von Rührung bei dem letzten Abschiede von einer Frau, die ihr stets mütterliche Liebe bewiesen; rief hier der Kapellmeister dazwischen.

Sie wußte nicht, daß es der letzte sei; erwiederte Eugen, und legte betheuernd seine Hand [385] auf die Brust. Frau Karoline fuhr in ihrer Erzählung fort.

Die Mittagsstunde war längst vorüber, Julie hatte sich nicht blicken lassen, Frau Karoline fand die Thüre ihres Zimmers verschlossen; sie pochte, erst leise, dann lauter, dann rief sie Juliens Namen. In liebender Besorgniß schloß sie mit ihrem Hauptschlüssel endlich das Zimmer auf, Julie war nicht darin; sie ist früh ausgegangen, um in freier Luft das fatale Kopfweh verwehen zu lassen, und hat bei dem herrlichen Wetter wohl daran gethan: dachte die arglose Frau und begab sich ruhig an ihre häuslichen Geschäfte.

Die Zeit des Mittagessens kam heran; einige Freunde des Hauses stellten wie gewöhnlich sich ein, nur Torson nicht, der doch selten auszubleiben pflegte. Und noch immer von Julien keine Nachricht! Der Kapellmeister versuchte es, die jetzt nicht länger zu verhehlende Besorgniß [386] seiner Frau wegzulachen, versicherte, die Vermißte habe auf einem Besuche bei, in einem weit entfernten Quartiere der Stadt wohnenden Freunden, sich verspätet, und sei bei ihnen zu Tische geblieben. Der Fall war schon einigemale vorgekommen, Frau Karoline gab sich Mühe auch diesesmal daran zu glauben, sie zeigte ihren Gästen ein heitres Gesicht, doch innerlich stieg ihre Angst mit jeder Minute.

Dieser Zustand war nicht lange zu ertragen, die Unruhe trieb sie fort von der Gesellschaft auf Juliens Zimmer, was sie dort wollte, war ihr selbst nicht klar; ohne Zweck und Ziel irrte sie in den ihr wohlbekannten Räumen umher, die Thüre von Juliens Garderobe stand halb offen, Frau Karoline wollte sie schließen, warf zufällig einen Blick hinein, und was sie dumpf ahnend befürchtet, ohne es sich selbst zu gestehen, stand mit einemmale deutlich als Wirklichkeit vor ihr.

Die Garderobe war fast ganz leer, der größte [387] Theil von Juliens Wäsche und Kleidern fehlte, nebst allem, was sie auf einer weiten Reise nöthig haben konnte. Was sie an Schmuck und andern Kostbarkeiten besessen, mit denen Torson in der letzten Zeit sie so verschwenderisch beschenkt hatte, war bei näherer Untersuchung ebenfalls verschwunden, zugleich alle jene, ihr sehr werthen namenlosen Kleinigkeiten, die sie in Königsberg und Petersburg von Freunden zum Andenken erhalten und heilig aufbewahrt hatte.

Alles was sie von ihren Habseligkeiten zurückgelassen, lag übrigens in gewohnter Ordnung da, nirgends eine Spur von übereilter Flucht; aus Allem ging hervor, daß diese Vorkehrungen zu derselben schon tage-, vielleicht wochenlang vorher getroffen worden waren; an Gewaltthat war hier gar nicht zu denken.

Tausend bittre und schmerzliche Gefühle stürmten bei dieser Entdeckung auf die arme Frau ein; als ihr Mann sie endlich aufsuchte, fand [388] er sie in einem fast besinnungslosen Zustande, auf sein ängstliches Rufen eilte das ganze Haus herbei. Sie kam bald wieder zu sich selbst, war aber zu ergriffen, zu erschrocken, um das Ereigniß, welches sie in diesen Zustand versetzt hatte, gleich bekannt werden zu lassen.

Alle Diener wurden verhört, doch nur zwei derselben konnten einige Auskunft geben, das Kammermädchen Katinka, und ein in einem permanenten Branntweinrausche lebender Ofenheizer, Nikita. Die Übrigen hatten sämmtlich nichts gesehen noch gehört.

Katinka, deren Schlafkammer Wand an Wand mit Juliens Zimmer lag, obgleich keine Thüre von dort aus in dasselbe führte, wollte am vorigen Abend, bis spät in die Nacht hinein, ein leises Flüstern und Hin-und Hergehen bei Julien bemerkt haben; zugleich ein Geräusch, als ob Schränke vorsichtig geöffnet, und Schiebefächer aus Kommoden hervorgezogen würden. Sie [389] hatte lange darauf gehorcht, da aber übrigens alles im Hause ruhig blieb, war sie endlich darüber eingeschlafen.

Nikita hatte schon Bedeutenderes vorzutragen. Er pflegte gewöhnlich den ersten Absatz der Treppe vor Juliens Zimmer zur Lagerstätte sich zu erwählen, und hatte auch in der vergangenen Nacht, in seine Decke gehüllt, sich quer über denselben gebettet. Er versicherte, besonders seit einiger Zeit, an dieser Stelle viel von Gespenstern gelitten zu haben, die Nachts über ihn hinwegstiegen; da sie aber übrigens ihm nichts zu Leide gethan, habe er sich dadurch weiter nicht im Schlafe stören lassen. Diese Nacht aber habe eines davon ihm so derb auf den Magen getreten, daß er wohl die Augen habe aufthun müssen; und da sei er eben eine verschleierte Dame gewahr worden, die über ihn wegstolperte, und wahrscheinlich die Treppe hinunter gefallen wäre, hätte Herr Torson sie nicht in seine Arme aufgefangen. [390] So viel er bei dem unsichern flackernden Scheine der kaum noch glimmenden Treppenlampe habe urtheilen können, sei die Dame die Frau Kapellmeisterin selbst gewesen, Herrn Torson aber habe er deutlich erkannt, denn dieser habe sein Rohr mit dem goldnen Knopfe ihm um den Kopf sausen lassen, und ihm ganz leise ins Ohr geschrieen: »Narr! ducke Dich und schlaf'!«

Nun, da habe ich mich denn unter meine Decke geduckt, und habe geschlafen; denn Gehorsam muß sein, setzte Nikita mit großer Selbstgefälligkeit hinzu.

Sie ist entführt! gewaltsam entführt! rief Eugen.

Rechnen Sie denn das heimliche Hinwegschaffen ihrer Effecten für nichts? und der baumstarke Nikita lag zu ihren Füßen, auf einen Wink von ihr zu ihrem Beistande bereit; ein einziger Schrei hätte alle Bewohner des Hauses um sie versammelt; eiferte Frau Karoline.

[391] Armer, unglücklicher Iwan! wie verstehe ich erst jetzt dich so ganz! seufzte Eugen.

Ja wohl unglücklich! setzte Karoline hinzu. Gerade im Augenblicke, als jede Möglichkeit eines Zweifels uns entschwunden war, kam er. Wir konnten ihm nichts verhehlen; der Zustand, in welchem er uns fand, und unsre Umgebungen verriethen ihm Alles. Was er begann, was er sprach, ich weiß es nicht; sein Anblick raubte mir vollends den kleinen Rest von Besinnung. Später vernahm ich, daß er das ganze Haus, vom Boden bis zum Keller durchsuchte, und dann gleich einem Wahnsinnigen hinaus auf die Straße stürzte. Jegor folgte ihm aus freiem Willen; der gute Alte konnte ihn nicht einholen, aber er verlor ihn nicht aus dem Gesicht, bis er in einem, zu den Hintergebäuden des Palais Ihres Herrn Vaters gehörenden Hofe, in eine Seitenthüre ihn verschwinden sah. Jegor wartete eine Weile auf seine Wiederkehr, umging[392] dann mehreremale das ganze Gebäude, erkundigte sich bei dem ihm bekannten Portier, ob er Iwan Yakuchin nicht gesehen, und begab sich dann nach Hause, mit der beruhigenden Nachricht, daß Iwan unter der Obhut von Freunden wenigstens in Sicherheit sei. Seitdem haben wir bis heute Morgen nichts weiter von ihm vernommen, und sehnten uns auch nicht darnach. Daß er uns mied, fanden wir ganz natürlich, denn was konnte er zu unserm, was wir zu seinem Troste beitragen?

Jene Seitenthüre, die Jegor erwähnte, ist ein in eine andre Straße führender Durchgang, das konnte er freilich nicht wissen, erwiederte Eugen ein wenig betroffen; haben die Nachforschungen der Polizei, die Sie gewiß veranstalten ließen, keine Spur von den Entflohenen entdeckt? fragte er dann mit hastiger Lebendigkeit.

In frühester Morgendämmerung will man [393] ein paar Personen, die sie der Beschreibung nach wohl gewesen sein könnten, in der Gegend des Hafens gesehen haben, wo einige der kleinen Schiffe eben segelfertig lagen, welche uns alljährlich Früchte, Blumen und Singvögel aus Danzig und Königsberg bringen, aber nur für Passagiere aus den niedern Ständen eingerichtet sind; sprach der Kapellmeister. Und nun, mein Fürst, wenn Sie mir wirklich wohlwollen, kein Wort wieder von Jenen! es sei als wären sie nie gewesen, ich bitte inständigst darum: setzte er auf eine Weise hinzu, aus welcher deutlich hervorging, wie ernstlich diese Bitte gemeint sei.


Iwan lag indessen in ununterbrochenem todtenähnlichem Schlummer; nur ein kaum merkbarer Lebenshauch, der zuweilen die müde Brust langsam senkte und hob, war das einzige Zeichen, daß er dem Grabe noch nicht ganz verfallen [394] sei. Verborgen kämpfte indessen in seinem Innern die Natur den harten Kampf auf Leben und Tod, seine Jugendkraft siegte, das Fieber wich, mit ihm der Wahnsinn, der so lange den Armen mit glühenden Krallen gefesselt gehalten, und Iwan erwachte nach vier und zwanzig Stunden, matt, todesmatt, aber er lebte doch noch, und war dem Bewußtsein wiedergegeben.

Unter Richards und seiner Freunde treuer Pflege stellte in der Folge die Hoffnung, ihn dem Leben zu erhalten, sich täglich fester; zwar blieb er lange noch kraftlos, wie ein krankes Kind, doch jedes wahrhaft beunruhigende Symptom war verschwunden; sein Blut bewegte sich ruhig, kein Fieber jagte es mehr in ungestümen Wogen vom Herzen zum Herzen. Man durfte allmälig mit Gewißheit darauf rechnen, den langsam Genesenden bald ganz erkräftigt zu sehen; und da er jetzt auch anfing, an dem was außer ihm vorging, einigen Antheil zu nehmen, sogar [395] mitunter auf mannigfaltige Art, so viel es seine Schwäche erlaubte, sich zu beschäftigen, so stand Richard nicht weiter an, ihn täglich ein paar Stunden der Obhut seines Dieners allein zu überlassen, auf dessen wachsame Sorgfalt er rechnen durfte.

Doch wie groß war sein schmerzliches Erstaunen, als er eines Tages, etwas später als gewöhnlich, zu ihm zurückkehrte, und in einem ganz veränderten Zustande ihn fand, der von nun an sich täglich verschlimmerte, ohne daß es möglich gewesen wäre die Veranlassung desselben zu entdecken, oder auch nur für das Übel das den Unglücklichen innerlich zerstörte einen Namen zu finden. Kalt, bewegungslos, wie vom Starrkrampf gefesselt, lag er todtenbleich auf seinem Lager hingestreckt. Abgemagert bis zum Skelett, kaum noch der Schatten von dem was er gewesen, verschmähte er fast alle Nahrung, beantwortete keine Frage, nahm in grenzenloser [396] Apathie an allem, was um ihn her vorging, nicht den mindesten Antheil. Obgleich er fast immer mit geschlossenen Augen dalag, schlief er doch selten und nur auf kurze Augenblicke wirklich ein. Die Ärzte, welche seine Freunde um ihn her versammelten, verkannten keineswegs das Gefahr drohende dieses Zustandes, aber er blieb ihnen unerklärlich, um so mehr, da kein Symptom eigentlichen wirklichen Krankseins sich zeigte, das ihnen hätte zum Leitfaden dienen können.

In seiner großen Besorgniß wandte Richard sich endlich an den ersten Leibarzt des Kaisers, und dieser ließ, auf Fürsprache des Fürsten Andreas, sich bewegen den Kranken zu besuchen; mochte aber ebenfalls, eben so wenig als seine Kollegen, einen entscheidenden Ausspruch hier wagen. Der Fall schien ihm indessen merkwürdig genug, um zu einem zweiten Besuche ihn zu veranlassen; er nahm Platz neben des ganz regungslos [397] daliegenden Iwans Lager, und beobachtete ihn schweigend mit angestrengtester Aufmerksamkeit, während Eugen und Richard, hinter ihm stehend, sich ziemlich leise mit einander im Gespräch unterhielten.

Eugen sprach von einem merkwürdigen Naturereignisse, das sich vor kurzem in der Umgegend von Tiflis begeben. Tiflis? rief plötzlich der Leibarzt: Tiflis? wiederholte er: sprachen Sie nicht von der Stadt Tiflis, am Kaukasus? fragte er fast überlaut, und Eugen wiederholte umständlich, was er so eben seinem Freunde erzählt hatte.

Daß Iwan, der bis dahin wie versteinert dagelegen, bei Nennung jenes Namens wie von einem elektrischen Schlage getroffen, zusammen fuhr, was weder Eugen noch Richard gewahr worden waren, war dem geübten Blicke des trefflichen Arztes nicht entgangen.

Ein merkwürdiges Ereigniß gleich diesem, [398] nahm er jetzt laut und deutlich das Wort, wäre schon an und für sich hinreichend, es jedem eifrigen Freunde der Natur ewig bedauern zu lassen, daß jenes schöne Land uns so fern liegt! Die Reise dorthin ist überdem mit so großen und vielen Schwierigkeiten verknüpft, daß sie nur wenigen, von Umständen besonders Begünstigten, möglich werden kann. Wenig Himmelsstriche sind von der Natur so reich ausgestattet als der Kaukasus, besonders aber die Umgebungen von Tiflis. Jahrelang, mit täglich erneutem Interesse könnte man im eifrigsten Naturstudium dort verweilen. Die siedendheiß den Felsen entsprudelnden Heilquellen stehen keinen in der Welt an Wirksamkeit nach. Ich selbst habe das kaukasische Gebirge zwar nur aus der Ferne, und Tiflis leider gar nicht gesehen, als ich auf Befehl unsers Kaisers, die noch viel zu wenig gekannten Gesundbrunnen bei Konstantinogorsk, besonders den Sauerbrunnen von Kislawodsk [399] untersuchen mußte; letzteren könnte man füglich die Quelle ewiger Jugendkraft nennen.

Doch schon um Kislawodsk herum, gleicht das Land den Beschreibungen der paradiesischen Wohnung unsrer ersten Eltern, fuhr der Arzt in lebhafter Begeisterung fort; wie schön mag es erst jenseits des Gebirges, um Tiflis herum sein. Bei einem Kunstfreunde sah ich vor einigen Tagen mehrere, von dem seit einigen Jahren dort wohnenden berühmten Maler, Karl von Kügelgen, der Natur treu nachgebildete Landschaften, und konnte mich kaum wieder davon los machen. Der Kaukasus gleicht weder den Schweizer Alpen, noch dem schottischen Hochgebirge, alles ist anders, aber nicht minder herrlich. Ein eigner Charakter, im wundervollsten Wechsel nordischer Erhabenheit und südlicher Üppigkeit, zeichnet jene Gegenden vor allen Andern aus.

Sogar Eugen und Richard wurden jetzt zu [400] ihrem höchsten Erstaunen gewahr, welche fast magische Gewalt die Rede des Arztes auf Iwan übte. Der Starrkrampf, der so lange ihn gefesselt gehalten, wurde wie durch einen Zauberspruch plötzlich gelöst, die Züge seines Gesichts gewannen wieder Farbe, Leben und Ausdruck, seine Brust hob sich leichter athmend, wie neu beseelt. Tagelang hatte er regungslos wie eine Leiche dagelegen, und jetzt vermochte er sogar mit eigner Kraft sich im Bette aufzurichten, und als der Arzt den Maler Kügelgen erwähnte, zog er eine kleine unscheinbare Mappe hervor, die er unbemerkt bei sich verborgen gehalten, und benetzte sie mit einem Strom von Thränen, den ersten vielleicht, die er seit seiner Kindheit geweint.

Das Übel, das mit verzehrender Gewalt ihn befallen, war jetzt nicht mehr zu verkennen; eben jene kleine unscheinbare Mappe hatte den Ausbruch desselben veranlaßt, oder doch wenigstens beschleunigt. Lange hatte sie unbeachtet, [401] sogar vergessen, unter andern Papieren begraben, in Iwans Schreibtisch gelegen, als dieser während Richards Abwesenheit auf den Einfall kam, hier einmal Ordnung stiften zu wollen. Die Mappe fiel ihm in die Hände; ohne deutlich sich zu erinnern, was sie enthielt, öffnete er sie, und umgeben von Gärten und Bäumen, von hohen majestätischen Felsengruppen umfriedet, lag das ländliche Haus seines Vaters vor ihm. Karl von Kügelgens Meisterhand, der jetzt schon ebenfalls, fern von seinem gemordeten Zwillings-Bruder den langen Schlaf schläft, hatte vor vielen Jahren, skizzenartig, aber geistreich und treu, diese Zeichnung entworfen, und bei seinem Abschiede von Iwans gastfreien Eltern, sie ihnen zum Andenken hinterlassen. In der Staffage des Vordergrundes waren sogar einige Figuren angebracht, denen im leichtesten Umriß unverkennbare Ähnlichkeit mit Iwans Eltern und Geschwistern aufgedrückt war.

[402] Heimweh, tief und verborgen an den Grundfesten seines Lebens nagendes Heimweh ergriff hyänenartig bei diesem Anblicke den Sohn des Gebirges, und überwältigte den kaum Genesenden völlig. Er mußte diesem wunderbaren, in tausend verwirrenden Gestaltungen sich zeigenden Übel geistig und körperlich erliegen, das nur in bleibendem Wahnsinne oder im Tode enden kann, wäre es nicht noch zur rechten Zeit erkannt worden, um das einzige Mittel das davon heilen kann anzuwenden, welches aber auch in seiner Wirkung nie täuscht: Wiedersehn!

Schnell, kräftig, ohne Säumen, mußten jetzt alle Anstalten getroffen werden, den Unglücklichen zu retten, und durch die gesicherte Hoffnung baldiger Rückreise in sein Vaterland ihn vor einem Rückfalle zu bewahren, der ihn völlig dem Untergange zugeführt haben würde. Der kaiserliche Leibarzt stellte ihm ein Zeugniß aus, mit dessen Hülfe es dem Fürsten Andreas gelang, ihm [403] zu Wiederherstellung seiner Gesundheit Urlaub auf unbestimmte Zeit zur Rückkehr in sein Vaterland auszuwirken. Während dessen wurden die besten Maßregeln getroffen, um Iwans Anverwandte von seinem Zustande und seiner baldigen Ankunft zu benachrichtigen; was allerdings in jenen fernen oft unruhigen Gegenden nicht so leicht auszuführen ist als bei uns, wo Herr von Nagler Postillionen und Postpferden Flügel anzusetzen weiß.

Zuletzt mußte auch Richard sich entschließen den Freund, für den er schon so viel gethan und gelitten, zu begleiten, den man, aus verschiedenen Gründen, auf einer so weiten Reise nicht wagen durfte, nur sich selbst und der Obhut eines Dieners zu überlassen.


Betragen wir uns nicht wie Kinder? und zwar wie recht verzogene, verwöhnte Kinder, die [404] sich anstellen, als ob wunder großes Unrecht ihnen widerführe, wenn es nun endlich heißt: für heute ist es genug, morgen kommt wieder ein Tag: sprach Helena lächelnd zu ihrem im bangen Vorgefühle des nahen Abschieds versunkenen Freunde.

Morgen! seufzte Richard, und welche Reihe unheilbringender Tage, die ich fern von Dir hinleben muß, wird vielleicht dem folgen, der morgen anbricht! Helena! wüßtest Du, wäre es möglich daß – doch nein. Aus einigen Äußerungen, die Dir zuweilen entschlüpfen, möchte es mir zwar scheinen, als ob – doch es ist unmöglich. Wie könntest Du in dieser heitren Unbefangenheit verharren, wenn Du nur auf das Entfernteste ahnetest, welche Greuel eine Menschenbrust, dicht neben Dir, verschließen kann! Morgen reise ich! wer kann vorhersehen, ob meine Entfernung von Dir sich nicht über die ihr vorgezeichnete Grenze ausdehnen wird? Ich [405] gehe mit beklommener Brust und centnerschwerem Herzen. Gieb mir den einzigen Trost mit auf den Weg, der einigermaßen mich beruhigen kann; gestehe mir nur das Einzige, weißt Du, oder kannst Du wenigstens errathen, was es ist, das, gerade in dieser Zeit, auch die kürzeste Trennung von Dir und den Deinen mir so ungewöhnlich, so grenzenlos erschwert?

Wie magst Du nur mit solchen dunklen Fragen und Anspielungen diese Stunde uns verderben! erwiederte Helena. Indessen, setzte sie nach kurzem Bedenken hinzu, da es doch scheinen will, als ob Du ohne meine Antwort nicht mit Dir selbst fertig werden kannst, so will ich auch hierin Dir willfahren, und Dir gestehen, nicht was ich blos errathe, denn mit dergleichen pflege ich mich nicht abzugeben, sondern was ich wirklich weiß.

Mit diesen Worten stand sie auf, und trat dicht vor ihn hin; Richard blickte forschend sie [406] an, als wolle er durch ihre Augen bis in das Innerste ihrer Seele dringen; seine zitternde Hand umschloß die ihrigen, die sie ihm ruhig überließ, sein ganzes Wesen deutete auf heftig gespannte Erwartung; Helena schien das alles nicht zu bemerken.

Achte genau auf meine Worte, schiebe keinem derselben eine andere Auslegung unter, denn wörtlich wie ich es meine, so spreche ich es auch aus, fing sie sehr ernst und bedeutsam an; was ich weiß, sollst Du jetzt erfahren. Fürs erste weiß ich, daß es Frauen nicht ziemt in Geheimnisse eindringen zu wollen, an welchen öffentlich Theil zu nehmen ihr Geschlecht ihnen verwehrt. Dann weiß ich aber auch, daß Männer durch halbverständliche Andeutungen und Fragen ihnen dieses bescheidene Zurücktreten nicht erschweren sollen, indem sie dadurch obendrein sich selbst der Gefahr aussetzen, in einem unbewachten Augenblicke das, was ihnen das Heiligste sein muß, ihr [407] feierlich gegebenes Wort zu verletzen. Sie dürfen nie vergessen, daß selbst in dringender Todesgefahr dieser Ausweg ihnen verschlossen bleiben muß. Schweigend soll der Mann untergehen, schweigend sogar die Geliebte ins Grab sinken sehn können, wenn nur Meineid sie retten kann. Die schmerzlichste Trennung müßte ja einer solchen That unausbleiblich folgen; weit schmerzlicher als der Tod muß es sein, in dem einst Geliebten einen Wortbrüchigen verachten zu müssen.

Helena schwieg. Richard schlug, geblendet von der Hoheit, welche in diesem Augenblicke sie umstrahlte, die Augen nieder. Sie sah ihn lange und fest an; ich sehe, Du hast mich verstanden, sprach sie leise.

Sieh nicht so schwarz in unsre schöne Welt hinein, in unser an Hoffnungen so reiches Jugendleben: nahm sie lächelnd wieder das Wort, als Richard in düsterm Schweigen noch immer [408] vor sich hinstarrte. Was für ein Unheil ist es denn, das uns heute bedroht? eine Trennung von höchstens dritthalb Monaten, denn Deinen Urlaub wirst Du gewiß nicht überschreiten wollen. Und nach so viel Sorge, Angst und Nachtwachen am Krankenbette, bedarfst Du zu Deiner Erholung dieser Reise fast nicht weniger als Dein Freund, den Du in die Arme seiner Familie zurückführen willst. Unbegreiflicher Verrath eines heiß geliebten Mädchens hat, wie ich von Eugen vernahm, den Armen dem Wahnsinne, und beinahe dem Tode zugetrieben.

Nicht nur die Untreue der Geliebten, viel Gräßlicheres noch hat eine Wunde ihm geschlagen, die keine Zeit heilen kann, sprach Richard.

Ich denke das Erste allein wäre genug, um seinen traurigen Zustand zu erklären, fiel Helena ihm ein: übrigens habe ich, so viel ich weiß, ihn nie gesehen; es wäre indiskret, in seine nähern Verhältnisse eindringen zu wollen.

[409] Richard sah ein, daß Helena absichtlich alles vermied, was zu Erläuterungen führen konnte, denen auszuweichen sie fest entschlossen war; er fügte sich ihrem Willen, so schwer es ihm auch wurde. Ihre beiden Brüder kamen jetzt hinzu, um den Freund vor seiner Abreise noch einmal zu sehen. Ihre Gegenwart löste jeden Mißton in Richards Gemüth, Helena suchte in der gemäßigteren Stimmung ihn zu erhalten, die allmälig sich seiner bemächtigte, und die Anmuth ihres Geistes trug auch diesmal den Sieg davon. Ehe er sich dessen versah, hatte er von der Geliebten Abschied genommen, um sich nun zu ihrem Vater zu begeben, der ihn erwartete, und der ruhigere Schlag seines nur noch von wehmüthigem Trennungsschmerze erfüllten Herzens, das vorhin in wilder Aufregung tobend, ihm die Brust zu zersprengen drohte, erschien ihm selbst beinahe wie ein Wunder.


[410] Fürst Andreas saß an seinem Schreibtische, als Richard zu ihm hinein trat. Sorgsam vorbereitet, als gälte es einem geliebten, eine lange, nicht ganz gefahrlose Reise antretenden Sohne, und nicht dem armen namenlosen Fremdlinge, der weiter keine Ansprüche an ihn hatte, als die er gütig ihm gewähren wollte, lag alles ausgebreitet vor ihm, was zur Annehmlichkeit und Sicherheit von Richards Reise bis an die fernste Grenze des kolossalen Kaiserreiches beitragen konnte: Kreditbriefe, Reiseroute, Empfehlungen an die bedeutendsten Bewohner und an die Behörden der Orte, durch welche sein Weg ihn führen mußte. Daneben lag das Tagebuch, welches der Fürst vor mehreren Jahren auf dieser nämlichen Reise eigenhändig und sorgfältig niedergeschrieben hatte.

Richard fand bei diesem väterlichen Empfange keine Worte, um sein dankbares Gefühl laut werden zu lassen. Doch nicht dieses allein war es, was Athem und Sprache ihm benahm, noch [411] viel Andres erfüllte bis zum Überfließen sein Herz. Er wollte zum stummen Beweise seines Dankes wenigstens die Hand seines Wohlthäters an seine Lippen drücken, der edle Fürst zog in väterlicher Umarmung ihn in seine Arme, an seine Brust, und Richard brach in Thränen aus; er konnte nicht anders, es war zu viel für das ihn überwältigende Gefühl.

Der Fürst war weit davon entfernt, diesen Ausbruch seines Gefühls dem augenscheinlich Tiefbewegten verargen zu wollen, aber doch hielt er es für gerathen, ihn nicht zu bemerken, um nicht in die nächste Veranlassung zu demselben eindringen zu müssen, welche er dem ihm nicht unbekannt gebliebenen Abschiedsbesuche bei Helenen zuschrieb.

Schonend wollte er ihm Zeit lassen sich zu fassen, und nahm deshalb sein Tagebuch zur Hand, aus welchem er einiges wohl zu Beherzigende ihm mittheilte. Er sprach viel von den Sitten und Gebräuchen der Völker, mit denen [412] Richard unterwegs in Berührung kommen würde, prieß die erfreulichen Fortschritte der Kultur in Georgien, seit dieses Volk beim Anfange dieses Jahrhunderts, unter dem Kaiser Paul, sich freiwillig dem russischen Scepter unterworfen, vergaß aber auch nicht die wilden Horden der Tschetschen und Tscherkessen zu erwähnen, die zu großen Räuberbanden vereint, oft gleich einem Heuschreckenheere das Land überfallen und den Reisenden gefährlich werden.

Dann kam er auf die Behandlung des Landbaues, dessen Verbesserung unter diesem günstigen Himmelsstriche, in diesem üppig fruchtbaren Boden, seiner Behauptung zufolge, noch Vieles zu wünschen übrig läßt; zuletzt erwähnte er das dortige Fabrikwesen, die Stoffe in Gold, Silber und Seide, die köstlichen Shawls, die reichen Teppiche jener Länder. Hier befand sich der gute Fürst in seinem Elemente, fröhlichen Muthes schwang er sich auf sein Lieblings-Steckenpferd, [413] und tummelte sich eine gute Weile zwischen Plänen und Ideen zur Vervollkommnung jener Fabrikate und Erleichterung der Verbreitung derselben durch den Handel, ganz lustig herum. Richard hörte, wenigstens scheinbar aufmerksam, ihm zu, als der Fürst, der jetzt ihn ruhiger geworden glaubte, mitten in Aufträgen, die er in Hinsicht auf jene Pläne zum allgemeinen Besten ihm gab, sich selbst plötzlich unterbrach.

Bin ich thöricht, rief er, Dich da mit Dingen zu behelligen, die wahrscheinlich ganz außerhalb des Bereichs Deines Wirkungskreises liegen bleiben werden! Denn das kaukasische Gebirge wirst Du wohl nur von fern erblicken, und die uralte Stadt Tiflis gar nicht, was mir freilich sehr leid thut. Iwans Verwandte kommen vermuthlich noch diesseits des Gebirges ihm entgegen, um nach der ihm zu seiner völligen Genesung verordneten Heilquelle von Kislawodsk [414] ihn zu begleiten, die an belebender Kraft freilich ihres Gleichen in der Welt nicht hat. Auch Dir möchte der Gebrauch dieses wunderbaren Wassers ebenfalls sehr heilsam sein, aber es wird Dir an Zeit dazu mangeln; Du darfst Deinen, ohnehin auf ungewöhnlich lange Zeit Dir gewährten Urlaub, in keinem Falle überschreiten, und in jenen Gegenden, auf schlechten, zum Theil fast ungebahnten Wegen, kommt man so rasch nicht vorwärts als bei uns. Du hast auch auf die noch schwachen Kräfte Deines Freundes Rücksicht zu nehmen; pflege ihn sorgsam, und fahre ja in jeder Hinsicht fort, ein wachsames Auge auf ihn zu halten. In jeder Hinsicht, Du verstehst mich? in jeder Hinsicht: wiederholte der Fürst, indem er einen ganz eignen Nachdruck auf diese Worte legte. Und nun laß uns beim Abschiede uns kurz fassen, ich liebe keinen langen, setzte er sehr mild, fast weich werdend hinzu; geh' jetzt, mein Sohn, kehre mit neugestärkter [415] Lebenskraft zur rechten Zeit in Deine Heimath zurück. Gehe, wiederholte er sich abwendend, mit einer verabschiedenden Bewegung der Hand, als er bemerkte, daß Richard in augenscheinlich höchst leidenschaftlicher Aufregung stehen blieb.

Der Fürst blickte sehr ernst, wenn gleich nicht zürnend ihn an; es herrschte in dem ziemlich geräumigen Zimmer eine Stille, man hätte den Fall einer Stecknadel hören können, und Richard stand noch immer lautlos und unbeweglich.

Hast Du noch etwas auf dem Herzen, mein Sohn? fragte endlich Fürst Andreas; daß Du mir vertrauen darfst, weißt Du, doch ermahne ich Dich, Eines wohl in Überlegung zu ziehen, ehe Du den Gedanken laut werden lässest, der noch in Unentschiedenheit auf Deinen Lippen zu schweben scheint; bedenke wohl, daß das einmal ausgesprochene Wort kein Gott wieder zurückruft, es ungehört zu machen liegt außer dem [416] Gebiete der Möglichkeit; und doch giebt es Dinge, die weder Dir auszusprechen, noch mir anzuhören, für jetzt wenigstens durchaus noch nicht ziemen will.

In steigender, mit sich selbst ringender Spannung, stand Richard noch immer schweigend da.

Noch eines empfehle ich Dir wohl zu beherzigen, fuhr der Fürst halb verlegen, halb mißmüthig fort: hüte Dich vor Ungeschick und Übereilung, bedenke daß der Verständige geduldig es abwartet, bis durch des Himmels Begünstigung und sein eignes Bemühen die Frucht am Baume gereift ist; nur ein Thor wird vor ihrer gänzlichen Entwickelung, gleichsam noch halb in der Blüthe, sie herunterreißen wollen. Nur dem vollendeten Tagewerke gebührt der Lohn. Um zu zeitigen, muß man allem was zeitigen soll, Zeit lassen; die Lehre liegt schon in dem Worte allein.

Dem armen Richard wurde es immer ängstlicher und befangener zu Muthe; die Worte, die [417] Blicke seines Wohlthäters, alles verwirrte ihn. Daß die dunkeln, ihm ganz unverständlichen Reden desselben nur dahin abzwecken sollten, ihn von einem übereilten Geständnisse seines Verhältnisses zu Helena abzuhalten, das kam ihm, der noch nie daran gedacht hatte, durchaus nicht in den Sinn. Zwar hatte der Fürst durch absichtliches Nichtbemerken, und auch auf andre Weise diesem Verhältnisse gewissermaßen seine Zustimmung gegeben, aber es lag in seinem Plane, es zu ignoriren, während er es duldete, und Richards seltsames Benehmen hatte ihn wirklich eine Erklärung befürchten lassen, die wenigstens für jetzt ihn sehr unangenehm berührt haben würde. Richard aber, in diesem Augenblicke nur von einem einzigen Gedanken erfüllt, legte den geheimnißvollen Warnungen seines Beschützers eine Deutung unter, deren Gräßlichkeit ihn mit Angst und Schauer ergriff. Und so standen beide einige Sekunden lang im seltsamsten gegenseitigen [418] Mißverstehen einander schweigend gegenüber.

Richard hielt es nicht länger aus. Außer sich, bebend, als gelte es die ewige Seligkeit, warf er, zum erstenmale in seinem Leben, sich dem Fürsten zu Füßen, und umfaßte dessen Kniee.

Was soll das? rief dieser heftig, indem er zürnend zurücktrat: Komödie wirst Du doch mit mir nicht spielen wollen?

Eine verneinende Bewegung, ein flehendes Aufblicken zu ihm, waren die einzige Antwort, welche Richard aufzubringen vermochte.

Mein Sohn, sprach der Fürst in etwas ruhigerer Fassung, nochmals warne ich Dich, hüte Dich vor Unbesonnenheiten, denn es giebt Dinge, die ich mit dem besten Willen selbst Dir nicht ungeahndet hingehen lassen darf. Ich fordre nochmals Dich auf, dieses nie zu vergessen. Und nun entdecke mir, was so schwer auf Deinem Herzen zu lasten scheint, wenn Du nach dieser [419] sehr ernst gemeinten Warnung überzeugt bist, es zu dürfen. Aber nicht so: setzte er hinzu, indem er des noch immer vor ihm knieenden Richard Arm ergriff: mir gegenüber, Auge in Auge, wie es zwischen freien Männern sich gebührt.

Mitleid! Erbarmen! Rettung erflehe ich; nicht für mich! aus mir werde was mein Schicksal will; rief Richard, kaum seiner selbst mächtig, indem er von den Knieen sich erhob: für Sie, mein Beschützer, mein Wohlthäter, mein Vater, Rettung für Sie, für die Ihrigen, für Millionen Menschen, für unser großes heiliges Vaterland.

Ich verstehe nicht was Du meinst, erwiederte voll Erstaunen der Fürst.

Hier auf dieser Stelle möchte ich mein Herzblut vergießen, allem entsagen, was mir auf Erden am theuersten ist, wüßte ich dadurch Sie zu bewegen, auf mein Flehen zu hören: fuhr Richard aus vollem überströmenden Herzen fort. [420] Ein unaussprechliches vorahnendes Gefühl verfolgt mich Tag und Nacht; fürchterliche Angst, die mich so von hier nicht scheiden lassen will, Dankbarkeit, Pflicht, alles treibt mich, und sollte Ihr Zorn darüber ewig mich verfolgen, ich muß flehend Sie beschwören, o treten Sie zurück aus jenem fürchterlich entarteten Bunde! vernichten Sie jene Rotte, deren teuflische Künste Sie und uns Alle zu umgarnen trachten; jene sogenannten Söhne des Vaterlandes, die Tugend und Vaterlandsliebe auf der Zunge, über vom Fürsten der Finsterniß, im tiefsten Abgrunde der Hölle ersonnene Verbrechen brüten; vor allem aber das würdige Werkzeug desselben, jenen gleißnerischen trügerischen Buben – –

Das wäre es also? das quälte Dich, und darüber, glaubst Du, könnte ich Dir zürnen? Nein, wahrlich, auf diese Entdeckung mich vorzubereiten, bedurfte es so großer Umwege nicht; unterbrach ihn sehr freundlich der sichtbar erleichterte [421] Fürst. Guter, redlicher Mensch, wie könnte ich Deine Absicht verkennen? komme nur wieder zu Dir selbst, fasse, beruhige Dich, und Du sollst erfahren, wie überflüßig Deine große Sorge war. Daß ich Dir immer Vertrauen schenkte, so viel Deine große Jugend und Deine Stellung im Leben dieses erlaubten, habe ich Dir oft mit der That bewiesen. Von diesem Augenblicke an verlasse ich mich auf Dich, wie auf mich selbst, und Du sollst alles erfahren; doch laß uns das Wichtige mit geziemender Ruhe behandeln.

Was Du verlangst, ist größtentheils vollbracht: fing der Fürst mit dem väterlichen Ausdrucke innigen Wohlwollens an, als Richard von jener gewaltsamen Aufregung sich völlig erholt hatte. Der Bund, den Du mit großem Rechte entartet nennst, zerstiebt einstweilen in sich selbst, und seine förmliche Auflösung, die doch nicht ganz unbemerkt vorüber gehen möchte, wird dadurch [422] überflüßig. Gleich nach jener letzten großen Versammlung, die wohl keiner jemals vergessen wird, der ihr beiwohnte, hat eine ziemlich bedeutende Anzahl der Verbündeten vor dem Rathe der Alten den Wunsch um Entlassung aus demselben erklärt; ohne Zögern ward er jedem mit der Versicherung gewährt, daß der Bund ohnehin als völlig aufgelöset zu betrachten sei. Zwar haben wir schon früher denen, die in ihrem Eifer etwas lauer zu werden schienen, das Nämliche aus Vorsicht gesagt, doch diesesmal verhält es sich wirklich so; der Bund ist völlig im Verfalle und seinem Ende nahe; wer nicht Muth genug besitzt, um förmlich ihm zu entsagen, der tritt schweigend zurück, oder verreiset auf einige Zeit; und zu diesen letztern zählen sich Männer von großer Bedeutung, die einst zu den ersten Stiftern unsrer Verbindung gehörten.

Richard war jetzt nicht nur ruhig genug, um ein sehr aufmerksamer Zuhörer zu sein, er hatte [423] auch sogar den Muth gewonnen, einige Zweifel an der wirklichen Aufhebung des Bundes zu äußern, vor allem aber sein bittendes Warnen in Hinsicht auf den Obrist Pestel zu wiederholen.

Ich bitte mir hierin unbedingten Glauben zu gewähren, der Bund sinkt schnell, ohne äußeres Zuthun, und deshalb um so unaufhaltsamer seiner völligen Auflösung zu; erwiederte Fürst Andreas. Seit jener Nacht hat keine große Versammlung wieder Statt gehabt; doch während Du an Iwans Krankenbette wachtest, sind wir nicht müßig geblieben; eine kleine Auswahl wahrhaft wohlgesinnter Freunde hat oft sich versammelt, um sich über das was zuvörderst Noth thut zu berathen; daß Pestel nicht in ihrer Mitte war, brauche ich wohl nicht zu versichern. Er und sein Thun sind uns jetzt kein Geheimniß mehr; wir kennen ihn jetzt, jenen eifrigen Verfechter der Freiheit, der alles vor sich niedertreten möchte, um sich selbst zu erheben. Das Lügengewebe [424] liegt ausgebreitet vor uns, mit dessen Hülfe es ihm damals gelang unsern Sinn zu verwirren, so daß er jenem Abgrunde des Verbrechens uns zutreiben konnte, vor welchem des armen Iwans ausbrechender Wahnsinn wie durch ein Wunder uns bewahrte. Entlarvt steht er vor uns, der große Künstler, und es wird keines zweiten Wunders bedürfen; wir kennen ihn jetzt, und das sichert vor ihm und seinen Künsten.

All' unser Wollen und Beabsichtigen war rein, wie das Licht der ewigen Wahrheit, ehe jener aus List, Ehrgeiz, und nichts heilig achtendem Egoismus zusammengesetzte Fremdling, in unsern engen Freundeskreis sich einzuschleichen wußte; fuhr der Fürst im Verlaufe des immer ernster und angelegentlicher sich gestaltenden Gesprächs fast klagend fort. Unsre Pläne für das allgemeine Wohl des Vaterlandes waren solcher Art, daß selbst die große edle Seele unsers Czaars, [425] den Gott uns noch lange erhalten möge, weder seinen Beifall, noch selbst seine Unterstützung ihnen versagt haben würde, wären wir mit der Ausbildung derselben nur so weit ins Klare gekommen, daß wir sie, wie es unser fester Wille war, ihm hätten vorlegen können. Doch Pestel wußte dieses heimlich zu verhindern; gleich einem geschickten Taschenspieler leitete er durch allerlei Künste unsre Aufmerksamkeit von dem Punkte ab, dem wir sie ausschließend hätten zuwenden sollen. Nicht Abänderung einiger verjährten Mißbräuche, die für unsre Zeit nicht mehr passen, nicht Verbesserung der Zustände, wie sie jetzt noch bestehen, will er mit uns vereint herbeiführen. Alles umwerfen, alles vernichten, und dann auf rauchenden Ruinen sich einen Thron erbauen, das ist sein Plan, den wir glücklicher Weise jetzt durchschauen.

Im engern Kreise stellt er uns immerwährend die vereinten Staaten von Nordamerika als [426] Vorbild auf; immer läßt er die unsinnige Idee durchblicken, dieses unübersehbar große Reich in eine Republik umzuwandeln. Unser Washington möchte er werden; er ein Washington! eher ein Bonaparte, wenn Glück, Talent und Gelegenheit ihn wie diesen begünstigen möchten, und die ewige Barmherzigkeit zwei solcher Zuchtruthen, so schnell auf einander folgend, auf die kaum befreit aufathmende Welt herabsenden wollen könnte.

Die blutigen Gräuel wilder Anarchie, welche zur Zeit des Terrorismus unter Marat, Robespierre, und den übrigen Hyänen in Menschengestalt das unselige Frankreich verwüsteten, sind, wie er behauptet, hier durchaus undenkbar; denn, spricht er, in Paris ging die Revolution vom Pöbel aus, hier wird sie von der Armee ausgehen; aber zu seinem eigenen Verderben wird er erfahren, in welchen ungeheuern Irrthum er verfallen ist. Zwar unterläßt er nichts, was dazu [427] dienen kann, den Soldaten gegen seinen Oberherrn zu erbittern; wir folgen ihm auf jedem seiner Schritte, und es entgeht uns nicht, wie er mit unmenschlicher Härte, oft sogar schreiend ungerecht, leichte militairische Vergehungen bestraft, und dann es heuchelnd bedauert, durch expressen Befehl von höchster Hand zu so unbilliger Strenge gezwungen zu sein. Doch es wird, es kann ihm nie gelingen; der russische Soldat ehrt Gott wie seinen Kaiser, und seinen Kaiser wie Gott; in dem rohen aber treuen Sinne dieser einfachen unverbildeten Gemüther, schmilzt der Begriff von Beiden in Eins zusammen.

Sobald Pestel und seine Genossen irgend eine Äußerung wagen, die mit dem natürlichen Pflichtgefühle des gemeinen Soldaten nicht ganz vereinbar ist, frägt dieser gleich: ist das aber nicht gegen unsern Eid? und weiß der Kaiser darum?

Einige Stunden waren in diesem, für beide [428] Theilnehmer gleich interessantem Gespräche unbemerkt vergangen; denn daß Fürst Andreas nicht immer allein das Wort führte, und über vieles weitläuftiger sich verbreitete, was hier enge zusammen gedrängt erscheint, bedarf wohl kaum erwähnt zu werden. Mitternacht war vorüber, die unvergleichlich schöne kurze Sommernacht des hohen Nordens begann schon dem Tage zu weichen. Heller und immer heller flammte es im Osten auf, den nahen Aufgang der Sonne verkündend, als endlich Richard mit sehr erleichtertem Gemüthe von seinem hohen väterlichen Freunde Abschied nahm.

Sein Weg führte an dem Hotel des Grafen Stephan ihn vorüber, den er, auf mancherlei Weise daran verhindert, seit längerer Zeit nicht gesehen. Tiefe nächtliche Stille deckte noch das große Gebäude; für den Abschiedsbesuch, den er hier abzulegen sich vorgenommen, war es jetzt beides, zu spät und zu früh geworden. Er wandte [429] daher ohne Säumen sich seiner Wohnung zu, wo er Iwan noch schlafend, und für sich selbst noch ein paar Stunden zum Ausruhen zu finden hoffte. Zu seinem Erstaunen kam Iwan schon völlig reisefertig ihm beim Eintritte entgegen, und drang mit fliegender Ungeduld auf augenblickliche Abreise.

Nur fort, nur fort aus dieser geschniegelten Welt, rief er in fieberhafter Hast: hier brennt der Boden mir unter den Sohlen, ich kann nicht athmen, der Himmel lastet schwarz und schwer, gleich dem Deckel eines Sarges, auf mir, und nur daheim in meinen Bergen weht frische Lebensluft.

[1]

Zweiter Theil

Vorwärts, nur immer vorwärts! trieb Iwan unaufhörlich, abwechselnd bittend und fluchend, in fieberhafter Rastlosigkeit. Große Staubwolken wirbelten zum Himmel auf, die kleinen zottigen Pferde keuchten in fliegendem Galopp, unter fortwährendem Peitschenknallen der durch unerhörte Trinkgelder zu unerhörten Thaten begeisterten Postillione, vor der leichten Kibitka. So ging es, bei Sonnen- und Mondenschein, bergauf bergab, die langen heißen Tage, die wundervollen lauen Nächte hindurch, bis endlich Moskau erreicht war.

Nur wenn glücklicher Weise einmal am Wagen etwas brach, ein Pferd stürzte, oder die [1] Räder bei der übergroßen Eile in Brand geriethen, nur durch solch einen willkommnen Zufall war es Richard einigemal gelungen, eine kurze Zeit zum Ausruhen zu gewinnen. Doch durfte diese erzwungene Ruhe nie zu lange währen, wenn Iwans krankhafte Ungeduld nicht bis zum Unerträglichen sich steigern sollte. Der Unglückliche glaubte dann in jedem auf ihn zuschreitenden Reisenden den Boten zu sehen, der gesandt sei ihn gewaltsam zurück nach Petersburg zu führen, und brach in so ängstliche herzzerreißende Klagen aus, daß Richard der eigenen Ermüdung darüber gern vergaß, und die Fortsetzung der Reise auf jede Weise zu beschleunigen suchte, aus Furcht, Iwan könne bei längerem Verweilen zurück in seinen vorigen trostlosen Zustand, oder wohl gar in unheilbaren Wahnsinn verfallen.

In unglaublich kurzer Zeit hatten die Reisenden auf diese Weise den weiten Weg bis Moskau [2] zurückgelegt, ohne einen bedeutenden Unfall zu erleiden. Der Anblick der ihm wohlbekannten Plätze und Straßen, der Häuser und Paläste, wirkte beruhigend auf den sonst rastlosen Iwan. Er rief jene genußreiche Zeit ihm zurück, die er bald nach der Trennung vom Vaterlande hier verlebte; hierher war er mit frischen Sinnen, ein mit dem ernsteren Gange des Lebens noch unbekannter Neuling in der Welt, zuerst gekommen; warum, dachte er, sollte er von hier aus, wo er schon auf halbem Wege sich befand, nicht wieder in sein Vaterland zurückgelangen können? Ein wunderlicher Schluß, wie er wohl in einem so tief und so schmerzlich zerrütteten Geiste nur entstehen konnte; aber er besänftigte doch die bis aufs höchste getriebene Spannung seiner Nerven. Iwan fing an sich ermüdet zu fühlen; zum erstenmal seit Petersburg erblickte er im Spiegel seine bis zum Unkenntlichen veränderte Gestalt, und verlangte [3] jetzt selbst sich hier einige Tage zu erholen.

Nein, sprach er: so darf meine Mutter ihren Sohn nicht wieder finden, sie könnte den Tod davon haben! ich halte es hier wohl einige Zeit aus; sehe ich doch schon einzelne Gestalten in der Tracht meines Landes an meinem Fenster vorüber ziehen, schallen doch schon zuweilen einige Töne aus meiner Muttersprache erquicklich zu mir herauf, auch wehen heimathliche Lüfte mich schon an, und ermuthigen mir zum schönsten Hoffen das gesunkene Herz.

Richard trachtete vor allem den Freund in dieser heilsamen Stimmung zu bestärken; er führte, freilich mit großer Auswahl, einige seiner früheren Bekannten ihm zu, um ihm die Zeit zu verkürzen, und hielt sich und seinen Freund für völlig geborgen, als er durch einen glücklichen Zufall einen wohlhabenden in Moskau etablirten Teppichhändler aus Tiflis auffand, der mit seiner [4] Vaterstadt unaufhörlich in Handelsverbindungen stand. Dmitry, so hieß der gute freundliche Mann, schloß jetzt seinen Laden gern ein Stündchen früher als gewöhnlich, um regelmäßig jeden Abend zu seinem Landsmanne zu eilen, und über einer Pfeife ächten türkischen Tabak, von dem geliebten Vaterlande, und auch von Iwans Familie sich mit ihm zu unterhalten, die er früher persönlich gekannt hatte.

Während Iwan auf diese Weise beschäftigt, recht gern in seinem Zimmer blieb, gelassen der Ruhe pflegte, und nur fleißig im Spiegel nachsah, ob er bald im Stande sein würde vor seiner Mutter zu er scheinen, ohne sie allzu sehr zu erschrecken, lebte Richard ganz ungehindert in den Erinnerungen, freudigen und trüben, die hier bei jedem Schritte, tausendfach gestaltet, sich ihm entgegendrängten. Von seinem Herzen unwiderstehlich gezogen, galt sein erster Ausgang dem jetzt verödeten Palais des Fürsten Andreas.

[5] Indem er quer über den Vorhof dem einzigen jetzt offenen Seiteneingange desselben zuschritt, fiel eine aus diesem heraustretende Gestalt durch ihr seltsames Benehmen ihm auf; ein alter Russe, in der noch immer unter dem Bürgerstande üblichen Nationaltracht, mit einem, die ganze untere Hälfte des Gesichts verbergenden, sehr respectablen schneeweißen Barte, der von einem Ohre bis zum andern reichte, und ungewöhnlich lang, sich stattlich über die Brust hinbreitete. Die Augen blinzelten kaum sichtbar unter den grauen, buschigen Augenbrauen hervor, und eine große Mütze, mit tief hereingehenden Ohrenklappen, verdeckte fast gänzlich den übrigen Theil des Gesichts. Indem er an Richard vorüber ging, schien er wie erschreckt zusammenzufahren, maß ihn dann mit schnellem scharfem Blicke, wandte aber sogleich den Kopf nach der andern Seite, als Richard ihn anreden zu wollen schien, und eilte schneller davon, [6] als man es seinem Alter hätte zutrauen sollen.

Die ganze abenteuerliche Figur hatte etwas Lächerliches, aber auch zugleich Grausiges; Richard, als sie an ihm vorüber geglitten war, konnte es nicht lassen sich noch einmal nach ihr umzusehen; sie war verschwunden, der Hof war leer, doch als er schärfer hinblickte, wurde er den Weißbart draußen, hinter dem offenstehenden Thürflügel gewahr, wie er durch die Spalte zwischen Thür und Angel ihn beobachtete.

Schon wollte Richard auf ihn zueilen, um ihn um den Grund seiner sonderbaren Aufmerksamkeit zu befragen, doch eben trat einer der Diener des Fürsten in den Hof hinaus, der ihn sogleich erkannte; das überlaute Freudengeschrei, das er erhob, versammelte in einem Augenblicke die ganze Dienerschaft, vom Höchsten bis zum Geringsten um Richard her, lauter treue ihm wohlbekannte Gesichter, welche der Fürst zum [7] Schutze und zur Erhaltung der Ordnung in seinem Hause gelassen. Sie umfaßten seine Kniee, küßten seine Hände, seine Schultern, seine Arme, sogar seine Stiefeln, den Saum seiner Kleider, und er hatte in dem allgemeinen Jubel nicht Hände, nicht Athem, nicht Worte genug, um jedem Einzelnen zu danken, jeden Gruß besonders zu erwiedern! Eine Freude war unter diese treuen Seelen gekommen, als ob einer der Söhne ihres Herrn, ja ihr Herr selbst, unvermuthet heimgekehrt wäre.

Und als nun der erste freudige Tumult sich gelegt, Richard wie im Triumphe in die Wohnung des Kastellans geführt worden war, da ging es an ein gegenseitiges Fragen und Erzählen, ohne Anfang noch Ende; die Stunden flogen, Richard hatte sich verspätet, ehe er sich dessen versah. Um schneller nach Hause zu gelangen, warf er sich in eine der immer bereit stehenden Droschken; nach dem seltsamen Weißbart sich zu erkundigen, [8] wie er es sich vorgenommen, hatte er über all' den Jubel vergessen, und würde schwerlich seiner wieder gedacht haben, hätte er nicht beim Aussteigen vor der Thüre seines Hotels ihn ebenfalls in einer Droschke, in welcher er wahrscheinlich der seinen gefolgt war, langsam an sich vorüber fahren gesehn.

Von nun an bemerkte er überall die nämliche räthselhafte Gestalt; wohin er sich auch wenden mochte, erblickte er sie, doch nie in solcher Nähe, daß er sie hätte anreden können; so oft er dieses auch versuchte, gleich war sie verschwunden, er wußte selbst nicht wie noch wohin.

Richard fing allmälig an, dieses Abenteuer bedenklich zu finden; die mancherlei im Schwange gehenden Sagen von der Unsicherheit der Gegenden, durch welche der doch noch vor ihnen liegende Weg sie führen mußte, stiegen in abschreckender Gestalt vor ihm auf. Er gedachte der Räuberhorden, der furchtbaren Tschetschen [9] und Tscherkessen, welche sogar an jenem letzten unvergeßlichen Abende in Petersburg sein edler Beschützer warnend erwähnt hatte.

Wie, wenn jener mich so auffallend verfolgende Alte ein, mit einer jener Räuberbanden in Verbindung stehender Kundschafter wäre, der in irgend einem abgelegenen Winkel uns ihrer überlegenen Zahl ausliefern wollte? dachte er.

Es kam ihm selbst fast lächerlich vor, doch konnte er den einmal gefaßten Gedanken nicht wieder los werden, und begab sich zu dem des Landes kundigen Dmitry, um sich mit diesem darüber zu besprechen; doch indem er dem Hause desselben sich näherte, sah er zu seinem höchsten Erstaunen den räthselhaften Weißbart aus demselben hinaustreten, der, sobald er seiner gewahr wurde, sich mit bewundernswürdiger Leichtigkeit in seine bereit stehende Droschke warf, und über Hals und Kopf davon jagte.

Wer war das? fragte Richard ihm unverwandt [10] nachschauend, ohne die vielen Komplimente zu beachten, mit welchen der aus seinem Laden ihm entgegen kommende höfliche Teppichhändler seine Freude über den unerwarteten Besuch ausdrückte, und ihn einlud näher zu treten. Wer war das? fragte Richard noch einmal kurzweg.

Wer? wo? wie? wer das war? wen meint Ihr, Herr? erwiederte Dmitry und sah verwundert nach allen Seiten sich um. Ihr meint vielleicht den alten Grischa? der eben bei mir, zum Geburtstagsgeschenk für seine Frau, einen recht schönen Teppich gekauft hat? setzte er nach einigem Besinnen hinzu: ich habe ihn wohlfeil weggegeben, spottwohlfeil, sage ich Euch. Man sollte dergleichen nicht thun, es verdirbt den Preis, und die Zeiten sind schwer; doch einem alten Bekannten zu Gefallen! seufzte er, ächt kaufmännisch die Achseln zuckend.

Einem alten Bekannten? Ihr kennt den Mann, der eben von Euch wegfuhr, schon seit [11] längerer Zeit? fragte Richard nochmals, indem er mechanisch Dmitrys Einladung Folge leistete.

Was sollte ich den alten Grischa nicht kennen? kennt ihn doch halb Moskau! war die Antwort. Er ist seines Zeichens ein Kaviarhändler, und wohnt unfern Eurem Hotel. Der Kerl ist ein Geck, wie Ihr schon aus seinem großen Barte ersehen könnt, auf den er sich nicht wenig einbildet, und den er, lange vor der Zeit, durch allerlei Salben sich künstlich so weiß gebleicht hat, weil das bei Einigen für eine große Schönheit gilt. Wie gesagt er ist ein Narr, aber in seinem Geschäft pfiffig und gescheit genug. Hat er doch ein Geld zusammengescharrt! aber sein Kaviar geht auch weit und breit in der Welt umher, man sagt sogar bis nach Italien! Nach Danzig, nach Hamburg, nach Berlin reisen seine Diener alljährlich mit großen Quantitäten, soviel ist gewiß.

Richard bekannte, in welchem schweren Verdachte[12] er den harmlosen Weißbart gehalten, und Dmitry meinte vor Lachen darüber zu sterben. Grischa ein Räuberhauptmann! rief er einmal über das andre, und hielt sich die Seiten, während helle Thränen ihm über die Wangen rollten. Eigentlich ist mir das Ding wohl erklärlich: fing er an, nachdem er wieder ein wenig zu sich selbst gekommen war. Neben seinen übrigen vortrefflichen Eigenschaften hat er auch noch die, neugierig zu sein, wie eine Nachtigall. In diesen heißen Sommertagen hat er in seinem Handel wenig zu thun, da treibt er sich denn vom Morgen bis zum Abend in den Straßen herum, etwas Neues aufzuspüren; läuft allen Fremden nach, ist aber zu blöde, um ihnen Rede zu stehen. Ihr, Herr, seid nicht der Erste, dem dieses auffällt.

Der gastfreie Dmitry hatte während der Zeit die köstlichsten Erfrischungen, die in seinem Bereiche lagen, auftischen lassen, und fing jetzt [13] an mit einem Anerbieten heraus zu rücken, dessen Annahme, wie er ein wenig sarkastisch lächelnd hinzusetzte, die Reisenden gegen die Angriffe des tapfern Grischa und seiner Bande genugsam sichern müsse.

Längst schon, sprach er, rufen mich meine Geschäfte nach Nachitschewan, dem sehr anmuthig gelegenen und zugleich wohlhabendsten Handelsstädtchen im Lande; es liegt am Wege nach Kislawodsk, wohin Ihr der Bäder wegen übermorgen abzureisen gedenkt, wie ich höre. Ich hätte schon längst mit meinen Korrespondenten in Nachitschewan einmal persönlich abrechnen sollen, aber der Weg ist weit. Die Reise ist zwar, besonders in dieser Jahreszeit, bei weitem nicht so beschwerlich, die Wege weder so gefährlich noch so unsicher, als Reisende, die oft gern den Mund etwas weiter aufthun als nöthig wäre, es beschreiben. Aber man legt ihn doch immer lieber in guter zahlreicher Gesellschaft, als allein zurück. Wollt [14] Ihr mir nun übermorgen erlauben mit meinem eigenen Fuhrwerke, in Begleitung einiger meiner Diener mich Euch anzuschließen, so würde sie mir zur angenehmsten Spazierfahrt werden, und als einem des Landes Kundigen möchte es mir auch wohl gelingen, zu Euerer und Iwans Bequemlichkeit und Sicherheit mich als nicht ganz überflüßig auszuweisen.

Nichts konnte erwünschter sein, als dieser Vorschlag, der sogleich freudigst angenommen wurde. Die Reise ging zur bestimmten Zeit, unter den glücklichsten Vorbedeutungen vor sich; die beiden Kibitken nebst dem von mehreren Dienern begleiteten Packwagen des Kaufmanns, bildeten eine kleine ganz stattliche Karawane; für reichlich gefüllte Flaschenkeller und Speisekober, so wie für alles, was sie in diesem, doch noch immer etwas unwirthbaren Lande, vermissen konnten, hatte Dmitry bestens gesorgt. Iwan ergab sich darein, allnächtlich zu ruhen, die fieberhafte [15] Angst war von ihm gewichen, die zwischen Petersburg und Moskau ihn so gewaltsam vorwärts getrieben. Heitern Muthes durchzogen die Reisenden so manche lange, öde, unwirthbare Steppe, bis sie an die üppig blühenden Ufer des Don gelangten. Hier athmete Iwan schon heimathliche Luft; vollkommen genesen, schwelgte er in der Vorempfindung des nahen Wiedersehens, während Richard, durch Dmitry jeder Sorge um seinen Freund enthoben, der ihm neuen Welt sich freute, die ihn umgab. Alles entzückte ihn, der reine blaue Himmel, der schöne Strom, den zahllose Schiffe und zierlich bemalte Barken belebten, die vielen Städtchen und Dörfer, die an seinen Ufern sich hinziehen, denn Richard war weit davon entfernt gewesen, hier nur etwas dem Ähnliches zu erwarten; Dmitry aber, aus purer Dankbarkeit dafür, daß sie bisher alles, was er für sie gethan, sich so wohl hatten gefallen lassen, verdoppelte [16] seinen Eifer in der Vorsorge für die Freunde.

Schon waren sie dem Ziele, das Dmitry zu ihrer Begleitung festgestellt hatte, ziemlich nahe; sehr ermüdet von einer ungewöhnlich starken Tagereise langten sie, als die Sonne schon im Sinken war, in Rostow an, wo sie sich vorgenommen hatten zu übernachten. Rostow ist ein lebhaftes, sehr wohlhabendes Handelsstädtchen, hart am Ufer des hier ungewöhnlich fischreichen Don; Fische sind daher das Haupterzeugniß des Ortes; gedörrt, gesalzen, geräuchert, in allen nur erdenklichen Gestalten, werden sie von hier aus weit und breit umher verschickt; Alt und Jung, Weiber und Kinder, sieht man überall, an allen Ecken und vor den Thüren der Häuser, mit der Zubereitung derselben beschäftigt, was freilich, besonders an warmen Sommertagen, die das Städtchen umgebende Atmosphäre eben nicht zur angenehmsten macht; [17] man muß daran gewöhnt sein, um sie ertragen zu können. Ungeachtet ihrer Ermüdung, und obgleich Rostow eigentlich der Punkt war, wo ihr Weg von dem ihres bisherigen treuen Begleiters sich trennte, gaben die Reisenden doch dem Rathe und den Bitten des Dmitry gern Gehör, die wenigen Werste nicht zu scheuen, und ihm vollends bis Nachitschewan ihre Gesellschaft zu gönnen. Es war schon späte Nacht, als sie dort vor dem Hause eines armenischen Kaufmannes, Namens Ilia anlangten, der, ein Gastfreund ihres Freundes, sie sehr zuvorkommend empfing, und sogleich in die, dem Anscheine nach längst für sie bereit gehaltenen Zimmer führte.


Das ganze freundliche Städtchen Nachitschewan bildet eigentlich einen einzigen großen Bazar. Mit den köstlichsten, wie mit den gewöhnlichsten [18] Erzeugnissen des Orients angefüllte Magazine und Läden, nehmen fast durchweg den ersten Stock der Häuser ein, und in den mannigfaltigsten Trachten drängt lautes buntes Gewimmel von Käufern und Verkäufern sich in den lebensreichen Straßen.

Auch auf dem schönen Strome, der längs den Mauern des Städtchens sich hinzieht, geht es nicht minder lebhaft zu; ein- und ausladende, kommende und gehende Schiffe und Barken kreuzen durch einander in immer reger Beweglichkeit. Hier zieht ein Fischer das schwer beladene Netz aus den im Morgenstrahle wie Silber erglänzenden Wellen, dort wirft ein Andrer das Seinige aus, während an den blühenden Ufern, unter fröhlichem Sange und Gelächter, hoch aufgeschürzte Mädchen einen Regen blitzender Diamanten aus ihren bunt gemalten Gießkannen über ihr bleichendes Garn hinströmen lassen.

Zum erstenmale seit langer Zeit saß Richard [19] im Erker des freundlichen Zimmers, das der gastfreie Ilia ihm am vergangenen Abende angewiesen hatte, bei seinem Morgenkaffee ganz allein, er blickte hinaus in die ihn umgebende Pracht und Herrlichkeit der Natur, bewunderte den malerischen Effect der imposant hohen Gestalten der Einwohner, die in ihrer faltenreichen armenischen Tracht ernst und bedächtig einherschritten, und dem Orte einen, von allen bisher gesehenen ihn unterscheidenden, orientalischen Charakter verliehen; in großer Behaglichkeit gab er so dem lange nicht genossenen Bewußtsein des seligen Nichtsthun und des ungestörtesten Alleinseins sich hin.

Dmitry und Ilia hatten sich noch nicht gezeigt, vermuthlich wollten sie dem reisemüden Gaste Zeit zum Ausruhen lassen. Iwan aber war schon längst mit den beiden Söhnen des Ilia auf und davon, die er zu seinem großen Vergnügen glücklich aufgefunden hatte. Sie mußten [20] ihn hinaus zu all' den glänzenden Herrlichkeiten begleiten, die in den Straßen ihn unwiderstehlich anlockten; denn sein Beutel war noch wohl gefüllt; das Gold brannte ihm in der Tasche, und er vermuthete mit Recht, daß eine solche Gelegenheit, es in Geschenken für Mutter und Schwester anzulegen, sich ihm sobald nicht wieder bieten dürfe.

Ein lauter Schrei ganz in der Nähe, im Hause selbst wie es ihm schien, schreckte Richard aus dem ruhigen Genusse des gemüthlichen Stilllebens auf, das ihn umgab. Ein Getümmel entstand, wie von mehreren durcheinander laufenden Personen; weibliche und männliche Stimmen wurden durcheinander hörbar, weinende, freudige, scheltende, fluchende; und mitten durch klang Iwans zürnende Stimme am lautesten und vernehmlichsten von Allen.

Richard sprang auf, zur Thüre hinaus; aber seit seiner Ankunft war er noch nicht aus seinem [21] Zimmer gekommen, und daher völlig unbekannt mit den Lokalitäten des Hauses. Bald einige Stufen hinauf-, bald wieder andre hinabsteigend, gerieth er aus einem, durch Fenster von geöltem Papiere nur schwach erleuchteten, engen Gange in den andern, stieß überall auf verschlossene Thüren, und hörte dabei fortwährend, bald näher, bald entfernter das nämliche Geräusch, und von Zeit zu Zeit Iwans laut erhobene Stimme dazwischen.

Richard fing eben an zu überlegen, ob es nicht am gerathensten wäre, eine Seitenthüre, hinter welcher das Getöse sehr deutlich hervorscholl, gewaltsam zu erbrechen, als er am andern Ende des Ganges eine dunkle Gestalt vorsichtig an der Wand hinschleichen sah. Er blickte schärfer hin, nein, er irrte sich nicht: es war Grischa. Wie ein Tiger auf seine Beute, wollte er auf den ihm jetzt mehr als verdächtigen Weißbart losspringen, aber im nämlichen Augenblicke [22] legte eine kräftige Hand sich von hinten auf seine Achsel und hielt ihn fest.

Finde ich Euch endlich, rief Dmitry, denn dieser war es; Herr! nur hier herein, Unglück abzuwenden, wo wir Glück und Freude zu säen meinten; damit öffnete er eine Thüre, welche Richard in der Dunkelheit vorhin nicht bemerkt hatte, und schob ihn in ein helles geräumiges Zimmer hinein.


Einige Secunden lang staunte Richard die zahlreiche Gesellschaft sprachlos an, die er in seltsamen Gruppen vertheilt hier versammelt fand. Ilia, der Hausherr, stand ihm und der Thüre am nächsten; er hielt zwei angstbleiche, zitternde Knaben von funfzehn bis sechszehn Jahren festgepackt beim Kragen, die er unter lautem, ununterbrochenem Schelten mitunter derb zusammen schüttelte. Mit irgend etwas, das in ihrer Mitte [23] vorging, emsig beschäftigt, stand und kniete in einer Ecke des Zimmers ein undurchdringlicher Haufe armenischer Frauen und Mädchen. Doch von diesen nahm Richard weiter keine Notiz, denn Iwan zog seine ganze Aufmerksamkeit an.

Ähnlich einem zürnenden Halbgotte stand Iwan da, ganz so wie er damals in Petersburg, in jener fürchterlichen Nacht, vor der Versammlung der Verschworenen gestanden, aber liebend umfangen von den Armen einer schönen stattlichen Matrone, der er zu sehr glich, um in ihr nicht augenblicklich seine Mutter zu erkennen. Hinter ihm hob ein, ihm ebenfalls sehr ähnliches junges Mädchen, sich möglichst hoch auf den Fußspitzen empor, um mit ihren beiden Armen seinen Nacken zu umschlingen, was aber nicht ganz nach Wunsch gelingen wollte; ein zweites, noch jüngeres, begnügte sich damit, seine Kniee zu umfassen, und lächelnd unter Thränen, in dieser Stellung zu ihm aufzusehn; drei [24] im Alter wenig verschiedene hoch gewachsene Bursche betrachteten den Bruder mit unbeschreiblicher schüchterner Liebe und Freude; die ganze Familie Yakuchin war hier zum Empfange des lang entbehrten Lieblings versammelt, nur der Vater fehlte, den Geschäfte der Ernte einstweilen zu Hause noch fest hielten.

Die ganze Gruppe würde dem anmuthigsten Familiengemälde als Vorbild haben dienen können, hätte die Hauptfigur, Iwan, nicht die Harmonie desselben gestört, der bald wild tobend, wie ein aufgereizter Löwe, in furchtbaren Flüchen und Verwünschungen den allen unbegreiflichen innern Zorn seiner Brust ausströmen ließ, bald wieder im nächsten Momente, sanft und weich wie ein Kind, den Liebkosungen der Seinigen, sie erwiedernd, sich hingab, und gleich darauf wieder den Armen, die ihn umschlungen hielten, sich zu entwinden suchte, unter Drohungen, von denen Niemand begriff, wem sie gelten könnten.

[25] Richard übersah das Alles in weniger als einer Minute; unentschlossen stand er da, und Ilia war der erste, der seine Gegenwart bemerkte.

Herr, sprach Ilia, sehr anständig sich verbeugend, ohne jedoch die beiden vergeblich sich sträubenden Knaben loszulassen: Herr, ich möchte über diesen unverzeihlichen Empfang so hochgeachteter Gäste unter meinem geringen Dache vor Scham in die Erde sinken. Doch glaubt mir, diese unseligen Buben allein haben alle diese Verwirrungen hervorgebracht; sie haben ein Fest des Wiedersehens, über das die Engel im Himmel, wie die Menschen auf Erden frohlocken müßten, in Hader und Verdruß umgewandelt, aber der Lohn dafür soll ihnen nicht entgehen! Ihr vorwitzigen Taugenichtse, hört auf zu gransen, gebt deutlich Rede und Antwort; welcher Satan trieb Euch, ohne Erlaubniß den Fremden, dem Ihr die Stadt zeigen solltet, hierher in das Zimmer [26] der Frauen zu führen? Sprecht deutlich, oder! – setzte er, mit dem Fuße derb aufstampfend, hinzu, und schüttelte die Knaben abermals zusammen, daß Hören und Sehen ihnen vergehen mochte.

Wir haben ihn nicht hergeführt, er ist uns nachgelaufen, schrie weinerlich der jüngste Bube.

Durften wir den Gast unseres Hauses vor unsern sehenden Augen betrügen lassen? setzte sein älterer Bruder etwas trotzig hinzu.

Jetzt legte Dmitry sich ins Mittel, und es wurde den Knaben vergönnt, ihre Entschuldigung vorzubringen. Iwan hatte schon viel Geld, ihrer Ansicht nach unermeßliche Summen, für Schmuck und ähnliche Dinge hingegeben, als noch ganz zuletzt ein brillanter persischer Shawl ihm ins Auge fiel, den er sogleich seiner Mutter bestimmte. Er fragte nach dem Preise, zählte seine ihm übrig gebliebene Baarschaft, fand sie eben noch hinreichend, und war im Begriff den [27] Kauf abzuschließen, als der älteste seiner jungen Begleiter mit der Erklärung dazwischen trat, der Shawl sei höchstens ein Drittel der dafür geforderten Summe werth.

Der Kaufmann versicherte das Gegentheil; Iwan ohnehin des vielen Marktens und Feilschens müde, bezeigte sich geneigt auf seine Seite zu treten, als der eifernde Knabe hastig den Gegenstand des Streites aufgriff, und damit in das nahe gelegene Haus seines Vaters lief, um seine Mutter als anerkannte kompetente Kennerin darüber entscheiden zu lassen. Sein Bruder folgte ihm, und Iwan sprang in einem Anfalle lustiger Laune beiden nach; der Kaufmann, der die Söhne seines reichen Nachbars Ilia kannte, ließ unbesorgt sie laufen. In kindischer Ausgelassenheit stürmten alle Drei blindlings in das Zimmer der Mutter der Knaben, Frau Selina, hinein; betroffen über sein eignes Ungeschick, blieb Iwan beim Anblicke der Gesellschaft, in welcher [28] er sich ganz unerwartet befand, wie versteinert stehen, und flog im nächsten Augenblicke mit einem lauten Freudenschrei in die Arme seiner Mutter, seiner Brüder, seiner Schwestern, die er alle ungeachtet der mehrjährigen Trennung augenblicklich erkannte.

Der Jubel war allgemein, die Freude unbeschreiblich; doch plötzlich veränderte sich alles auf unbegreifliche Weise, und der Zustand stellte sich ein, in welchem Richard ihn jetzt gefunden.

Das Angstgeschrei der Frauen, die einen plötzlich wahnsinnig Gewordenen in ihm zu sehen glaubten, Ilias scheltende Stimme, der Knaben ängstliches Rufen, der Mutter bittendes Zureden, alles das zusammen wirkte wahrhaft betäubend. Auch Richard, wie früher die übrigen Alle, begann jetzt zu fürchten, die überraschende Anwesenheit der Mutter und Geschwister habe auf den eben Genesenden zu lebhaft gewirkt, und den armen Iwan wenigstens für den Augenblick [29] um Sinn und Verstand gebracht. Er näherte sich ihm und wollte nach beschwichtigenden Worten suchen, doch dazu ließ Iwan ihm keine Zeit; er riß sobald er ihn erblickte von der Mutter sich los, warf sich ihm in die Arme und brach in herzzerreißende Klagen aus.

Du! ja Du wirst endlich mich verstehen, o Richy, Richy, in welch' ein Haus sind wir gerathen! rief er, und schien nicht zu fühlen wie heiße Thränen, aus den weit offnen wild blitzenden Augen, schwer und einzeln über die in dunkler Fiebergluth brennenden Wangen ihm rollten. Rücksichtslos schob er alles was ihm im Wege stand bei Seite, und zog den Freund mitten in den eng geschlossenen Kreis der Frauen hinein, die sogleich ängstlich-scheu ihm auswichen.

Sieh her, rief er mit erstickter heiserer Stimme, sieh her! man möchte sich darüber zu Tode weinen! Ist es nicht um von Sinnen zu kommen? heischt das nicht blutige Rache?

[30] Ein armenisches halb ohnmächtiges Mädchen, das auf einem Stoß nach orientalischer Art über einander aufgehäufter Kissen lag, wurde, da die Frauen sich zurück gezogen hatten, sichtbar. Iwan bückte sich, und schleuderte den Schleier fort, den ihre Freundinnen in der Eile über ihr Gesicht gebreitet hatten.

Sieh her, sieh her, wiederholte Iwan mehrere Male, kennst Du sie, die Verlorene, die früh Verlassene, erkennst Du sie in der fremden Tracht? rief er, und verbarg krampfhaft schluchzend sein Gesicht an der treuen Brust seines Freundes.

Das Mädchen blickte träumerisch umher, wie aus tiefem Schlafe erwachend.

Sie! Sie sind es, rief sie fast jubelnd in deutscher Sprache, indem sie Richard erkannte. Sie sind da? o, nun wird alles gut! Sie werden mich in Schutz nehmen, Sie können nichts Übles von mir denken, Sie wenigstens werden [31] nicht nach dem Scheine richten. Ihre Stimme wird zu dem ungerechten Herzen dieses Mannes den Weg finden, und meine Vertheidigung führen.

Julie! rief Richard erstaunt, Julie, ist es möglich? Sie hier!

Julie brach in Thränen aus, sie weinte recht bitterlich aus dem Herzen, wie ein Kind im Gefühle erlittenen Unrechts.

Frau Selina konnte das nicht länger ruhig mit ansehen; sie überwand die Scheu vor dem tobenden Iwan, ließ zu Julien sich nieder, sprach tröstend ihr zu, trocknete liebkosend ihre Wangen, und wandte sich dann an die beiden Freunde.

Ich verstand kein Wort von dem was Diese jetzt gesprochen, denn die Rede ihres Landes ist mir völlig fremd: aber ich bin bereit, Leben und Ehre dafür einzusetzen, daß über diese Lippen nie eine Lüge gegangen ist, denn sie ist treu und ohne Falsch, unschuldig und rein, wie meiner [32] Tochter Neugebornes, dort in der Wiege! Wochen und Monate lebt sie in der Mitte der Meinen, möge sie nie uns verlassen! Das liebe Kind! sie ist die Freude unsrer Herzen! sie ist das Licht unsrer Augen: sprach Frau Selina, und drückte ihren Schützling recht fest an ihre Brust.

Ilia hatte unterdessen seine beiden Knaben losgelassen, die auch sogleich die wiedererhaltene Freiheit benutzten, um das Freie zu suchen; auch er nahm jetzt das Wort, indem er näher trat.

Herr! sprach er, noch sehe ich zwar in den Ursprung aller dieser, so plötzlich eingetretenen Verwirrungen nicht klar hinein, aber ich begreife doch, daß unser lieblicher Gast hier darein verflochten ist. Ihr habt dies Mädchen gekannt, und denkt jetzt Arges von ihr, weil Ihr unerwartet, weit von ihrer Heimath, in fremdem Lande sie antrefft. Ist dem nicht so?

Richard machte nur ein bejahendes Zeichen, [33] Iwan stand stumm und starr, im Anschauen Juliens versunken.

Nun dann, fuhr Ilia fort, so hört wenigstens auf das Wort eines rechtlichen Mannes. Zwar kennt Ihr mich noch nicht, aber fragt weit und breit im Lande umher nach Ilia, ob irgend ein Makel auf seinem Namen hafte, ob Ihr nicht auf Treu und Glauben meine Worte für Wahrheit annehmen könnt. Es ist wie meine Frau es eben ausgesprochen. Seit mehreren Monaten, von uns und allen unsern Nachbarn und Freunden geehrt und geliebt, lebt dieses Mädchen in unserer Mitte, als gehöre sie zu uns und wäre unser eigenes Kind. Ich wache über sie, kein Unrecht darf ihr nahen, denn ihr Vater hat sie in meinen Schutz gegeben. Von Vaters Hand wurde die schöne fremde Blume in meinen Garten gepflanzt, und ich habe mein Wort darauf gegeben – –

Ihr Vater! ihr Vater! welch neues Truggewebe! [34] wer hat das ersonnen? rief Iwan, unfähig länger an sich zu halten; nie hat sie ihren Vater gekannt, nie ihn gesehen!

Wohl habe ich meinen Vater gekannt, wohl ihn gesehn, rief Julie: und daß ich nie hoffen darf ihn wieder zu sehen, das ist mein großer Schmerz! Armer unglücklicher Mann! Berge und Thäler und breite Ströme liegen zwischen uns! ihre Stimme ging unter in Thränen.

Du kennst Deinen Vater? doch wohl auch seinen Namen? wie heißt Dein Vater, rief Iwan sich zu ihr niederbeugend, fast höhnend.

Julie erbleichte bei dieser Frage; ängstlich, wie Hilfe oder Auskunft suchend, blickte sie verschüchtert um sich her.

Wie heißt er? rief Iwan überlaut, in steigendem Zorne.

Grischa, flüsterte Julie kaum hörbar und verbarg ihr Gesicht am Busen ihrer mütterlichen Freundin.

[35] Grischa! rief Iwan laut und bitter auflachend: er hatte den Namen nie nennen gehört, denn weder Richard noch Dmitry hatten für gut gehalten, den räthselhaften Alten gegen ihn zu erwähnen.

Grischa! wiederholte Richard, warf einen vorwurfsvollen Blick auf Dmitry, und eilte zum Zimmer hinaus. Dmitry folgte ihm auf dem Fuße. Frau Selina benutzte diesen Augenblick, um mit Hilfe ihrer Töchter die an Kräften völlig erschöpfte Julie fortzuführen. Iwan blieb mit den Seinigen allein, denn auch Ilia zog bescheiden sich zurück, um bei dem Gespräche zwischen Mutter und Sohn kein überlästiger Zeuge zu werden.

Nach manchem mißlungenen Versuche gelang es endlich der Mutter, den Sohn in einen verhältnißmäßig ruhigen Zustand zu versetzen, indem sie von seinem Vater und dem häuslichen friedlichen Leben, das zu Hause ihn erwartete, [36] ihm sprach. Sie stellte seine Brüder und Schwestern der Reihe nach ihm vor, die mit unbeschreiblicher Liebe an ihm hingen, und die er bis jetzt kaum eines Blicks gewürdigt hatte; machte auf die vortheilhafte Einwirkung der Zeit, auf die geistige und körperliche Entwickelung derselben ihn aufmerksam, welche die Reihe von Jahren herbeigeführt hatte, während welcher er sie nicht gesehen; schilderte, ihm wie der Boden ihr unter den Füßen gebrannt, bis sie vom Vater die Erlaubniß erhalten, ihm mit ihren Kindern entgegen zu gehen. Die Mühseligkeiten der Reise erwähnte sie kaum.

Ich wäre bis Moskau, ja bis Petersburg Dir entgegen gezogen, hätte ich Dich nicht früher angetroffen, versicherte die muthige Frau, die zuvor nie in ihrem Leben sich weiter, als höchstens eine Tagereise von ihrer Heimath entfernt gehabt.

Jetzt hatte sie schon seit zwei Tagen die, [37] durch einen von Dmitry abgesandten Boten angekündigte nahe Ankunft ihres erstgebornen Lieblings in unaussprechlicher Sehnsucht bei ihrer Jugendfreundin Selina erwartet; und als er nun wirklich in tief dunkler Nacht anlangte, begnügte die sorgsame liebevolle Mutter sich dennoch damit, durch die Jalousien lauschend, beim Scheine ihm entgegen leuchtender Fackeln ihn aus dem Wagen steigen zu sehn. Sie wollte dem Ermüdeten Zeit zum Ausruhen vergönnen, um am folgenden Tage die hohe Freude des Wiedersehns um so ruhiger zu genießen, die ihr leider so herbe verbittert werden sollte.

Doch wie weiland der Harfe des königlichen Sängers im alten Testamente, so gelang es endlich auch der Mutter sanfter Stimme, den bösen Dämon in des Sohnes Brust zur Ruhe einzulullen, und Iwan hörte auf zu toben, indem er ihrer Einwirkung sich hingab.


[38] Grischa entläuft Euch nicht, Herr, er wartet ruhig auf Euch, rief Dmitry, indem er an dem rasch voranschreitenden Richard vorüber eilte, um ihn nach seinem Zimmer zu führen. In den verwickelten Gängen dieses alten Hauses verirrt man sich leicht, setzte der allzeit Dienstfertige hinzu, indem er die Thüre desselben ihm öffnete.

Da lag nun Grischa, wie die Chrysalide eines entpuppten Schmetterlings, nachlässig in einen Sessel hingeworfen; nämlich sein russischer Kaftan, sein ehrwürdiger Bart, seine große Mütze, und was sonst noch an und um ihn gehangen; der Kern dieser abgeworfenen Hülle stand aber in Gestalt des bebrillten Barons in Lebensgröße mitten im Zimmer.

Elender! Du wagst es, rief Richard, und griff mechanisch nach seinen auf einem Seitentische liegenden Pistolen.

Ich bin ohne alle Waffen, wie Sie sehen, [39] erwiederte der Baron sehr gelassen, und schlug seinen Überrock zurück.

Richard wandte sich, um die Pistolen wieder an ihren Ort zu legen, und die Thüre sorgfältig zu verschließen, von der er den Schlüssel abzog und zu sich nahm; Wort und Stimme versagten ihm vor heftigem Zorne, der Baron aber benutzte diesen Augenblick, um hinter den Bettschirm zu schlüpfen, und Richard, als er sich ihm wieder zukehren wollte, sah ihn als Torson, die grüne Brille in der Hand, aus seinem Verstecke hervorkommen.

Von der Vollkommenheit dieser Umwandlung mit so Wenigem, und in kaum einer Minute Zeit vollbracht, kann der nur sich einen Begriff machen, der vor zehn bis zwölf Jahren den ältern Devrient in der Rolle der Drillinge gesehen hat.

Taschenspieler! murmelte Richard verächtlich.

Nennen Sie es meinetwegen wie Sie wollen, [40] mir erspart das Kunststückchen eine mündliche Erklärung und dient obendrein dazu, Ihrem Scharfblicke Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der oft nahe daran war, mir in die Karte zu sehn, und mir mitunter Noth genug gemacht hat: erwiederte Torson einigermaßen verbindlich.

Genug des faden Geschwätzes! rief Richard höchst unmuthig, ich habe sehr Ernstes mit Ihnen zu verhandeln, und erwarte bestimmte Auskunft, die ich nöthigen Falles mir zu verschaffen wissen werde.

Diese zu erhalten, soll Ihnen nicht schwer werden, erwiederte Torson, leicht hingeworfen: war ich doch schon in Moskau, und bin blos in der Absicht, jede Erläuterung zu gewähren, die Sie verlangen können, mit Ihnen hierher zurück gereißt. Freund Dmitry, fuhr Torson fort, als er den fragenden Blick bemerkte, mit welchem Richard ihn von oben bis unten maaß, Freund Dmitry hat, gleich einem verbotenen [41] Waarenartikel, in seinem verdeckten Frachtwagen mich eingeschmuggelt, auch bin ich jetzt im strengsten Incognito hier; Ilia sogar weiß nicht darum, Niemand außer Dmitry, und jetzt auch Sie. Um meiner Tochter willen wünsche ich, daß Sie mich nicht zwingen an's Licht zu treten, ich möchte dem armen Mädchen, das schon viel um mich gelitten hat, den Schmerz eines wiederholten Abschiedes von einem Vater ersparen, der um ihrer selbst willen sich von ihr trennen muß, und den sie mehr liebt, als er vielleicht es verdient.

Und auch Sie sind gesonnen, dieses abgeschmackte Mährchen mir aufzuheften? fragte Richard.

Gedenken Sie jenes Morgens, als wir beide zum ersten und einzigen Male mit einander auf der Straße gingen. Erinnern Sie sich, daß ich damals Ihnen vorher sagte, ein Tag würde kommen, an welchem Sie, eingenommen wie Sie [42] es gegen mich waren und noch sind, mir weder Ihr Mitleid, noch in gewisser Hinsicht Ihre Achtung würden versagen können; sprach Torson mit eindringendem Ernste.

Ich erinnere mich dessen; vermuthlich sollte Ihre damalige wohl gesetzte Rede dem sentimentalen Melodram, das Sie jetzt aufzuführen gedenken, zum Prolog oder als Exposition dienen, erwiederte Richard; aber ich bitte Sie zu erwägen, daß Melodramen und darin vorwaltende Verkleidungen ein wenig aus der Mode gekommen sind, und auch, daß das Sentimentale nicht ganz Ihr Fach zu sein scheint, so sehr Sie auch in andern Fächern excelliren: setzte er mit schneidendem Hohne hinzu.

Torson zuckte zusammen, faßte sich aber schnell, setzte sich an den vor ihm stehenden Tisch, und zog eine verschlossene Brieftasche hervor, die er mit einem kleinen Schlüssel, den er am Halse trug, vorsichtig öffnete. Richard hatte ihm gegenüber [43] Platz genommen und beobachtete jede seiner Bewegungen mit wahren Inquisitors-Blicken.

Torson legte indessen mehrere Briefschaften und gerichtlich bestätigte Documente Richarden vor, lud schweigend, durch ein Zeichen mit der Hand, ihn ein sie zu untersuchen, und lehnte sich dann mit übereinander geschlagenen Armen und einem völlig versteinerten Gesicht in seinem Sessel zurück.

Juliens Taufzeugniß, der Trauschein ihrer Eltern, der Todtenschein ihrer Mutter, alles in größter Ordnung besiegelt und unterschrieben: sprach Richard leise vor sich hin, indem er die ihm vorgelegten Papiere einzeln betrachtete. Das Alles scheint mir in vollkommener Richtigkeit. Aber ich sehe nichts darin, was Ihre väterlichen Ansprüche auf Julien begründen könnte, setzte er laut hinzu, indem er seinen Gegner mit durchdringend scharfem Blicke fixirte.

[44] Dieser Name, erwiederte Torson, indem er auf Juliens Taufzeugniß hindeutete, dieser Name, der wahrscheinlich durch seine alt-historische Bedeutsamkeit Ihnen auffällt, war einst der meine; er ist es nicht mehr. Ich habe ihm entsagt und werde nie wieder ihn führen.

Ungemein romantisch, lachte ungläubig Richard.

Herr Wood, sprach Torson, sehr fest und ernst: Sie müssen selbst fühlen, daß Ihr Betragen gegen mich Ihrer unwürdig ist, da es Ihnen unmöglich entgehen kann, wie sehr ich, aus mir wichtigen Gründen, mich bemühe, ruhig zu bleiben und mich nicht aufbringen zu lassen Sie treiben mit mir das rohe Spiel eines Barbaren gegen seinen gefesselten Feind; es aufzugeben wäre ehrenvoller. Haben Sie mich bis an's Ende gehört, nun dann stehen wir wieder auf gleichem Boden Mann gegen Mann einander gegenüber, was jetzt nicht der Fall ist.

[45] Richard wurde roth, hustete ein wenig, und suchte in die Stellung eines ruhig Zuhörenden sich zu versetzen, ohne weiter etwas zu erwiedern.

Ich bin wirklich dieser uralten Familie entsprossen, fuhr Torson fort, deren Stammbaum bis zu den ersten fast fabelhaften Beherrschern von Lithauen in die graueste Vorzeit hinabreicht; der jüngste von acht Söhnen unsers einst sehr begüterten Hauses, dem von seinem ehemaligen Glanze jetzt wenig mehr als sein großer Name geblieben ist, um sich über den durch Verwahrlosung herbeigeführten Verfall seiner noch immer sehr ausgedehnten Besitzungen damit zu trösten. Nach alt hergebrachtem Familienbrauche vertheilte mein Vater noch bei seinen Lebzeiten den größten Theil unsrer Güter zwischen meinen Brüdern. Dort setzten sie das gewohnte rohe Krautjunkerleben in der Mitte ihrer Leibeigenen fort. Doch ich, der jüngste, damals noch ein Knabe, wurde bei der nach und [46] nach vollbrachten Theilung wirklich vergessen. Als man sich meiner erinnerte, fand sich, daß blutwenig für mich geblieben sei, so lange mein Vater noch lebe. Es wurde im Familienrathe beschlossen, mich nach Deutschland zu senden, um mich studiren zu lassen. Das Wie machte noch einige Schwierigkeit. Da erschien, ganz unverhofft, auf dem alten Rattenneste, das unser Schloß genannt wurde, ein Deus ex machina, ein Abenteurer, wahrscheinlich der entlaufene Kammerdiener irgend eines großen Herrn. Dieser erklärte, daß in mir ein Genie stecke; was das eigentlich sei, wußte Niemand, aber man hatte nun doch ein Wort, um sich daran zu halten; und bald darauf reiste ich, unter der Führung dieses mir zum Hofmeister beigegebenen Unbekannten, nach Deutschland ab.

Mit den Details des wüsten Lebens, das ich von nun an unter der Leitung meines trefflichen Begleiters führte, will ich Sie verschonen. [47] Wir zogen von einer hohen Schule zur andern, ein paarmal wurde ich relegirt, endlich lief ich meinem Hofmeister davon, indem ich die Hälfte unserer noch übrig gebliebenen Baarschaft ihm hinterließ.

Wir haben nie wieder etwas von einander gehört. Daß ich bei dieser Lebensweise nicht ganz unwissend geblieben bin, ist mir selbst unbegreiflich; doch trieben Überdruß und Langeweile mich mitunter zum Fleiße an.

Ich suche vergeblich den Übergang von dem was ich damals war, zu dem was ich jetzt geworden bin, Ihnen deutlich zu machen; sprach Torson nach augenblicklichem Nachsinnen: und muß zu einem gewaltigen Sprunge mich entschließen über alles hinweg, was auf meiner abenteuerlichen Lebensbahn sich dazwischen drängte, um gleich zum Resultate, zum Spieltische überzugehen, zu welchem ein unwiderstehlicher Hang von jeher mich trieb.

[48] Ich durchzog als erklärter Spieler halb Europa, alle großen Städte, alle Brunnenorte, die mir eines Besuches werth dünkten. Fortuna war mir unbegreiflich günstig, und ist es noch heute. Sie blieb meine stete Begleiterin. Angeborner Scharfblick, Gleichmuth, der sich nicht leicht aus der Fassung bringen läßt, und viel kaltes Blut, halfen mir ihre Huld klüglich benutzen, doch nie habe ich durch niedre Kunstgriffe sie zu fesseln gesucht. Bei Gewißheit des Gewinnes ginge jeder Reiz des Spieles für mich verloren; nur die gespannte Erwartung des entscheidenden Augenblicks, nur das ewige Schwanken zwischen Bettler und König ist es allein, was mich an mein jetziges Gewerbe fesselt; alles andre liegt fade und trübselig vor mir. Glauben Sie mir, kein ächter Spieler will eigentlich Reichthum er werben; mit dem Höchsten, nach welchem Andre im Schweiße ihres Angesichts ringen, ein leichtes Spiel treiben, das allein ist unsre Freude! [49] und ich muß und werde dabei bleiben, bis der Tod mit dem letzten va banque! diese mir sprengt.

Richard machte ein etwas ungläubiges Gesicht, erwiederte aber keine Sylbe; doch auch diese fast unmerkliche Veränderung in seinen Zügen entging dem Scharfblicke Torsons nicht.

Sie zweifeln an der Wahrheit dieser Behauptung? fragte er: möge die Thatsache ihre Zweifel heben, daß das unablässige Verfolgen des Glücks mich zuletzt langweilte. Ich kam auf den Einfall, mich auch einmal in Führung eines tugendhaften, ehrbaren Lebens zu versuchen, nahm meinen wirklich sehr bedeutenden Gewinn zusammen, und zog damit weit weg, nach Königsberg, einer Stadt, wo ich ganz unbekannt zu bleiben hoffen durfte. Dort fand ich einen armen Engel in der Hölle: die Waise eines Schullehrers, die demüthige Gesellschafterin eines weiblichen Satans, wie es hoffentlich keinen zweiten mehr auf Erden giebt. Ich beschloß [50] das schöne Kind zu erlösen, es gelang mir seine Liebe zu gewinnen, ich entführte es, und wurde in einem, unfern Memel gelegenen Dorfe, der rechtmäßige glückliche Gatte des liebenswürdigsten Wesens auf Erden.

Sie war so schön, und entfaltete, im warmen Sonnenscheine eines ihr bis dahin ganz unbekannt gebliebenen Wohllebens, körperlich und geistig sich immer wundervoller; gleich einer in dürrem Boden, unter kaltem Himmel verkümmerten Pflanze, die eine freundliche Hand in ein wärmeres, ihr günstigeres Klima versetzt.

Die Nähe meines Geburtslandes regte alte, viele Jahre lang vergessene Erinnerungen in mir auf, sie arteten in Wünsche aus; seit ich von meinem sogenannten Hofmeister mich trennte, war ich ohne alle Nachricht von meiner Heimath geblieben. Ich wollte in meinem Reichthume und meinem Liebesglücke meinen Verwandten mich zeigen, ich wollte meine Frau – kurz die Reise [51] wurde beschlossen und zurückgelegt. Mein glänzendes, etwas prahlerisches Auftreten wirkte blendend auf die rohen Gemüther meiner Brüder, übrigens fand ich alles noch ziemlich wie ich es verlassen, mein greiser Vater sogar war noch am Leben.

Allgemeine Bewunderung, ich darf sagen, ehrfurchtsvolle Verehrung, wurde meiner Frau von allen Seiten gezollt. Da ich über die Quelle meines augenscheinlich bedeutenden Vermögens nie etwas verlauten ließ, so galt es für ihre Mitgift. So reich! so schön! so vornehm in all ihrem Thun! Sie mußte aus hohem, wenigstens fürstlichem Blute abstammen, es konnte unmöglich anders sein. Mein Vater verlangte endlich von ihrer Ahnentafel genauen Bericht, und ich, in meinem stolzen Übermuthe, bekannte in klaren, dürren Worten ihm die Wahrheit.

Hätte ich für einen Räuberhauptmann mich erklärt, man wäre leichter darüber hingegangen; [52] war das doch von alten Zeiten her ein adliges Gewerbe, das mancher unserer Ahnen in allen Ehren getrieben; aber in die lange nie unterbrochene Reihe derselben eine Leibeigene einzuschwärzen! eine Leibeigene! – denn das war sie in den Augen dieser beschränkten Junker, die nur Adlige und Leibeigene kannten.

Still vor sich hin seufzend, dachte Richard hier an die Fürstin Eudoxia.

Im ersten Augenblicke hatte ich wirklich Mühe, uns vor thätlicher Mißhandlung zu schützen; mit Hunden uns beide vom Hofe zu hetzen, war einer ihrer menschenfreundlichsten Vorschläge: fuhr Torson fort.

Ich will so schnell als möglich über die empörende Scene, die nun erfolgte, hinwegeilen. Meine Brüder, aufgehetzt von ihren neidischen Weibern, schäumten vor Wuth; mein schwacher greiser Vater drohte mir mit seinem Fluche, wenn ich darauf bestünde, die Leibeigene nicht zu verstoßen. [53] Zitternd vor dieser Drohung lag meine, in sehr beschränkten Ansichten erwachsene Frau, mir weinend zu Füßen, und beschwor mich, sie lieber aufzuopfern, als so Schweres auf mein Haupt zu laden.

Des widerwärtigen Zustandes müde, machte ich es endlich wie Esau, verkaufte ihnen für ein Linsengericht alle meine Ansprüche, sowohl auf die mir verächtliche Erdscholle, im abgelegensten Winkel eines abgelegenen Landes, als auf den alten Namen, der mir jetzt ein Gräuel war; sah lachend zu, als man auf unserm Stammbaume ihn gleich dem eines Verstorbenen mit einem Kreuze bezeichnete, nahm meine, vor einem Hirngespinnste noch immer zitternde Frau, in meine Arme, und fuhr mit ihr in die weite Welt hinein. So ward ich was ich bin, ein Namenloser! Glücklicher Weise behielt ich in dem mich umtobenden Sturme doch Besonnenheit genug, diese Bestätigung jenes ans Fabelhafte gränzenden [54] Ereignisses nicht zu vergessen; setzte Torson hinzu, indem er noch einige Papiere hervorzog und vor Richard niederlegte.

Weiter! weiter! mahnte Richard, mit sichtbar zunehmendem Antheile.

Ich stehe an einem jener dunkeln Punkte der Geschichte meines Lebens, von denen ich schon damals Ihnen erklärte, daß ich gern auf ewig sie vergäße, erwiederte Torson mit düsterm Blicke. Erlauben Sie mir so schnell darüber hinweg zu gleiten, als die Wahrheit, zu der ich gegen Sie verpflichtet bin, es mir vergönnt.

Die schwankende Gesundheit meiner Frau erheischte ein milderes Klima; wir zogen nach Mainz. Die häusliche Glückseligkeit, in der ich so gar nichts erlebte, was nur der Rede werth war, machte mir einige Langeweile; die Nähe von Wiesbaden ließ mir nicht Ruhe noch Rast: ich fing an mir vorzukalkuliren, daß es sehr heilsam sein würde, meine hart mitgenommenen Finanzen [55] etwas zu rekrutiren, um unser splendides Leben auf die Dauer fortsetzen zu können. Genug, ich nahm meinen alten Platz am grünen Tische in Wiesbaden wieder ein, und Fortuna blieb nach wie vor mir hold.

Meine Frau erwartete indessen sehr ruhig in Mainz ihre Niederkunft; meine öfteren, doch nie mehr als höchstens zwei Tage überschreitenden Abwesenheiten, fielen nie der Arglosen auf; sie gönnte mir jede Erholung und fand es natürlich, daß ich sie aufsuchte. Von dem, was mich dahin zog, hatte das einfache Naturkind nicht einmal einen deutlichen Begriff.

Da kam eine gute Freundin! Wissen Sie, Herr Wood, was das heißt? rief Torson plötzlich mit wild blitzenden Augen, kennen Sie diese guten Freundinnen, diese Pest alles häuslichen Friedens? diese ewig nach Neuigkeiten spürenden Geschöpfe, um damit die weite trostlose Öde ihres eigenen Lebens auszufüllen, diese milden [56] Seelen, die ihre spitze Sonde so tief als möglich in jede verborgene Wunde stoßen, um die Existenz derselben, und ihr ungeheures Mitleid mit dem Leidenden auf öffentlichem Markte proclamiren zu können?

Solch ein zartes theilnehmendes Wesen bemächtigte sich während meiner Abwesenheit auch meiner armen Frau, brachte sie unter dem Vorwande einer Spazierfahrt nach Wiesbaden, führte die Arglose in den Saal.

Hinweg, hinweg mit der Erinnerung! Der Schleier war zerrissen, unser Zusammenleben eine Hölle auf Erden, von dem Tage an. Malen Sie gütigst sich selbst aus, wie das zuging, wenn Sie Lust dazu haben, ich kann's nicht! rief Torson, und warf mit bleichen verzerrten Zügen in seinen Sessel sich zurück.

Julie wurde geboren, hob er nach einer Pause wieder an: heldenmüthig hielt die unglückliche Mutter, um des Kindes willen, anderthalb Jahre [57] lang sich auf recht, dann konnte sie nicht mehr. Sie sank zusammen.

Der Sterbenden habe ich gelobt, unsre Tochter nach Königsberg in eine Familie zu bringen, welche sie in ihrer Jugend als sehr rechtlich gekannt hatte, und die Kleine als namenlose Waise so bürgerlich einfach von diesen Leuten erziehen zu lassen, wie einst ihre Mutter selbst erzogen worden war. Auch mußte ich noch schwören, das Gewerbe, das ich bis dahin getrieben, und von dem ich, wie sie wohl einsah, nie lassen könne, vor meiner Tochter ewig zu verbergen. Ich gelobte was die Sterbende von mir forderte, und habe es gehalten.

Indem Sie Anstalt trafen, fiel Richard ein, Ihr Kind in die Erziehungsanstalt der Frau Marina –

Halten Sie ein! unterbrach Torson mit großer Heftigkeit ihn: hüten Sie sich die dunkeln Gewalten, die in jeder Menschenbrust schlummern, [58] zu wecken. Versuchen Sie an mir alles was sich ertragen läßt, weiter gehen zu wollen wäre Feigheit. Bleiben Sie bei der Wahrheit, das, was auszusprechen ich Sie verhinderte, lag nicht in Ihrer Seele. Sie glauben selbst nicht daran.

Richard schwieg, Torson auch; endlich nahm dieser wieder das Wort:

Damals hatte ich keine Ahnung der Möglichkeit, daß meine Tochter mir so nahe sein könne. Seit langer, langer Zeit hatte ich nichts von ihr vernommen; wenn ich ihrer gedachte, was, zu meiner Schande, selten genug der Fall war, dachte ich sie mir ruhig bei ihren Pflegeeltern in Königsberg. Das unvergeßliche Zusammentreffen an jenem denkwürdigen Abende, Sie wissen mit wem, bewog Frau Marina, schon am folgenden Tage sich durch die Flucht gewissen Nachforschungen zu entziehen, denen sich auszusetzen ihr nicht rathsam schien. Auch ich hielt [59] ebenfalls für gut, mich wo anders hinzuwenden, und kam auf den Gedanken, meinen Weg über Königsberg zu nehmen, um mich bei der Gelegenheit nach meiner Tochter zu erkundigen.

Dort erst erfuhr ich, sie lebe in Petersburg unter der Obhut des Kapellmeisters Lange; sie also war jenes ängstlich scheue Mädchen! es war unmöglich daran zu zweifeln. Mir grauste vor dem Gedanken, wie nahe ich daran gewesen sei, in einem Anfalle verächtlichen Übermuths mein eignes Kind zu verderben. Ich eilte nach Petersburg zurück, legte mit der grünen Brille die jetzt mir selbst widerliche Maske ab, die ich dort so lange getragen, und führte als Abgesandter ihrer Eltern bei Julien und ihren Beschützern mich ein.

Doch diese Veränderung der Gestalt, in welcher sie nur einige Minuten und in der Dämmerung mich gesehn, waren nicht hinreichend, um in Julien Erinnerungen völlig zu ersticken, [60] die, wenn gleich nur dunkel, bei meinem Anblicke sich regen mochten. Ich mußte mich entschließen, unter dem Siegel des Geheimnisses, mich als ihren Vater ihr zu erkennen zu geben, um den in ihr aufkeimenden Widerwillen gegen mich nicht in ihrem Gemüthe aufkommen zu lassen.

Ich erdichtete Gefahren, die aus politischen Gründen mir drohen sollten, wenn mein Aufenthalt in Petersburg bekannt würde, und sie gelobte mir unverbrüchliche Verschwiegenheit. Arme Julie! sie selbst ist es ja, vor der ihr Vater sein eigenstes Dasein verhüllen muß! sie ist wie ihre Mutter war, fromm, einfach, schaudernd vor jedem Anscheine eines Unrechts; sie würde die Wahrheit eben so wenig ertragen können, als diese es konnte!

Mit der Darstellung meiner Gefühle für meine Tochter will ich Sie verschonen, fuhr Torson nach kurzem Schweigen fort. Trauen [61] Sie mir noch einige menschliche Empfindung zu, so wäre jedes Wort darüber vom Überfluß; halten Sie mich für eine Art von moralischem Ungeheuer, so würde alles, was ich dagegen einwenden könnte, Sie nicht anderes Sinnes machen. Doch hoffe ich, Sie werden mir die Ehre erzeigen, mir zu glauben, daß ich nichts sehnlicher wünsche, als Julien, durch die Verbindung mit einem ihrer würdigen Gatten, ein dauerndes Glück, oder wollen Sie es lieber eine Versorgung nennen? zu bereiten. Iwan Yakuchin schien mir in jeder Hinsicht dazu geeignet, es ist so leicht seine offene ehrliche Seele bis auf den Grund zu durchschauen! Auch seine und meiner Tochter gegenseitige Neigung konnte mir nicht lange verborgen bleiben; ich begünstigte diese auf jede Weise, doch durfte Iwan mein eigentliches Verhältniß zu Julien nie erfahren. Unbefangen hielt er mich für den von ihren verstorbenen Eltern ihr gesetzten Vormund, und ließ es dabei [62] bewenden. Da kamen Sie, und waren Augenzeuge der hierauf folgenden Ereignisse.

Doch sehe ich deshalb um nichts klarer; im Gegentheil, das geheimnißvolle Dunkel, das Sie um sich her verbreiten, scheint mir dichter als zuvor: erwiederte Richard.

Nicht mit meinem Willen, gewiß nicht: antwortete Torson; wenn Sie nicht absichtlich Ihr Auge dem Lichte verschließen, sollen Sie mich so offen finden, als Sie es nur wünschen können. Ich errathe den Punkt, der in diesem Augenblicke Ihren Argwohn rege macht; jene geheime Verbindung, in welche der Zufall so unerwartet als unerwünscht, Sie tiefer als Ihnen lieb ist verflochten hat.

Jahre lang, ehe Sie seine Existenz nur ahnen konnten, war dieser Bund mein Augenmerk gewesen, selbst in weiter Ferne verlor ich ihn nie aus dem Gesicht. Zum politischen Zinngießer bin ich verdorben, nie habe ich um die Verhandlungen [63] der europäischen Kabinete mich bekümmert, und wer als Kaiser oder König auf dem Throne sitzt, gilt mir völlig einerlei. Krieg oder Friede interessiren mich nur in so fern, als meine persönliche Ruhe und Sicherheit dabei betheiligt werden kann; denn bedenken Sie es wohl, ehe Sie mich deshalb verdammen, ich stehe allein in der Welt, nicht nur namenlos, sondern auch heimathslos!

Dennoch hasse und fürchte ich alles, was die in der Welt einmal hergebrachte Ordnung zu stören droht, und jener Bund, den ich beinahe von seinem Entstehen an zu beobachten Gelegenheit hatte, schien mir in dieser Hinsicht immer gefährlicher drohend sich zu entwickeln. Ich lebe nicht gern blindlings in die Welt hinein und suchte daher Mitglied desselben zu werden, damit kein möglicher Weise von ihm ausgehendes Unheil mich unvorbereitet überraschen möge; doch habe ich an seinen Verhandlungen nie thätigen[64] Antheil genommen, obgleich ich mir das Ansehn eines ungemeinen Eifers zu geben wußte. Ich rufe sie selbst zum Zeugen auf; haben Sie je als Redner mich dort auftreten sehn? oder als Beförderer der Ausbreitung des Bundes? Kaum werden Sie mich nennen gehört haben, und ohne jene nicht zu vertilgende Ähnlichkeit mit – mit mir selbst – setzte er lachend hinzu, wäre meine ganze Erscheinung vielleicht unbemerkt an Ihnen vorüber geglitten.

Was konnte Sie bestimmen, meinen treuherzigen unbesonnenen Freund in jene gefährliche Verbindung zu verflechten? rief Richard. Für die nicht vorauszusehenden fürchterlichen Folgen dieses Schrittes Sie verantwortlich machen zu wollen, wäre eine Unbilligkeit; aber ist der ganze Umfang des Unheils, das Sie damit gestiftet haben, Ihnen bekannt?

Wäre ich sonst hier? und ertrüge von Ihnen, was von irgend einem Lebenden auf Erden zu [65] dulden ich nie für möglich gehalten? erwiederte Torson. Sie selbst, Herr Wood, Ihr mysteriöses Benehmen brachte Ihren Freund dahin, Ihrem Geheimnisse nachzuforschen, indem Ihr Mangel an Vertrauen ihn verletzte und beleidigte. Lunin drängte sich an ihn, so daß ich mich entschließen mußte, selbst einzutreten, um den Verlobten meiner Tochter nicht schutzlos diesem Verworfenen zu überlassen.

Vor kurzem noch rühmten Sie sich über Lunin unbeschränkt zu gebieten, jetzt heißt er ein Verworfener: sprach Richard.

Habe ich denn dadurch, daß ich mich dessen rühmte, wie Sie es nennen, ihn für etwas Besseres geben wollen? war die Antwort. Gilt es ausdrücklich grobe Verbrechen zu verhindern, so halte ich freilich das Tigerthier an unzerreißbaren Ketten; sein Leben steht in meiner Hand, ein Wort von mir bringt ihn aufs Schafott, oder versenkt ihn auf immer in die Bergwerke [66] Sibiriens. Er weiß das, er weiß daß er mir nicht entrinnen kann, und dient mir zitternd, wie der böse Geist dem Magier dient, der ihn zu bannen verstand.

Und nun bitte ich Sie, was ich noch zu sagen habe, so ruhig als möglich, ohne Unterbrechung anzuhören; bin ich am Ende meiner Bekenntnisse, so steht es ja noch immer bei Ihnen, mir Glauben zu schenken, oder auch nicht.

Tiefer, unvergleichbar tiefer als Sie, als Ihre fürstlichen Freunde, ja, als der ganze sogenannte Rath der Alten, Pestel allein ausgenommen, bin ich in die Geheimnisse des Bundes eingedrungen, ich darf kühn behaupten, nicht minder tief als Pestel selbst. Fragen Sie mich nicht wie ich es angefangen, mich des Vertrauens dieses ausgezeichnet schlauen Kopfes zu bemächtigen, ohne ihm zugleich auch das meinige zu gewähren; die Beantwortung dieser Frage würde zu weit führen, und gehört nicht zur Sache. [67] Ich sah den Schlag von ferne sich bereiten, der alles zermalmen sollte; immer näher, immer schwärzer und schwerer, thürmte das Gewitter am Horizonte sich auf, und keine Möglichkeit mehr es abzuleiten. Meine Phantasie, die zeitlebens mich ziemlich ruhig gelassen, erwachte zum erstenmal in furchtbarer Gewalt. Verschwunden war der kalte Gleichmuth, der noch in keiner Gefahr mich verlassen; ich sah im Geiste Petersburg in Flammen, Ströme des edelsten Blutes alle Straßen durchströmen, zügellose Anarchie, diese gräßlichste der Furien, auf schwarzen bluttriefenden Schwingen, mit wüthendem Geheul über unserm Haupte schweben; sah alles untergehn, und hatte keinen Gedanken mehr als Rettung aus diesem Gräuel der Verwüstung, Rettung für meine Tochter, nicht für mich.

Von dem unabsehbaren Elende, das Allen drohte, durfte ich keinen Gedanken in Julien aufkommen lassen, das bange Mädchen wäre [68] der Last erlegen; doch unter dem Vorgeben, daß meine persönliche Sicherheit aus ganz andern Gründen dies erfordern könne, habe ich sie wochenlang auf die Möglichkeit einer schleunigen Flucht mit mir vorbereitet, und ganz unbemerkt alle nöthigen Vorkehrungen zu derselben getroffen. Nicht ohne tiefen Schmerz, aber doch ohne eigentliches Widerstreben, ergab sie sich darein, alles was ihr dort theuer war zu verlassen, und dem Vater auf unbestimmte Zeit in die Verbannung zu folgen. Der Mutter milder, zu jedem Opfer stets bereiter Sinn, ist auf ihr Kind übergegangen; auch mochte, ohne daß sie es deutlich empfand, das noch unbestimmt-schwankende Eintreten der drohenden Zukunft ihren Muth unterstützen.

Das sinnverwirrende Truggewebe, das Pestel erdacht, war endlich vollendet; in der zunächst folgenden Nacht sollte es der Versammlung vorgelegt wer den, um das blutige Werk [69] einzuleiten, das mit vorahnendem Grausen mich erfüllte. Kein Augenblick war zu verlieren. Flucht, schleunige Flucht war mein einziger Gedanke.

Als Julie zufällig etwas früher als gewöhnlich die Gesellschaft beim Kapellmeister Lange verließ, fand sie mich ganz unerwartet in ihrem Zimmer ihrer harrend. Ich ließ ihr keine Zeit zur Besinnung, wir entkamen glücklich aus dem Hause. Unsre Freunde zu warnen war mir nicht erlaubt; doch hatte ich Lunin, wenn sie in Gefahr kommen sollten, zu ihrem Schutze verpflichtet; es war der sicherste Weg, den ich zu ihrer Rettung einschlagen konnte.

Die nächste halbe Stunde traf mich und meine Tochter schon im Reisewagen, ohne Aufenthalt eilten wir auf Moskau zu; daß der verderbliche Funke unausbleiblich zünden würde, den Pestel in der folgenden Nacht in die Gemüther werfen wollte, stand nicht zu bezweifeln, aber eben so gewiß war auch vorauszusehen, daß bis [70] zum hellen Ausbruche der Flamme noch mehrere Tage vergehen mußten. Ich durfte hoffen die alte Kaiserstadt noch ruhig zu finden, obgleich mir bekannt war, daß Aufruhr und Verrath auch hier ihr dunkles Werk heimlich trieben.

Wenige Tage nach meiner Ankunft in Moskau erhielt ich von dem unerwarteten Ausgange jener gefürchteten Versammlung ausführlichen Bericht, doch leider auch von der Gefahr, in der Iwans Leben seitdem schwebte. Schonend verbarg ich sie meiner Tochter, verweilte aber in Moskau, um dort die Entscheidung über Leben und Tod abzuwarten, und wäre vermuthlich noch lange dort geblieben, hätte nicht mein alter Freund Dmitry –

Dmitry! wahrlich ein ehrenwerther Freund! lachte Richard höhnisch und überlaut.

Ruft Ihr mich, Herr? erscholl Dmitry's Stimme draußen vor der verschlossenen Thüre.

Ich glaube die ehrliche Seele steht Schildwacht, [71] um Lauscher von uns abzuhalten, und bedenkt nicht, daß Alle in diesem Hause eben so wenig Englisch verstehen, als Dmitry selbst, lachte Torson; indessen kommt er mir eben recht gelegen, um mich für einige Minuten abzulösen, daher bitte ich ihm Eintritt zu gewähren.

Richard zog mit einem ziemlich zweideutigen Gesichte und eben nicht auf die freundlichste Art den Schlüssel des Zimmers hervor, Dmitry wurde eingelassen, und bezeugte auf Torsons Aufforderung sich ungemein willig, die Geschichte seiner ersten Bekanntschaft mit diesem vorzutragen.

Aber ach! sein Geschichtsstyl war nicht der lobenswertheste; ihm fehlte gänzlich die Gabe sich kurz und deutlich auszudrücken, und es bedurfte von Torsons Seite vieler, zur Vermeidung von Umschweifen ermahnender Unterbrechungen, ehe Richard nur begriff, was er eigentlich meine. Der Kern der Geschichte war folgender:

[72] Dmitry, und sein Verwandter Ilia, waren mit wohlgefülltem Beutel vor mehreren Jahren zum erstenmale in ihrem Leben auf die Leipziger Messe gezogen, um sowohl für sich, als für einige andre Handelshäuser bedeutende Waareneinkäufe daselbst zu machen. Sie ließen sich unvorsichtiger Weise in einen jener heimlichen Spielwinkel verlocken, welche auch die sorgsamste Polizei nie gänzlich auszurotten vermögen wird, und sollten eben völlig ausgeplündert werden, als Torson, der sie gar nicht kannte, in den Saal trat.

Todtenbleich war Dmitry im Begriffe, den Rest seiner Baarschaft aufs Spiel zu setzen, während Ilia mit stierem Blicke dem letzten Häufchen vor ihm liegenden Goldes nachsah, das der Croupier einzustreichen beschäftigt war.

Fast gewaltsam riß Torson beide vom Spieltische fort, zum Saale, zum Hause hinaus, begleitete sie in ihre Wohnung, hielt ihnen dort [73] eine kurze, aber eindringliche Strafpredigt, und händigte eine Stunde später ihren ganzen Verlust ihnen wieder ein, nachdem sie eidlich sich hatten verpflichten müssen, nie wieder Karten oder Würfel zu berühren.

Wir hatten schon mehr verspielt als unser war, sprach Dmitry aus überströmendem dankbarem Herzen: wir waren damals noch junge Anfänger; unser edler Beschützer hat nicht nur unsern Wohlstand gerettet, er hat auch vor Schande uns bewahrt, was weit mehr sagen will; deshalb sind wir sein, auf Tod und Leben ihm ergeben; wir und die Unsern, und alles was wir besitzen, stehen Tag und Nacht, das ganze Jahr hindurch, zu seinem Dienste bereit; setzte er mit glänzenden Augen hinzu.

Übrigens war ich bei der Geschichte durchaus nicht auf die Weise betheiligt, wie Sie es zu glauben scheinen, nahm jetzt Torson schnell das Wort; jene Spieler waren längst als abgefeimte [74] Gauner mir bekannt, Landpiraten, mit denen in ewigem, feindseligstem Kriege zu leben, ich mir zur Pflicht mache. Ich war ausdrücklich gekommen, um sie auf der That zu ertappen, und ihnen den Garaus zu machen. Es that mir leid um die beiden stattlichen Figuren in ihrer grandiosen orientalischen Tracht, mit dem Ausdrucke banger Sorge in den fremdartigen stark hervortretenden Zügen ihrer Gesichter, auf denen das Wort Neuling so deutlich geschrieben stand. Nie in meinem Leben habe ich kaltblütig einen Hausvater, vielleicht den Versorger einer zahlreichen Familie sich zu Grunde richten sehen können, selbst dann nicht, wenn mein eigner Vortheil damit verknüpft war, und alles dabei übrigens mit rechten Dingen zuging. Bei meiner Rückkehr zu den Spielern kostete es mir wenig Mühe, sie zum Ersatze des unrechtmäßigen Gewinnes und zur schnellsten Abreise zu bewegen. Sie sahen von Einem vom Fache sich entlarvt, [75] den zu täuschen sie nicht hoffen konnten. Es ergötzt mich noch immer, wenn ich daran denke, wie froh die Spitzbuben waren, so wohlfeilen Kaufs davon gekommen zu sein.

Torson nahm nun den Faden seiner Erzählung, oder vielmehr seiner Bekenntnisse wieder auf. Ich verweilte noch in Moskau, sprach er, um Nachricht aus Petersburg zu erwarten, die meine ferneren Schritte bestimmen sollte; wahrscheinlich wäre ich noch zur jetzigen Stunde dort, doch Dmitry schreckte aus dieser gefährlichen Sicherheit warnend mich auf. Meine unerwartete plötzliche Entfernung in einem für seine Pläne so wichtigen Momente, hatten Pestels Argwohn erregt. Was er von mir befürchten mochte, weiß ich zwar so ganz eigentlich nicht; doch nach dem Ausgange seines letzten Versuchs, den er ganz anders sich gedacht hatte, war es natürlich, daß er sich eines ehemaligen Vertrauten zu bemächtigen suchte, der vielleicht ihm gefährlich werden [76] konnte. Ich sah von allen Seiten durch die in Moskau sehr zahlreichen Mitglieder des Bundes mich heimlich umstellt; die Klugheit gebot mir das Ärgste von ihnen zu erwarten.

Offener Gefahr, wenn sie mir allein gilt, bin ich stets muthig entgegen getreten; ich hätte auch die verborgene nicht gescheut, sobald ich sie entdeckte, aber mein Kind! Um Juliens willen entschloß ich mich, vor den Augen meiner heimlichen Verfolger, gleichsam ihnen unter den Händen zu verschwinden. Dmitry faßte die barocke Idee auf, mich in den eben abwesenden Kaviarhändler Grischa zu verwandeln, der wirklich in dieser nämlichen Gestalt in Moskau existirt; meine Tochter nahm die Tracht der armenischen Mädchen an; so entkamen wir bei Nacht und Nebel, unbemerkt, unerkannt, und langten unter der Leitung eines treuen Dieners des Dmitry hier an; Ilia, die dankbare Seele, nahm freudig uns auf. Wir könnten in höchster Sicherheit [77] und Ruhe hier Jahre lang hausen, denn Pestels Arm reicht nicht bis hierher; kaum der des Kaisers aller Reußen: setzte Torson lächelnd hinzu.

Richard verlangte Erklärung dieser letzten Worte. Sind wir nicht, wenn gleich nicht mehr im eigentlichen Rußland, doch noch in dem von dieser Seite fast unbegrenzten russischen Reiche? fragte er.

Wie man es nimmt, war die Antwort. Nachitschewan bildet in demselben eine, ich glaube in ihrer Art einzige Erscheinung. Freie armenische Kaufleute, die noch bis zu dieser Stunde das Städtchen ausschließend bewohnen, flohen in wilder Kriegszeit vor den Alles verheerenden Tataren aus ihrem ehemaligen Wohnsitze in der Krimm, um sich unter russischen Schutz zu begeben. Sie wurden gütig aufgenommen, erhielten, nebst bedeutenden Privilegien die Erlaubniß, sich hier niederzulassen, und bilden jetzt, [78] mitten in der riesengroßen Monarchie, eine kleine, den ehemaligen deutschen freien Reichsstädten nicht ganz unähnliche Miniatur-Republik. Ungefähr so wie jene sonst unter dem Schutze des weiland deutschen Kaisers standen, steht jetzt Nachitschewan für ein fest bestimmtes, alljährlich zu zahlendes Schutzgeld, unter dem des Beherrschers aller Reußen. Übrigens regiert es sich selbst, nach eigenen althergebrachten Gesetzen. Daß keine Seele hier an Aufruhr, heimliche Verbindungen oder Revolution nur denkt, daß man nichts sehnlicher wünscht, als daß Alles ewig so bestehe, wie es jetzt besteht, ist natürlich. Erwerb und Erhaltung des Erworbenen ist der einzige Lebenszweck dieser, nur mit dem ihnen zunächst Liegenden beschäftigten, harmlosen Leute, denen es kaum einmal im Jahre einfallen mag, daß es einen russischen Kaiser und ein russisches Reich in der Welt giebt.

Einzig auf die Gesellschaft meiner Hausleute [79] und Juliens beschränkt, habe ich mehrere Monate in der abgeschiedensten Einsamkeit – wie soll ich es nennen? existirt; denn Leben darf man solch ein Leben wohl nicht nennen, wo man der schändlichsten Langenweile zum Raube, Morgens beim Aufstehen schon nach der glücklichen Stunde sich sehnt, in der man anständiger Weise wieder zu Bette gehen kann. Wie ich es ausgehalten, ist mir unbegreiflich; nur Liebe zu meiner Tochter und eine Art Pflichtgefühl, das mächtiger mich begeisterte, als ich es mir jemals selbst zugetraut hätte, gaben mir Muth und Kraft. Überdem kannten mich nur Ilia und seine Frau, für die ganze übrige Hausgenossenschaft war und blieb ich Grischa. Die verdammte Aufgabe, diese abgeschmackte Rolle so lange durchzuführen, erschwerte mir nicht wenig mein trübseliges Leben.

Da endlich traf die Nachricht von Iwans Genesung und seiner nahen Rückkehr in seine [80] Heimath hier ein, später wurde der Besuch seiner Mutter uns angekündigt, die auf ihrem Wege zum Empfange ihres Sohnes, hier bei ihrer Jugendfreundin Selina einsprechen wollte. Jetzt athmete ich wieder auf! Mir war wie Einem, dem nach langer harter Klausur seine nahe Befreiung verkündigt wird. Julie erfuhr nun alles, Iwans glücklich überstandene Lebensgefahr, seine und seiner Mutter nahe Ankunft, aber auch, daß meine verwickelten gefährlichen Verhältnisse mir nicht erlaubten, bis zu Iwans Ankunft hier zu verweilen. Unter Ilias Schutz, der sich heilig verpflichtete, Vaterstelle bei ihr zu vertreten, sollte sie ihren Verlobten erwarten, und dann als seine glückliche Gattin in die Heimath mit ihm ziehn. Julie ergab sich in jede meiner Anordnungen, das einfache Kind gefällt sich in diesem, von der Natur so begünstigten Lande Von mir auf immer sich zu trennen, [81] war ihr freilich ein Hartes! Auch mir war es eine schwere Stunde, aber meines Bleibens ist hier nicht länger. Es benimmt mir Luft und Licht und Lebensmuth; mir ist, wie es im schönsten, wärmsten Sonnenscheine einem Fische auf trockenem Sande sein mag. Zurück, zurück muß ich in den Strudel des Lebens, zurück in mein Element, wenn ich nicht vergehen soll; muß wieder fürchten und hoffen und erwarten, bei Kerzenschein, auf dem grünen Felde, wo Fortuna, meine Göttin – doch genug!

Als Grischa kehrte ich nach Moskau zurück; mein erster Ausgang war nach dem Palaste des Fürsten Andreas, um etwas von Iwan zu erfahren; dort traf ich Sie, mir war als begegne ich einer himmlischen Erscheinung; denn daß Sie in Ihrem, mir wohl bekannten bedeutenden Verhältnisse Ihren Freund begleiten könnten, wäre selbst im Traume mir nicht eingefallen. Mein Entschluß, Ihnen hierher zu folgen, war augenblicklich [82] gefaßt; Dmitry half mir zur Ausführung desselben, wie Sie wissen.

Und was erwarten Sie jetzt von unserm Zusammentreffen? was verlangen Sie von mir? fragte Richard ziemlich kalt, aber eben nicht unfreundlich.

Was ich von keinem Andern verlangen möchte noch könnte, erwiederte Torson; ich kenne Sie und weiß, daß Sie nicht fähig sind, ein Ihnen geschenktes Vertrauen zu mißbrauchen. Überdem baue ich fest auf Ihr mir genau bekanntes Verhältniß zu jenem großen Hause, das wie zu demselben gehörend Sie jetzt schon betrachtet.

Daß ich vor Iwan als Juliens Vater zu erscheinen mich nicht entschließen kann, werden Sie sich selbst erklären, wenn Sie an so manches Vergangene zurückdenken wollen, zum Beispiel an den Brillen-Baron, und noch an Vielerlei und Mancherlei, das mit dem Respecte gegen seinen Schwiegerpapa sich schlecht vertragen [83] würde. – Ich wollte freilich jetzt es wäre anders, und wir Beide, er und ich, etwas weniger mit einander bekannt, aber es ist nun einmal wie es ist: setzte er die Achseln zuckend hinzu: auch möchte ich, wie Sie wissen, die Wiederholung der Abschiedsscene mir und Julien gern ersparen.

Und so sei es denn gewagt! ich lege die Zukunft meiner verwaisten, verlassenen Tochter in Ihre Hände! Nehmen Sie, gleich einem ältern Bruder, des armen Mädchens sich an. Daß ich in keinem andern Verhältnisse, als dem von der Natur geheiligten, des Vaters zu seinem Kinde zu ihr stehe, davon sind Sie überzeugt, denn die Beweise liegen in Ihrer Hand. Mögen Sie in jeder andern Hinsicht von mir denken, wie Sie wollen, ich ergebe mich darein, und weiß nicht, ob ich nicht sogar wünschen sollte, Sie möchten mich in Ihrer Meinung recht tief herabsetzen; denn dieses wäre v elleicht für Sie der [84] triftigste Beweggrund zur Erfüllung meines Wunsches!

Hier schwieg Torson, indem er einen halb fragenden, halb bittenden Blick auf Richard warf.

Dieser saß einen Augenblick wie unschlüssig da; erklären Sie sich deutlicher, setzen Sie mir umständlicher auseinander, was ich für die Braut meines Freundes thun soll und kann; sprach er endlich, und reichte unwillkürlich quer über den Tisch hin Torson die Hand.

Sie wissen jetzt Alles, klären Sie Iwan über mein Verhältniß zu Julien auf, über die Gründe, die mich zur Flucht mit ihr bewogen, über alles was in meinem und Juliens Betragen ihm zweifelhaft, oder auch nur auffallend scheint; fuhr Torson fort, ermuthigt durch Richards sichtbar gegen ihn veränderte Stimmung. Suchen Sie Iwans Mutter für die Verbindung des jungen Paares zu gewinnen, und möge dann Julie, als Gattin des Mannes den sie liebt, [85] mit ihm in sein schönes Vaterland ziehen, und glücklich sein.

Ist aber alles wirklich anders geworden, hat Iwan sein Herz von ihr abgewendet, weigern sich seine Mutter und seine Verwandten, eine Fremde in ihrer Mitte aufzunehmen, nun dann! dann! setzte er sehr bewegt hinzu, dann suchen Sie dem unglücklichen Mädchen Muth einzusprechen, und führen es zurück nach Petersburg, zurück in das Asyl ihrer Jugend, dem ich sie nie hätte entreißen sollen. Vertreten Sie Julien bei den ihr einst so günstig gestimmten Freunden, erklären Sie ihnen den Zusammenhang der Begebenheiten, so viel Sie dieses können, ohne das Geheimniß des Bundes zu verrathen. Frau Karoline wird die Arme, die mit einem so großen Schmerze zu ihr flüchtet, nicht verlassen, und Lange auch nicht, davon bin ich überzeugt, wie von meinem Leben.

Übrigens tritt meine Tochter nicht als Bettlerin [86] auf; in diesem Portefeuille übergebe ich Ihnen Juliens Vermögen – weisen Sie es nicht vornehm zurück, Herr Wood; kein Kopeken von dem, was Sie oder Andre, billiger oder unbilliger Weise, unrecht erworbenes Gut nennen möchten, befindet sich darunter, sprach Torson ein wenig gereizt, als Richard mit verweigernder Geberde sich abwandte: es ist das auf meine Tochter rechtmäßig vererbte Eigenthum ihrer verstorbenen Mutter, das ich hier zu gewissenhafter Verwaltung Ihnen, als ihrem Vormunde, übergebe.

Haben Sie denn jenes Linsengericht ganz vergessen, für welches ich meinen Verwandten damals meine Ansprüche auf die Güter und den Namen meiner Ahnen überließ? setzte er, schnell sich wieder fassend, heiterer hinzu. Zwar hatte ich einen schlechten Handel gemacht, aber die Summe war an und für sich nicht ganz unbedeutend. Sobald eine schickliche Gelegenheit dazu [87] sich auffinden ließ, eilte ich sie meiner Frau als ihr Eingebrachtes zu verschreiben, um die Zukunft dieses geliebten Wesens außerhalb des Bereiches meines eignen Geschicks festzustellen. Beinahe zwanzig Jahre lang habe ich die Zinsen immer wieder zum Kapitale schlagen lassen; und so ist es denn jetzt, fast verdoppelt, zu einer Summe angewachsen, die Julien zwar nicht zur reichen Erbin macht, aber doch für den schlimmsten Fall ihr Unabhängigkeit zusichert.


Mit sich, mit Torson, ja mit der ganzen Welt vollkommen zufrieden, voll moralischer Betrachtungen über die tadelnswürdige Eilfertigkeit, mit der man zu einseitigen, unüberlegten Verurtheilungen sich hinreißen läßt, ohne sich die Mühe zu geben, auch die etwanigen guten Seiten des Bösewichts, den man verdammt, aufspüren zu wollen, machte Richard sich bereit, die ihm sehr [88] schwierig dünkende Beruhigung seines, bis zum wüthendsten Zorne gereizten Freundes zu unternehmen.

Der Mutter verständige Vorstellungen, das Zeugniß der vieljährigen Freunde seiner Eltern, Ilia und Selina, vor allem aber die durch das flüchtigste Wiedersehn der Geliebten neubelebte Liebe, hatten indessen alles schon vollendet, und den grimmigen Löwen gebändigt. Lammsfromm saß er zwischen der Mutter und Julien; von Geschwistern und Freunden umringt, lächelnd wie die personificirte Zufriedenheit, reichte er dem erstaunten Richard bei dessen Eintritt die Hand entgegen, und für diesen blieb nichts mehr zu thun übrig, als die Ermahnungen, auf die er sich vorbereitet hatte, in tief aus dem Herzen kommende Glückwünsche umzuwandeln.

Wehe dem Novellisten, der sich nicht daran genügen lassen will, ein liebendes Paar durch allerlei Widerwärtigkeiten bis zu den Stufen des [89] Altars glücklich geleitet zu haben; der Versuch, nach dieser alles beendenden Catastrophe noch etwas Interessantes vorzutragen, fällt selten belohnend aus. Daher sei hier nur noch in möglicher Kürze erwähnt, daß Iwan auf Treue und Glauben alles für wahr annahm, was Richard im Namen des Vaters seiner Braut ihm mittheilte, ohne daß er deshalb die mindeste Sehnsucht bezeigt hätte, diesen wiederzusehn; denn seine offne treue Natur konnte den Mangel an Vertrauen, den Torson ihm bewiesen, zwar verzeihen, aber weder verwinden noch vergessen.

Übrigens war Iwan in der Umgebung der Seinen der einfache Sohn des Gebirgs wieder geworden, der er gewesen, ehe das größere Leben ihn umfing. Außer dem Freunde und der Geliebten war alles, was zwischen dem Tage seines Abschieds von der Heimath und der gegenwärtigen Zeit lag, versunken und vergessen; an Juliens Seite wandte er nur der Zukunft[90] sich zu und eine unabsehbare Reihe von Jahren, im heitersten Sonnenglanze des friedlichsten Glückes, breitete vor seinem Blicke sich aus.

Spät nach Mitternacht, als in ganz Nachitschewan kein Auge mehr offen stand, erschien Torson reisefertig, um von Richard Abschied zu nehmen. Zwischen diesen beiden bedurfte es keiner weitern Erläuterungen, Torson war durch Dmitry von allem was sich zugetragen umständlich unterrichtet.

Ich werde weder Petersburg noch Moskau jemals wiedersehen, sprach Torson im Augenblicke des Scheidens: ich wähle den geraden Weg nach Odessa, von wo ich leicht überall hingelangen kann, wohin Schicksal oder eigne Laune mir winken. Wir beide treffen wahrscheinlich nie wieder zusammen, auch weiß ich nicht, ob dies wünschenswerth wäre; doch werde ich Sie nie vergessen, und Sie mich wahrscheinlich auch nicht.

Iwan, die Mutter und Geschwister desselben, [91] Ilia, Selina und Julie, die einstweilen noch als unter dem Schutze jenes gastlichen Paares stehend betrachtet wurde, sie Alle bereiteten sich, in den nächsten Tagen in die ziemlich nahe liegenden Bäder von Kislawodsk sich zu begeben, und dort die Ankunft des Vaters Yakuchin zur Hochzeitsfeier zu erwarten.

Richard freute sich unbeschreiblich auf diese Reise; die erste Hälfte seines Urlaubs war noch nicht völlig abgelaufen, er durfte es sich erlauben, wenigstens einige Tage in jenen paradiesisch schönen Gegenden mit seinem Freunde fröhlich zu sein, mit dem er so viel herbes Leid treulich getragen. Doch als der Tag, die Stunde der Abreise nun festgesetzt war, da ergriff ihn plötzlich eine unerklärliche, ahnungsschwere Bangigkeit. Wachend und im Traume war ihm, als riefen ängstliche Stimmen aus weiter Ferne ihn bei Namen, als fühle er von unsichtbaren Händen sich heimwärts gezogen, und vermochte nicht diesem [92] Gefühle, das immer vernehmlicher sich aussprach, zu widerstehen.

Richard, Du gehst! sprach Iwan in der letzten schmerzlichen Umarmung: und in Dir verläßt mich mein Schutzengel, der Schöpfer meines Glückes, dem ich Alles verdanke, mein Leben und, was mehr ist, meine Genesung aus einem Zustande, an den ich nicht zurückdenken darf. Du gehst von schwerer Ahnung getrieben, und ich bleibe in banger Sorge um Dich zurück. Denke an mich, nicht wie man so im gemeinen Leben zu sagen pflegt, denke an mich wenn es Dir wohl geht; da magst Du immerhin mein vergessen: aber wenn einst Alles um Dich her zusammenbricht, wenn Deine schönsten Hoffnungen in Rauch aufgehen, dann, Richy, dann denke an Iwan, und reiße von allem Flittertande Dich los, und fliehe zu mir in meine stille friedliche Hütte, und ruhe bei uns vom Schmerze des Lebens aus. Gieb mir die Hand darauf, [93] daß Du es thun willst, versprich es mir, mein Bruder!

Richard that wie Iwan es wollte, und entfernte sich schleunigst, ohne noch einmal den Blick rückwärts zu wenden.


Richards Ankunft in Petersburg fiel gerade in eine Epoche, welche in jeder bedeutenden Stadt, besonders in jeder großen oder auch winzig kleinen Residenz, einmal im Jahre regelmäßig eintritt, wo alle Welt klagt: die Stadt ist verödet! Alles wie ausgestorben! obgleich das Leben in seinem gewohnten Gange sich rasch fortbewegt, Equipagen rollen, geputzte Leute überall sich zeigen, Jedermann wie gewöhnlich seine Geschäfte betreibt, und man diese angebliche Öde weder auf den Promenaden, noch in den Straßen sonderlich gewahr wird.

Diese Zeit des allgemeinen Stillstandes, der [94] im Grunde keiner ist, übt ihre lähmende Kraft hauptsächlich nur auf die wenigen daheim Gebliebenen, jenen der Zahl nach kleinsten Theil der Bevölkerung, welcher sich vorzugsweise die Societät nennt. Die Abwesenheit des Hofes zieht auch die der angesehensten Familien nach sich, und so fand es auch Richard bei seiner Heimkehr. Einige große Familien hatten bedeutende Reisen in fremde Länder angetreten; Andre hatten auf ihre, oft seit vielen Jahren nicht besuchten Besitzungen sich begeben, und unter diesen befand sich auch Fürst Andreas, der mit seinem Sohne Eugen auf einer seiner weit entfernten Herrschaften den Zustand seiner viel tausend, lange nicht von ihm in nähere Betrachtung gezogenen Seelen, und der von ihm dort angelegten Fabriken untersuchte.

Graf Stephan befand sich mit seiner Familie in Berlin, um bei den dortigen berühmten Ärzten für seine immer leidende Gemahlin Hülfe zu [95] suchen. Und was für Richard das Betrübendste war, auch die Fürstin Eudoxia, begleitet von ihren beiden Töchtern und ihrem Schwiegersohne, war nach Karlsbad gegangen. Sogar Alex war abwesend, sein Urlaub war abgelaufen und Dienstpflicht hielt den jungen Officier in Kronstadt fest.

Keiner hatte daher wohl gerechteren Grund sich zu beklagen als Richard, dem ohnehin diese gänzliche Verlassenheit um so schmerzlicher auffallen mußte, da er auf keine Weise darauf vorbereitet war. Die weite Entfernung des Ziels seiner Reise, die Eile, mit welcher er sie zurücklegte, hatte jede briefliche Mittheilung fast unmöglich gemacht; gewiegt in goldne Träume des nahenden Wiedersehens, hatte er keine Ruhe sich gegönnt, um noch vor völliger Beendigung seines Urlaubs anzulangen, und fand sich nun zu Hause, als wäre er in der Fremde.

Anfangs wollte die heimliche Angst, die ihn von seinem Freunde fortgetrieben, und die während [96] der Reise von ihm gewichen war, sich seiner wieder bemächtigen; doch als er die ersten Tage des Mißmuths überstanden und reiflich bedacht hatte, daß aufgeschoben nicht aufgehoben sei, fing er an etwas unbefangener um sich zu blicken. Er entdeckte jetzt manches, das ihn tröstete und heiter stimmte, und mußte sich selbst bekennen, daß dieser fast total isolirte Zustand, in den er für den Augenblick sich versetzt sah, eben wie alle Übel der Welt, doch auch seine gute Seite habe; denn auch Obrist Pestel und mit ihm alle die eifrigsten Anhänger jenes Bundes, waren aus Petersburg verschwunden, hierhin, dorthin, in alle vier Winde hin.

Keine Spur eines Vereinigungspunktes ließ sich entdecken; es ereignete sich zuweilen, daß Richard mit mehreren ihm wohlbekannten Bundesbrüdern an öffentlichen Orten, oder auch in engeren geselligen Kreisen junger Leute zusammentraf, doch kein Wort, kein Blick, nicht die [97] leiseste Anspielung verrieth jemals, daß man jener, einst die Gemüther so gewaltsam exaltirenden Verhältnisse, sich auf das entfernteste nur noch erinnere; es war als wären sie nie gewesen. Gewiß, gewiß, es konnte nicht anders sein, der Fürst, als er behauptete, der Bund sinke von nun an in sich selbst der Vernichtung zu, hatte weder sich noch Richard getäuscht; diese Überzeugung, die immer klarer sich ihm entgegen drängte, erfüllte ihn mit einem gewissen behaglichen Gefühle ruhiger Sicherheit, das seit seinem Eintritte in den Bund ihm ganz fremd geworden war, und ihm jetzt unbeschreiblich wohl that.


Seine genußreichsten fröhlichsten Stunden brachte Richard jetzt beim Kapellmeister Lange zu. Bei seiner übereilten Abreise hatte er die treuen Freunde verlassen müssen, ohne von ihnen Abschied nehmen zu können; er fand sie bei seiner [98] Wiederkehr zwar ruhiger, als sie gleich nach Juliens Flucht es gewesen, aber immer noch niedergebeugt, einsam, mit tief verletztem Gemüthe. Sein erstes Erscheinen, die freudige Botschaft, die er vom Kaukasus mitbrachte, wirkte auf Beide, wie, nach Monaten versengender Dürre, ein milder Regen auf die verschmachtende Pflanzenwelt wirkt.

Von neuem Jugendmuthe beseelt, erhoben sich Beide aus der ihnen so wenig natürlichen trübseligen Stimmung; Frau Karoline lachte und weinte in einem Athem, ehe sie für ihre Freude Worte fand; dem Kapellmeister fehlten diese ganz und gar; verstummend warf er seine goldbetroddelte Mütze von einem Ohre zum andern, riß sein Pianoforte auf und jubelte darauf so lange und kräftig herum, bis die Saiten es nicht mehr aushielten, tanzte und walzte mit seiner Frau, mit Richard, mit den Möbeln im Zimmer, bis keines derselben mehr auf seiner alten Stelle stehen [99] geblieben war, bis er zuletzt athemlos hinsank.

Ihr meint wohl, ich sei närrisch geworden? keuchte er endlich: und Gott sei Dank, ich bin es auch.

Alter! bin ich es denn nicht? wer über gewisse Dinge nicht den Verstand verliert, der hat keinen zu verlieren! spricht die Gräfin Orsina, fuhr Frau Karoline in ihrer gewohnten theatralischen Manier dazwischen, und brach hernach selbst über die seltsame Anwendung dieser Worte in lautes herzliches Lachen aus.

Daß ich das erlebe! daß ich wieder denken und singen und sagen kann, es giebt noch Treu und Glauben in der Welt! darum verlohnt es sich auch noch der Mühe, ein paar Jährchen in ihr es auszuhalten, sprach ihr entzückter Gatte indessen leise vor sich hin, und wiegte lächelnd das Haupt von einer Seite zur andern. Julie hat uns nicht hintergangen, ist brav und glücklich, [100] selbst Torson ist so pechschwarz nicht als er schien! Wie das Alles im Kopfe mir herumwirbelt! rief er, sprang auf, setzte sich wieder an den Flügel, und ließ nun in Tönen beredter als in Worten seine Freude, seinen Dank ausströmen; Richard und Karoline hörten in stiller Andacht ihm zu.

Von nun an war des Erzählens von der einen, des Fragens von der andern Seite kein Ende, so oft Richard sich zeigte; und dieser ließ selten einen Tag vergehen, ohne die treuen Freunde zu besuchen. Immer hatten sie Julien als ganz zu ihnen gehörend betrachtet, das Bewußtsein, ihr, wenn auch gleich nur in Gedanken, Unrecht gethan zu haben, machte sie ihnen noch theurer, und flößte für alles, was auf sie Bezug hatte, die lebhafteste Theilnahme ihnen ein. Die guten Leute sannen Tag und Nacht darüber nach, wie sie ihr eine Freude machen könnten, um das ihr zugefügte Leid, von welchem sie jedoch gar nichts empfunden, einigermaßen zu vergüten, [101] und wünschten nichts sehnlicher, als sie noch einmal zu sehen, um es ihr abzubitten.


Auf den Flügeln der herbstlichen Äquinoctialstürme entfloh der kurze nordische Sommer, und von allen Seiten kehrten die Reisenden an den heimathlichen Heerd zurück. Täglich gab es ein Fest des Wiedersehens zu feiern, und auch Richard ging dabei nicht leer aus, denn auch er begegnete bei jedem Schritte lange vermißten Freunden und Bekannten, bis endlich zur glücklichsten Stunde auch Helena mit den Ihrigen heimkehrte. Nur der Fürst und Eugen fehlten noch, und auch Graf Stephan, von den Leiden seiner geliebten Frau in Berlin festgehalten.

Richard verlebte jetzt Tage des ungestörtesten Glückes, ohne daß deshalb in seinen äußern Verhältnissen die kleinste Abänderung eingetreten wäre. Befreit von jenen quälenden Besorgnissen, [102] die ihn früher Tag und Nacht verfolgten, die selbst an der Seite der Geliebten ihn nur um so entsetzlicher peinigten, gab er jetzt der lang entbehrten seligen Gegenwart sich hin, und suchte jedem Gedanken an seine noch immer tief verschleierte Zukunft auszuweichen, selbst wenn der Fürstin Eudoxia sich immer gleichbleibende Nachsicht, ja ihr mütterliches Benehmen gegen ihn, als ein unbegreifliches Räthsel vor ihm stand, an dessen Lösung er nicht ohne bange Ahnung denken konnte.

Traue meinem Vater, der uns wohl will, und genieße der guten Stunden, die er uns gönnt, ohne weiter darüber nachzugrübeln; glaube fest, er weiß was er thut, und ist unfähig, das Glück unsers Lebens muthwillig aufs Spiel zu setzen; sprach dann lächelnd Helena, und wie gern gab er der holden Trösterin nach!

So ging die Zeit hin; das Karneval mit seinen glänzenden Festen nahte sich seinem Ende; [103] Frühlingsahnung regte sich in jeder Brust; denn obgleich der Winter noch immer das Regiment führte, schien er doch allmälig die Strenge desselben mildern zu wollen. Helena und Richard sahen still freudig der Rückkehr des Fürsten entgegen, die sie innerhalb weniger Wochen erwarten durften, doch von Eugen blieben sie ohne alle Nachricht. Keiner, auch nicht Eudoxia, kannte seinen jetzigen Aufenthalt, und da der Vater sich nicht geneigt bezeigte, sich über denselben in seinen Briefen zu äußern, so durfte Niemand es wagen, deshalb in ihn dringen zu wollen. Selbst die Fürstin war zu dieser zurückhaltenden Bescheidenheit von ihrem Gemahl früh gewöhnt worden.

Was wird es denn auch Großes sein! lächelte Helena: irgend eine neue Anstalt, eine Schule für Bauernkinder, oder eine ausländische Erfindung, mit der wir überrascht werden sollen, und über deren Ausführung Eugen die Oberaufsicht [104] übertragen worden ist. Warum sollten wir vorwitzig dem guten Vater diese Freude verderben?


Wunderlich genug hatte es gerade in dieser Zeit dem Strumpffabrikanten Wood, der jetzt ein in seiner Art sehr bedeutender, reicher Mann geworden war, gefallen, sich einmal seines Sohnes zu erinnern, an den er seit Jahren nicht gedacht hatte, so wenig als der geneigte Leser an den alten Herrn in Nottingham gedacht haben mag. Ein für ein Haus in Manchester Reisender kam mit Empfehlungen und Briefen für Richard an; eigentlich eine vornehmere Art Muster-Reiter, beladen mit Vorschlägen zu Speculationen und kaufmännischen Anerbietungen, zu deren Ausführung er durch Richards Fürwort zu gelangen angewiesen war.

Master Mitchell, so hieß der ehrliche John Bull, der gleich in der ersten Stunde dem armen [105] Richard ungemein lästig erschien, suchte auf seine Art sich so angenehm zu machen, als möglich; er packte mit großer Förmlichkeit ein paar Dutzend Briefe von Eltern, Geschwistern, Vettern und Basen aus, die er, nicht ohne einiges Risiko, über die Grenze geschmuggelt hatte; und wußte Unendliches von den Billys und Tommys und Peggys und Pattys zu erzählen, die alle auf Richards brüderliche Zärtlichkeit Anspruch machten, und deren Namen, ja zum Theil deren Existenz ihm nicht einmal bekannt war; denn seit seiner Entfernung aus dem väterlichen Hause hatte die damals schon große Anzahl seiner Geschwister sich noch beträchtlich vermehrt.

Solche zwar selten, aber doch im Verlaufe einiger Jahre immer wiederkehrenden Erinnerungen an seine Familie, ergriffen ihn allemal mit dem drückenden Gefühle versäumter Pflicht, indem sie zugleich seine eigentlich doch sehr unbestimmte, einzig und allein auf das fortgesetzte Wohlwollen [106] mächtiger Gönner beruhende Stellung, ihm wieder fühlbarer machten. Doch war bis jetzt, und auch diesmal, keine betrübende Nachricht ihm über's Meer zugekommen; seine Eltern lebten in täglich sich mehrendem Wohlstande, keines seiner Geschwister, deren Anzahl er selbst nicht mehr genau wußte, hatte der Tod ihm entrissen. Er fühlte es als schwere Verpflichtung, dieses als ein großes Glück anzuerkennen, und zürnte sich selbst, daß es ihm damit nicht recht gelingen wollte. Aber das Alles lag ihm so fern, war ohne sein Zuthun ihm so entfremdet, daß es ihm durchaus unmöglich blieb, den warmen Antheil daran zu nehmen, den er seinem Herzen aufzudringen sich fruchtlos bemühte.

Um aber doch einigermaßen seine Pflicht eines guten Sohnes zu erfüllen, that er alles nur Ersinnliche für seinen unbequemen Gast, der aber leider als durchaus nicht amüsabel sich auswieß. [107] Von allem was Richard ihm zeigte, gefiel ihm durchaus nichts, denn es war nicht wie in Alt-England; die Sitten und Gewohnheiten der großen englischen Kaufleute, in deren Häusern ihn Richard einführte, fand er so aus der Art geschlagen, daß er gewiß keinen Fuß wieder hinein gesetzt haben würde, hätte nicht die Hoffnung, irgend ein bedeutendes Geschäft mit ihnen zu machen, ihn dazu bewogen.

Indessen wollte Richard doch nichts unversucht lassen; um dem widerhärigen Insulaner wenigstens einen anschaulichen Begriff von der Größe, dem überschwänglich reichen Leben der prachtvollen Kaiserstadt zu gewähren, führte er ihn auf den großen Maskenball, den letzten in dieser Saison, und folglich auch den besuchtesten und glänzendsten, den selbst der kaiserliche Hof diesmal durch seine Gegenwart verherrlichte.

Als ob die Bevölkerung eines ganzen Landes in Lust und Freude sich versammelt hätte, [108] so drängen die vielen Tausende, deren Zahl auszusprechen man sich scheut, um nicht der Übertreibung beschuldigt zu werden, in weiten Sälen sich umher, deren Ende unerreichbar scheint. Der Fremde, der seinen Begleiter nur eine Secunde aus den Augen läßt, ist von dem Moment an verloren, wie ein Tropfen im Meere. Fortgerissen von dem unglaublichen Gewühle, kann er bis zum anbrechenden Morgen fortwandern, ohne ihn oder auch nur einen Punkt anzutreffen, der ihm einigermaßen sich zu orientiren dienen könnte. Diesmal erreichte Richard seinen Zweck. Das ist groß! das ist stupend! sprach Mr. Mitchell, und ließ, an Richards Arm fest angeklammert, sich wohlgefällig vorwärts schieben.

Croyan oder adhéran? flüsterte eine scharf betonte Stimme dicht an Richards Ohr. Ganz unwillkürlich sah er nach dem, der diese ihm ganz unverständlichen Worte gesprochen hatte, [109] sich um. Ein Ruck – und der unselige Engländer war im nämlichen Momente von ihm getrennt, kaum sah er noch weit vorne im Strudel der Menge ihn schwanken, dann war er verloren, ohne Hoffnung, ihn sobald wieder zu finden.

Ein riesengroßer Domino hatte an dessen Stelle sich gedrängt und Richards Arm ergriffen. Sei unbekümmert, Brüderchen, er ist wohl beschützt und wird zur rechten Zeit Dir wieder übergeben. Ich muß Dich sprechen und habe Eile, sprach leise, aber vernehmlich, der Domino ihm abermals in's Ohr.

Du bist's? Du wagst es? rief Richard überlaut, indem er jetzt die Stimme zu seinem großen Schrecken erkannte. Die Musik und das Geräusch um ihn her übertönten glücklicher Weise diese Worte; unwillig winkte die Maske ihm zu schweigen, zog ihn rascher mit sich fort, wand mit auffallender Lokalkenntniß auf allerhand [110] Seitenwegen sich mit ihm durch das Gedränge in einen abgelegenen Korridor, drückte gegen eine Wand, sie gab nach, eine verborgene Tapeten-Thür drehte unhörbar sich auf ihren Angeln.

Da wären wir nun, wo der Teufel selbst seine Jungen nicht fände! lachte Lunin, den die Alles errathenden Leser wahrscheinlich längst erkannt haben, indem er Richard in ein geräumiges aber schwach erleuchtetes Zimmer schob. Fünf oder sechs junge Leute, welche den Eintretenden nicht zu bemerken schienen, saßen bei Punsch und Würfelspiel in einer Ecke.

Und nun, Brüderchen, setze Dich hierher, brich los mit Schelten und Ermahnen, aber fasse Dich kurz: sprach Lunin, indem er Richard in ein entferntes Fenster zog, wo halb von den Draperien bedeckt Wein und Gläser bereit standen.

Lunin! rief Richard, hoffte ich doch Deine verhaßte Gestalt nie wieder zu sehn.

[111] Sei nicht unhöflich, erwiederte lachend Lunin: was hast Du gegen meine Gestalt, wenn sie mir nur recht ist? Die langen Beine da haben mir schon aus mancher Patsche geholfen! setzte er hinzu, indem er in seinem Sessel sich zurücklehnte, sie weit ausstreckte und in der Luft damit lustig herum vagirte. Aber nun zur Sache: was hast Du mir zu sagen?

Ich Dir? was hätte ich mit Dir zu schaffen? antwortete Richard mit dem Ausdrucke tiefster Verachtung.

So stehts? desto besser, dann kommen wir um so eher auseinander, erwiederte Lunin sehr gleichmüthig: ich aber habe allerlei Aufträge an Dich, von meinem Alten, Du weißt wohl. Ich gehe von hier gerade zu ihm nach Odessa; ich thue es nicht gern, aber ich muß wollen, wie er will, das Ding hat zwischen uns so seinen eignen Haken. Hast Du an ihn etwas zu bestellen? Nicht? auch gut. Dann soll ich mit [112] Feinheit von Dir herausbringen, aber das ist meine Sache nicht, also frage ich Dich lieber gerade heraus, in meines Alten Namen, bist Du Croyan oder schon zum Adhéran avancirt?

Du avancirst wohl mit nächstem ins Narren-Haus: erwiederte Richard ungeduldig auffahrend.

Also noch die pure liebe Unschuld? fuhr Lunin fort, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen: da kann ich also ohne weitere Umstände meinen Auftrag an Dich frei von der Leber weg ausrichten. Der mich sendet läßt Dir empfehlen wohl aufzumerken, wo Du jene Worte aussprechen hörst. Die böse Teufelssaat ginge wieder auf, und die sieben Köpfe der alten Hydra gewönnen wieder neues Leben. Fahr wohl! auf nimmer wiedersehn! mit Tagesanbruch bin ich auf dem Wege nach Odessa. Du bleibst ruhig hier, bis Dein Seekalb kommt, es wird nicht lange ausbleiben.

[113] Die Tapetenthüre drehte sich wieder, Lunin war verschwunden, Richard saß da und wußte nicht genau ob er wache oder träume. Ihm war grauenhaft zu Muthe, Lunins kurze gespensterartige Erscheinung, die wenigen Worte, die er von ihm vernommen, machten ihn zweifelhaft, ob man einen übel angebrachten Scherz mit ihm treiben wolle, oder ob jene Worte wirklich eine Bedeutung hätten, die in dem Sinne genommen, in welchem er sie zu nehmen habe, ihn von neuem mit den peinigendsten Besorgnissen erfüllen mußte.


Seit Lunin und Richard das Zimmer betreten, hatte die Gesellschaft am andern Tische, ohne großen Lärm dabei zu machen, ihr Wesen vor sich hin getrieben. Das Klappern der Würfel, daß Klingen der angestoßenen Gläser, ging so gleichförmig, man könnte sagen so taktmäßig [114] vor sich, daß es dadurch das Störende verlor, und von dem in seinem dunkeln Ecken sitzenden Richard eben so unbeachtet blieb als der das Fenster umsausende Nachtwind; im Gegentheil, es versenkte ihn nur noch tiefer in jene unbestimmten Träumereien, denen er beinah gedankenlos sich überließ, statt ihn daraus zu erwecken.

Wem es gelungen ist in der Nähe einer Mühle einschlafen zu können, der wird, wie man behauptet, nur um so fester schlafen, so lange die Mühle im Gange bleibt. Doch werden ihre Räder gehemmt, so erwacht er, und es ist um seinen Schlaf gethan. Ähnliches erfuhr Richard.

Die Punschquelle an jenem Tische war vermuthlich versiegt, die Spiellust befriedigt; das Klingen der Gläser, das Klappern der Würfel nahm plötzlich ein Ende, leise drehte sich wieder die Tapetenthüre: ein neu Ankommender gesellte [115] jener Gesellschaft sich zu. Die Stühle wurden dichter zusammengeschoben; mit den Ellbogen auf dem Tische, die Köpfe zusammen gesteckt, begann unter ihnen ein eifriges, flüsterndes Gespräch, weit leiser als die vorhin geführte Unterhaltung; Richard fuhr über diese plötzlich eintretende Veränderung aus seiner Versunkenheit in sich selbst auf, und erinnerte sich jetzt erst der Nähe einer Gesellschaft, deren Dasein er völlig vergessen gehabt hatte.

Jetzt erst fiel es ihm auf, daß auch er wahrscheinlich eben so unbemerkt geblieben sei, was in nicht geringe Verlegenheit ihn versetzte. Sein Gefühl für Ehre und Schicklichkeit erlaubte ihm nicht, noch ferner ohne Wissen der Anwesenden hier zu verweilen und verborgener Zeuge einer Unterhaltung zu werden, die mit immer steigendem Interesse geführt zu werden schien; verließ er aber das Zimmer, so konnte er kaum noch hoffen, in der ungeheuren Menschenmasse [116] seinen Begleiter aufzufinden, den hier zu erwarten er angewiesen war, und die vielleicht gefährlichen Verlegenheiten ließen sich gar nicht absehen, in welche dieser bei seiner widerhärigen Unbeholfenheit gerathen konnte, wenn er für den übrigen Theil der Nacht seiner eignen Leitung überlassen blieb.

Nach allen diesen Überlegungen hatte Richard zuletzt beschlossen hervorzutreten, um seine Gegenwart und die Veranlassung derselben kund zu thun, die ihn zwang, einen von ihm eingeführten, der Localitäten ganz unkundigen Fremden hier zu erwarten, als ein einziges Wort, deutlicher als alle übrigen sein Ohr traf, und augenblicklich an seinem Platze ihn festhielt: das Wort – Adhéran.

Leiseres unverständliches Geflüster folgte diesem, aus welchem nur einzelne Ausdrücke zu ihm herüber schollen, die er in keinen Zusammenhang zu bringen wußte. Auch Namen hörte [117] er nennen, die er anderswo oft vernommen. Er blickte schärfer nach der Gesellschaft hin und entdeckte zu seinem unsäglichen Entsetzen bekannte Gesichter aus jener Zeit, die er gern auf ewig vergessen hätte. In diesem heimlichen Winkel, so still verborgen im Gewühle vieler Tausende, wie eine einsame Felseninsel mitten im sie umbrausenden Gewoge des Weltmeers, an einem Orte, wo Lunin als völlig einheimisch sich benommen hatte, diese versammelt zu sehn, ergriff ihn mit grauenvollem Ahnen drohender, allgemeiner Gefahr.

Was er sah und hörte, mußte auf das Lebhafteste an jenen verhängnißvollen Abend ihn erinnern, an welchem ein unseliger Zufall, wider seinen Willen, ihn Mitglied eines Bundes werden ließ, den er seitdem bis zu diesem Augenblicke zu seiner großen Beruhigung für ganz aufgelöst gehalten hatte. War es Absicht oder Zufall was diese, einzig aus früheren Theilnehmern [118] an demselben bestehende Gesellschaft, hier zusammengeführt hatte?

Das einzige Wort Adhéran ausgenommen, ließ alles Übrige, was er von ihrer Unterhaltung bis jetzt verstanden, ihn das Letztere hoffen; doch wenn er der Warnung sich erinnerte, welche Torson durch Lunin ihm hatte zukommen lassen, so ergriff ihn eine ungeheure Angst, und bange Schauer durchrieselten ihm Mark und Gebein.

Der zuletzt Angekommene schien erst rechtes Leben in die Unterhaltung gebracht zu haben; ein langer hagrer Vierziger, von militairischem Anstand, mit dem Ausdrucke tief gewurzelten Mißmuths in den dunkeln, stark hervortretenden Zügen, auf dessen Namen Richard in diesem Augenblicke sich nicht besinnen konnte, der aber durch sein schweigsames Aufmerken auf Alles, was um ihn her vorging, ihm in den Bundesversammlungen oft aufgefallen war. Sein Betragen hier war ganz anderer Art; heftig gestikulirend, [119] wahrscheinlich von einem leichten Champagnerrausche etwas exaltirt, sprach er viel, aber so leise, daß keine Sylbe von dem, was er sagte, bis zu Richards Ohr gelangte. Einige von seinen Zuhörern schienen eben so eifrig, aber auch eben so leise ihm zu widersprechen; aller Vorsicht vergessend sprang er auf, und schlug mit geballter Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten.

Und warum nicht? rief er mit überlauter Donnerstimme, warum nicht auf dem Balle? warum nicht an einem Tage wie heute? denkt einige dreißig Jahre zurück, denkt an Stockholm – Gelächter und Geschrei außerhalb des Zimmers erstickte den Rest seiner Worte.

Die Tapetenthüre drehte sich wieder, lachend drängte eine Gruppe Masken hinein, Richard glaubte des Engländers Stimme zu hören und eilte hinaus; da stand der edle Britte, so selig als man in dieser Welt es nur werden kann, [120] von zwei Personen unterstützt, die ihn sogleich in Richards Arme legten, und dann den übrigen in das Zimmer folgten, dessen Thüre augenblicklich verschlossen wurde.

Rule Britannia! lallte Mr. Mitchell mit schwerer Zunge und noch schwererem Kopfe, während Richard den Taumelnden in den Wagen transportirte, aus welchem er fest schlafend in sein Bette getragen, und am nächsten Morgen bei einem Kruge Sodawasser nicht müde wurde, die gestern erhaltenen Beweise russischer Gastfreiheit bis in die Wolken zu erheben.


Der Rausch war verschlafen, die Nachwehen desselben rein weggespült; Mitchell war wieder die nüchterne, nur auf ihren Vortheil bedachte, Gewinn und Verlust berechnende Krämer-Seele geworden, die er von jeher gewesen. Er ging treufleißigst seinem Berufe nach, ließ bei den [121] Bemühungen, seine Fabrikate zu empfehlen, weder durch kalten Empfang noch durch Äußerungen des Überdrusses sich zurückschrecken, und gehörte fast buchstäblich zu denen, von welchen man sprüchwörtlich zu sagen pflegt, daß sie zum Fenster wieder hineinkommen, wenn man sie eben zur Thüre hinaus gewiesen hat.

Seine Beharrlichkeit blieb nicht unbelohnt. Es gelang ihm, in den Comptoiren einiger bedeutender Häuser Eingang zu finden, wo er seine und seiner Korrespondenten Industrie vortheilhaft geltend machen konnte, und Richard wurde auf diese Weise zuweilen von der belästigenden Gesellschaft seines schwerfälligen Landsmanns befreit.

Dies war für ihn allerdings eine große Erleichterung, deren er jetzt zwiefach bedurfte. Es schien als ob seit jener, auf dem Maskenballe zugebrachten abenteuerlichen Nacht, die Folgen des Rausches, den Mitchell so glücklich verschlafen, [122] auf den wahrlich sehr mäßig gebliebenen Richard übergegangen wären, und keinem dagegen angewandten Mittel weichen wollten. Ihm war fortwährend wie einem aus schweren Träumen nur halb Erwachten, der noch nicht mit Sicherheit zu unterscheiden weiß, ob was ihm widerfuhr ein Wahngebilde, oder Wirklichkeit sei.


Noch immer war alles um ihn geblieben wie es gewesen; so oft er Helena sah, lächelte ein Himmel von Seligkeit aus ihren Augen ihn an, und durch das gegen ihn sich immer gleich bleibende Betragen der Mutter dazu berechtigt, verging ihm selten ein Tag, an welchem er sie nicht gesehen hätte.

Auch Kapellmeister Lange und Frau Karoline beeiferten sich, sein Leben zu verschönen. Mit innigem Vertrauen und warmer Herzlichkeit schlossen sie immer fester sich an den Jüngling an, [123] und wollten und verlangten nichts weiter für ihre liebende Treue, als daß er sie sich gefallen lasse. In seine übrigen Verhältnisse eindringen, mehr, als er unaufgefordert ihnen mittheilte, erfahren zu wollen, war ein Gedanke, der den bescheidenen Seelen nie in den Sinn kam.

In seinen Dienstverhältnissen fand Richard eben so wenig Stoff zur Klage, als in dem Betragen seiner Kameraden gegen ihn. Was war es denn, was bei jedem plötzlichen Geräusche in der Straße, bei jedem mit rauher oder fremder Stimme gesprochenen Worte ihn aufschreckte? warum bei ringsum heitrem Himmel athmete er so gewitterschwer?

Ach, dem kundigen Schiffer gleich, ahnete er in tiefer Windstille den nahenden Sturm; Lunins unheimliche Erscheinung, Torsons durch diesen ihm zugekommene Warnung, die abgebrochenen Worte, die er auf jenem Balle zu vernehmen gemeint, hatten ihn aufgeschreckt; er fürchtete, [124] er wußte selbst nicht was, und fand nirgends Rath, nirgends Erleichterung für sein sorgenvoll bedrücktes Gemüth.

Der Fürstin Eudoxia seine Besorgnisse anzuvertrauen, konnte ihm nicht einfallen, eben so wenig der Geliebten. Er hatte ja oft genug erfahren, wie Helena alles gewandt von sich abzuweisen wußte, was anzuhören ihr entweder nicht angenehm war, oder nicht erlaubt schien. Überdem schien ihm beide, Mutter und Tochter, mit unbestimmten Besorgnissen aus ihrem genußreichen Leben aufschrecken zu wollen, beinahe ein Verbrechen, gewiß eine Thorheit zu sein. Denn durfte er Lunin, durfte er Torson, durfte er überhaupt jenen Maskenball gegen sie erwähnen, dem auch sie, in den Umgebungen des kaiserlichen Hofes, ein paar Stunden unter ganz andern Verhältnissen beigewohnt hatten?

Und immer weiter ins Unbestimmte wurde des Fürsten Andreas Rückkehr hinaus geschoben, [125] sogar der Ort seines Aufenthaltes, den er, nach seinen kurzen Briefen zu schließen, sehr oft wechselte, war nicht mit Gewißheit zu bestimmen; von Eugen war man seit längerer Zeit ohne alle Nachricht geblieben, und doch zeigten Mutter und Schwester seinetwegen sich völlig unbesorgt.


Endlich, nach mehreren in beängstigender Ungewißheit hingebrachten Wochen, erfuhr Richard, daß Graf Stephan wieder angelangt sei. Zwar verletzte es ihn ein wenig, daß dieses nur zufällig geschah, doch ließ er sich dadurch nicht abhalten, sogleich zu ihm zu eilen.

Rath, Trost, Aufklärung des Dunkels, das ihn beängstete, hoffte er von dem Grafen zu erhalten, aber sein Muth sank gewaltig, indem er der Wohnung desselben sich näherte; sie sah nicht minder unbewohnt aus, als sie seit Jahr und Tag ausgesehen. Nichts im Äußern derselben [126] verrieth die Gegenwart des Pracht und Geselligkeit liebenden Besitzers; die Fensterblenden rings umher waren geschlossen, die bei Anwesenheit der Herrschaft sonst immer offen stehende Thorfahrt knarrte in rostigen, lange nicht gebrauchten Angeln, indem der graue Thorwärter sie für Richard öffnete, der einzige von der bunten Dienerschaar, der sich diesmal blicken ließ, die sonst in geschäftigem Müßiggange hier überall herum zu schwärmen pflegte.

In der Überzeugung, daß ein bloßes Gerücht ihn getäuscht habe, war Richard schon im Begriffe wieder umzukehren, als er zu seinem großen Schrecken bemerkte, daß der Hof fußhoch mit Stroh bedeckt sei. Wem galt dies unverkennbare Anzeichen schwerer Krankheit, vielleicht gar des Todes? Vergebens sah Richard sich nach Jemand um, der ihm darüber Auskunft geben könne; der alte Thorwärter, welcher eben beschäftigt war, die Thorflügel wieder sorgsam [127] zu schließen, blieb die einzige lebende Seele, die sich zeigte.

Rede und Antwort von ihm zu erhalten war aber schwer, tiefe Verbeugungen bis an den Boden, und stumme, zum Eintritt in die Halle einladende Bewegungen der Hand, waren alles, was Richard auf die dringenden Fragen erhielt, mit denen er ihn bestürmte.

Bin ich zurück in die Zeit der Feenmährchen versetzt, befinde ich mich in einem bezauberten Schlosse? würde in fröhlicherer Stimmung Richard gewiß sich selbst gefragt haben, während er die verödeten Wohnzimmer seines Freundes durchstreifte, und überall, bei dicht verhängten Fenstern, die nämliche Stille ihn umfing.

Endlich ließen doch Schritte eines Nahenden sich vernehmen; eine, in den abgelegensten Theil des Hauses führende Thür, wurde so geräuschlos als möglich geöffnet, und hinein sah ein blasses, abgehärmtes Gesicht, welches Richard [128] sogleich als das ihm wohl bekannte des treuesten und vertrautesten Dieners des Grafen Stephan begrüßte.

Doch auch dieser, so willkommen ihm Richard auch war, bezeigte sich wenig geneigt, ihm die Auskunft zu geben, nach welcher er so sehnlichst verlangte. Walter war von Geburt ein Deutscher, und, wie das in großen russischen Häusern oft der Fall ist, von Jugend auf seinem jetzigen Gebieter erst als demüthiger Spielgeselle, dann als Kammerdiener zugegeben worden. Soviel dieses mit seiner Stellung im Leben sich vereinigen ließ, hatte er mit seinem Gebieter gleiche Erziehung genossen, und hing jetzt mit aller Kraft seines redlichen Gemüthes an ihm und seinem Hause.


Oft hatte Richard die Wendung, die das Geschick mit ihm selbst genommen, mit der, des [129] in der ersten Anlage ihm so ähnlichen Schicksals dieses vorzüglich treuen, verständigen Mannes verglichen, und es gab manche Stunde in seinem Leben, in der er ihn glücklicher achtete als sich selbst.

Thränenschwer, aus tiefster Brust aufseufzend, aber schweigend führte Walter den Freund seines Herrn durch eine lange Reihe dunkler Zimmer, welche Richard nie zuvor betreten, in ein kleines, der Tageshelle fast hermetisch verschlossenes Gemach. Schwarze Teppiche bekleideten die Wände, auf hohen, in schwarzen Krepp gehüllten Kandelabern, brannten in den Ecken große Kerzen von gelbem Wachs, und verbreiteten ein trübes flackerndes Licht, wie in einer Todtengruft. Richard fühlte beim Eintritte in diesen, der tiefsten Schwermuth geweihten Aufenthalt das Blut in seinen Adern erstarren; es währte ziemlich lange, ehe sein an dieses Dämmerlicht noch nicht gewöhntes Auge die ihn zunächst umgebenden Gegenstände erkennen konnte.

[130] Mitten im Zimmer, auf einem breiten niedrigen Divan, lag Graf Stephan in tiefer Trauer, aber völlig gekleidet; und nach altrussischem Gebrauche in Trauerfällen stand rings um ihn her alles nur Ersinnliche aufgestellt, was an Früchten, Weinen und dergleichen ihn zum Genusse reizen konnte, ohne daß er es eines Blickes würdigte.

Da bist Du ja, mein Bruder, sprach er sehr mild und freundlich, und reichte Richard die Hand; ich ließ Dich nicht rufen, ich überließ es dem Geschick, ob es unser Wiedersehn uns gönnen wolle, denn ich habe nur Reue und Schmerz, aber keine Wünsche mehr. Nun bist Du von selbst gekommen; ich bin schon seit vielen Tagen in tiefer Verborgenheit hier, und habe immer Dein gedacht; es ist gut daß Du ohne mein Zuthun gekommen bist, es ist sehr gut.

Schmerzlichst ergriffen warf Richard neben dem Lager seines Freundes sich hin; er redete tröstend ihm zu, er wollte versuchen ihn aufzurichten; [131] doch seit mehr als Jahresfrist unbekannt mit dem Quelle seiner Leiden, verletzte er aus Unwissenheit statt zu heilen, gleich einem Arzte, der in dunkler Nacht einen schwer Verwundeten verbinden möchte, und blind herumtappend, wider sein Wissen und Wollen durch Berührung die Schmerzen vergrößert, die er zu lindern beabsichtigt.

Laß ab, laß ab mit Trösten, bat endlich Stephan; menschlicher Trost wie menschliche Hülfe sind an mir verloren; darum zog ich mit meinem Schmerze in Nacht und Einsamkeit mich zurück. Hier will ich schweigend untergehn; nur Dich möchte ich warnen, nur Dich retten, wenn Du noch zu warnen, zu retten bist; ich hoffe Gott will es, indem er von all' meinen Freunden Dich allein mir zuführte.

Ich leide gerechte Strafe für meinen weltklugen Vorwitz, für den frevelnden Übermuth, mit welchem ich dem stolzen Wahne mich überließ, [132] ich sei berufen in das Rad des Weltenganges einzugreifen: sprach Stephan, als die erste heftige Bewegung, in welche das Wiedersehen des Freundes ihn versetzte, allmälig verklungen war.

Ich dulde was ich verdient habe, aber mein Weib! meine unschuldigen Kinder! was haben die verbrochen? Du, mein Bruder, warst der heitre unermüdlich-freundliche Spielgeselle meiner Kinder, Du liebtest sie, Du kannst sie nicht vergessen haben; wo sind sie jetzt? Alle, Alle dahin, von wo keine Wiederkehr ist. Zwei von ihnen, die beiden jüngsten, waren mir noch geblieben, meine kleine lächelnde Anna, mein holder Knabe Eloa. Ich wollte sie nicht aus den Augen lassen, sie mußten nach Berlin mich begleiten. An dem zu meiner Abreise von dort bestimmten Tage erkrankten Beide; im Sarge haben ihre Leichen mich zurück begleitet, ich habe bei ihren Großeltern, bei ihren vorangegangenen [133] Geschwistern sie schlafen gelegt! Das, Richard, das war eine Reisegesellschaft! aber im märkischen Sande die lieblichen Knospen für die Ewigkeit bergen, wie hätte ich das vermocht!

Und nun ihre Mutter, fing nach einer Pause Stephan wieder an, dieser sanft duldende Engel! täglich muß ich Gott bitten, daß er ihm bald gewähren möge, die Flügel entfalten zu dürfen, um sich hoch über dieses Jammerleben hinaus, in Paradieseslüften zu unsern Kindern zu erheben. Was aber wird aus mir, wenn auch sie mich verlassen haben wird? Nach martervoller Nacht erweckt jeder Morgen sie zu neuer Todesqual, ein furchtbares Übel nagt langsam und unheilbar nahe an ihrem Herzen; die Kinder schlafen, die Mutter leidet und wacht!

Laut schluchzend sank Stephan auf sein Lager zurück; Richard weinte mit ihm, im Gefühle seines Unvermögens, hier Hülfe oder auch nur Trost zu gewähren.

[134] Nach so großem Jammer Dir noch von dem Untergange des Wohlstandes meines Hauses zu sprechen, scheint kaum der Mühe werth; und doch ist dieses, besonders in seinen Folgen, kein unbedeutendes Unglück, denn meine Schuld, meine Nachlässigkeit hat das Elend vieler tausend Armen veranlaßt, und auch ihr Schicksal liegt schwer auf mir.

Während ich thörichter Weise in weit aussehenden Plänen mich abmühete; Zeit, Geld und Kraft zu ihrer Ausführung vergeudete, und meine kränkelnde Eitelkeit mich selbst in heimliche Bewunderung der hohen edlen Opfer einwiegte, die ich dem Wohle meines geliebten Vaterlandes dadurch zu bringen wähnte, vergaß ich der Sorge für die, welche mir am nächsten stehen; ließ die Obhut über die Tausende von Seelen ganz aus der Acht, welche Gott selbst durch den Stand, in welchem er mich geboren werden ließ, an meine väterliche Vorsorge angewiesen. Viele, [135] viele Jahre lang ließ ich feile Miethlinge meine Stelle vertreten; mein Vermögen, meine Unterthanen, meine Ehre sind schamlosen Wucherern Preis gegeben; und eigentlich ist, von Allem was so glänzend mich umgiebt, nichts mehr mein.

Solche Früchte gehen auf aus solcher Saat! Wer bin ich? was bist Du? was ist Andreas und Sergius und sie Alle, daß wir glauben sollten, wir wären berechtigt, Kronen zu zerbrechen, über Kaiser und Könige zu Gericht zu sitzen, die Verfassung großer Reiche umzuschaffen, Alles nach unserer beschränkten Einsicht zu ordnen, und uns zu geberden, als habe der allmächtige Regierer der Welten uns zu seinen Statthaltern auf Erden eingesetzt? Ach ich möchte im Gefühle der schmerzlichsten Reue auf offnem Markte hintreten, alle meine Wunden aufdecken, und laut rufen: so weiß der Himmel weltklugen Vorwitz zu strafen!


[136] Alle Zeit, die seine übrigen Verhältnisse ihm frei ließen, widmete Richard jetzt seinem unglücklichen Freunde; ihn zu trösten konnte ihm nicht einfallen, jeder Versuch es zu wollen, würde sogar als Verhöhnung des gerechtesten Schmerzes mit Widerwillen zurück gestoßen worden sein; aber Stephan hörte doch auf, ein trauriges Spiel mit den äußern Zeichen desselben zu treiben. Er gewöhnte sich sowohl das Licht der Sonne als den Wechsel, den Stunden und Tageszeiten im gewöhnlichen Gange des Lebens herbeiführen, wieder zu ertragen; und war zuletzt eben so sorgfältig bemüht, jeden Anstrich von Sonderbarkeit zu vermeiden, als er vorher ihn zu suchen geschienen.

Oft, wenn lebhafter erregte, trübe Erinnerungen vergangener Zeiten, oder heftigere Schmerzen der still duldenden Gräfin, den Schlaf von Stephans Lager verscheuchten, fand der anbrechende Tag beide Freunde noch bei einander. [137] Richard war sehr verwundert als er bemerkte, wie der Graf sich eifrig bemühte, ihn aus den Schlingen jenes gefährlichen Bundes loszumachen, denen er längst entronnen zu sein meinte, und an den er, ohne das letzte Zusammentreffen mit Lunin, kaum noch gedacht haben würde.

Wozu, ich bitte Dich, fragte er eines Abends, nachdem Stephan ihm umständlich dargestellt, wie er es angefangen, um von jener Verbindung sich los zu sagen, wozu aber alle diese Weitläuftigkeiten? dieses Zusammenberufen des Rathes der Alten? diese feierliche Erklärung Deines Entschlusses, aus dem Bunde auszutreten, der damals schon aufgelöst war? Und sollten auch jetzt, wie es beinahe den Anschein haben will, einige Überbleibsel der alten zerstückelten Schlange sich wieder regen, von diesen haben wir nichts mehr zu befürchten; das zertretene Ungeheuer zerfällt in Nichtigkeit, es wird uns nicht wieder umklammern.

[138] Zum Beweise seiner Behauptung theilte er dem Freunde den Inhalt jener letzten merkwürdigen Unterredung mit dem Fürsten Andreas mit. Jedes Wort derselben hatte seinem Gedächtnisse sich zu tief eingeprägt, als daß er nicht hätte im Stande fein sollen, dieses fast wörtlich zu thun.

Mit gespannter Aufmerksamkeit hörte Graf Stephan, ohne ihn zu unterbrechen, ihn an, und schien eine Weile in tiefes Nachdenken zu versinken.

Nein, sprach er endlich, es ist unmöglich, ich kann den Glauben an Andreas nicht verlieren; er ist zu groß, zu stolz, zu rechtlich, um an die Möglichkeit absichtlicher Täuschung bei einem Character zu denken, dessen Fehler edler sind als die Tugenden vieler Andrer. Er will das Rechte und Gute, aber leider nicht immer weil es das Rechte und Gute ist, sondern weil er es nun einmal will, mit aller Kraft seines unbeugsamen Gemüthes es will; und diese Unbeugsamkeit[139] konnte uns Allen, und wird, wie ich leider fürchten muß, dereinst ihm selbst zum Verderben gereichen.

Ich behaupte nicht er wollte Dich irre führen, nein, mein Bruder, davor behüte mich Gott! ich bin überzeugt, daß er das nicht wollte; aber sein eingewurzelter, durch glühende Eifersucht genährter Haß gegen Pestel, bei weniger edlen Naturen dürfte man wohl Neid es nennen, hat in diesem Falle ihn selbst irre geführt.

Hoffen was wir wünschen, und dieses Hoffen bis zur gewissesten Erwartung sich steigern lassen, liegt uns ja so nahe, ist so innig mit unserer Natur verflochten, daß selbst ein so starker Character wie der des Fürsten Andreas, dieser Schwäche unterworfen sein muß. Daher der ungeheure Zwiespalt in seinem Wesen, der oft ein ganz falsches Licht auf ihn wirft. Er ließ Dich glauben, der Bund sei aufgehoben, weil er selbst sich bemühte zu denken, daß dem [140] so sei, obgleich in einem geheimen Winkel seines Herzens die Überzeugung des Gegentheils lauerte. Ich weiß nicht recht wie ich Dir begreiflich machen soll, wie ich es meine; ich kann Dir nur sagen, Andreas ist eine jener Zwitternaturen, die zwar eins mit sich selbst scheinen, in deren Innerm aber ein ewiger Zwiespalt herrscht. Nur dies noch zum Beweise: Dich versicherte er, der Bund sei aufgehoben; ich bin fest überzeugt, gewissermaßen glaubte er es damals selbst; und weißt Du wo er, wo Eugen jetzt sind? Wo beide, wenige Wochen nach Deiner Abreise sich hinwandten? und was noch jetzt, in dieser Stunde, sie festhält? Sie bereisen auf verschiedenen Wegen, von einander getrennt, die südlichen Provinzen, um für den neuen Bund, den sie errichten wollen, und der doch, obgleich anders genannt, nur der alte ist, Proselyten zu werben.

Es ist nicht, es kann nicht sein! es ist nicht! rief Richard todtenbleich.

[141] Es ist so, erwiederte Stephan sehr lebhaft; laß mich versuchen, das unerklärlich Scheinende Dir deutlich zu machen.

Andreas fühlte von jeher Pestels große Überlegenheit, ohne sie anders als ganz heimlich sich selbst eingestehen zu wollen. Die durch überwiegende Klugheit und Alles beseitigende Verachtung dessen, was andern heilig ist, gewonnene Oberherrschaft dieses Verruchten, war dem edlen Fürsten eben so furchtbar als verhaßt Öffentlich gegen ihn aufstehen konnte und wollte er nicht, aber all' sein Sinnen und Trachten ging dahin, der usurpirten Obergewalt des gefährlichen Führers ein Ende zu machen, und wo möglich die Zügel selbst zu ergreifen. Yakuchins allgemeines Entsetzen erregende Erscheinung in jener, durch meine thörichte Leichtgläubigkeit herbeigeführten nächtlichen Scene, scheuchte für den Augenblick alles aus einander. Der Bund schien wirklich aufgelöst; selbst Andreas konnte damals glauben er sei es, und mit gutem [142] Gewissen zu Deiner Beruhigung Dich davon zu überzeugen suchen.

Er selbst aber konnte nicht rasten noch ruhen; der Wahn, der mich elend machte, beherrscht ihn noch bis zu diesem Augenblicke nicht minder mächtig als er mich beherrscht hat, bis Alles unter mir zusammen brach. Andreas will auf seine edlere Weise vollenden, was wie er hofft Pestel nicht mehr vollenden kann; er hält ihn für wehrlos, für vernichtet, und wird dereinst furchtbar aus diesem Irrthume erwachen.

Bis jetzt hat das Glück ihm freilich noch nicht den Rücken gewendet wie mir. Sein reiferes Alter, seine Umsicht, seine Erfahrung, haben ihn vor Fehlgriffen bewahrt, die ich beging. Noch lebt Eudoxia in blühender Gesundheit; seine in Jugendkraft und Schönheit herangewachsenen Söhne und Töchter sind die Zierde und der Stolz seines edlen mächtigen Hauses, während ich – –

[143] Stephan verstummte; vom gerechtesten Schmerze übermannt, vermochte er nicht das Gespräch fortzusetzen.


Im Vereine mit einigen wenigen der eifrigsten, und zugleich wohlgesinntesten, der Mitglieder des jetzt angeblich erloschenen Bundes der ächten Kinder des Vaterlandes, war es dem Fürsten Andreas und mehreren seiner Vertrauten wirklich gelungen, unter dem Namen eines Bundes für das allgemeine Wohl eine neue Verbindung zu errichten, die unbemerkt immer weiter und weiter sich verbreitete.

Läge es irgend im Reiche der Möglichkeit, das hohe Ziel, das sie sich gestellt, auf solchem Wege zu erreichen, so würde diese Verbindung gewiß den schönen Namen, den sie sich gewählt hatte, vollkommen verdient haben; aber ihre Stifter vergaßen in ihrem Eifer, daß man nicht [144] an einem und dem nämlichen Tage säen und ernten kann; sie bedachten nicht, daß allgemein verbreitete Aufklärung unter dem Volke nur sehr allmälig durch Lehre und Beispiel herbeigeführt werden kann, und daß eine bedeutende Reihe von Jahren dazu gehört, ehe die Folgen einer verbesserten Erziehung in der heranwachsenden Generation merkbar werden.

Hingerissen von Plan zu Plan, wollten sie alles was sie für nützlich und wünschenswerth achteten, mochte es sich auch unter einander noch so sehr widersprechen, auf einmal bewirken; sie wollten den Einfluß der Fremden abwehren, Liebe zum Nationellen verbreiten, und zugleich mit dem Leben des Volkes seit grauer Vorzeit enge verwachsene Ansichten und Gebräuche abschaffen; sie wollten allen Monopolen sich widersetzen, und zugleich Kunstfleiß befördern. Ihr Verbesserungssystem dehnte nach allen Seiten sich hin und führte, zum Theil ihnen selbst unbewußt, [145] sie endlich zurück auf den alten Punkt, der nur zum Umsturze alles Bestehenden, und zugleich zu ihrem eignen Verderben sie leiten mußte.

Pestel, der seinerseits während der Zeit auf andrem Wege auch nicht unthätig geblieben war, und dabei was außer seinem Bereiche vorging nie aus den Augen verlor, fing allmälig an, sein altes Ansehen unter den Verbündeten wieder zu gewinnen, Um ihm kräftig entgegen zu arbeiten, trat jetzt Andreas, von den Bessergesinnten seiner Partei unterstützt, wirklich mit dem Vorschlage auf, den Kaiser um seine Bewilligung zur Errichtung dieses neuen Bundes anzusprechen; aber die Mehrzahl der Stimmen erhob sich mit gewaltigem Übergewichte laut dagegen. Die Lust, selbst das Regiment zu führen, war von neuem erwacht; man berieth sich in einzelnen, mehr oder minder zahlreichen Zusammenkünften, über die Nachtheile und Vorzüge der verschiedenen Regierungsformen, und, wie das [146] unter solchen Umständen immer der Fall ist, die republikanische trug den Preis davon, weil auch der Unbedeutendste unter den Verbündeten am liebsten sich selbst als Dictator auf dem Throne gesehen hätte.

Und von neuem wagte Pestel Äußerungen, halb ausgesprochne Worte, als Einleitung zur Ausführung gräßlicher Unthaten; die Meisten empörten laut sich dagegen; was Andre heimlich beschlossen, ist wenigstens noch nicht bekannt geworden, aber das Ärgste steht dennoch zu erwarten. Abermals scheint zwar für jetzt der Bund gelöset in sich selbst zu versinken, lebt aber dennoch, gleich dem im Gebälke des Palastes zu Kopenhagen fortglimmenden Funken, fort, um im nächsten günstigen Augenblicke mit verdoppelter Wuth hervorzubrechen, und das Werk der Zerstörung zu beginnen.

So, mein Bruder, so steht es jetzt um die [147] Sicherheit unsres geliebten heiligen Vaterlandes! sprach, Stephan zu seinem, vor Entsetzen sprachlos ihm zuhörenden Freunde, nachdem er in einer ruhigeren Stunde ihm weitläuftiger alles dieses aus einander gesetzt hatte. Wir alle leben über dem Krater eines Vulkans, fuhr er sehr bewegt fort: still und heimlich wüthet unter unsern Füßen die Hölle; wann und wo sie die dünne Decke sprengen wird, die jetzt noch vor ihrer Wuth uns schützt, müssen wir erwarten. Wie freudig ich mein Leben hingäbe, um die uns drohende Gefahr abzuwenden, schäme ich mich nur zu erwähnen; das Opfer das ich damit brächte ist der Erwähnung nicht werth; aber verzweifelnd stehe ich da, und weiß weder Hülfe noch Rath. Den einzigen Weg dazu verschließt mir jener fürchterliche Eid, der uns Alle fesselt. Ich kann meine unsterbliche Seele nicht opfern, ich kann, ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, alle meine geliebten Verlornen dort [148] oben wieder um mich versammelt zu sehen! setzte er in heftigster Bewegung hinzu.

Mit jedem Tage wächst die uns drohende Gefahr, nahm Graf Stephan nach einiger Zeit wieder das Wort; unsre Freunde, Andreas wie Eugen, wandeln in unseliger Verblendung am Rande des Abgrundes, in welchem sie ein Paradies erbauen zu können wähnen, und Pestel, dieser Unheil brütende Dämon, führt wieder das Ruder. Zwar hat er das allgemeine Vertrauen, durch das er mächtig wurde, größtentheils verloren; doch so verhaßt er geworden sein mag, erhält er sich doch durch seine überwiegende Geisteskraft in der Oberherrschaft über die Gemüther.

Der furchtbare Bund existirt nach wie vor; von Statuten, durch welche er zu einem Ganzen sich organisiren soll, ist kaum mehr die Rede; man ist des faden Spiels damit überdrüßig geworden. Die Mitglieder zerfallen jetzt in zwei Theile, in Adhérans undCroyans, Anhänger und [149] Gläubige; im Grunde sind's Namen für eins und dasselbe, einer davon gilt so viel als der Andre.


Getrieben von unsäglicher Unruhe, unfähig den Zustand von Ungewißheit, Zweifel, banger Erwartung, in dumpfer Unthätigkeit länger zu ertragen, entschloß Richard sich zu dem Versuche, alte Verbindungen, vor denen er im Innern seines Herzens zurück schauderte, scheinbar wieder anzuknüpfen; so viel dieses nämlich, ohne sich zu tief einzulassen, möglich war. Es schien ihm der einzige Weg, nicht ganz in Blindheit befangen, dem Verderben entgegen zu gehen; das Unternehmen war nicht leicht, aber von den Umständen begünstigt, gelang es über alle Erwartung.

Richard besuchte die eigentlichen Bundesversammlungen nicht, ließ weder als Gläubiger noch als Anhänger sich aufnehmen, gab sich aber [150] das Ansehen, als ob bei seinen bekannten früheren Connexionen dieses ganz überflüßig wäre. Er mischte sich unter seine alten Bekannten, nahm mit so viel scheinbarer Unbefangenheit an ihren Privatzusammenkünften, an ihren Gesellschaften, sogar an ihren oft an wilde Ausgelassenheit streifenden Gelagen Theil, als habe nur zufällige Abwesenheit ihn eine Weile von ihnen entfernt gehalten. Und wo er anklopfte, wurde ihm aufgethan; überall wo er sich zeigte, fand er unbedingt freundlichen Empfang.

Auch jetzt, eben wie ehedem, bestand die größere Anzahl der Verschworenen aus jungen Leuten, welche mit dem ihrem Alter eignen Unbedachte in diese gefährliche Verbindung sich hatten hineinziehen lassen, und darin verharrten; Richards gesellige Eigenschaften machten seinen Umgang ihnen wünschenswerth, Yakuchin hatten sie über neuere Ereignisse längst vergessen. Doch leider waren sie auch allmälig daran gewöhnt [151] worden, Dinge gleichgültig anzuhören, gegen welche früher ihr besseres Gefühl sich mächtig empört hatte. Selbst in ihren Privatzirkeln fanden jetzt oft genug Debatten statt, die man sonst unter Pestels Vorsitz nur bei geschlossenen Thüren und mit der größten Vorsicht im Rathe der Alten zu halten wagte. Wahrscheinlich aber sahen die meisten der jungen Leute nur Gelegenheit zu hochtönenden Reden darin, wie sie zur Zeit ihrer Väter beim Anfange der Revolution in Paris gehalten worden waren, und blieben weit davon entfernt, den furchtbaren Ernst sich zu denken, der darunter verborgen lag.

Was Richard den Tag über auf diese Weise erspähte, trug er Abends dem Grafen Stephan vor; beide saßen oft bis zum Anbruche des Tages beisammen und wurden immer trostloser, je länger sie über die Möglichkeit hier Rettung zu finden sich besprachen. Das nächtliche Dunkel das sie umgab, verdichtete sich zu immer [152] schwärzeren Schatten; täglich wuchs die wahnsinnige Wuth der Häupter der Verschworenen, und unverhüllt trugen sie in ihren Versammlungen sie zur Schau. Alle ihre Gedanken waren auf Mord und Verderben gerichtet. Vieles was sie ersannen, gränzte durch unausführbaren Unsinn an das Lächerliche, aber es verfehlte dennoch nicht, auf die leicht verführbare Jugend den gewünschten Eindruck zu machen. Hingerissen von dem rhetorischen Pompe, in welchem diese Erzeugnisse einer zu völliger Unnatur verwilderten Phantasie vorgetragen wurden, gestalteten die Gesinnungen sich immer verkehrter, bis Alle zuletzt völlig damit einverstanden waren, vor keiner Unthat mehr zurückzubeben.


Ruhig und gelassen im Äußern, wenn gleich innerlich schaudernd, stand Richard zufällig in einer nicht sehr zahlreichen Versammlung, in [153] welcher Wuth, Unsinn und Mordlust den höchsten Gipfel erreicht zu haben schienen, neben Sergius.

Kennst Du den? fragte Sergius leise, und wies auf eine auffallend lange, hagre Gestalt, welche gleich bei ihrem Eintritte in die Versammlung von den Bedeutendsten unter den Anwesenden umringt wurde.

Ich sah ihn oft, ohne jedoch seine nähere Bekanntschaft zu machen, oder auch nur seinen Namen zu erfahren; das letzte Mal traf ich ihn auf dem großen Maskenballe in einer geschlossenen Gesellschaft, in welche Lunin kurz vor seiner Abreise mich einführte; erwiederte Richard, der, um seinem Beobachtungssysteme unbeargwohnt folgen zu können, sich gern das Ansehn gab, als ob er mit Lunin und andern dieses Gelichters im besten Vernehmen stünde.

Der ist der Mann, sieh ihn nur recht darauf an, der wird ausführen, wozu Dein Narr [154] Yakuchin nicht taugte, der, Gott weiß wie, mit seinem sentimentalen Wahnsinne uns Alle aus der Fassung brachte; flüsterte Sergius noch leiser. Übrigens, fuhr er fort, war es gut daß es damals so kam, wie es gekommen ist, und ich selbst, wie Du Dich erinnern wirst, trug nicht wenig dazu bei. Es war noch nicht an der Zeit, obgleich Pestel von Ehrgeiz geblendet es meinte. Jetzt haben die Umstände sich verändert; was damals nur keimte, reift jetzt als Frucht der Ernte entgegen.

Richard war unfähig ein Wort zu erwiedern, kaltes Entsetzen durchrieselte ihn.

Daß Du den verrückten Schwächling so geschickt aus dem Wege zu bringen wußtest, Brüderchen, war ein Meisterstreich von Dir und Deinem Alten, den selbst Pestel und wir Alle Euch beiden, Dir und Andreas, hoch anrechnen, darauf verlaß Dich; zu seiner Zeit sollst Du Beweise davon erhalten; fuhr Sergius, ganz zutraulich [155] geworden, fort. Jener Mann ist übrigens der Kapitain Yakubowitsch, von dem Du schon gehört haben wirst; ein Charakter, der alten Römerzeit würdig, ein zweiter Brutus, wenn es jemals einen zweiten geben kann. Cäsars »auch du, Brutus?« würde im Augenblicke der That auf diesen eben so wenig Eindruck machen, als es auf den alten Römerhelden ihn machte; aber freilich hat unser Cäsar es nicht anders um ihn verdient.

Acht Jahre lang trägt diese feste stolze Seele das glühendste Verlangen nach Rache mit sich umher, giebt keinem andern Wunsche Raum, und wird sie erringen, oder im Versuche untergehen. Die Zeit naht, die Stunde wird schlagen, und bald!

Sergius, von einem leichten Champagnerrausche ein wenig aufgeregt, schien ein Bedürfniß der Mittheilung zu empfinden, das in seiner natürlichen Stimmung ihm sonst nicht gewöhnlich [156] war. Er zog mit dem willig und erwartungsvoll ihm folgenden Richard in eine Ecke sich zurück, und machte wirklich Anstalten als wolle er sein ganzes Herz vor ihm ausschütten. Der Anfang dazu war die Auseinandersetzung der Veranlassung des lange unauslöschlich gehegten Hasses gegen den Kaiser, welcher den Kapitain Yakubowitsch unwiderstehlich zu einem Verbrechen trieb, dessen Mißlingen, vielleicht auch dessen Gelingen, er nicht zu überleben entschlossen war.

An und für sich lag in der Behandlung, welche der Kapitain auf ausdrücklichen Befehl des Kaisers von Seiten der militairischen Behörden erfahren, nichts Außerordentliches. Die Strafe, die ihm zuerkannt wurde, war hart, aber unter den vorwaltenden Umständen keineswegs von der Art, daß er über Ungerechtigkeit sich hätte zu beklagen gehabt; doch dem krankhaften Gefühle wird die leiseste Berührung zum[157] stechenden Schmerze, und Ehrgeiz, durch einen Blick, durch ein unbedachtsam hingeworfenes Wort tödtlich zu verletzender Ehrgeiz, war die unheilbare Krankheit des Hauptmann Yakubowitsch. Schon die Möglichkeit einer Zurücksetzung war genug, um ihm das Leben zu verbittern, und für jede andre Gunst des Geschickes ihn fühllos zu stimmen.

Täglich sich häufende Übertretungen der Duellgesetze hatten vor mehreren Jahren den Kaiser bewogen, die strengere Ausübung derselben ausdrücklich und ernstlich anzuempfehlen; und es ward beschlossen, bei dem ersten Übertretungsfalle diejenigen, welche sich dessen schuldig machten, ohne Ansehen der Person, genau nach dem Buchstaben des Gesetzes, exemplarisch zu bestrafen. Leider traf Yakubowitsch das Loos einer von diesen zu sein.

Nicht als Hauptperson, aber doch wegen thätiger Theilnahme an einem Duelle, dessen unglücklicher[158] Ausgang ein sehr vornehmes Haus seines hoffnungsvollen Erben beraubte, und viele der ersten Familien des Landes tief betrübte, wurde er von der Garde, bei welcher er stand, zu einem andern Regimente versetzt. Unter den vorwaltenden Umständen konnte diese, ihn freilich degradirende Strafe, in den Augen seiner Kameraden durchaus nichts seiner Ehre Nachtheiliges haben; eher hätte diese, nach dem allgemeinen Begriffe von Ehre, darunter gelitten, wenn er den einzig offnen Weg ihr zu entgehen eingeschlagen hätte, indem er seine Theilnahme an dem Duelle verweigerte, oder gar, um es zu verhindern, als Angeber desselben auftrat. Dennoch brachte sein tief verletzter Ehrgeiz ihn darüber dem Wahnsinne nahe. In wildem unaustilgbarem Ingrimme über das, was er eine himmelschreiende Ungerechtigkeit nannte, erklärte er, ein Leben nicht länger fortschleppen zu können, das von nun an auf ewig ehrlos geworden sei, und [159] würde gewiß in seiner Verzweiflung es freiwillig beendet haben, wäre er nicht gerade im entscheidendsten Augenblicke dem Obrist Pestel in die Hände gefallen.

Pestel war gewiß nicht fähig, die große Brauchbarkeit dieses Mannes, als Werkzeug zur Beförderung seiner Absichten, zu verkennen. Hastig fuhr er auf den Unglücklichen los, wie eine giftgeschwollene Spinne auf die arme Mücke losfährt, die im Vorüberstreifen ihr Gewebe berührt. Fein und gewandt wußte er von allen Seiten ihn zu umgarnen, umklammerte den künstlich Gefesselten mit aller Riesengewalt seines ihm himmelweit überlegenen Geistes, blies jeden in der Brust desselben glimmenden Funken zur unvergänglich lodernden Flamme alles verzehrenden Rachegefühls an, und ließ acht Jahre lang von ihm nicht ab, um seiner gewiß zu bleiben, sobald er ihn bedurfte.

Er ist fest entschlossen, die erste Gelegenheit [160] zur Rache zu ergreifen, und wenn die That mißlingen sollte, mit einer zweiten, bereit gehaltnen Kugel ein Leben zu enden, dessen Last er schon lange unwillig trägt; setzte Sergius seiner, freilich in ganz anderm Tone gegebenen Darstellung der Verhältnisse des Kapitain Yakubowitsch hinzu.

Und, Brüderchen, die Gelegenheit auf die er wartet, steht vor der Thüre: höchstens noch zwei kurze Monate und unsre Zeit beginnt! flüsterte er mit vor Entzücken heiserer Stimme, mit funkelnden Tigeraugen und einem überkräftigen Händedrucke ihm ins Ohr; Du kennst ja die Festung Beleja Tserkoff? – Du kennst sie nicht? – gleichviel, Du wirst sie kennen lernen, fuhr Sergius in seiner halb berauschten Stimmung fort, die ihn fortwährend zur Mittheilung trieb: dort soll Revue gehalten werden, doch wer sie halten wird? und über wen sie gehalten werden soll? das ist ja eben der Spaß dabei, davon lassen [161] gewisse Leute sich nichts träumen. Die werden sich wundern! lachte er frohlockend in sich hinein.

Dann erzählte er sprachselig weiter, wie der Kaiser mit jener Revue, die zu Anfang des Sommers Statt haben solle, eine Art ländlicher Fête für die in jener Zeit zahlreich um ihn versammelte kaiserliche Familie zu verbinden beabsichtige. Ein großer Park in der Nähe jener Festung wurde zu diesem Zwecke eingerichtet; sowohl der Kaiser selbst als seine hohen Gäste sollten in einzelnen, im Parke zerstreut liegenden Pavillons vertheilt, jeder mit seiner Dienerschaft für sich allein, die Nacht zubringen, und schon wurde Alles aufgeboten, diese Gebäude zu kleinen Feenpalästen umzuwandeln, in welchen der ausgesuchteste Luxus unter dem einfachen Scheine idyllischer Ländlichkeit, wie die Großen sie lieben, sich verbarg.

Bei nächtlicher Zeit sollten in gemeine Soldaten verkleidete Verschworene in diesen, der [162] Freude geweihten Aufenthalt einfallen; dort sollte unter dem Alles verhüllenden Schleier der Dunkelheit das Gräßliche vollbracht werden; ohne Schonung des edelsten unschuldigsten Blutes, waren dreizehn Opfer jener Nacht schon gezählt; schaudernd wenden wir uns von diesen Gräuelbildern ab, auch wenn sie nie zur Ausführung kommen; wer möchte bei ihnen verweilen?


Sobald er sich ohne Verdacht zu erregen von Sergius losmachen konnte, eilte Richard hinweg; er war nicht im Stande die vertraulichen Mittheilungen, die ihn überströmten, länger auszuhalten. Der hellerleuchtete Saal wurde ihm darüber zur düstern Mörderhöhle; die Gesellschaft, die ihn umgab, erschien ihm würdig eine solche zu bewohnen; und die Luft die er athmete roch wie Blut. Er eilte ins Freie, draußen umwehte ihn frische Kühle, doch er empfand [163] sie nicht. Zürnend blickte er empor zum prachtvoll gestirnten Himmel, und ballte in ohnmächtigem Ingrimm die Fäuste und wünschte, wie einst Samson, die das Dach tragenden Säulen mit einem Rucke zusammenreißen zu können, um die unter demselben hausende Rotte und müßte es sein, sich selbst mit unter den Trümmern desselben zu begraben. Er schalt den Mond und die Sterne, weil sie so klar und freundlich auf diesen Inbegriff Abscheu erregender Gräuel hinabblickten; doch was konnte das Alles helfen?

Die Nacht war schon weit vorgerückt; aber wie hätte Richard es ertragen können, mit den Schreckbildern, die seine überreizte Phantasie erfüllten, sich zwischen den vier Wänden seiner einsamen Wohnung einzusperren? Schon allein der Gedanke war ihm fürchterlich. Zwecklos irrte er in den stillen verödeten Straßen der gewaltigen Kaiserstadt umher; Zufall oder Gewohnheit führten ihn, ehe er es gewahr wurde, an das [164] Hotel des Grafen Stephan, jetzt der einzige Punkt auf der ganzen weiten Erde, wo er hoffen durfte, für das was so entsetzlich ihn bedrängte ein offnes Ohr, ein theilnehmendes Gemüth zu finden.

Einige Fenster waren ungeachtet der sehr späten Stunde noch hell erleuchtet. Der Anblick zog mächtig ihn an; das Thor stand noch offen, Richard flog die Treppe hinauf, zwischen die schnarchenden Diener hindurch, die in Decken und Mäntel gewickelt, sich überall hingebettet hatten, wo sie ein dazu bequem taugliches Plätzchen zu finden meinten.

Oben trat ihm Walter entgegen: Sie wollen zu meinem Herrn? er kann Niemand, er kann auch Sie jetzt nicht sehen.

Für mich ist er immer sichtbar, das weißt Du ja, alte Seele; ich sehe er ist noch wach, und habe höchst Wichtiges ihm vorzutragen; erwiederte Richard und wollte an ihm vorbei.

[165] Seit diesem Morgen ringt die Gräfin mit dem Tode; sprach Walter mit tiefer bebender Stimme, kaum vernehmbar, und vertrat ehrerbietig aber entschlossen ihm den Weg.

Erbleichend vor der Todesbotschaft taumelte Richard zurück, die Sinne vergingen ihm. Walter wurde in das Innere der Zimmer abgerufen, und nach einigen, in bewußtlosem Zustande hingebrachten Minuten, fand Richard, er wußte selbst nicht wie, auf der Straße unter freiem Himmel sich wieder.

Der Tag begann so eben zu grauen, die Stadt lag noch in tiefen Schlaf begraben; nur hin und wieder wankten in der Ferne einige, in ihre Mäntel dicht eingewickelte Gestalten still ihren Wohnungen zu. Nur zwei davon schritten Arm in Arm, leise und eifrig mit einander sprechend, ziemlich nahe an Richard vorüber, ohne ihn zu bemerken.

Wir übergeben ihren Staub den Winden, [166] flüsterte Einer von Beiden; die Stimme war Bestujeffs, an dem Gange seines Begleiters glaubte Richard den Obrist Pestel zu erkennen.

Und wie von verfolgenden Furien vorwärts gejagt, setzte er von Neuem seinen einsam traurigen Lauf fort. Von seinem Herzen getrieben, kehrte er wieder und immer wieder zu Stephans Wohnung zurück, weilte ängstlich aufhorchend unter den erleuchteten Fenstern, hörte das Todesröcheln der Sterbenden, die laute Jammerklage seines verzweifelnden Freundes, doch nur in seiner Phantasie. In der Wirklichkeit war Alles still, nur einmal sah er Walter am Fenster stehend, in betender Stellung, die Hände zum Himmel erhoben.

Der erquickende Hauch des immer lichter anbrechenden Morgens, der jeden nach schlaflos hingebrachter Nacht Erschöpften einzulullen pflegt; verbunden mit Richards nach unerhörter Anstrengung doch endlich ermüdeter physischer Kraft, [167] fingen zuletzt an, ihre Rechte geltend zu machen. Nur einmal noch wollte er das Dach sehen, in dessen Nähe er sich eben befand, unter welchem Helena vielleicht von ihm träumend schlummerte, und dann von freundlicheren Bildern begleitet zu Hause gehen, um selbst, wenn gleich nur auf kurze Zeit, Ruhe und Vergessenheit auf seinem Lager zu suchen.

Zu seinem Erstaunen sah er, indem er dem fürstlich Andreas'schen Palais sich näherte, die Thorflügel desselben weit geöffnet; im Hofe wie in der Vorhalle war Alles in lebhafter Bewegung, angefüllt mit Wagen und Pferden und der emsig durcheinander wogenden Dienerschaft. Der ihm wohlbekannte Reisewagen des Fürsten wurde so eben in die Remise geschoben. Wenige Augenblicke früher hätte Richard ganz unvermuthet Augenzeuge der unerwarteten Ankunft seines väterlichen Freundes und Wohlthäters werden können. Jetzt war Alles rings umher Lust und [168] Leben, Alles verkündete die glückliche Heimkehr des Gebieters.

Gott sei Dank! Gott sei Dank! betete Richard unter Freudenthränen aus tief bewegter, mächtig erleichterter Brust, sah noch eine Weile dem fröhlichen Tumulte zu, und eilte dann in seliger Erwartung des morgen den Tages seiner Wohnung in einer Gemüthsstimmung zu, die jemals wieder zu gewinnen er noch vor einer halben Stunde kaum für möglich gehalten.


Selten genug mag einem von uns ein Morgen aufgegangen sein, der völlig ungetrübt, ohne jede herbe Beimischung, alle die goldenen Hoffnungen erfüllte, die wir am Abende zuvor von ihm hegten, und alle die Knospen in voller Blüthenpracht sich erschließen ließ, von denen wir beim Untergange der Sonne es erwarteten; diese Erfahrung machte am folgenden Tage auch Richard.

[169] Mit tief zerrissenem Gemüthe, ermattet bis zum Umsinken von den heftig auf ihn einstürmenden Ereignissen der vorigen Nacht, war er durch die unverhoffte Ankunft des Fürsten Andreas plötzlich aus einem Extreme in das andre geworfen worden. In seiner damaligen Stimmung wirkte überraschende Freude auf ihn, wie ein Rausch auf einen durch langes Entbehren aller Kraft Beraubten wirken mag; lieber noch möchte ich einem hartbeängsteten Kinde ihn vergleichen, das, obgleich noch immer in drohender Gefahr schwebend, jubelnd meint, nun wäre alles gut, weil es die Mutter kommen sieht.

Auf das ihm eingeräumte Sohnesrecht sich verlassend, eilte Richard lange vor der üblichen Besuchsstunde zum Fürst Andreas, und kam doch nur eben zeitig genug an, um die Hinterräder der Staatskutsche desselben um die Ecke beugen zu sehen. Bei der kräftigen, keine Ermüdung kennenden Natur des alten Herrn, und [170] der unermeßlichen Anzahl von Besuchen, die nach so langer Abwesenheit abzustatten ihm oblag, konnte niemand etwas Auffallendes hierin finden; dennoch fühlte Richards leicht verletzbare Empfindlichkeit durch das, was gewiß nichts weiter als Zufall war, sich unangenehm berührt. Sinnend stand er ein paar Augenblicke im Portal, und überlegte ob er versuchen solle den Fürstinnen seinen Glückwunsch zu bringen, obgleich er wohl im voraus wissen konnte, daß sie in dieser frühen Morgenstunde noch nicht sichtbar wären; ein leises Geräusch bewog ihn sich umzuwenden, hinter der großen Treppe in Dunkelheit verborgen, öffnete sich eine kleine Thüre; Richard kannte sie wohl, sie führte gerade in's Kabinet des Fürsten und nur seine Vertrautesten hatten den Schlüssel dazu. Jetzt schlich eine in ihren Mantel gehüllte Gestalt vorsichtig hinaus, und suchte durch die in den hintern Theil des Gebäudes führenden Gänge sich zu verlieren. [171] Mit leisen weit ausholenden Schritten eilte Richard dem Manne im Mantel nach, der ihn erwartend stille stand, sobald er ihn kommen sah. Es war Sergius.

Du schon hier? wie hast Du seine Ankunft so frühe schon wissen können? fragte Richard hastig auf ihn einfahrend.

Ich war weit früher hier als er selbst. Seine fürstliche Gnaden ließen sich erwarten, und das war mir eigentlich ganz recht; ich gewann dadurch Zeit den kleinen Rausch auf seinem Diwan verdampfen zu lassen, den Du vermuthlich mir wirst gestern Abend angemerkt haben: erwiederte Sergius sehr heiter.

Aber wie kamst Du denn dazu ihn hier erwarten zu wollen: rief Richard aufs Höchste gespannt.

Wie ich dazu kam? lustige Frage! lachte Sergius: wie kommt man dazu einer Einladung Folge zu leisten? ich erwartete ihn hier, weil er [172] wünschte, daß ich ihn erwarten sollte, und Ort und Zeit mir dazu bestimmt hatte.

Weil er es wünschte! Ort und Zeit bestimmt, Dir? wiederholte Richard, ganz außer aller Fassung.

Aber wie kommst Du mir denn heute vor? krank bist Du nicht, und an ein Räuschchen ist bei Dir nüchterner Seele besonders in so früher Tageszeit gar nicht zu denken; erwiederte Sergius, und sah sehr verwundert ihn an. So wie Du zu Andreas stehst, kann es Dir doch kein Geheimniß geblieben sein, daß er dem Bunde seine Ankunft am heutigen Tage vorher gemeldet hat? obgleich er seine Familie durch dieselbe zu überraschen Willens war. Doch halt! nun ich es recht bedenke, Du gehörst ja gewissermaßen doch auch zu derselben; darum, darum! daran habe ich gar nicht gedacht!

Richards Gesicht erheiterte sich bei dieser Bemerkung; aber Du? noch immer begreife ich [173] nicht, wie Du dazu kamst, ihn schon in der Nacht hier zu erwarten? fragte er nochmals.

Weil er durch einen besondern Expressen mich ganz insgeheim dazu aufgefordert hat; war die Antwort. Es sollte ein Geheimniß zwischen uns bleiben, denn wir sehen nicht ein, warum Pestel überall und in Allem die Finger haben muß; darum habe ich es auch Dir verschwiegen, obgleich ich voraus setzen konnte, daß Du in Deinem bekannten Verhältnisse zu Andreas darum wüßtest. Nimm's nicht übel, Brüderchen, doch Vorsicht ist immer gut, und Pestel noch etwas schlauer als der Teufel selbst.

Richard war wie aus den Wolken gefallen.

Aber ich verweile hier zu lange, fuhr Sergius fort: Lebe wohl, Brüderchen, auf glückliches Wiedersehen!

Du gehst? wohin? rief Richard, den Forteilenden beim Arme ergreifend.

Stehenden Fußes nach Mohilov: war die [174] Antwort, ich mußte nur noch vorher mit Andreas Rath pflegen; nun ist alles in Ordnung, und nun laß mich gehen.

Apropos! setzte er noch einmal umkehrend hinzu, wir haben auch Deinen Yakuchin todtgeschlagen, Andreas und ich; unterwegs werde ich nebenher seinen Todtenschein besorgen; es ist so am besten, auf diese Art sind wir ihn, und er uns mit guter Manier los.

Ungeheuer! schrie Richard, und packte ihn wüthend bei der Brust.

Oho! oho! ob Du dumm bist! ob Du ein Narr bist! hast nicht einmal so viel Verstand, so etwas figürlich zu nehmen! plagt Dich der Teufel? rief lachend Sergius, machte sich von ihm los, und lief davon.

Erstarrt, versteinert stand Richard da, bis die unheimliche Erscheinung am Ende des dunkeln Ganges seinen Blicken entschwand. Er fühlte als durchbohre ein heftiger stechender Schmerz [175] ihm das Herz, als zöge es in kurzen Schlägen ängstlich flatternd zu eisiger Kälte sich zusammen, um gleich darauf hochanschwellend, ihm Luft und Athem rauben zu wollen. In der peinlichen Überraschung, in welche dieses seltsame Zusammentreffen ihn versetzt hatte, wußte er nicht mehr das innere Gefühl, das ihn übermannte, von blos physischem Schmerze zu unterscheiden. Was so am Herzen ihm nagte, waren die giftigen Bisse der Schlange des Argwohns, des Mißtrauens, die Sergius mit lachendem Muthe, absichtlich oder unabsichtlich hinein geworfen hatte. Sollte, mußte er dem Glauben an den Mann entsagen, zu welchem er von Jugend auf gewöhnt war, wie zum Schutzgeiste seines Lebens hinauf zu blicken? Konnte Andreas mit dem Jünglinge, den er Sohn nannte, wirklich ein unwürdiges Spiel treiben, während er einen Sergius in den geheimsten Rath seiner [176] Seele eindringen ließ? Es war unmöglich, und doch, sprach nicht der Augenschein dafür?

Ängstlich sah er nach Hülfe in dieser Seelennoth sich um, nach Rettung vor den Zweifeln, die sein besseres Gefühl verwarf, und die doch unabwendbar sich ihm aufdrängten. Nur einer, außer seinem lang entbehrten Freunde Eugen, lebte auf Erden, der im Stande gewesen wäre, ihn hier gegen sich selbst in Schutz zu nehmen, seinen wankenden Muth zu stärken, das unerklärlich Scheinende zu erklären, die fein gesponnene List, die ihn umgarnen sollte, an's Licht zu ziehen, und ihn zu lehren Lüge von Wahrheit zu unterscheiden: Graf Stephan!

Zu ihm eilte er ohne Säumen; Walter hatte ihn kommen sehen und trat ihm unten an der Treppe entgegen. Zu eigner höchster Beschämung mußte der Anblick des kummerbleichen, treuen Dieners an die erhöhten Leiden der Gräfin ihn erst erinnern, an die er über Alles was [177] in den letzten Stunden über ihn herein gebrochen, nicht mehr gedacht.

Ich wußte wohl daß Sie heute Morgen nicht ausbleiben würden; die Wahrheit zu gestehen, ich erwartete sie schon früher: rief Walter ihm entgegen.

Sie lebt? fragte Richard ängstlich hastig.

Noch lebt sie, und kann nach dem Ausspruche der Ärzte noch viele Tage, ja selbst wochenlang in diesem qualvollen Zustande der Erlösung harren: war die Antwort. O beten Sie mit mir zu Gott, daß er bald ende! mein unglücklicher Herr möchte sonst noch vor ihr seinem unsäglichen Jammer erliegen! Wenn Sie jetzt ihn sähen, Sie würden ihn nicht wieder erkennen.

Ich muß ihn sehen, o laß mich zu ihm, bat Richard: ich will in die Pflege der geliebten Kranken mich mit ihm theilen, mit ihm weinen, mit ihm klagen; doch sehen, sprechen [178] muß ich ihn, und ich weiß es thut ihm wohl, wenn er es gleich nicht glauben mag.

Richard wollte an Walter vorbei eilen, doch dieser hielt ihn abermals zurück: Ich darf, ich kann es nicht zugeben, sprach er bittend aber entschlossen. Das Verbot meines Herrn muß in seinem Elende mir heilig sein, seinen Befehlen gehorchen ist ja leider alles was ich für ihn thuen kann, habe ich doch sogar vor kaum einer Stunde den Fürsten Andreas abweisen müssen.

Andreas! er war schon hier? rief Richard sehr überrascht.

Er wollte nur noch einen Besuch machen und dann wieder kommen, war die Antwort: ich sollte unterdessen alles anwenden, um ihm Zutritt zu meinem Herrn zu verschaffen, doch sehe ich dazu keine Möglichkeit vor mir, er hört, er empfindet nichts als – dem armen Walter brach die Stimme, er konnte nicht vollenden.

[179] Ach Gott, es ist doch aber auch zu viel! das Leiden ist zu groß! setzte er schluchzend noch hinzu: Tag und Nacht liegt der Graf vor dem Sterbebette, auf dem Boden, für alles andre gefühllos; sogar die Nachricht von der Ankunft des Fürsten, seines ältesten Freundes, machte keinen Eindruck auf ihn.

Er kommt! Er kommt! dort die Straße hinauf: rief Richard freudig, und stürzte hinaus, dem Wagen des Fürsten entgegen: dieser hielt, der Kutschenschlag wurde aufgerissen, Richard sprang hinein.


Im engsten Raume der verehrten Gestalt seines väterlichen Beschützers gegenüber, wichen Argwohn, Mißtrauen, alle jene gehässigen Empfindungen, welche Sergius diesen Morgen in ihm zu erwecken gewußt, aus Richards Herzen. [180] Nur unbeschreibliche Freude des Wiedersehns nach so langer Trennung erfüllte es ganz. Auch der Fürst empfing ihn, wie ein Vater den lange entbehrten geliebten Sohn; drückte umarmend ihn an die Brust, streichelte liebkosend seine lichten Locken und lobte den klugen Einfall, ihn gleichsam so im Fluge aufzufangen; denn, sprach er lächelnd, an ein ungestörtes, wirklich genußreiches bei einander Sein, ist für uns sobald noch nicht zu denken. Doch laß den ersten Tumult nur geduldig vorüberstürmen; unsre Zeit wird auch kommen, wenn erst alles Wichtige und Unbedeutende beseitigt ist, das im wunderlichsten Durcheinander mich kaum zu mir selbst kommen läßt.

Jetzt nahte auch Walter; sehr bewegt vernahm Andreas seinen Bericht, drang nochmals ernstlich aber vergeblich darauf, Zutritt bei seinem Freunde zu erhalten, und setzte endlich, nachdem er Richard aus dem Wagen steigen lassen und ihm zugerufen, sich ja zur Mittagstafel [181] einzustellen, seine pflichtmäßige Visitenreise durch Petersburg fort.

Der heutige Tag war und blieb für Richard ein den widersprechendsten Gefühlen Preis gegebener, an welchem Freud und Leid sich wunderlichst durchkreuzten. Jede Stunde desselben schien etwas Neues bringen zu wollen – am Ende löste doch alles in Nichts sich auf, und während Richard ungewöhnlich viel zu erfahren und zu erleben meinte, blieb es im Grunde doch beim Alten.

Daß er unter solchen Umständen es nicht bis zur Langenweile bringen konnte, ist wohl leicht zu erachten; aber es kamen doch Momente vor, wo es ihn bedünken wollte, als habe ein zweiter Josua die Sonne in ihrem Laufe still stehen heißen, und werde es für heute gar nicht Abend werden. Denn ohne daß sie deshalb, im Sinne des gewöhnlichen Sprachgebrauchs, uns lang würde, erscheint die Zeit uns nie länger, [182] als wenn in einen bestimmten Abschnitt derselben vielerlei, eigentlich nicht bedeutende, aber wechselnde Ereignisse sich zusammen drängen. Ist heute denn schon wieder Sonntag? fragen wir nach einer in gemüthlicher Einförmigkeit vorüber geschlichenen Woche, und im entgegengesetzten Falle: sind es denn wirklich erst acht Tage, daß wir die Reise antraten?

Den ganzen Tag über hatte es Richard nicht gelingen wollen, nur zu einem unbelauschten Worte mit Helenen zu gelangen; er fand sie sowohl als ihre Mutter fortwährend von Glück wünschenden Herrn und Damen umringt; denn die Nachricht von der glücklichen Ankunft des Fürsten hatte schnell wie ein Lauffeuer sich verbreitet; wirkliche Theilnahme, Etikette oder Neubegier, zogen die Besuchenden schaarenweis herbei, und nur aus der Ferne konnte Helena ihren Freund in ihren Augen lesen lassen, wie glücklich sie heute sich fühle.

[183] Auch bei der Mittagstafel, auf welche Richard sein Hoffen zuletzt gestellt hatte, ging es ihm nicht besser; der Fürst sah von der großen Anzahl der Eingeladenen sich dermaßen umlagert, daß er kaum Zeit zu einem Händedruck und ein paar freundlichen Worten für seinen Pflegesohn übrig behielt. An einem solchen festlichen Tage den gewohnten Platz Helenen gegenüber an der Tafel behaupten zu wollen, wäre übrigens, in Richards Verhältnissen, eben so unschicklich als schwer durchzuführen gewesen; und so blieb denn für dieses Mal ihm nichts weiter übrig als geduldiges Entsagen, und Hoffnung auf eine günstigere Zukunft.

Doch viele Tage schwanden, ohne die mindeste Aussicht zur Erfüllung dieser Hoffnung zu gewähren. Richard sah in nie befriedigter Erwartung sie vorüber gehen. Sein Verhältniß zu Helenen blieb zwar unverändert, sie schenkte ihm jede Stunde, die sie dem mit der Anwesenheit [184] ihres Vaters verbundenen geräuschvolleren Leben abmüßigen konnte. Heitrer, schöner, liebender als je, war sie seine Freundin, seine Beratherin, die innigste Vertraute seiner Gedanken; aber sie blieb auch dem Vorsatze getreu, jeden Versuch das Gespräch auf Gegenstände zu lenken, die sie unerwähnt lassen wollte, zu vereiteln. Er sah, er fühlte, daß er die Schranken nicht überschreiten dürfe, die sie einmal für allemal ihm gestellt hatte, und ergab sich, zum Theil durch Gewohnheit bezwungen, endlich gelassen darein.


Mittlerweile nahmen dringende, nicht aufzuschiebende Geschäfte, Besuche, Feste aller Art, die Zeit des Fürsten fortwährend dermaßen in Anspruch, daß er nur höchst selten eine Stunde für die Seinigen übrig behielt. Richard erhielt täglich [185] neue Beweise seiner fortgesetzten väterlichen Fürsorge; doch für die Aufklärung so manches ihm dunkel Gebliebnen, die er mit Recht erwarten zu dürfen glaubte, für die Befreiung von quälenden ihm unwiderstehlich sich aufdringenden Zweifeln, nach welcher er mit ungeduldiger Sehnsucht verlangte, wollte wochenlang kein günstiger Augenblick sich finden lassen.

Richard benutzte jede dazu sich bietende Gelegenheit, dem Fürsten den Wunsch darnach vorzutragen, wurde aber immer, zuweilen mit gebietendem Ernste, meist aber mild und freundlich, zurück und auf eine nahe günstigere Zukunft hingewiesen.

Ich errathe, was Du willst; doch warum quälst Du Dich vor der Zeit mit unnützen Sorgen? beruhige Dich, vertraue mir, und wenn Du mich unruhig werden siehst, so will ich Dir erlauben es ebenfalls zu werden.

So sprach der Fürst sehr heiter und gelassen [186] etwa vierzehn Tage vor dem, zu jener entsetzlichen Revue angesetzten Tage.

Beleja Tserkoff! Yakubowitsch! flüsterte Richard mit bebender Stimme ihm leise zu.

Andreas sah mit durchdringendem Blicke lange und forschend ihn an.

Du willst es wohl darauf anlegen, hundert Jahre alt zu werden? denn kluge Kinder leben nicht lange, sagt man; daß aber solch ein alter Knabe wie Du sich noch mit dem Popanz einschüchtern lassen will, heißt doch die Sache etwas zu weit treiben; erwiederte der Fürst, ein wenig gezwungen scherzend, aber doch freundlich.

Von nun an glaubte Richard das Absichtliche in des Fürsten Betragen sich nicht mehr verhehlen zu können; er sah wie so manche, der vertraulicheren Mittheilung günstige Stunde nicht nur unbenutzt vorüber gelassen, sondern sogar jede Gelegenheit dazu vermieden ward, und litt darüber mehr, als in Worten sich ausdrücken läßt.

[187] Des Fürsten Betragen ließ übrigens keine Abänderung seiner Gesinnung persönlich gegen ihn befürchten; es schien im Gegentheil, als ob Andreas durch Verdoppelung der Beweise seiner väterlichen Liebe für das, nur in diesem einzigen Punkte ihm entzogene Vertrauen, ihn zu entschädigen wünsche; gerade dies aber war es, was ihn in Verzweiflung setzte.

Und Graf Stephan war noch immer an das Lager der peinlich langsam hinscheidenden Gattin gefesselt, und jetzt wirklich geistig unfähig, an irgend etwas andrem in der Welt Antheil zu nehmen!


Endlich wurde Richard eines Abends zum Fürsten gerufen; erwartungsvoll trat er ins Zimmer, und sah Mr. Mitchels gemeine Figur, in breiter Aufgeblasenheit und tiefer Demuth über die ihm widerfahrene Ehre, hinter einem großen [188] Tische etablirt, der mit Proben neu erfundner Fabrikate bedeckt war; mit Modellen, Zeichnungen von Ackergeräth, Eisenbahnen, Tunnels, Dampf- und Spinnmaschinen und ähnlichen Wundern unsrer erfindungsreichen Zeit.

How do you do? krächzte die widerliche Erscheinung ihm entgegen.

Es war als führe ein Dolchstich ihm in die Brust, er glaubte auf das bitterste sich verhöhnt, wandte sich, wollte zur Thüre, am liebsten zum Leben hinaus, wußte aber in der Verwirrung selbst nicht was er wollte, fühlte von zwei ihn umschlingenden Armen sich gehalten, und sah dicht vor sich die geliebten Züge, die freundlichen Augen des ihn umfangenden Fürsten, fast bittend ihn anlächeln.

Das war nicht meine Absicht, gewiß das war sie nicht! sprach Andreas, indem er ihn fester an sich drückte, ehe er ihn los ließ und nur Mitchels starr auf ihn gerichteter Blick verhinderte [189] ihn, sich unter Thränen der Reue an die Vaterbrust zu werfen, wie er als Kind so oft gethan.

Gewöhne das verwünschte Gerührtsein Dir ab, es steckt an wie der Schnupfen; flüsterte der Fürst ihm zu, hustete ein wenig, griff deshalb nach seinem Taschentuche, und näherte mit Richard sich dem Tische, auf welchem Mitchel seine Raritäten ausgebreitet hatte.

Wie konntest Du dem Zufalle überlassen, ob es ihm belieben würde, mir die höchst schätzbare Bekanntschaft Deines Landsmannes zuzuführen oder nicht? Verdient diese Vernachlässigung nicht einige Strafe? sprach Fürst Andreas mit seiner gewohnten verbindlichen Art gegen an Rang ihm untergeordnete Fremde, und laut genug, daß Mitchel es hören konnte. Wäre mein Kammerdiener nicht so glücklich gewesen, Herrn Mitchel im Zeitungsklubb anzutreffen, und nicht so gescheit gleich einzusehen, welchen unschätzbaren [190] Werth seine Bekanntschaft für mich haben müsse, ich hätte sie vielleicht zeitlebens entbehrt: fuhr er auf die nämliche Weise fort. In der That, Herr Mitchel ist für mich eine wahre Fundgrube von Allem, was mich erfreut und interessirt.

Ich bitte, lassen Sie uns nochmals den Plan des Tunnel vornehmen, und – doch vorher noch ein Wort mit Dir, Richard: setzte er hinzu, indem er mit diesem ein wenig seitwärts trat.

Du weißt, der Braune mit den weißen Füßen, der Dir so wohl gefiel? sprach er halblaut: Du findest ihn morgen in Deinem Stalle, ich habe ihn hineinführen lassen. Keinen weitläuftigen Dank; daß ich weiß, daß ich Dir eine Freude damit mache, ist mir genug; obgleich Du ihn für jetzt noch nicht sobald nöthig haben wirst, als wir es meinten, denn der Kaiser hat die Revue wieder abbestellt.

Die Revue? Die Revue? rief Richard heftig.

Nun ja, die Revue bei Beleja Tserkoff, die [191] nächsten. Dienstag über acht Tage gehalten werden sollte. Sie ist ganz aufgegeben, wird wahrscheinlich nie Statt haben, in diesem Jahre wenigstens gewiß nicht; antwortete der Fürst und setzte gleich darauf im gleichgültigsten Tone von der Welt hinzu: jetzt, Herr Mitchel, sind wir ganz zu Ihren Diensten.

Vater! o mein Gott! ist es möglich, rief Richard außer sich, wie verwildert vor freudigem Erstaunen.

Ob Du ein Kind bist! über ein neues Spielzeug, über ein artiges Pferd so in Entzückung zu gerathen! lächelte der Fürst, indem er Richards ungestümen Freudenbezeigungen sich zu entziehen suchte. Glückliches Alter! nicht wahr, Herr Mitchel? wer das auch noch so könnte!

Noch ehe der Fürst diese Worte vollends ausgesprochen, war Richard schon zur Thüre hinaus, zu Helenen.

Er fand sie in ihrem, nur ihm und ihren [192] nächsten Freunden zugänglichen Arbeitszimmerchen, in welches sie sich Abends unter irgend einem Vorwande zurückzog, so oft sie schicklicher Weise es konnte, um von der betäubenden Nichtigkeit des Lebens in der großen Welt sich zu erholen.

Fröhlich trat sie ihm entgegen, ohne über seinen stürmischen Eintritt zu erschrecken, und rief, sich ein wenig wendend: siehst Du, Alte? Hatte ich nicht Recht, als ich Dir im Voraus sagte, daß die Freude über meines Vaters Geschenk ihn noch heute Abend zu uns führen würde?

Und zu seinem nicht geringen Verdrusse mußte jetzt Richard aus der dämmrigsten Ecke des nur von einer einzigen Lampe schwach erhellten Kabinets die gebeugte, eisgraue Gestalt der Amme sich entwickeln sehen, an die er seit langer Zeit eben so wenig gedacht hatte, als meine geneigten Leser es gethan haben mögen; denn die gute Frau hatte in den letzten Jahren, wenn gleich [193] nicht geistig, doch körperlich sehr gealtert, und verließ jetzt nur sehr selten das ihrer Thätigkeit besonders angewiesene Revier in den innern Gemächern der Fürstin Eudoxia.

Schick sie fort! o schick sie fort! bat Richard in englischer Sprache, welche Frau Elisabeth nicht verstand, die indessen mit durch die Jahre wahrlich nicht verminderter Redseligkeit, in Freudensbezeugungen über das lang entbehrte Wiedersehen ihres Lieblings sich ergoß. Helena, wie konntest Du mir so etwas anthun! denn Du erwartetest mich doch! o schick sie fort! Erlaube meinem übervollen Herzen nur ein einzigesmal sich vor Dir zu ergießen; Du siehst ja, mir ist wie dem Galeerensclaven, dem nach unendlich peinvoller Zeit die Ketten abfielen.

Warum willst Du der armen Elisabeth es nicht gönnen, Dich zu sehen, den sie so lieb hat! sie kommt so selten aus ihrem Zimmer; erwiederte Helena in der nämlichen Sprache, und [194] wandte sich dann an die Amme. Nicht wahr, Mütterchen, Du hast auch Richards neues Pferd gesehn?

Ob ich es gesehn! war die Antwort: hieß Fürst Andreas mich nicht expreß ans Fenster rufen, als er im Hofe es sich vorführen ließ? Das schöne Thier, mit den netten zierlichen Füßen, wie tanzte es, wie brüstete es sich als es meine junge Gebieterin trug! Aber das sage ich Dir, Richard, in Beleja Tserkoff muß sie es wieder reiten, Du mußt es ihr leihen.

Dich, Helena, Dich hat es getragen? rief Richard entzückt.

Weißt Du nicht mehr welche muthige Reiterin ich bin? erwiederte sie: übrigens ist das Pferd fromm wie ein Lamm, und doch voll Muth und Feuer; Dir gönne ich es, sonst Niemand auf der Welt.

Und wie sie sich darauf ausnimmt! wie hingehaucht, so schlank, so leicht; nahm die Amme [195] wieder das Wort: so etwas, Richard, hast Du nie gesehn. Wie die kleinen Händchen den Zügel fassen! wie sie das Pferd zu regieren weiß, wie sie es tummelt! und wie das kluge Thier jedem ihrer Winke sich fügt und unter ihr einher tanzt, schnell, gewandt, behend wie ein Sonnenstrahl, oder vielmehr wie ein Blitz. Das muß der Kaiser, die Kaiserin, der ganze Hof, meinetwegen die ganze Welt muß das sehn!

Weder die Welt, noch der Hof wird dieses wundervollen Schauspiels sich erfreuen, denn es giebt diesmal bei Beleja Tserkoff weder Revue noch Fêten, der Kaiser hat diesen Mittag alles wieder abbestellt, fiel Helena der in ihrem Lobe sich verjüngenden Amme lachend ein.

Die Alte brach in bittre Klagen darüber aus, und Richard benutzte diesen Augenblick, um nochmals um nur eine ungestörte Viertelstunde mit Helena anzuhalten, doch abermals vergebens.

Du siehst mich so glücklich! wahrlich, nur [196] Erfreuliches solltest Du heute von mir vernehmen, keine Frage sollte Dich belästigen, warum darf ich Dir nicht mittheilen, was mein ganzes Herz so freudig bewegt, warum Dir nicht zeigen, welche zentnerschwere Last ihm abgenommen ward? bat er.

Ich freue mich mit Dir, ohne den Grund dazu erfahren zu wollen; erwiederte Helena freundlich aber fest, und Richard fühlte zum erstenmale durch den kalten Ernst, mit welchem diese wenigen Worte ausgesprochen wurden, sich verletzt. Unfähig, den Mißmuth gänzlich zu unterdrücken, der in ihm sich mächtig zu regen begann, eilte er sich zu entfernen, um Helenen zu verbergen, wie schwer es ihm falle den Zwang zu ertragen, der gerade in dem Augenblicke, wo er ihrer Theilnahme am bedürftigsten war, den Mund ihm verschloß.


[197] Wie immer, wenn das äußere Leben ihn drückte, führte sein Herz ihn zu seinem Freunde Stephan, obgleich er wenig Hoffnung hatte, bis zu ihm selbst durchzu dringen. Diesmal fand er den Vorhof und die untern Räume des Hotels wunderbar verödet; überall herrschte die ungestörteste Stille, keine lebende Seele ließ sich blicken, sogar der Portier hatte seinen gewohnten Platz verlassen.

Unheimlich schaudernd, mit unhörbar leisem Schritte stieg Richard die breite Treppe hinan, ging durch die lange Reihe von Zimmern und Sälen, alle standen offen, alle waren öde und leer, bis er in die Nähe des zu dem Appartement der Gräfin gehörenden Vorsaals gelangte. Hier weiter zu gehen wagte er nicht; Weihrauchdüfte quollen durch die verschlossene Thüre ihm entgegen, ein seltsam dumpfes Geräusch, wie unterdrücktes Weinen und Schluchzen vieler Stimmen wurde hörbar, er glaubte dazwischen[198] den tiefen murmelnden Ton leise betender Priester zu unterscheiden, und fühlte von bangen Vorahnungen sich ergriffen.

Jetzt flogen die Flügelthüren auf: er sah die ganze hier versammelte Dienerschaft des Grafen dicht zusammen gedrängt den weiten Vorsaal erfüllen. In Thränen, leise jammernd und schluchzend, lagen sie Alle auf den Knieen, tief gebeugt berührten ihre Häupter den Boden. Eine leichengleiche Gestalt wurde sorgsam zwischen den Weinenden hindurch getragen, Graf Stephan; bis zum Unkenntlichen durch langen Schmerz entstellt, lag er in den Armen seiner Diener; selbst einem Sterbenden ähnlich wankte Walter neben seinem geliebten Herrn einher, zu entkräftet, um einen Theil der Last auf sich nehmen zu können.

Todt! todt! rief Richard, und eilte auf die entseelte Gestalt des seit vielen Wochen entbehrten Freundes zu.

[199] Ruhe! Ruhe! gebot der ihn zurückhaltende, ihm wohlbekannte Hausarzt: noch lebt er, aber ein einziger unvorsichtiger Hauch kann den schwachen Lebensfunken auf immer verlöschen. Blicken Sie dorthin, die Gräfin ist so eben verschieden, und gönnen Sie ihrem armen Freunde den todtenähnlichen Schlummer, die starre Gefühlslosigkeit, durch welche die immer gütige Natur über diesen fürchterlichen Augenblick ihm hinaushilft.

Stephan hatte muthig bis zum letzten Hauche der Sterbenden ausgehalten; seine zitternde Hand hatte die Augen zugedrückt, welche bis dahin die Sonne seines Lebens gewesen, und erst nachdem er dieses vollbracht, war er zusammen gesunken. Die Dienerschaft war als Zeuge des letzten, zum Übergange in die Ewigkeit sie einweihenden Sacraments, an das Sterbebette ihrer Herrin berufen worden; die treuen Seelen hatten jede zu laute Äußerung ihres Schmerzes, aus Schonung für ihren Gebieter, bis dahin [200] unterdrückt; doch jetzt, da sie auch ihn anscheinend entseelt durch ihre Reihen tragen sahen, glaubten sie sich doppelt verwaist, und brachen in lautes herzzerreißendes Jammergeschrei aus.

Richard warf einen Blick über die zum Boden gebeugten Häupter der Knieenden hinweg in das Sterbezimmer, dessen weit geöffnete Thüren die in schmerzloser Ruhe still da liegende Hülle der Freundin ihm zeigten, die als rührendes Beispiel duldender Ergebung ihm stets vorgeleuchtet, deren milde Rede, deren sanftes Auge, einst auch ihm Trost und Hoffnung in das Herz gesprochen. Der Tod hatte jede Spur der jetzt überstandenen herben Leiden vertilgt, die Anmuth in ihren Zügen war wieder erblüht, die in glücklichen Jugendtagen als eine der lieblichsten Erscheinungen sie bezeichnete.

Das vom hellen Scheine hoher geweihter Kerzen beleuchtete Sterbezimmer, war ein heiliger Tempel geworden; umgeben von Priestern in [201] ihrem reichen, im Glanze der Kerzen hell schimmernden Ornate, schien ihr Lager, vor Kurzem noch der Zeuge unsäglichen Leidens, jetzt zum Altar umgewandelt, auf welchem sie selbst als das rührendste Bild einer schlummernden Heiligen ruhte.

Ein Strahl belebenden Trostes dämmerte bei diesem Anblicke in Richards weherfülltem Gemüthe auf; das Grab nebst seinem düstern Grauen vergessend, sah er hier nur den Eingang zum Hafen ewiger Ruhe, und sank weinend aber hoffend neben den laut jammernden Dienern auf die Kniee.


Still nachdenkend saß Richard in der Frühe des folgenden Morgens in seinem Zimmer allein, den widerstrebendsten Empfindungen hingegeben. Freude, Trauer, Mißmuth, Hoffnung und Sorge durchwogten sein Gemüth; er hatte [202] den größten Theil der Nacht am Bette seines noch immer in bewußtlosem Schlummer hinbrütenden Freundes durchwacht, und suchte jetzt für die Obliegenheiten des Tages sich vorzubereiten, und seine Gedanken, wie seine ziemlich erschöpften Kräfte zu sammeln.

Das unangenehme Knarren seiner Thüre fiel ihm verdrießlich auf; er ging sie zuzumachen, und sah ein paar unheimliche, glühende Augen durch die Spalte derselben ins Zimmer hinein starren, als wollten sie sich vergewissern, daß er sich allein in demselben befinde.

Richard stutzte einen Augenblick bei dieser Entdeckung, und schnell wie der Blitz sprang ein in einen Mantel gehüllter Mann ins Zimmer hinein, verschloß von innen die Thüre, ließ aber den Schlüssel darauf stecken, und trat dann hastig auf ihn zu.

Mit bleichem verzerrtem Gesicht, himmelan sich sträubendem Haar, Wuth entbrannten Augen, [203] die weißen verbissenen Zähne grausig fletschendem Munde, stand der Entsetzliche dicht neben ihm, und Richard glaubte schaudernd in dem unheimlichen Gaste einen der Haft entsprungenen Wahnsinnigen vor sich zu haben.

Verloren! verrathen, Du, ich, wir Alle! stöhnte dieser mit hohler, kaum verständlicher Stimme, und sank am ganzen Leibe konvulsivisch erbebend, in den ihm zunächst stehenden Sessel.

Jetzt erst konnte Richard den Grauen erregenden Besuch schärfer in's Auge fassen. Es war Mathias Apostol, Bruder des Sergius. Nie hatte Richard mit diesem in näherer Verbindung gestanden als der, welche der unselige Bund, zu dem sie beide gehörten, unumgänglich erforderte; nie hatten sie mehr als jene stereotyp gewordenen Redensarten mit einander gewechselt, wie der gesellige Verkehr überall sie herbeiführt. Das finster Abstoßende, das in Apostols ganzer Persönlichkeit sich aussprach, [204] hatte Richarden immer von dem ältern Bruder zurück geschreckt, während er von dem mittheilend lustigen Humor des jüngern, Sergius, wenn gleich stets widerwillig, zuweilen sich hinreißen ließ.

Mathias blieb eine Weile, ohne ein Wort aufbringen zu können, mit hoch aufarbeitender, schwer nach Luft ringender Brust, in seinem Sessel liegen, während Richard in der Meinung, er sei plötzlich erkrankt, ihm die Weste aufknöpfte und alles nur Ersinnliche anwandte, um dem Leidenden Erleichterung zu verschaffen. Mathias ließ sich das Alles gefallen; nur wenn Richard Meine machte die Schelle zu ziehen, um seinen Diener zur Hülfe herbei zu rufen, hielt er mit riesig starker Faust beim Arme ihn fest.

Alles ist verloren! rief Mathias endlich, sobald er nur einigermaßen wieder zu Athem gekommen war, und sprang mit der Geberde wildester Verzweiflung von seinem Sitze auf.

[205] Richard starrte voll Entsetzen ihn an.

Setze Dir selbst das Alles säuberlich zusammen: fuhr Mathias höhnisch lachend fort: Seit mehreren Wochen ist mein Bruder abwesend, und noch immer ist kein Wort bis zu uns gelangt, das Nachricht von ihm brächte; gestern wird plötzlich, ohne einen Grund dafür anzugeben, die Revue bei Beleja Tserkoff abgesagt, wir vernehmen aus sicherer Hand, daß die Anstalten zu einer längst projectirten Reise des Kaisers Hals über Kopf beschleunigt werden. Wohin geht die Reise? Zur Flucht! zur Flucht! Alles ist klar wie der Tag, blind müßte man sein, es nicht einzusehen. Die Verschwörung ist entdeckt! Feile Verräther finden sich überall; Sergius, mein Bruder, ist gefangen, ist todt! brüllte er, zerraufte sein Haar, warf sich auf den Boden hin, und verbarg, heulend wie ein wildes Thier, sein Gesicht in die Kissen des Diwans.

[206] Ein Ausweg bleibt uns, sprach er, sich wieder vom Boden aufraffend: ein einziger, uns zu retten, den gemordeten Bruder zu rächen. Sie sind zu feig gleich thätig einzuschreiten, sie wollen jene Reise erst abwarten, um sicherer zu gehen. Sicher! rief er wieder auflachend, sicher! o ja, ich bereite Euch die Bahn zur ewigen Ruhe, wartet nur, dort seid ihr sicher genug. Ich komme Euch zuvor, bevor Ihr den Muth habt, den Schlag fallen zu lassen, der uns zerschmettern soll. Ich, ich allein, wartet, wartet nur, ein günstiger Moment, ein einziger, und es ist vollbracht. Mein Auge trügt nie, meine Hand trifft immer das Ziel.

Es giebt eine Waffe, fing er nach einer Pause scheinbar in ruhigerem Tone wieder an, während Richard vor ihm stand, noch immer unschlüssig, ob Wahnsinn oder Überzeugung aus dem Furchtbaren spreche: eine Waffe, fuhr Mathias fort, ohne Knall, ohne verrathendes Aufblitzen; [207] gleich dem leisen unhörbaren Pfeile des Wilden, führt sie die Kugel zum Ziel. Du, Du bist der Einzige, der dem Befehle entgegen zu handeln wagt, welcher ihren Besitz hoch verpönt; ich habe diese Waffe in Deinen Händen gesehen, nun fordere ich sie von Dir, und Du hast nicht das Recht sie mir vorzuenthalten. Du bist mein Bruder durch jenen heiligen Schwur, der uns beide zur Rettung unsers Vaterlandes verbindet; gehorche dem Gebote des Bundes.

Richard besaß wirklich eine kleine, aber auserlesene Sammlung seltner Waffen, die aus seiner frühesten Jugendzeit herstammte, wo er, halb ein Knabe noch, mit ungemeinem Eifer sie zusammen brachte, theils durch Tausch mit Freunden seines Alters, doch mehr noch durch Geschenke, welche von allen Seiten dem Lieblinge des ganzen Hauses zuströmten. Das zuletzt erhaltne war der reich verzierte Türkendolch, welchen [208] Eugen, bei Richards Eintritt in die Kaserne, diesem verehrt hatte.

Seitdem hatte die Lust sich mit solchen Spielereien ernstlich zu beschäftigen bei ihm sehr abgenommen; die Waffen wurden an der Wand eines an sein Zimmer anstoßenden Kabinets zur glänzenden Trophäe auf das geschmackvollste geordnet; sein Blick weilte zwar oft und gern auf denselben, doch nur als auf einem sehr werthen Andenken früherer Tage.

Diese Trophäe, von welcher eine vom Fürsten Isidor einst zufällig erhaltne Windbüchse den Mittelpunkt bildete, welche aber theils wegen der geringen Zierlichkeit ihrer Form, theils wegen des auf ihr ruhenden Verbotes, von anderen glänzenderen Waffen fast ganz verdeckt wurde, war gerade der offen stehenden Thüre des Kabinets gegenüber angebracht, und Mathias brauchte nur die Augen aufzuschlagen, um sie zu bemerken.

[209] Doch würde er in seinem leidenschaftlichen Zustande sie vielleicht fortwährend übersehen haben, hätte nicht die Eile, mit welcher Richard jetzt jene Thüre schließen wollte, seine Aufmerksamkeit dorthin gewendet.

Den Gegenstand den er forderte entdecken, und mit einem gewaltigen Sprunge Richarden zuvorzukommen suchen, war das Werk eines Augenblickes; doch gelang es dennoch dem behenderen Richard, seinen Zweck zu erreichen. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die nun fest verschlossene Thüre und gelobte mit einem hohen theuern Eide, jenes gefährliche Werkzeug niedern Meuchelmordes nur mit seinem Leben sich entreißen zu lassen.

Mathias, unter Fluchen und wüthenden Beschuldigungen der Untreue gegen den Bund, warf sich über ihn her, um seinen Widerstand zu bewältigen; ein Ringen entstand, bei welchem nur Richards große persönliche Gewandtheit [210] es ihm möglich machte, der ihm überlegenen, durch wahnsinnige Wuth noch gesteigerten Körperkraft seines Gegners nicht gleich zu erliegen.

Daß ein anfangs gemäßigt leises, dann immer lauter werdendes Klopfen an der äußern Thüre, unter diesen Umständen von den Kämpfenden nicht vernommen werden konnte, war natürlich; doch dieses Pochen ging allmälig in laut donnernde Versuche über, die schon krachende Thüre gewaltsam zu erbrechen; Mathias hielt einen Augenblick mit Ringen ein, und Richard gewann dadurch Zeit sie zu öffnen.

Plagt Euch alle beide der Teufel? was treibt ihr hier in aller Frühe für ein Specktakel, ungezogene Buben, wißt Ihr nichts Besseres zu thun? rief lachend Sergius. In Lebensgröße, ganz unbeschädigt stand er vor ihnen; Mathias schrie laut auf, und stürzte ihm in die Arme, während Richard die Windbüchse von der Wand riß, und sie zertrümmerte. Daß die Fehde zwischen [211] ihm und seinem Gegner jetzt beendet war, versteht sich von selbst.

Übrigens hielt Sergius es eben nicht für nothwendig die Gründe anzugeben, die ihn bewogen hatten, sowohl seine Brüder als die Häupter des Bundes so lange Zeit ohne ein einziges Zeichen seines Daseins zu lassen. Er erzählte nur ganz in der Kürze, daß er, nach seiner am gestrigen Abend spät erfolgten Ankunft, sich sogleich zum Fürsten Andreas begeben, bei welchem er bis tief in die Nacht hinein verweilte, und dann reisemüde die Ruhe suchte.

Ungeachtet er, eben so wenig als seine Brüder, mit Richard jemals in näherem Umgange gestanden, hatte dennoch ein übrigens nicht bedeutender Auftrag des Fürsten, bei seinem nächsten Ausgange am folgenden Morgen ihn zu demselben geführt, und so war er denn glücklicher Weise, ein ächter deus ex machina, in jene tragikomische Scene zur Beendigung derselben hinein gefallen.

[212] Der Auftrag des Fürsten an Richard bestand hauptsächlich in der Versicherung, daß ganz gleichgültige, unbedeutende Ursachen, hauptsächlich der Überdruß davon so unablässig sprechen zu hören, den Kaiser bewogen, jene Revue aufzugeben. Übrigens setzte Sergius noch hinzu, daß er die feste Überzeugung mitgebracht habe, daß Niemand weder in noch außerhalb Petersburg an Verrath denke, und Alles so ruhig sei, als es unter solchen Umständen nur immer möglich wäre.


Die sorgsamste Pflege hatte in physischer Hinsicht die Gesundheit des unglücklichen Grafen Stephan zwar einigermaßen wieder hergestellt, doch sein von so vielen schnell auf einander folgenden Schlägen hart getroffnes Gemüth konnte nicht wieder genesen. Vergebens mühete Richard sich in Versuchen ab, ihn wieder dem wirklichen Leben zuzuführen, er war für die wichtigsten Angelegenheiten [213] desselben völlig gefühllos geworden. Seine geistige Kraft war abgestumpft, sein Gefühl für alles außer seinem unwiederbringlichen Verluste war ertödtet, und Vaterlandsliebe, die ihm früher die Brust mit glühender Begeisterung erfüllte, war ihm jetzt nur ein leerer Klang, ohne Sinn und Bedeutung. Das sonst für alles Große, Gute und Schöne so warme Herz, lag kalt und erstorben ihm in der Brust, ohne Hoffnung, wie ohne Wunsch, weder Freude noch Leid konnten es wieder wecken. Er verlangte mit dem äußern Leben weiter keine Gemeinschaft zu haben, seine Seele war bei den Todten. Und doch, und zwar in der allerwiderwärtigsten Gestalt, drängte dieses Leben, das ihn anekelte, in den eng abgeschlossenen Kreis seiner Gedanken und Gefühle sich ein.

Habsüchtige entfernte Verwandte, welche jetzt einige Hoffnung gewonnen hatten, den Kinderlosen einst zu beerben, meinten dadurch sich jetzt [214] schon berechtigt, in die Verwaltung seiner Angelegenheiten und seines Vermögens eingreifen zu dürfen. Sie machten sogar schon einige Anstalten den schwermüthigen Vetter, den sie gern für blödsinnig ausgegeben hätten, für's erste wenigstens unter Vormundschaft zu stellen, und quälten und verfolgten ihn auf das widerwärtigste mit ihren endlosen Zumuthungen.

Schon waren sie nahe daran, den ganz Muthlosen durch Überdruß zur Erfüllung von allem was sie verlangten zu bewegen; doch Fürst Andreas oft erprobte Freundschaft erhob sich jetzt in lobenswerther Thätigkeit zu seinem Schutze. Von seinem treuen Walter begleitet, ging Graf Stephan auf Zureden seines edlen Freundes nach Italien, um unter einem milderen Himmel, entfernt von allem was allzu herbe Erinnerungen in ihm aufregen mußte, einstweilen unter fremdem Namen, ein stilles Leben zu führen. Fürst Andreas aber nahm während der [215] Zeit mit dem ihm eigenen Eifer der Leitung und Ordnung der Angelegenheiten seines Freundes sich an, die er in einem zwar vielfach verworrenen, aber doch bei weitem nicht so hoffnungslosen Zustande fand, als Graf Stephan selbst es gemeint hatte.

Richard mochte es sich selbst kaum gestehen, welche Erleichterung seines, auch in anderer Hinsicht nichts weniger als beneidenswerthen Zustandes, die Entfernung des Grafen Stephan ihm gewährte. Sie befreiete ihn von der täglich wiederkehrenden Pein, das längst als hoffnungslos Aufgegebene immer von neuem aufnehmen zu müssen, und immer mit gleich schlechtem, ihn tief betrübendem Erfolge.

Jetzt hatte er wenigstens einige Hoffnung, unter Walters sorgsamer Pflege der Genesung des geliebten Leidenden entgegen sehen zu dürfen. Längst schon war aus dem treuen verständigen Diener der kein Opfer scheuende Freund [216] seines unglücklichen Gebieters geworden; Fürst Andreas selbst erkannte und würdigte ihn als solchen, und überließ ihm ohne Bedenken die Sorge für seinen Herrn, wie die Anordnung einer Reise, die Walter schon früher einmal mit demselben gemacht hatte.


In auffallendem Contraste mit dem fast zum Scheinleben herabgesunkenen Grafen Stephan trat jetzt Fürst Andreas in immer weiter um sich greifender Thätigkeit auf.

Alex, Eugen, alle vertrautesten Jugendgefährten des ganz vereinsamten Richard, waren, wenigstens für den Augenblick, ihm verloren. Zu einer Zeit, wo er mehr als je des Rathes, der Mittheilung, des Trostes bedurfte, sah er mit allen seinen ahnungsvollen Sorgen und Zweifeln sich einzig an den väterlichen Führer und Beschützer seines früheren Lebens gewiesen.

[217] Vertrauend eilte er zu ihm mit seinem bis zum Überfließen vollen Herzen, harrte in unermüdlicher Geduld auf den günstigen Augenblick, es in den Busen seines väterlichen Freundes sich ergießen zu lassen, und stand, wenn er einen solchen endlich errungen zu haben meinte, vor ihm, wie vor einem verschlossenen Schreine.

Für Alle und für Alles hatte Fürst Andreas Zeit, war zugänglich für Jeden, der seiner bedurfte, nur für den geliebten Sohn seiner Wahl, wie Richard noch immer und bei jeder Gelegenheit von ihm genannt wurde, wollte es ihm niemals gelingen, nur eine einzige kleine vertrauliche Stunde zu finden.

Richard wurde unter Vorwänden, von denen der letzte immer der nichtigste zu sein schien, von einem Tage zum andern fortwährend vertröstet. Und wollte sich in der Eile nichts anderes ausfindig machen lassen, so saß Mr. Mitchel mit seinen endlosen Verbesserungen, Vorschlägen [218] und Erfindungen im Vorzimmer, neben seinem Busenfreunde dem Kammerdiener, bei dem er sich förmlich etablirt hatte, und war auf den kleinsten Wink bereit, mit etwas Neuem aufzuwarten.

Für Richard war es unter solchen Umständen keine ganz leichte Aufgabe, in unwandelbarer Liebe und Ehrfurcht an dem Wohlthäter seiner Jugend festzuhalten, ohne sich im Glauben an ihn irren zu lassen. Doch er bestand die schwere Probe; sein Gemüth war und blieb jeder, in seinen Augen den Fürsten und ihn selbst erniedrigenden Regung des Mißtrauens unzugänglich; doch anders war es mit der Sorge, daß das freie, offne, edle Naturell desselben gemißbraucht, daß Andreas durch List und Trug irre geleitet, von Neuem in Verhältnisse verwickelt werden könne, aus denen dann kein Rücktritt möglich wäre.

Auf sich allein zurückgewiesen, ohne Möglichkeit,[219] durch Rede und Gegenrede mit theilnehmenden verständigen Freunden zu größerer Klarheit seiner eigenen Gedanken zu gelangen, versenkte und verlor der ganz Verlassene sich immer tiefer in trübes Nachsinnen, das ihn nur beängstigen konnte, ohne ihn weiter zu bringen; es war eigentlich mehr ein dumpfes Gefühl von Noth und Gefahr, das fortwährend ihn verfolgte, ohne sich in deutliche Worte fassen zu lassen.

In sorgenvoll durchwachten Nächten erhob das gräßliche Bild des Mord und Verrath athmenden Mathias sich neben ihm. Der Eindruck, den jener schaudervolle Besuch auf Richards Gemüth gemacht hatte, wurde ihm jetzt erst recht fühlbar, seitdem seine Gedanken und seine Zeit nicht mehr so ganz ausschließend von der Sorge für Graf Stephan in Anspruch genommen wurden.

Waren die Schrecken, welche jenen damals bis an den Rand des Wahnsinnes getrieben, [220] wirklich nur das Phantom einer beängsteten, durch Befürchtungen der gräßlichsten Art auf das höchste gesteigerten Phantasie gewesen? Wer konnte hier entscheidend auftreten und behaupten, dem sei so!

Daß Fürst Andreas die Ausführung der drohenden Feste bei Beleja Tserkoff wirklich zu hintertreiben gewußt habe, wie er allerdings zu verstehen gegeben, wenn gleich nicht in deutlichen Worten, war eben nichts Unmögliches; aber auch andre Gründe konnten hier leicht vorgewaltet haben, andre, gefährlichere, mit den Befürchtungen zusammenhängende, durch welche Mathias Apostol zu seinem verzweiflungsvollen Thun getrieben worden war.

Des Kaisers nahe bevorstehende Reise in die südlichen Provinzen seines unermeßlichen Reiches, war jetzt längst kein Geheimniß mehr, die Anstalten zu derselben wurden eifrig und offenbar betrieben; doch über die eigentliche Veranlassung [221] derselben waren sehr verschiedene Meinungen in Umlauf. Die Mehrzahl wollte sie in der Gesundheit des Monarchen finden, welche ein milderes Klima verlangte; doch konnte er nicht auch auf diese Weise, ohne Aufsehen zu erregen, sich dem Schauplatze von Ereignissen entziehen wollen, die er vielleicht nur dunkel ahnete, ohne daß jedoch eine Entdeckung der Gefahren wirklich Statt gehabt hätte, die seinem Leben droheten?

Seinem Leben, des Kaisers geheiligtem Leben! Richard dachte es mit Schaudern.

Er ist nicht aufgelöst, der fürchterliche Bund! rief er, von wilder Angst ergriffen, der ihn rings umgebenden Einsamkeit, der einzigen Vertrauten seiner innern Qual entgegen. Er selbst, Andreas selbst ist tiefer als jemals in denselben verflochten; um ihn gefahrlos zu gestalten, behauptet er! Kann seine, kann irgend eine menschliche Kraft jetzt, in diesem Augenblicke noch dazu ausreichen?

[222] Eugens fortwährende, geheimnißvolle Entfernung! dachte er ferner, des Sergius nicht minder geheimnißreiche Reise, wohin? zu welchem Zwecke? zu wem? Wenn nicht zu ihm, zu dem geliebten Freunde meines Herzens, zu Eugen. O Eugen! auch Du wirst das Opfer eines ungeheuren Irrwahnes Deines Vaters werden, der uns Alle dem Untergange zutreibt: rief er laut!

Der Bund wäre ganz gefahrlos, bis zur Ohnmacht entwaffnet! behauptet der Fürst; wodurch wäre er es? fuhr Richard in seinen Überlegungen fort, wodurch wäre er es? Und wenn nun Sergius nicht im entscheidenden Augenblicke gekommen wäre; der tollkühne, wüthende Mathias das furchtbare Signal zum Ausbruch der beschlossenen Gräuel wirklich gegeben hätte? Wo ist die irdische Gewalt, welche alle die vielen Tausende mordlustiger Verschworenen zu bändigen vermocht hätte, welche nicht nur in Petersburg,[223] welche durch das ganze Reich, durch alle Stände in demselben verstreut sind, bereit zum Werke der Zerstörung?

Ich soll nicht glauben, nicht sehen, nicht hören! soll die Gräuel nicht achten, die jetzt ohne Schleier in jenen schändlichen, Mord und Verbrechen predigenden Zusammenkünften der Verbündeten vorgetragen werden; ich soll ihre Reden für sinnlose Erzeugnisse einer verdorbenen, ohnmächtigen Phantasie, ohne alle weitere Bedeutung hinnehmen! – Wer kann das Unmögliche von mir fordern!

Zwiespalt, Unzufriedenheit, Wankelmuth werden schon jetzt unter ihnen laut; eidbrüchige Verräther giebt es überall, in allen Verhältnissen; und wenn nun geschieht, was bis jetzt nur durch ein Wunder verhindert worden sein kann; wenn Einer, ein Einziger nur von jenen Vielen, von Reue, Eigennutz oder Furcht getrieben, den Weg zum Kaiser findet, den Bund verräth?

[224]

Richard ward starr vor Entsetzen über den Gedanken, der jetzt in furchtbarer Klarheit vor ihm aufleuchtete!

Verloren! verloren! unrettbar Kaiser und Volk; Alle! Alle! Alle! schrie er laut; Abgrund, unergründlicher Abgrund rings umher! kein Ausweg mehr!

In wilder Verzweiflung zerraufte er sein Haar, warf auf den Boden sich hin.

Keine Rettung, wohin den Blick ich wende! nicht einmal die Möglichkeit eines Wunsches, denn die ewige Allmacht selbst kann Geschehenes nicht ungeschehen machen! Wo waren meine Augen, meine Sinne, mein gesunder Verstand, daß ich es nicht früher begriff! Verrath rettet Kaiser und Reich, der Bund geht zu Grunde, mit ihm Andreas und die Seinen!

Helena! kreischte er auf; ihm vergingen die Gedanken.

Dann suchte er sich wieder zu fassen. Bleibt [225] Alles, steht kein Verräther unter uns auf; – die Möglichkeit davon liegt vor Augen, denn bis jetzt hat noch Keiner sich gefunden; nun dann – dann, dann knirschte er, und lachte wild auf, dann ist ja Alles auf das Herrlichste! dann geht der Tanz los, Volkswuth führt den Reigen, und Pestel ist der siegende Held des Tages!

Wie jede Überspannung, sobald sie gehörig ausgetobt hat, so löste auch Richards Zustand sich allmälig in Erschöpfung auf, und machte gelassenerer Überlegung Raum. Er ließ Alles, was seit des Fürsten Andreas Heimkehr in der letztvergangenen Zeit sich wirklich begeben, an seiner Erinnerung vorüberziehn, und fand, daß außer dem Widerrufe des Befehls zu der bei Beleja Tserkoff beabsichtigten Revue und der Erscheinung des Mathias Apostol bei ihm in seiner Wohnung, sich doch eigentlich gar nichts zugetragen habe, was die Muthlosigkeit rechtfertigen könne, von der er so plötzlich ergriffen worden war.

[226] Seiner jetzigen Ansicht nach konnte des Mathias Besuch und Benehmen nur einem plötzlichen, durch übertriebene Sorge um seinen Bruder herbeigeführten Ausbruche von Wahnsinn zugeschrieben werden.

Und warum sollte Richard lieber in unbestimmten Zweifeln an seinen Pflegevater sich verlieren wollen, als in Hinsicht auf jene Revue den Andeutungen desselben Glauben schenken?

Richard war gewöhnt sich selbst der strengste Richter zu sein, und konnte in diesem Augenblicke, tief beschämt, den bedeutenden Einfluß sich nicht verhehlen, den sein durch des Fürsten Verschlossenheit verletzter Stolz auf die Beurtheilung der Handlungsweise desselben in der letzten Zeit geübt habe.

In solchem Falle ist es edleren Naturen immer schwer das rechte Maaß zu halten, aus übertriebener Großmuth nicht gegen sich selbst ungerecht zu werden, und so einen zweiten Fehler [227] zu begehen, indem man den ersten allzu überschwänglich gut machen will. Daher konnte Richard es nicht unterlassen sich selbst auf das allerhärteste zu verdammen, und die edelsten Gründe dem, wenigstens sehr auffallenden Betragen des Fürsten unterzulegen, die man schweigend ehren müsse, selbst wenn sie unbegreiflich erschienen.

Er gelobte sich selbst den Maaßregeln und Verheißungen seines edlen Pflegevaters mit ruhigster Zuversicht zu vertrauen; doch diese vortrefflichen Entschlüsse vermochten nicht die Unruhe ganz zu beschwichtigen, die ungeachtet aller Mühe, die er sich deshalb gab, noch immer in seinem Innern tobte, und ihm nicht erlauben wollte, dem Gange der Begebenheiten in ruhiger Unthätigkeit zuzusehen.

Er konnte die Verrath verkündenden Reden des Mathias Apostol nicht vergessen; wie, wenn nun die Behauptungen jenes mordlustigen Frevlers [228] dennoch auf mehr als bloßer Einbildung beruhten? dachte er: Wahrscheinlichkeit spricht mehr dafür als dagegen, und wer wird bei gesundem Verstande den Fallstricken eines eidbrüchigen Verräthers sich nicht zu entziehen suchen wollen, so lange dieses möglich ist?

Die edle großartige Natur meines hohen Freundes ist freilich leicht zu betrügen, sie kann keine Ahnung der niedrigen Verworfenheit jener im Dunkel hausenden Rotte in sich aufnehmen, sprach er seiner alten Gewohnheit nach laut zu sich selbst. Doch ich will für ihn sehen, ich will sein Auge werden, da er auf andre Weise meine Hülfe verschmäht. Ich will statt seiner die Schlupfwinkel des Lasters durchspähen, die ihm unzugänglich sind, und es immer bleiben müssen.

Man sagt ja, die kleine behende Eidechse suche die Klüfte auf, in welchen die giftige Otter hauset, und eile durch Gras und dürres Laub vor ihr her, um durch ihr Rascheln schlafende [229] Menschen warnend zu wecken, setzte er lächelnd hinzu.


Von nun an ergriff Richard auf das eifrigste jede Gelegenheit, die zu näherer Bekanntschaft mit einzelnen Verbündeten führen konnte. Während er von ihren eigentlichen Zusammenkünften sich etwas zurückzog, ließ er um so öfterer bei Trinkgelagen sich finden, selbst bei solchen, wo weder Mäßigkeit noch feinere Sitte den Vorsitz zu haben pflegten. Er ließ in Klubbs und Spielhäusern, auf Bällen und öffentlichen Tanzböden sich einführen, besuchte Kaffeehäuser, Weinhäuser, Billards, lauter Orte, wo man früher ihn nie gesehn, zeigte als täglicher Gast sich in Gesellschaften, wo bis jetzt man gewohnt gewesen war ihn als eine höchst seltne Erscheinung zu begrüßen, und suchte so die Gesinnungen einzelner Mitglieder des Bundes genau kennen zu lernen, um [230] jeden von fern drohenden Verrath gleich beim Entstehen zu entdecken.

Auf diese Weise konnte er nicht verfehlen eine sehr ausgebreitete Bekanntschaft unter Leuten sich zu erwerben, mit denen er bis dahin in keiner Art von Verkehr gestanden; er gerieth zugleich in den Ruf eines leicht und locker hinlebenden jungen Gesellen, auf dessen Gegenwart seines Gleichen keine besondere Rücksicht zu nehmen nöthig hatten, sondern im Gegentheil sich nach Lust und Belieben ganz zwanglos gehen lassen konnten, was Richards Beobachtungen ungemein erleichterte.

Nebenbei lernte er hier eine ihm fast unbekannt gebliebene Seite des Lebens kennen, machte auch die Entdeckung, daß zwischen dieser ihm neuen Welt und der vornehmeren, in welcher er bis dahin sich bewegt hatte, der Unterschied mehr in der Form, der äußern Vergoldung, als in ihrem wahren innern Gehalte zu finden sei; doch [231] das, wonach sein Forschen eigentlich strebte, vermochte er nicht zu entdecken. Nirgends zeigte sich die kleinste Spur beabsichtigter Verrätherei unter all den Verschworenen, die von allen Seiten sich an ihn drängten, weil sie ungeachtet der republikanischen Gesinnungen, die sie zur Schau trugen, durch den Umgang mit ihm sich gehoben glaubten, den sie bis dahin immer nur in den Umgebungen der Vornehmsten des Reiches gesehen.

Die Ausgezeichnetsten unter Richards neuen Freunden suchten Anfangs meistens nur aus Prahlerei und Eitelkeit, seltner durch wirkliches Wohlgefallen an seiner Persönlichkeit, sich den Schein inniger Vertraulichkeit mit dem Allgefeierten zu geben; doch gar bald ging dieser Schein in Wahrheit über, denn Gewohnheit trägt am Ende immer den Sieg davon; sie vergaßen der vorsichtigen Schlauheit, die sie im vertraulichen Umgange mit ihm zu üben gemeint, und[232] zeigten sich ohne Hehl wie sie eben waren. Es ging ihnen mit ihm, wie es vor vielen Jahren den Bewohnerinnen einer ehemaligen freien Reichsstadt erging, denen die nahe Ankunft einer Königin angekündigt wurde, welche in ihren Mauern einige Tage zu verweilen gedachte.

Die Damen geriethen über die Beobachtung der an Höfen üblichen Etikette, besonders über die richtige Anbringung des Wortes Majestät, in Todesangst, und behaupteten mit der hohen schönen Frau nimmermehr sprechen zu können. Und als diese nun in ihrer Mitte war, gütig und freundlich gegen Jedermann, nannten die Geängsteten, in der Freude ihrer erleichterten Herzen, sie ohne weitere Umstände »meine liebe.«


Richard benutzte die sich ihm bietende Gelegenheit zur Beobachtung seiner Umgebungen auf das Beste. Unzufriedenheit, Ungeduld über zu [233] langes Verzögern des einmal Beschlossenen, Haß und Mißtrauen gegen die Häupter des Bundes, besonders gegen Pestel, entdeckte er in aller Gemüth, doch immer nur als schnell vorübergehende, durch irgend ein neueres Ereigniß hervorgebrachte Erscheinung.

Die heute Unzufriedenen, zeigten sich morgen in ganz entgegengesetzter Stimmung, die Ungeduldigen waren besänftigt, und hofften auf einen, mit nächstem zu fassenden, alles mächtig fördernden Beschluß. Die Einen hatte Pestel freundlich gegrüßt, die Andern Sergius, oder Mathias Apostol angeredet, und damit war alles gut gemacht.

Je länger dieses währte, je unsichrer wurde Richard in Zusammenstellung der aus seinen Beobachtungen hervorgehenden Resultate. Einigemal glaubte er dem in der Mitte der Verbündeten lauernden Verräther auf der Spur zu sein, und ehe er sich dessen versah, löste die angebliche [234] Verrätherei in einen albernen, frostigen Scherz sich auf.

Es gab Stunden und Tage, wo andre Gedanken ihn beschäftigten; es schien ihm oft, als ob man höheren Ortes dem sogenannten Bunde der ächten Kinder des Vaterlandes von selbst auf der Spur sei, und heimliche Anstalten treffe, ihn gefahrlos und sicher aufzulösen; was Richard allerdings als das Allererwünschteste betrachtete das sich ereignen konnte, sobald Fürst Andreas selbst in dieses Staatsgeheimniß eingeweiht, und mit Lösung des Bundes beauftragt war, den er und seine Freunde einst selbst in der lobenswerthesten Absicht gestiftet, und der allein durch dessen weit um sich greifende Vergrößerung ausgeartet, jetzt freilich eine höchst bedrohliche Gestaltung angenommen hatte.

Nur so allein glaubte Richard des Fürsten wiederholte Versicherung der völligen Gefahrlosigkeit des Bundes erklärt, und die Wahrheit [235] derselben bestätigt zu sehen; und doch regte sich etwas in seinem Gemüthe, das diesem Glauben widersprach: denn es wurde ihm schwer eine solche künstliche, an Falschheit gränzende Halbheit, mit dem großen edlen Charakter seines väterlichen Beschützers zu vereinen. Daher steigerte die Angst um ihn und die Seinen sich oft bis zur Verzweiflung, wenn die Möglichkeit ihm vorschwebte, daß etwas dem Ähnliches ohne Vorwissen desselben im Werke sein könne.

So fuhr er denn in seinem unruhigen ängstlichen Treiben fort, suchte, was zu finden er weder wünschte noch hoffte, während alle seine Freunde und näheren Bekannten die Veränderung höchst auffallend fanden, die mit ihm und seiner Art zu leben vorgegangen war. Sogar Andreas bemerkte sie und spielte zuweilen scherzend zwischen Lob und Tadel darauf an; wußte aber dennoch jeder Erklärung, die Richard ihm geben wollte, mit gewohnter Gewandtheit auszuweichen.[236] Nur Helena, mochten auch noch so seltsame Gerüchte über ihn ihr zu Ohren kommen, nur sie allein ließ auf keine Weise von dem Glauben an ihren Freund, an seine Liebe, an seine Treue, an seine reine Sittlichkeit sich abwendig machen. Aber auch sie wollte nie ihn anhören, wenn er über manches sich zu erklären suchte, das seiner Meinung nach in ihren Augen ihn herabsetzen konnte.

Ich glaube gar Du willst von Deinem Thun und Lassen mir Rechenschaft ablegen? rief sie lächelnd; wissen wir etwa die uns spärlich zugemessene Zeit des ungestörten Beisammenseins nicht besser zu benutzen? oder glaubst Du, ich wäre so ungerecht nicht begreifen zu wollen, daß Du während der Abwesenheit Eugens zuweilen anderer Erholung bedarfst, als unsre doch immer etwas formelle Societät Dir gewähren kann? Ich selbst, setzte sie scherzend hinzu, möchte zuweilen die Fürstin gern ein wenig bei Seite[237] schieben und mich, wäre es auch nur der Abwechselung wegen, mitten in ein einfach ländliches oder stillbürgerliches Verhältniß versetzen, wie Novellen-Dichter, besonders deutsche, es so anlockend beschreiben.

Richard wollte dessenungeachtet noch etwas über sein jetziges Benehmen einzuschieben suchen, doch Helene drückte ihm die Hand auf die Lippen.

Qui s'excuse s'accuse, weißt Du wohl: sprach sie freundlich. Hast Du es wirklich einmal so weit gebracht, daß Du bei mir einer Entschuldigung bedarfst, dann erst ist eine jede recht überflüßig; denn entweder alles ist zwischen uns niedergerissen, ohne Möglichkeit der Wiederherstellung, oder ich bleibe bei meinem Glauben an Dich, ohne daß eines von uns beiden ein Wort darüber verliert. Was sollen Worte zwischen uns, wenn man sich ohne sie versteht?


[238] Was giebt es Neues? fragte Mitchell, nachdem er eine Weile mit inhaltschwerem Gesicht sich in seinem Sessel hin und her gewiegt.

Nichts Besonderes, das ich eben wüßte: antwortete Richard, der des langweiligen Besuches schon von Herzen müde war, obschon dieser jetzt selten ihn belästigte.

Hm! brummte Mitchell, besann sich wieder ein Weilchen, bemühte sich ungemein gescheit auszusehn, und rückte vertraulich mit seinem Sessel dicht neben Richard hin.

Es laufen doch mitunter sonderbare Gerüchte in der Welt umher, fing er an, man darf nur nicht immer trauen, noch weniger alles glauben. Aber die Sache wäre doch zu erwägen und eigentlich bin ich hier, um mir in einer wichtigen Angelegenheit bei Euch als meinem Landsmanne Rath zu erholen. Aber sagt mir vor allen Dingen, Mr. Wood, wißt ihr wirklich nichts Neues? Fällt denn in diesem großen Lande gar nichts[239] in der Politik vor? Freilich, hier ist kein Parlament, aber gewiß doch Opposition, denn die findet sich überall, in jedem Haushalte, und bestünde er nur aus zwei Personen. Aus Mann und Frau, meine ich. He he he he! setzte er, seinen eignen Witz belachend, hinzu.

Der Kaiser ist in Taganrog glücklich eingetroffen, höre ich; das ist die neueste Neuigkeit so viel ich weiß: erwiederte Richard.

Aha! nun gebt Ihr es schon näher! sprach Mitchell und sah außerordentlich pfiffig dazu aus: und weiter wüßtet Ihr wirklich nichts? gar nichts? habt nichts vernommen? nichts von einem dem Ausbruche nahen Revolutiönchen? flüsterte er plötzlich sehr leise ihm in's Ohr.

Richard fuhr zusammen, und blickte ihm starr in's Gesicht. Ihr erschreckt? Ihr wißt also noch von nichts, wie ich merke, am Ende was geht es Euch auch viel an? Ihr bekümmert Euch um Eure Pferde und um Eure Liebesaffairen, [240] damit gut. Ich kann Euch das nicht verdenken, ein junger Officier hat bei dergleichen weder viel zu gewinnen noch zu verlieren: in meiner Lage muß man schon vorsichtiger sein, und die Augen hinten und vorne haben. Im Vertrauen, große Dinge sind im Werke, und da will ich, wie gesagt, als Euer Landsmann, um Eure Meinung bitten, wie ich mich zu verhalten habe, wenn das Ding zum Ausbruch kommen sollte, setzte er mit leiser Stimme hinzu. Wie werden bei Euch die Revolutionen gemacht? sind sie sehr gefährlich? ich meine für's Eigenthum, für Hab' und Gut, denn mit dem Leben hat es so viel nicht zu sagen, ein kluger Kopf weiß sich schon zu salviren.

Erklärt Euch deutlicher, und seid von meiner Discretion wie von meinem guten Willen fest überzeugt, erwiederte Richard so ruhig als es ihm möglich war.

Nun so hört, fing Mitchell sehr leise flüsternd [241] an. In Petersburg selbst hat eine weit ausgebreitete Gesellschaft sich heimlich organisirt, deren Hauptzweck darauf hinaus geht, in Handel und Wandel allerhand Verbesserungen einzuführen, besonders in Hinsicht auf das Zollwesen; denn eben damit thut es vor allem noth. Der ehrlichste Kaufmann muß ja zum Schmuggler – doch das gehört nicht hierher. Genug die Gesellschaft, oder nennt es Verschwörung, ist da. Seht mich nicht so ungläubig an, ich will es Euch nur gestehen, sie haben mich selbst in ihren Klubb, oder, wie sie es nennen, in ihren Bund aufnehmen wollen, und ich habe mich verdammt drehen und wenden müssen, um mich davon los zu machen, ohne meine Freunde zu beleidigen, denn so etwas paßt nicht in meinen Kram. Der Tanz kann eben so gut heute als morgen los gehen, alle Verschworene sind auf's Äußerste vorbereitet, und ohne etwas Unruhe, vielleicht etwas Brand und Blutvergießen, wird [242] es schwerlich abgehen. Glaubt Ihr, daß es sehr gefährlich damit wird? Ein Engländer, meine ich, hätte weniger zu riskiren als ein Anderer, man nimmt doch immer einige Rücksicht. Nun ich hier einmal eingewohnt bin, möchte ich nicht gern sobald fort. Doch freilich, wenn Gut und Leben gefährdet sind: – setzte er bedenklich seufzend und die Achseln zuckend hinzu.

Ja! man kann das so eigentlich nicht vorher wissen – an Eurer Stelle – wenn es wirklich ist, wie Ihr saget, und Ihr Euch nicht irrt – die Schifffahrt ist jetzt gefahrlos und offen, das Sicherste wäre immer sich bei Zeiten aus dem Wege machen: stotterte Richard und wußte selbst nicht, was er sprach.

Das Alles wäre schon ganz recht, aber es ist dabei doch noch manches Andre zu bedenken, erwiederte Mitchell. Ich habe hier gute Geschäfte gemacht, und die Aussicht auf noch bessere gewonnen, das kann ich Euch, der Ihr dabei gar [243] nicht betheiligt seid, wohl gestehen. Mein edler ehrenwerther Beschützer, Fürst Andreas, ist ein sehr weiser unternehmender Herr, er hat große ausgebreitete Pläne gefaßt für Unternehmungen, die er unter meiner Leitung auf seinen Herrschaften ausführen lassen will. Ihr begreift, dabei läßt sich etwas gewinnen, das man nicht gern aufgiebt. Die Revolution ist ein Sturm, der schnell vorübersaust, den könnte man wohl im sichern Verstecke abwarten, und es kann obendrein kaum fehlen, daß nicht bei dergleichen manches abfiele, was des Aufnehmens werth wäre. Ein recht Gescheiter kommt in unruhiger Zeit nicht leicht zu kurz, wenn er Gelegenheiten wahrzunehmen weiß. Genug, mit der Revolution allein möchte ich es schon wagen – aber, aber! es ist noch etwas dabei, eine ganz verteufelte Geschichte: setzte er seufzend hinzu, heftete den starren Blick auf den Boden, ließ den Kopf bis auf die Brust hängen, die gefalteten Hände [244] sanken ihm in den Schoos und beide Daumen fingen an, sich in blitzschneller Geschwindigkeit um einander zu drehen.

Nun? fragte Richard, in ängstlicher Spannung.

Bürgerkrieg! erscholl es wie ein Orakelspruch aus Mitchells tiefster Brust: Bürgerkrieg! da geht alles drunter und drüber; und das währt jahrelang, wie wir der Beispiele genug davon haben. Der Fremde mit seinem Eigenthume fällt zwischen beide Parteien, wie zwischen die beiden Klingen einer Scheere, und wird von beiden als gute Beute behandelt.

Bürgerkrieg! wiederholte Richard.

Bürgerkrieg: erwiederte Mitchell: hört mich an, und Ihr werdet finden, daß meine Befürchtungen nicht grundlos sind. Ich will Euch nichts verhehlen, alles was ich weiß sollt Ihr erfahren, dann mögt Ihr selbst urtheilen und auch Eure Maaßregeln nehmen, denn als Militair habt Ihr doch einiges zu riskiren.

[245] Richard wollte vor Ungeduld vergehen, aber es half ihm nichts. Mitchell räusperte sich ganz bedächtig, dann fing er vertraulich leise an: Noch vor dem Ausbruche wird die Verschwörung an den Kaiser verrathen werden, das sage ich Euch vorher, traut meinem Worte. Natürlicher Weise bricht dann der Lärm gleich los. Erst hängen, köpfen, dann Widerstand, Aufstand, zwei Parteien, Krieg, Blutvergießen, offne Rebellion, jahrelang, wie in der Vendée, wie in Spanien, wie überall wo der Teufel freies Spiel gewinnt.

Deutlicher! deutlicher! um Gotteswillen deutlicher! woher wißt Ihr, vermuthet Ihr? o sagt mir alles! bat Richard in höchster Angst.

Woher? nun, wie es sich denn zuweilen wunderbar fügen muß, – nahm ich heute bei Caffarelli mein zweites Frühstück ein, wie gewöhnlich. Viel Gesellschaft war versammelt, es wurde viel getrunken. Vormittags ist das meine Sache [246] nicht; ich hatte meine Geschäfte im Kopfe; im Saale wurde es mir zu heiß, zu laut, ich setzte mich mit meinem Taschenbuche in die Ecke einer der kleinen Logen oder Lauben in dem Gärtchen hinter dem Pavillon, um eine wichtige Speculation zu berechnen, die mir eben angetragen worden war. Auf einmal wird es in der Loge dicht neben der meinen laut, viel lauter, als es dem Inhalte des Gesprächs nach zu urtheilen wahrscheinlich geworden wäre, hätten die Herren vorhin nicht zu tief ins Glas gesehen; glücklicher Weise sprachen sie französisch, um nicht von Jedermann verstanden zu werden. Wahr ist's, Mäßigkeit und Umsicht sind nicht Jedermanns Sache, aber – –

Den Inhalt! den Inhalt! um Gottes Barmherzigkeit willen, den Inhalt: flehte Richard ihn unterbrechend.

Es waren ihrer Zwei. Und was konnte der Inhalt ihres Gesprächs anderes sein, als jene [247] Verschwörung, in die sie auch mich gern hineingezogen hätten: fuhr Mitchell fort. Erst kamen Klagen über die Häupter derselben, dann Zweifel an dem Gelingen, dann Reue über den Verrath an dem Kaiser, dann Angst vor den Folgen, bis sie endlich gerade heraus darüber eins wurden, der einzige Weg zu ihrer eigenen Rettung wäre, dem Kaiser alles schriftlich zu entdecken, die Liste der Verschworenen, besonders der Häupter derselben ihm einzusenden, und so für sich selbst Verzeihung auszuwirken, möge aus den Übrigen werden was da wolle. Seht, das ist es eigentlich was mich so stutzig machte; und nun sprecht, was denkt Ihr davon?

Weiter, weiter, das Ende: rief Richard.

Aber was ist es mit Euch? Ihr seid todtenblaß, Ihr seid krank? fragte Mitchell ihn aufmerksam betrachtend.

Nichts, nichts; war die Antwort: plötzlich ein Stich in die Brust, ich habe das zuweilen, [248] es geht aber schnell vorüber; ich bitte Euch, fahrt fort.

Nun denn, viel ist nicht mehr übrig zu erzählen: der Eine wollte gleich den Brief an den Kaiser abfassen, der Andre, wahrscheinlich vom Trinken weniger erhitzt, suchte einige Tage Aufschub von ihm zu erhalten. In der Hauptsache waren Beide eines Sinnes; sie gelobten einander Treue und Verschwiegenheit. Dann kamen mehrere aus der Gesellschaft hinzu, von andern Dingen wurde gesprochen, und ich benutzte die erste Gelegenheit, um mich ungesehen aus meinem Schlupfwinkel fortzuschleichen. Aber Mr. Wood, Ihr werdet immer bleicher!

Nicht doch, nicht doch; ich bin wohl, ganz wohl, der kleine Anfall geht schon vorüber; erwiederte Richard: aber die Namen jener Beiden, Ihr kennt sie doch? Auf die Namen kommt viel an.

Die gehören zu den unaussprechbaren, wie [249] die meisten in diesem Lande, war die Antwort. Doch die Personen Beider sind mir wohl bekannt; wahrscheinlich sind sie heute Abend wieder bei Caffarelli, wenn Ihr mich begleiten wollt, so zeige ich sie Euch. Doch nun sprecht, entscheidet, soll ich gehen? soll ich bleiben? rathet mir was ist zu thun! sie führen ihren Entschluß aus, davon bin ich überzeugt; was sie sprachen war so fest, so besonnen alles überlegend.

Weiß der Fürst um die Verschwörung, und um Eure heutige Entdeckung? fragte Richard.

Wo denkt Ihr hin! das wäre vollends schön! da käme ich gut an! das wäre ja als ob man eine brennende Lunte in ein Pulverfaß werfen wollte! Da müßte ja alles Unheil gleich auf der Stelle hereinbrechen. Haltet Ihr mich für ein Kind? oder für ein altes Weib das nicht schweigen kann? fuhr Mitchell halb beleidigt auf.

Verzeiht, so war es nicht gemeint, erwiederte Richard. Eure Nachricht hat mich überrascht, [250] ich leugne es nicht; ich muß mich erst fassen, gebt mir nur einige Zeit, nur bis ich ein wenig über das Alles nachgedacht habe, dann soll es an meinem guten Rathe in dieser wichtigen Angelegenheit Euch nicht fehlen. Und nun kommt zu Caffarelli.

Mit diesen Worten faßte Richard in einem jener Anfälle von Verzweiflung, die der muthigsten Entschlossenheit wie ein Tropfen Wasser dem andern gleich sehen, Mitchells Arm und zog ihn mit sich fort. Mitchell mußte ihm folgen, er mochte wollen oder nicht.

Sie fanden wirklich die, welche sie suchten, am bestimmten Orte im Dominospiele vertieft. Richard war ihnen oft in den Versammlungen des Bundes begegnet; Beide waren Offiziere, der eine hatte Frau und Kinder, der andre für eine bejahrte Mutter zu sorgen.

Richard, indem er sie aufmerksamer jetzt beobachtete, begriff kaum wie es zugegangen sein [251] könne, daß nicht so manches unheimlich-geheimnißvolle in ihrem Wesen und Betragen, besonders in dem des Ältesten unter ihnen, eben der, welcher zufolge Mitchells Aussage, die Entdeckung noch aufgeschoben wissen wollte, nicht schon längst auf diese Beiden den Argwohn geleitet habe, der ihm in diesem Augenblicke fast zur Gewißheit wurde.

Die Abendgesellschaften bei Caffarelli pflegten gewöhnlich in ziemlich wilde, oft bis zum grauenden Morgen währende Orgien auszuarten. Während Mitchell, Richard alles allein überlassend, sich frühzeitig zurückzog, um morgen mit hellem Kopfe an seine Geschäfte zu gehen, hielt jener diesesmal ganz bis ans Ende dabei aus. Soviel er, ohne daß es auffallend wurde, es konnte, folgte er den ihm Verdächtigen wie ihr Schatten, bis zum Aufbruche der Gesellschaft; sah, wie sie im Laufe des Abends absichtlich sich von einander entfernten, um nicht ihr gar zu enges Zusammenhalten [252] bemerkbar werden zu lassen, und hatte dann wieder vielfache Gelegenheit, halbe Worte, Winke, Blicke aufzufangen, die zwischen ihnen fielen, wenn sie, scheinbar zufällig, an einander vorüber streiften.

Er bemühte sich von ihren Bekannten etwas Näheres über ihre häuslichen Verhältnisse zu erfahren; sie waren der Art, daß, wenn es möglich wäre, daß Verrath und Meineid, wie sie ihn im Sinne hatten, vor menschlichen Augen Entschuldigung finden könnte, diese ihnen vor tausend Andern werden mußte.

Beide waren arm, in so drückend-unfreier Lage, daß ihre Verbindung mit den Verschworenen sie in jedem Falle dem Untergange zuführen mußte; und nicht nur sie, sondern auch ihre Familien, deren Existenz auf sie allein begründet war.

Zehn Uhr? flüsterte, indem er die Gesellschaft verließ, der Eine dem Andern im Vorübergehen [253] zu: im weißen Kreuz bei Sutoff, antwortete dieser.

Durch die ängstliche Spannung, in der er auf alles um ihn Vorgehende achtete, waren Richards Sinne bis zu dem Grade geschärft worden, daß selbst diese, jedem Anderen unhörbar leise gesprochenen Worte, seinem Ohre nicht entgingen; und hätte er keinen Laut davon gehört, er hätte sie wahrscheinlich den Sprechenden von den Lippen gelesen.

Die angedeutete, in einer entfernten Vorstadt gelegene, elende Kneipe, war zufälliger Weise ihm bekannt; er hatte vor einigen Tagen, während eines heftigen Gewittersturms, in ihr Schutz suchen müssen.


Noch hatte der Glockenschlag die zehnte Stunde des folgenden Morgens nicht verkündigt, als schon Kapitain Mayboroda, der älteste jener beiden [254] Offiziere, in der niedrigen, von Myriaden von Fliegen durchschwärmten Gaststube des weißen Kreuzes, leise hastige Worte vor sich hinmurmelnd, mit weiten Schritten auf- und abstürmte, bis sein Freund, der Unterlieutenant Rostowzoff sich zu ihm gesellte. Beide waren in ganz unscheinbarer bürgerlicher Kleidung; sie hatten sich hierher beschieden, um ungestört und unbelauscht, umständlicher als es bis jetzt geschehen konnte, sich zu besprechen und zu berathen.

Wir sind nicht allein! rief Rostowzoff plötzlich, als er an der Seite seines Freundes auf- und abgehend, zufällig einen Blick hinter den riesig großen Ofen warf.

Ein Bauerknecht in seinen Schlafpelz gewickelt, das Gesicht durch die übereinander geschlagenen Arme bedeckt, um es gegen das Heer der ihn umsummenden Fliegen zu schützen, lag auf der Ofenbank hingestreckt; die Überreste eines schwarzen Bauerbrotes, einige Gurken, und [255] ein umgestürztes Glas, aus welchem der Branntwein noch tropfenweise auf den Boden fiel, bewiesen, daß ein überreichliches Frühstück, mit dem er nicht einmal hatte fertig werden können, dem Schläfer gar zu wohl geschmeckt habe.

Laß den Klotz liegen: lachte Mayboroda, nachdem er und Rostowzoff sich an ihm müde gerufen und geschüttelt hatten, ohne ihn erwecken oder auch nur aus seiner Lage bringen zu können: der wird uns weder belauschen noch verrathen, dafür stehe ich Dir. Ohne sich weiter durch ihn stören zu lassen, setzten sie ruhig ihr Gespräch fort, und begaben sich dann nach ein paar Stunden, jeder auf andrem Wege, nach Hause.


Richards Gemüthszustand, die wilde Aufregung aller herzzerreißenden Gedanken und Empfindungen beschreiben zu wollen, welche nach [256] Überstehung eines weder angenehmen, noch ganz gefahrlosen Abenteuers sich sinnverwirrend seiner bemächtigt hatte, wäre ein gar zu undankbares, schwer gelingendes Unternehmen.

Ich bin fest überzeugt, daß meine alles gleich errathenden Leser in seinem schmutzigen Schaafspelze, und den übrigen noch weniger einladenden Requisiten der Maske eines betrunkenen russischen Bauerknechts, sowohl meinen Helden, als den Zweck, zu welchem er diese Verkleidung anlegte, sogleich erkannten. Denn das ist eben aller Roman- und Novellendichter große Verzweiflung, daß es mit Aufbietung aller uns zu Gebote stehenden Phantasie, doch in diesen, an geistiger Kultur überreichen Tagen, fast unmöglich wird, sie durch einen Theatercoup zu überraschen, oder durch Erwartung des ungewissen Ausgangs der Geschichte in angenehme Spannung zu versetzen. Ihr Scharfsinn sieht leider nur zu gut und zu genau alles längst vorher! ich möchte sagen: früher,[257] als der Autor selbst damit im Klaren ist, wäre dieses nicht einem irischen Bull gar zu ähnlich.

Gewißheit hatte Richard auf diese Weise zu erhalten gesucht, Gewißheit dessen, was nur als möglich sich zu denken, mit Angst und Grausen ihn erfüllte. Er hatte sie jetzt erhalten, im vollsten Übermaaße erhalten, und war nahe daran, unter der Last der Erfüllung seines Wunsches zu erliegen! Mayboroda und Rostowzoff hatten in der schmutzigen, niedrigen Gaststube zum weißen Kreuz vollkommen deutlich, umständlich, und ohne allen Rückhalt sich gegen einander ausgesprochen; jeder Zweifel an ihrem ernsten Vorsatze, zu erfüllen was sie beschlossen, wäre offenbarer Wahnsinn gewesen; schaudernd sah Richard an seinem dünnen Faden das Schwert über den Verbündeten schweben; was sollte, was konnte er thun, um den Fall desselben aufzuhalten, ohne vielleicht nicht auch zugleich über Millionen [258] Menschen ein weit umgreifenderes Unheil herabzurufen!

Nur einen einzigen kurzen Augenblick war der Gedanke in ihm aufgestiegen, unter möglichst mildernden Umständen Pestel oder Sergius mit der dem Bunde drohenden Gefahr bekannt zu machen, und diesem dann die Abwendung derselben zu überlassen; aber sein edleres Naturell ließ eine solche Entheiligung seines eigenen Wesens nicht zur That sich gestalten.

Das, das, rief er über sich selbst entrüstet, das ist der Fluch jener halben Verhältnisse, die auf dem engen zwischen Gut und Böse schwankenden Pfade in geheimnißvollem Dunkel hinschleichen, daß jedes feinere Gefühl für Recht und Unrecht durch sie allmälig in uns abgestumpft wird; daß es sich nicht mehr regt, wenn wir strauchelnd nicht unterscheiden, auf welcher Seite unser Fuß von der schmalen Bahn abglitt. Wehe dem, der durch sie gezwungen ward, [259] über sich und seine Thaten den Schleier des Geheimnisses zu ziehn! Wer nicht mehr vor Gott und der Welt frei auftreten und laut eingestehen darf: das habe ich gethan, das will ich thun, ist schon mehr als halb verloren.

Ach, und wer an Wänden und Thüren hinlauschend, die Geheimnisse Anderer zu erspähen suchen muß, was ist der? Und habe ich nicht selbst so tief, und weit tiefer noch, mich herabgewürdigt! Ich mußte es! Da war kein Ausweg mehr, ich wich dem Gebote strenger Nothwendigkeit. Aber daß ich fähig war, wenn auch nur einen kurzen Augenblick, den Gedanken zu fassen, das von mir erlauschte Geheimniß jenen Tigern zu verrathen, denen das Leben eines einzelnen Menschen wie Spreu vor dem Winde ist! – in den Mittelpunkt der Erde möchte ich vor mir selbst mich verbergen, wenn ich das recht bedenke.

Der niedrige Angeber bedrängter Hausväter [260] werden, die von häuslicher Noth schwerer That zugetrieben – o mein Gott, mein Gott! ist ihr Vorsatz denn wirklich Verbrechen und das Gegentheil desselben Tugend zu nennen? – und bin ich es, der über die Unglücklichen den Stab brechen darf?


Ein einziger armer Trost, an dem er sich einigermaßen ermuthigen konnte, war ihm noch geblieben; er hatte noch acht Tage Zeit vor sich, um den Entschluß, den er doch nothwendig ergreifen mußte, zu überdenken. Acht Tage! eine kurze Frist, wie das Gesetz zuweilen dem Verurtheilten sie zugesteht, um Abänderung des wider ihn gesprochenen Todesurtheils zu erflehen, und während welcher dieser zwischen Furcht und Hoffen tausendfältig Todesangst in Qualen der Ungewißheit erduldet.

Zwischen Mayboroda und Rostowzoff herrschte [261] in jeder Hinsicht die vollkommenste Übereinstimmung ihrer Ansichten und Pläne. Der einzige Punkt, über welchen sie sich nicht gleich vereinigen konnten, betraf die Absendung des Briefes, der die wichtige Entdeckung enthielt, welche sie als den einzigen Weg zu ihrer eigenen Rettung betrachteten.

Richard hörte wie sie, in vollster Überzeugung unbelauschter Sicherheit, den Entwurf jenes Briefes mit einander lasen und Punkt für Punkt durchgingen. Das Schreiben enthielt nicht nur die Statuten des Bundes, von dessen erster Entstehung an bis zu der jetzigen Ausartung desselben, auch die Liste der bedeutendsten Mitglieder war sehr umständlich ihm beigefügt. Fürst Andreas, Eugen, Alex, waren an der Spitze als Häupter desselben neben Pestel genannt, neben Sergius, neben Mathias Apostol, neben Bestuscheff Romin!

Ob dieses Schreiben mit der Post geradezu [262] an des Kaisers Majestät abgehen solle, den ein unverbürgtes Gerücht so eben in Tangarog hatte anlangen lassen, oder dem Minister Fürst ***** der in Petersburg selbst anwesend war, übergeben werden, das war die große Frage, über die sie sich nicht gleich vereinigen konnten.

Mayboroda, als der ältere und vorsichtigere, war für den ersteren, der jüngere heftigere Rostowzoff für den zweiten, schneller zum Ziele führenden Weg. Er fand es unendlich schwierig, ein so wichtiges Papier in so weiter Entfernung schnell, sicher, unverletzt, in die Hände des Monarchen zu bringen, der, im Andrange der Geschäfte, es vielleicht lange ungelesen und unbeachtet liegen lassen würde, indem er die Wichtigkeit desselben unmöglich ahnen könne.

Nach langem für und wider Streiten, kamen beide mit einander überein nichts zu übereilen, sondern über diesen Punkt noch acht Tage Bedenkzeit sich zu gönnen.

[263] Und wenn nun diese Frist verstrichen ist, wenn jene acht Tage vorüber sind, was dann? fragte Richard sich.

Gott wird helfen! seufzte er; doch die Hoffnung, welche in jenen frommen Worten liegt, an denen er so gern fest gehalten, fand in seinem angsterfüllten Herzen keinen Raum.


In Kämpfen mit immer steigender, immer qualvoller sich aussprechender Unentschlossenheit, in Überlegungen, welche nur zu beklemmender Geistesdumpfheit, aber zu keinem bestimmt festzuhaltenden Resultate führten, verlor Richard viel von der ihm spärlich zugemessenen Zeit, und wäre vielleicht auf gutem Wege gewesen auch den Verstand darüber zu verlieren, hätte er nicht, ehe es damit zu spät war, sich gewaltsam zusammen genommen.

[264] Kein Ausweg! keiner! keiner! rief er: so geschehe denn was geschehen muß! Andreas, mein Vater und mein Gebieter, ich kann Deinem Verbote nicht länger gehorsamen, ich kann nicht länger Dich schonen! Mir bleibt keine Wahl, ich breche jede Scheidewand nieder, die Du zwischen uns beide gestellt hast; gegen Deinen Willen dringe ich zu Dir durch, und lege die Last, die ich nicht zu lüften vermag, in Deine starke Hand. Es war mein erster Vorsatz, wie es der natürlichste ist. Was ich damit aufs Spiel setze? Ich weiß es wohl! Ach wäre es nur blos mein Leben, und mit diesem Opfer alles beendet!

Richard traf den Fürsten Andreas nicht daheim; er kehrte am nämlichen Tage in dessen Hôtel zurück, zwei, dreimal, zuletzt sogar zu später Nachtzeit; immer vergebens, er fand ihn nicht. Er überzeugte sich, daß Andreas sich nicht verleugnen lasse, wie es wohl zuweilen geschehen sein mochte, und wie Richard auch jetzt [265] es befürchtete; aber der Fürst war wirklich seit dem Morgen dieses Tages nicht wieder nach Hause gekommen.

Auch bei den Damen war keine Nachricht von ihm zu erhalten; den Tag über fand Richard sie von Besuchen umringt, Abends war Kartenassemblée bei der Fürstin Eudoxia, wodurch die Abwesenheit ihres Gemahls, der solchen Festen gern aus dem Wege ging, freilich einigermaßen motivirt wurde. Eine alte, sehr vornehme und sehr verdrießliche Dame, deren Parthie die Tochter des Hauses gewöhnlich machen mußte, weil dergleichen keinem andern zuzumuthen war, hielt die arme Helena am Whisttische fest; und nur durch ein kleines, unmerkliches Achselzucken, von einem tragikomischen Lächeln begleitet, konnte sie diesmal ihren Freund aus weiter Ferne begrüßen.

Nach in peinlichster Sorge durchwachter Nacht wandte Richard alles an, die Fassung zu erringen,[266] deren er bedurfte, um heute gewiß, selbst gegen den ausgesprochensten Willen des Fürsten, bis zu ihm durchzudringen. Fünf Tage, nur noch fünf Tage! rief es unaufhörlich in seinem Innern; in unaussprechlicher Seelenangst, mit dem Gefühle des Verurtheilten, dem der Richter das Ziel seines Lebens, zu Stunden und Minuten berechnet, vor Augen gestellt hat, sah er den Zeiger seiner Uhr vorwärts rücken. Da wurde ein Billet des Fürsten ihm gebracht; schon von weitem erkannte er die Handschrift: in zitternder Hast brach er es auf.

»Sehr leid thut es mir, lieber Sohn, daß Du mich gestern wiederholentlich verfehlen mußtest: schrieb der Fürst: um so mehr, da vielleicht zehn bis vierzehn Tage vergehen werden, ehe ich und Du – –

Der Boden wankte unter Richards Füßen, er vermochte nicht weiter zu lesen, riß die Thüre auf: mein Pferd, rief er überlaut, eilt, eilt als [267] gälte es auf Leben und Tod! mein Pferd, die Droschke, um Gotteswillen eilt, eilt!

Dann nahm er das verhängnißvolle Blatt wieder zur Hand, aber die Zeilen, die Schriftzüge wogten und wirrten vor seinem unstäten Blicke in und durch einander. Glücklicher Weise hatte er schon am vorhergehenden Abend zu früher Morgenzeit anzuspannen befohlen; ohne Zögern konnte er daher in die Droschke sich werfen, und mit verhängtem Zügel dem Hotel des Fürsten zujagen.

Schon lange vor Tagesanbruch war Andreas mit Postpferden abgereist, keiner der Diener wußte genau wohin; Einige wollten Riga, Andre Dorpat, noch Andere Mitau als das Ziel der Reise nennen gehört haben; Bestimmtes wußte Niemand anzugeben; Mitchell und der Kammerdiener waren seine einzigen Begleiter.

Eisige Kälte rann schaudernd bei dieser Nachricht dem unglücklichen Richard durch Mark und [268] Bein; er zog den Zettel des Fürsten wieder hervor, und war jetzt im Stande weiter zu lesen.

»- zehn bis vierzehn Tage vergehen werden, ehe ich und Du uns wiedersehen: denn ich stehe im Begriff mit Deinem Landsmann eine nothwendige Geschäftsreise anzutreten, die mich leicht so lange von Petersburg entfernt halten kann: war der Schluß jener oben abgebrochenen Periode. Bei allen seinen Seltsamkeiten und Langweiligkeiten: hieß es ferner: kann dieser Mensch als treffliches Werkzeug dienen, um mit seiner Hülfe ungemein viel Nützliches für das allgemeine Beste zu wirken. Rechne es mir nicht zu, mein Sohn, daß ich in der letzten Zeit von meinen Lieblingsplänen zu erfüllt war, deren Ausführung ich jetzt rasch entgegenschreite, Du kennst mich ja! Ist Mitchell nur erst in voller Thätigkeit, dann kommt auch Deine Zeit. Bis dahin lebe wohl, auf glückliches Wiedersehn.«

Glückliches Wiedersehn! Nacht wurde es [269] bei diesen Worten in Richards Seele. Er wußte nicht was er zuerst ergreifen solle. Zu Eudoxia, von ihr den Aufenthalt ihres Gemahls erforschen, und dann ihm nach, selbst ohne Urlaub, wenn es sein muß, und kostete es Leben und Ehre. Etwas einem solchen Entschlusse Ähnliches dämmerte in ihm auf. Er vergaß daß die Sonne kaum aufgegangen sei, eilte dem von der Fürstin bewohnten Flügel zu, und fand dort noch alles in tiefe Nacht versunken. Außer einigen mit Reinigen der Zimmer beschäftigten Weibern, regte in diesem Theile des Hotels sich für jetzt noch keine lebende Seele.

Unmuthig wandte er sich dem Rückwege zu – da brach dicht neben ihm ein feines Stimmchen, hell wie ein Silberglöckchen, in halb ersticktes Lachen aus; leichtfüßig huschte wie auf Socken etwas an ihm vorüber. Die kleine Zoë war es, Helenens zierliches Spielwerk; ein armes Griechenkind, dem sie wie einem artigen, buntgefiederten [270] Lieblingsvögelchen, im Innern ihrer Zimmer herum zu flattern erlaubte, und zugleich mit großer Liebe zu ihrem persönlichen Dienste es sich heranzog.

Ei Herr! so früh am Tage? fragte die Kleine und schlug die langen dunkeln Wimpern auf, um mit den großen hellen Kinderaugen ihn von oben bis unten zu betrachten. Und sieh'st obendrein wie ein aufsteigendes Gewitter aus. Der fahlgraue Überrock, in welchem ich Dich in meinem Leben noch nicht gesehen habe, schlottert wirklich wie eine Regenwolke um Dich her; da muß man sich ja fürchten Dir nur einen guten Morgen zu bieten! setzte Zoë lachend hinzu.

Schläft Sie noch? fragte Richard, ohne auf die kleine Schwätzerin zu hören.

Sanft und süß; denn nach Deiner Toilette, und nach dem Tone in welchem Du frägst zu schließen, meinst Du doch wohl unsre Amme, Frau Elisabeth, war Zoës neckende Antwort. [271] Meinst Du aber uns etwa: so wisse, daß wir in dieser schönen Sommerzeit immer mit der Lerche auffliegen. Aber unsichtbar bleiben wir darum doch. Bilde Dir nicht etwa ein, daß Du mich wirklich jetzt siehst; Gott bewahre, damit hat es noch einige Stunden Zeit.

Zoë, süßes liebes Kind, bat Richard, der jetzt wieder zu einiger Besinnung gelangt war, ich muß Deine Herrin sehen, sprechen, jetzt gleich; es hängt weit Wichtigeres davon ab, als ich Dir sagen, als Du begreifen kannst. Ich beschwöre Dich bei allem, was Dir lieb und heilig ist, bei dem Andenken Deiner Mutter, bei dem grauen Haupte Deines Vaters beschwöre ich Dich, bringe mich zu ihr, nur auf wenige Minuten.

Zoë stand vor ihm, halb erschrocken über den Ernst, mit welchem er in sie drang; doch ihr kindischer Muthwille gewann bald wieder die Oberhand. Sehen? sprechen? und in dieser Regenwolkenhülle? fragte sie: machte ein altkluges [272] Gesichtchen, neigte das Köpfchen nach einer Seite, wendete die Fläche der kleinen in einander gefaltenen Hände mit vorgestreckten Armen dem Boden zu, und wiegte sich bedächtig von einem Füßchen auf das Andre.

Nein, es geht doch nicht: fuhr sie plötzlich auf: sprechen? unmöglich! aber sehen? nun es kommt darauf an, setzte sie schalkhaft lächelnd hinzu, was giebst Du mir wenn – bist Du dumm! rief sie heftig mit dem Fuße aufstampfend, indem sie bemerkte daß Richard nach der Halskette griff, an welcher er seine Uhr trug, und wandte ihm unwillig den Rücken.

Doch besann sie sich bald wieder eines Bessern, drückte, durch dies Zeichen Schweigen gebietend, den Finger auf die Lippen, nickte lächelnd aus klugen Augen ihn an, wandte sich, winkte ihm ihr zu folgen, und schritt, leise leise, auf den Sammtpfötchen eines Kätzchens, behende [273] vor ihm her, einen Weg den er nie gekommen war, über schmale Treppen bald auf, bald ab, bis vor eine von innen verhängte Glasthüre.

Dort ließ sie ihn stehen, ihr beredtes bittendes Mienenspiel ermahnte ihn nochmals zum lautlosesten Schweigen, dann verschwand sie, eben so unhörbar leise, als sie gekommen war.

Der in einer Ecke etwas verschobene Vorhang hinter der Glasthüre vergönnte einen Überblick des sehr kleinen, kapellenartig eingerichteten Kabinets, vor welchem Richard stand. Die Wände desselben waren mit Marmor in verschiedenen Farben bekleidet, eine goldne, sogenannte ewige Lampe schwebte von der hochgewölbten Decke herab, und beleuchtete, nie verlöschend, das uralte auf Goldgrund gemalte Muttergottesbild über dem kleinen Hausaltare von Malachit, den kunstvolle Stickereien und die köstlichsten Spitzen aus Brabant zwar bekleideten, aber nicht verdeckten. Frische Sträuße von blühenden Myrten [274] und weißen Lilien prangten vor dem Altargemälde in gleich Diamanten blitzenden Vasen vom reinsten Bergkrystall, und ein golddurchwirkter persischer Teppich lag unter dem Betschemel vor dem Altare hingebreitet.

Zu Richards finstern Gedanken, welche unablässig Tag und Nacht ihn verfolgten, wollte diese unerwartete ihm entgegen leuchtende Pracht wenig stimmen. Geblendet senkte er die Augenlieder; der bis zu ihm dringende Weihrauch und Lilienduft wirkte betäubend auf seine Sinne, ihm wurde sonderbar zu Muthe, als sei nun alles überstanden, als schwebe er, von jeder Sorge entfesselt, an der Schwelle einer höheren Welt.

Ausruhend wollte die müde Seele in einen traumähnlichen Zustand schon sich versenken, als ein blendenderes Licht Richards halbgeschlossene Augen fast schmerzhaft berührte. Er fuhr [275] auf, die höher steigende Morgensonne hatte in diesem Augenblicke die in alter Glasmalerei prangenden Scheiben eines großen Fensters, dem Altare gegenüber, erreicht, und übergoß nun das Innere des Tempels mit einem, in allen Farben des Regenbogens glühenden Lichtstrome.

Jetzt erst, umgeben von diesem Meere von Glanz, wurde Richard einer wahrhaft himmlischen Gestalt gewahr, die halb knieend in betender Stellung auf dem Betschemel vor dem Altare hingesunken dalag. Im ersten Augenblicke glaubte er einer Erscheinung aus höheren Sphären gewürdigt worden zu sein, denn er sah das schöne Köpfchen von einer Strahlenglorie umgeben, wie Maler ihren Heiligen sie verleihen, um von gewöhnlichen Erdensöhnen und Töchtern sie zu unterscheiden.

Es war Helena, die hier in heiliger Morgenfrühe zu Gott sich wandte, ehe sie dem Treiben des geräuschvolleren Weltlebens sich überließ. [276] Die durch das gefärbte Glas hinter ihr einfallenden Sonnenstrahlen, die in den noch nicht gefesselten Locken gleichsam gefangen, jedes einzelne Haar in magischem Lichtglanze verklärten, brachten jene anmuthige Täuschung hervor. Der übrige überschwängliche Reichthum von Locken und Flechten war größtentheils durch eigene Schwere dem Kamme entschlüpft, der ihn zusammen halten sollte, und wallte in reizender Unordnung über dem schneeweißen, wie aus Luft gewobenen Morgenkleide hin, das die liebliche Gestalt in breiten malerischen Falten umfloß, fast bis zu den von den zierlichsten seidenen Pantöffelchen nur eben umfangenen Spitzen der Füßchen.

Schöner, lieblicher, ich möchte sagen, anbetungswürdiger, wenn das nicht gar zu altmodisch klänge, als in dieser ungesucht-einfachen, jeden Reiz bezeichnenden, und doch so bescheiden züchtigen Kleidung, hatte Richard seine Helena nie gesehen. Aller Hoheit entäußert, durch welche [277] Reichthum und Rang in der Welt sie auszeichneten, und die sie im täglichen Leben mit so viel Würde und Anmuth geltend zu machen wußte, erschien sie ihm hier, in anspruchsloser rührender Einfachheit, ein Lieblingskind der Natur, leichter, jünger sogar als sonst, ein lächelnder Engel, an der Gränze der Kindheit, mit klaren hellen Augen, mit rothgeschlafenen Wangen, so ruhig, so heiter, als habe ihrem kurzen schönen Leben weder Sorge noch Widerwärtigkeit jemals genaht, als ob sich und Andere erfreuen der einzige Zweck ihres Daseins wäre, als könne kein Morgen anders als Glück verkündend ihr aufgehn.

Die schön geformten, in dieser frühen Tageszeit weder mit Ringen noch Spangen belasteten Hände, ruhten zu beiden Seiten auf den Blättern des auf Pergament geschriebenen Gebetbuchs, das in alterthümlicher Pracht, in Sammt und Gold, Emaille und Edelsteinen prangend, auf dem Betpult aufgeschlagen vor ihr lag; [278] fromm und ernst hafteten ihre Augen auf den von längst in Staub zerfallenen Händen zierlich gebildeten Schriftzügen. Leise flüsternd, bewegte sich der liebliche Mund in unbeschreiblicher Anmuth. Die nämlichen Gebete, in der nämlichen Form, mit den nämlichen Worten, wie sie von Jugend auf ihr gelehrt worden waren, strömten ihr sowohl von den Lippen, als aus dem Herzen, und dies gerade war es, was der übrigens so Hochgebildeten etwas jedes Gefühl tief Ansprechendes verlieh.

Vom reinsten Glauben durchdrungen, war das fromme Mädchen der festen Überzeugung, daß Gott ihr Bitten verstehe, ohne daß sie nach Worten zu suchen habe, um ihm ihre Wünsche ausdrücklich auseinander zu setzen. Und so hielt sie sich an der von Alters her ihr lieb gewordenen Formel, aus welcher ein erquicklicher Hauch ihrer Kinderjahre ihr entgegen wehte.

Obgleich die mit leiser, man könnte sagen, [279] innerlicher Stimme geflüsterten Worte, zum größten Theile unvernehmlich an ihm vorüberrauschten, so hörte Richard tief bewegt doch deutlich die Namen von Helenens Eltern und Geschwistern, wie sie nach dem vorgeschriebenen Formular der Kirche vor Gott in Demuth sie nannte; der Name des Kaisers aber, der gleich darauf folgte, ergriff ihn mit einer Gewalt, für welche es schwer wäre Worte zu finden. Die Kniee brachen unter ihm zusammen, sein Herz entbrannte in unbeschreiblicher Inbrunst zum heißen Gebet um Abwendung jeder dem geliebten Herrscher drohenden Gefahr. Jetzt aber, jetzt hörte er und glaubte zu träumen, auch seinen Namen; und seiner selbst nicht mehr mächtig, im Gefühle schmerzlicher, Alles überwältigender Wonne, hatte er eben nur noch Besinnung genug, diese heilige Stunde nicht durch plötzliches Erscheinen vor der Geliebten zu entweihen.

Einige Minuten später rief ein leises Geräusch [280] ihn zu hellerem Bewußtsein zurück. Zoë stand, ihm winkend, in der geöffneten Thüre, durch welche sie ihn früher hinein geführt hatte. Richard warf noch einen Blick auf den jetzt verlassenen Platz vor dem Altare, und folgte seiner jungen Führerin, die leicht wie eine Libelle vor ihm hinschwebte, immer noch den Finger auf die rosigen Lippen gedrückt.

Sie athmete schwerer, eine Thräne glänzte in dem großen dunkeln Auge, aber sie blieb stumm wie das Grab, bis sie an die Stelle gelangt waren, wo sie Richard seiner eignen Führung überlassen wollte; hier wandte sie sich plötzlich gegen ihn, und sah lächelnd unter Thränen ihn an.

Hat Zoë es recht gemacht? hat sie Dein Auge nicht erblicken lassen, was jedem Andern verborgen blieb? fragte sie; doch ich sollte Dich schelten, setzte sie mit aufgehobenem Finger drohend hinzu. Du, so groß, so alt! so klug, und [281] so ungeschickt! Hat die Fürstin Dich nicht gehört? und als sie aufgeschreckt an der Glasthüre vorübereilte, Dich sogar gesehen? Was Du eben gethan weiß ich nicht, aber sie hat darüber geweint, glaube ich; wenigstens sehen ihre Augen so aus. Und ich soll dergleichen mich nicht wieder unterfangen, gebietet sie, sonst – Dir aber sendet sie einen guten Morgen, und dazu den freundlichsten Dank, dafür, daß Du so bescheiden Dich betragen hast. Und das ist ihr für Dich noch nicht einmal genug! Auch dieses soll ich Dir noch geben: zum Andenken an heute, sagt sie.

Mit diesen Worten reichte Zoë ihm ein frisches weißes Lilienblatt aus dem Strauße auf dem Altare, und war verschwunden.


[282] Ein Schreiben von Mitchells Hand, welches Richard in seiner Wohnung vorfand, entriß ihn leider nur zu bald dem kurzen Vergessen, das nach so vielen peinlich verlebten Tagen einige Rast ihm gewährt hatte. Er versank von Neuem in jene dumpfe Verworrenheit, jene immer und ewig nach einem Auswege vergeblich suchende Unentschlossenheit, mit einem Worte, in jene innere Hölle, die er ohne eigentliches Verschulden mit sich herum tragen mußte.

Auch dieser Brief enthielt in den ersten Zeilen die Nachricht, daß Mitchell im Begriffe stehe den Fürsten Andreas auf einer Reise nach Riga, vielleicht noch weiter, vielleicht sogar bis Memel zu begleiten. Die Veranlassung zu dieser Reise war persönliche Besorgung sowohl des Ausladens, als des weiteren Transports mehrerer aus England angekommener Modelle, Spinn- und Dampfmaschinen, neu erfundenen Ackergeräthes und ähnlicher Gegenstände, welche Mitchell[283] auf des Fürsten Verlangen, mit großen Kosten und Überwindung bedeutender Schwierigkeiten, aus England hatte kommen lassen. Er bedauerte übrigens sehr, die Zeit seiner Ankunft in einer jener beiden Städte nicht im Voraus bestimmen zu können, da er und sein Reisegefährte Willens wären, unterwegs einige in der Nähe liegende Mühlen und andre Anstalten und Baulichkeiten zu besuchen. Endlich ermahnte er seinen sehr geehrten Landsmann und Freund, sich des Gegenstandes ihres letzten Gesprächs zu erinnern, denselben ja nicht aus den Augen zu verlieren, und dabei der strengsten Verschwiegenheit, wie auch der größten Vorsicht sich zu befleißigen.

Der treffliche Mann schloß mit der ziemlich selbstsüchtigen Bemerkung, daß das Anerbieten dieser Reise ihm zwiefach willkommen gewesen wäre, weil, selbst wenn etwa während der Dauer derselben jener gefürchtete Sturm losbrechen [284] sollte, er unter dem Schutze seines mächtigen und vornehmen Reisegefährten sich für vollkommen gesichert halten dürfe.


So war denn Alles dem Unglücklichen unter den Händen entschwunden, woran er seine letzte Hoffnung zu knüpfen gewagt hatte! Den Fürsten einholen zu können, war reine Unmöglichkeit, jeder Gedanke seine Hülfe in Anspruch zu nehmen, wirklicher Wahnsinn. Und ohnedem, durfte, konnte Richard in dieser gefahrvollen Zeit von Helena und ihrer Mutter sich entfernen?

In all seiner überirdischen Glorie trat noch einmal das Bild der betenden Helena ihm vor die Seele; er meinte vor Mitleid mit ihr, und auch mit sich selbst zu vergehen; dennoch trachtete er jedes entnervende Gefühl zu überwinden, denn er fühlte es unläugbar, daß die ganze Last, die er auf Andreas zu übertragen Willens gewesen [285] war, jetzt auf ihn allein zurückgefallen sei; jeder unnütz vergeudete Augenblick Zeit konnte die entsetzlichsten Folgen nach sich ziehen.

Unter Todesqualen hätte er sein Herzblut freudig vergießen mögen, wenn damit jene Gräuel von ihr hätten abgewendet werden können; von ihr, die er seit jener letzten herzerhebenden Stunde inniger als jemals, gleich einer Heiligen verehrte.

Untergang, Schmach, Schande drohten ihr und ihrem Hause, drohten Allem, was nur in irgend einer Beziehung ihr theuer war, und Helena in ihrer kindlichen Arglosigkeit ging, ohne eine Ahnung davon zu haben, dem Unheil lächelnd entgegen, das innerhalb weniger Tage über sie hereinbrechen konnte!

O könnte ich aus einem Leben flüchten, das in so drohender Gestalt sich vor mir ausbreitet! Dürfte ich ins stille Grab mich betten, und nichts von Allem erfahren, was auf der schweren, über mich hingebreiteten Decke sich ereignen [286] mag! seufzte Richard. Doch diesen einzigen Ausweg aus aller Qual zu wählen, war ihm versagt: er durfte nicht zugleich mit dem Leben die schwere Verantwortlichkeit abwerfen, die jetzt auf ihm lastete!

Möglichst ruhig und besonnen bemühte er sich nochmals die ganze Lage der Dinge zu überdenken, zu ordnen, zusammenzustellen, was zusammen gehörte. Noch war nichts geschehen, noch stand es bei ihm das Geheimniß, das er im Gasthofe zum weißen Kreuz erlauscht hatte, zu verschweigen, zu vergessen, gänzlich zu ignoriren. Niemand konnte auf den Gedanken verfallen, daß er darum wisse; es stand in seiner Macht jene Beiden ihr Vorhaben ungehindert ausführen zu lassen, und zu erwarten, was daraus erfolge.

Dieser Erfolg – er ließ im Voraus sich berechnen; das geheiligte Leben des Kaisers blieb erhalten, abgewendet war unsäglicher Jammer, Tod und Verderben von Millionen.

[287] Und Fürst Andreas war verloren, vernichtet! Vernichtet er und sein ganzes Haus, Eugen, Alex, und sie, die edle fürstliche Frau, welche die mit ihrer Existenz am innigsten verzweigten Vorurtheile ihrer Kaste überwunden hatte, um ihm eine liebendere Mutter zu werden, als die es war, an welche die Natur bei seiner Geburt ihn gewiesen. Ach und Helena!

Kann ich, ohne vor Grauen vor mir selbst zu vergehen, einen solchen Gedanken nur denken, während die Möglichkeit, sie Alle zu retten, in meiner Hand liegt? rief Richard laut.

Eine einzige kurze Unterredung mit Pestel, und Alles bleibt wie es war, fuhr er gelassner fort. Jene Beiden fallen zwar als Opfer ihres Wankelmuths. Doch sie und ihr Geschick wiegen zu leicht, um hier in die Wage zu kommen. Hier Bedenken tragen, hier Rücksicht nehmen zu wollen, wäre schreiendes Unrecht gegen das große Ganze, das allein auf diesem Wege erhalten werden kann.

[288] Erhalten! erhalten! schrie er heftig auf: blöder, kurzsichtiger Thor! was bliebe erhalten, wo Pestel und seine Kreaturen freies Spiel haben! Dann erst, dann gewinnen Mord und Gewalt die Oberhand, dann erst geht Alles unter, Kaiser und Ordnung und Gesetz in einem Meere von Blut, in wilder Flamme rasender Anarchie.

Sie wären zwar gerettet. Doch um welchen Preis! Erschöpft schwieg Richard eine Weile; dann sprach er tief bewegt zu sich selbst:

Und bin ich denn wirklich zu dieser gräßlichen Wahl berufen? Mußte ich auf jener fernen Insel in Dunkel und Niedrigkeit geboren werden, um hier über das Wohl und Wehe, über die Erhaltung und den Untergang eines großen Reichs, eines mächtigen Monarchen zu entscheiden? Ist dem so? Herr der Himmel! nun so erleuchte du dein armes Geschöpf, zeige ihm den Weg, den es gehen soll!

Meine Wohlthäter, sie die mir mehr sind, [289] als Vater und Mutter seit meiner Geburt mir gewesen! und Helena!

Alles kann beendet werden ohne mich, muß ich, muß ich Schwacher hier thätig einschreiten? Wenn nun Krankheit mein Gedächtniß verwirrt hätte, oder wenn ich in jener Unglücksstunde jene Beiden nie vernommen hätte? Dann würde ich ruhig dasitzen und sagen: komme was kommen mag, ich kann es nicht ändern. Der Bund wäre vernichtet, alles wäre gerettet.

Nur sie nicht! und die Ihrigen nicht, und es ist dem nicht so! O Gott! Gott! ist denn bei dir kein Erbarmen mehr? Wirst du nicht durch ein Wunder das vollkommenste Bild von dir retten, das jemals aus deiner Schöpferhand hervorging?

Unbeschreibliche Angst verwirrte Richards Gedanken; wieder war es ihm unmöglich sie auf einem Punkte festzuhalten.

Rettung! Rettung für sie! o Herr des Himmels, [290] das Wunder! das Wunder! rief er überlaut, rang die Hände sich blutig, warf sich nieder zum Gebete, sprang auf, irrte blindlings mit großen weiten Schritten im Zimmer auf und ab.

Dann rief er wieder, in halbem Wahnsinne seiner selbst nicht mehr bewußt: Rettung! das Wunder! du thust deren täglich, eins mehr eins weniger, gilt dir gleich.

Gott, gnädiger, allgewaltiger Gott! flehte er mit herzdurchdringender Inbrunst, indem er wieder zu einiger Besinnung gelangte: heute, als du deine Sonne aufgehen ließest über Gute und Böse, heute noch stieg das Gebet des reinsten Wesens auf dieser Welt zu dir auf, o verwirf es nicht vor deinem Throne! Sie betete für ihre Eltern, für den Kaiser – und auch für mich! Du bist allmächtig und gerecht und allbarmherzig, du mußt, du wirst ihr Gebet erhören, das wortarme Gebet, aus kindlich vertrauendem [291] Gemüthe. Das Wunder! das Wunder! übe es an mir! erleuchte meinen blöden Sinn, gieb mir ins Herz, was ich thun soll.

So schrie der unselig Verzweifelnde zum Himmel auf, bis zur peinlichsten Erschöpfung.

Regungslos, in sich selbst versunken, lag er da, lange, lange. Ein zitternder, halberstickter Ton, man könnte es beinahe ein Aufschreien nennen, entrang plötzlich sich seiner Brust. Er fuhr auf, rieb mit der flachen Hand sich Stirn und Augen, gleich einem aus tiefem Schlafe Erwachenden, der sich zu besinnen sucht, ob das was ihn eben quälte, Traum oder Wirklichkeit sei.

Allmälig trat jetzt die seltsamste Veränderung seiner Haltung, seines ganzen Wesens ein. Er richtete aus der bisherigen gedrückten Stellung sich auf, die Brust hob sich hoch und frei in raschen Athemzügen; frische Lebensröthe färbte das bis dahin aschenbleiche Gesicht, innere Gluth [292] lang entfremdet gebliebener Begeisterung flammte in seinen Augen auf.

Sinnend schritt Richard einige Male im Zimmer auf und ab.

Ich erflehte ein Wunder, und siehe es ist mir geworden; es geschehen deren täglich, nur wir erkennen sie nicht. Sie recht benutzen, kostet freilich zuweilen einen etwas hohen Preis; doch hier gilt kein Markten; ein bittres Lächeln umkräuselte, kaum merkbar, seine Lippen, indem er diese Worte halb leise vor sich hinsprach. Dann fuhr er wieder einige Male mit der flachen Hand sich über Stirn und Augen, als wolle er sich ihm aufdrängende unangenehme Gefühle oder Gedanken von sich wegscheuchen, und setzte sich an den Schreibtisch.

Jede Spur früherer wilder Aufregung war von ihm gewichen, sein Benehmen war ernst und gefaßt, wie das eines Mannes, der Wichtiges, ja selbst sehr Schweres zu vollbringen hat, [293] aber alles bedenkend und überlegend, entschlossen und muthig an das Unvermeidliche geht, ohne sich, von was es immer sei, abschrecken zu lassen.

Die Gelehrten unter uns wissen die Entfernung der hoch über unsern Häuptern wandelnden Gestirne zu ermessen; sie berechnen, viele Jahrhunderte im Voraus, die Bahn des Kometen, sie ergründen die Tiefen der Meeresklüfte; doch wer ergründete jemals die weit furchtbareren Tiefen in einer Menschenbrust?

Dort schlummern Gedanken; gleich den Furien der Alten ruhen sie unter dünner Decke, lauschen unbeweglich, oft so lange als das Herz schlägt, als das Leben in unsern Adern pulsirt, und gehen dann mit uns ins Grab.

Aber ein Hauch ruft zuweilen sie auch wach; wehe dann dem Unseligen, in dessen Brust ein solcher ersteht! Er ergreift ihn mit eiserner Gewalt, und läßt ihn nicht los, bis er ihn fortgerissen hat zu unerhörter That, gut oder böse, [294] wie die Umstände es verlangen. Denn der Gedanke ist die höchste Gewalt, der Tyrann, der mächtigste Gebieter des kurzen schwachen Menschenlebens, bei ihm gilt kein Entrinnen. Unerwartet, gleich dem aus dunkler Nacht blendend auftauchenden Meteore, leuchtet er plötzlich in uns auf, und wird der Keim zu Begebenheiten, welche die Nachwelt, preisend oder verdammend, gleichviel, oft nach Jahrhunderten noch bewundernd anstaunt!

Ein solcher Gedankenblitz war es, an welchem die Fackel des noch immer als berühmt anerkannten Mordbrenners Herostrat vor Jahrtausenden sich entzündete; aber auch die heilige Gluth zu schwerer That begeisternder Vaterlandsliebe, in der Brust der im Vaterhause still und einfach auferwachsenen Charlotte Corday, die sie trieb den Dolch zu erfassen, und ihr Kraft gab, dem Tode in seiner grauenvollsten Gestalt muthig entgegen zu gehen.

[295] Verloren ist, ich wiederhole es, verloren der, in dessen Brust ein solcher Gedanke erwacht, er kommt nie davon los, bis er ihn ausgeführt. Es ist die alte in tausend Abänderungen sich wiederholende Geschichte vom kleinen Vogel und dem Zauber im Blicke der Klapperschlange.

Auch Richard war in diesem Augenblicke jener unsichtbaren Macht verfallen, die oft zum Großen und Rechten, oft aber auch zum Gegentheile führt. Die peinigende Ungewißheit war plötzlich von ihm gewichen, die gebietende Stimme in seiner Brust bezeichnete ihm deutlich den Weg den er einzuschlagen hatte, und für ihn gab es keine Wahl mehr!


Groß war die Freude, mit welcher Richard noch im Verlaufe des nämlichen Tages im Hause des Kapellmeisters Lange empfangen wurde. Zwar hatte er seit längerer Zeit die Schwelle [296] seiner musikalischen Freunde nicht überschritten, und wir, meine Leser und ich, können gar leicht eine gültige Entschuldigung dafür finden; doch Richard bedurfte hier einer solchen nicht; es lag nicht in ihrer Art, durch Furcht vor verdienten oder unverdienten Vorwürfen ihren, zuweilen etwas flatterhaft sich zeigenden Freunden, die Rückkehr zu ihnen zu erschweren.

Spät kommt Ihr, Doch Ihr kommt, Graf Isolani! rief Frau Karoline sehr freundlich ihm entgegen.

Heute doch nur um mit einem Auftrage Ihnen lästig zu werden, an dessen pünktlicher und sorgsamer Ausführung zu viel gelegen ist, als daß ich sie andern Händen als den Ihrigen anvertrauen möchte.

Der gemessne feierliche Ton, in welchem Richard diese Worte vorbrachte, fiel seinen Freunden auf, beide sahen forschend ihm in's Gesicht.

Sie sind krank gewesen, rief Lange, Sie [297] haben Verdruß gehabt, rief mit ihrem Manne zugleich Frau Karoline.

Eigentlich beides, eins folgte aus dem andern; doch das ist nun überstanden, bis auf eine ziemlich angreifende Nachkur, von der man freilich im Voraus nicht genau wissen kann, wie sie anschlägt, erwiederte Richard.

Der Kapellmeister drückte recht herzlich besorgt ihm die Hand, Frau Karoline schüttelte sehr bedenklich den Kopf; Richard fuhr indessen halb leise vor sich hinmurmelnd und an den Fingern abzählend fort:

Heute wäre also der vierte Tag. Schon! schon! o wie die Zeit im Galopp geht! Heute Dienstag der vierte, morgen Mittwoch der dritte, Donnerstag – ja Donnerstag, Freitag wäre schon zu spät.

Lieben Freunde, blickt nicht so angstvoll auf mich: sprach er, mit lauter Stimme, anscheinend ruhig weiter; die Ausführung dessen was [298] ich von Ihnen verlangen will, ist weder schwer noch gefährlich, doch Vorsicht, Treue, vor allem strenge Pünktlichkeit, sind dabei unerläßlich. Und wo wären diese sicherer zu finden, als bei einem so tactfesten und gerechten Manne, der selbst dem kleinsten vierundsechszig Theilchen im schnellsten Tempo sein ihm gebührendes Recht widerfahren läßt, setzte er hinzu, und klopfte lächelnd dem Kapellmeister auf die Achsel.

Doch weder auf diesen noch auf Frau Karolinen schien dieser Versuch heiter zu erscheinen den gewünschten Eindruck zu machen; beide erwiederten ihn nur mit Versicherungen ihrer Bereitwilligkeit jeden seiner Wünsche zu erfüllen.

Richard zog jetzt zwei versiegelte Briefchen hervor: es gilt nur diese beiden Billette an die Adresse abzugeben, und dafür zu sorgen, daß sie zur rechten Zeit in die rechten Hände gelangen: sprach er etwas kurz abgebrochen und beklommen. Ich bitte Sie inständigst, merken Sie [299] alle beide recht genau auf meine Worte! Heute Dienstag, morgen Mittwoch – diese beiden Tage bleiben diese Briefe in Ihrer sichern Verwahrung liegen, wenn ich nicht selbst, schriftlich oder persönlich, sie wieder zurück fordere.

Doch übermorgen, übermorgen ist Donnerstag! – der Donnerstag ist wunderlich; heißt es nicht so in einem alten Sprüchlein? – nun dieser, den ich meine, ist wohl einer der wunderlichsten, sprach Richard seltsam lächelnd, doch nahm er bald wieder sich zusammen: was ich schwatze sind Kinderpossen, alte Reminiszenzen, achten Sie nicht darauf, es gehört nicht hierher, und kann sie nur verwirren. Jetzt zur Sache; diese beiden Briefe bleiben heute in ihren Händen, morgen ebenfalls, doch Donnerstag, übermorgen! Nun auch übermorgen bewahren Sie sie sorgfältig, bis zur Mittagsstunde. Mit dem Schlage zwölf Uhr suchen Sie – Sie Selbst, lieber Lange, Sie selbst suchen die Person auf, [300] welche die Adresse dieses Billets Ihnen bezeichnet, und geben es zu eignen Händen ihr ab. Wo er auch immer sei, Sie suchen ihn auf; ist er nicht zu finden, so erwarten Sie seine Zuhausekunft in seiner Wohnung. Nur daß keine Zeit versäumt werde, nur daß der Brief gewiß übermorgen im Laufe des Tages in seine Hände kommt. Ist dieses vollbracht, so entsiegeln Sie sogleich dieses zweite unbeschriebene Couvert; wie Sie mit dem in demselben befindlichen Briefe zu verfahren haben, wird ein demselben beigeschlossner Zettel Ihnen sagen. Dies ist Alles, alles was ich von Ihnen erbitte, anscheinend wenig, und doch so viel.

An Obrist Pestel! rief Karoline sehr erstaunt, indem sie die Adresse des einen der Briefe in's Auge faßte.

Was können Sie mit dem zu verhandeln haben? fragte eben so ihr Mann.

Kennen Sie den Obrist Pestel? fragte Richard sehr lebhaft.

[301] Nicht viel mehr als blos vom Ansehn: war Langes Antwort: ich zweifle ob wir jemals in unserm Leben mehr als ein paar Dutzend Worte mit einander gewechselt haben. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, daß Obrist Pestel zu Herrn Richard Woods näheren Freunden sich zählen dürfe: setzte er etwas scharf betonend hinzu.

Das ist auch wahrlich nicht der Fall! rief Richard.

Das konnte ich erwarten, und doch freut mich es von Ihnen zu hören: erwiederte der Kapellmeister; die Wahrheit zu gestehen, der Herr Obrist sind mir zuwider, wie eine falsche Quinte; sehe ich ihn nur, so fährt es mir durch Mark und Bein.

Sie blicken so ernst, so wunderbar, was gilts, ich habe es errathen, Sie wollen sich mit ihm schlagen, und mein Alter soll ihm die Ausforderung bringen: rief plötzlich Frau Karoline.

Der Kapellmeister brach in ein überlautes [302] Lachen aus, vor dem das Haus erbebte. Die Troddelmütze flog von einem Ohre zum andern, er drehte sich auf einem Beine herum, und krähte vor Wohlbehagen. Nein, das ist Goldes werth! rief er: von mir wäre man am Ende dergleichen wohl gewohnt, aber hier von meiner kleinen Weisheit Salomonis! ein Officier wird einen alten Exkapellmeister zum Secundanten gegen einen andern Officier sich erwählen! Alte, das war ein starkes Stück von Dir! nein, da versteh' ich den Comment doch noch besser!

Auch Frau Karoline lachte herzlich auf.

O meine Freunde, möge doch bald der Tag erscheinen, an dem ich leichteren Muthes mit Ihnen froh sein darf! seufzte Richard! Übrigens hat Frau Karoline in der Hauptsache es doch halb und halb errathen. Dieses Papier enthält zwar keine Ausforderung, und doch – gehe ich in dieser Stunde noch einem schweren Kampfe entgegen; einem Kampfe der – wollte [303] Gott, es ginge nur um Leben oder Tod. Lassen Sie Ihre guten Wünsche mich begleiten!

Mit diesen Worten eilte Richard hastig davon, kehrte an der Thüre zurück, um seine Anordnung wegen der Billette noch einmal in aller Kürze zu wiederholen, und entfernte sich, ohne daß seine Freunde es wagten ihn aufhalten zu wollen.


Dies wäre alles? Weitere Bedingungen hätten Sie nicht? fragte der Minister, Fürst ***** am Ende einer langen Audienz unter vier Augen, die er dem ihm persönlich wohlbekannten Richard auf dessen Anhalten sogleich zugestanden hatte.

Sicherheit des Lebens und der Freiheit, ungestörter Fortbesitz des Vermögens und der Güter jener Familie, vor allem des Oberhauptes [304] derselben, sind alles was ich verlange: erwiederte Richard, ehrerbietig aber fest.

Und wenn ich, im Namen Seiner Majestät des Kaisers, diese Ihnen zugestehe, so sind Sie bereit von der, Ihrer Aussage nach, durch einen großen Theil dieses Reiches ausgebreiteten, höchst gefährlichen Verschwörung mir genauen Bericht abzustatten, und zugleich ein Verzeichniß der Haupttheilnehmer an derselben einzureichen? fragte der Minister weiter.

Gegen das von Ihnen im Namen unsres Monarchen mir ausdrücklich und feierlich geleistete Versprechen der Erfüllung dieser Bedingung, bin ich bereit genauen Bericht von der Verschwörung, nebst der Liste der vornehmsten Theilnehmer an derselben zu überreichen, muß aber darauf bestehen, daß beides sofort, und möglichst schnell, im Original in die Hände unsres Monarchen gelange.

Sie scheinen Ihre eigne Stellung aus den [305] Augen zu verlieren, sonst zeigten Sie sich wahrscheinlich weniger kühn: sprach der Fürst.

Ich bin kühn, weil ich furchtlos bin: war Richards Antwort.

Sie selbst sind einer der Verschwornen?

Richard antwortete auf diese Frage nur durch ein stumm bejahendes Zeichen.

Die Verschwörung besteht schon jahrelang, wie ich von Ihnen zu vernehmen glaube. Eidbruch ist ein harter Entschluß. Was konnte nach so langer Zeit Sie vermögen ihn zu fassen?

Richard wurde über diese Frage feuerroth, dann wieder todtenbleich; er bedurfte einige Augenblicke Zeit, um sich zu erholen.

Darüber habe ich nur Gott und meinem Gewissen Rechenschaft abzulegen, erwiederte er endlich ehrerbietig aber bestimmt.

Eine kurze Pause erfolgte.

Doch wie stünde es um Ihre Bedingung, wenn ich Sie jetzt hier festhielte, während ich [306] in Ihrer Wohnung Ihre Papiere in Beschlag nehmen ließe?

Hier sind meine Schlüssel, sprach Richard, indem er sie dem Minister darbot, der sie aber nicht annahm: jede Untersuchung wäre indessen überflüßig, und könnte nur unbefriedigend ausfallen, indem ich über diesen Gegenstand dem Papiere keine Zeile anvertraute, die nicht allenfalls gedruckt erscheinen könnte. Mein eigentliches Archiv trage ich in Kopf und Herzen.

Und dieses Archiv – es gäbe wohl Mittel zu dem Inhalte desselben zu gelangen: erwiederte der Minister streng und scharf.

In diesem Falle giebt es nur eines, die Gewährung der von mir vorgeschlagenen Bedingung; denn wer Todesfurcht nicht kennt, kennt auch keinen Zwang, antwortete Richard.

Und doch! Sie müssen mir zugeben, daß Sie in einem ziemlich verdächtigen Lichte erscheinen; was könnte mich abhalten Sie deshalb [307] hier auf der Stelle verhaften zu lassen, und, ohne auf irgend eine Bedingung einzugehen, mich der Liste der Verschworenen und des Berichtes über die Verschwörung zu bemächtigen?

Mein Fürst! rief Richard und fuhr betroffen einige Schritte zurück, doch faßte er sehr bald sich wieder.

Verzeihung, sprach er, daß ich durch diese ganz unerwarteten Worte mich überraschen ließ: erschrecken konnten sie mich nicht! Bericht und Liste liegen, unzugänglich jeder menschlichen Gewalt, ebenfalls auch in meinem vorhin erwähnten Archive, sprach er lächelnd; ich erwarte nur Ihren Befehl, um sie hier an's Licht treten zu lassen.

Und für sich verlangen Sie gar nichts? machen keinen Anspruch auf wohl verdiente Belohnung?

Wenn mein Kaiser und mein Wohlthäter durch mich dem Untergange entgehen, was bliebe [308] mir da noch zu wünschen? erwiederte Richard, etwas vorschnell.

Hm! sprach der Minister vor sich hin, ist es so? jetzt fange ich an den Zusammenhang besser zu begreifen. Sie haben, wie Klugheit und Vorsicht es gebieten, auf alle Fälle sich vorgesehen, sprach er zu Richard gewendet, weit freundlicher als vorhin; dieses kann in der guten Meinung mich nur bestärken, die ich, seit ich in der Familie des Fürsten Andreas Sie kennen lernte, von Ihnen gefaßt habe. Verargen Sie dagegen den Anschein von Mißtrauen mir nicht, den ich wider Willen annehmen mußte, um den mannigfaltig complicirten Pflichten zu genügen, welche die Gnade des Kaisers mir auferlegt hat; setzte er verbindlich hinzu.

Beide, der Minister und Richard, wurden jetzt sehr schnell, und zu gegenseitiger Zufriedenheit mit einander einig. Mit aller dazu gehörigen Formalität legte der Minister, im Namen [309] seines Kaisers, das von ihm verlangte unverbrüchliche Versprechen in Richards Hände nieder, der seinerseits, ohne fernere Bedenklichkeit, auch seine Verpflichtung erfüllte.

Ein beifälliges Lächeln glitt über des Ministers feingeformte Lippen hin, indem er die ihm überreichte Liste der bedeutendsten Mitglieder der Verschwörung schnell mit den Augen durchlief.

Der also ist es! rief er, und wies auf den Namen des Fürsten Andreas: und ich habe in meiner Vermuthung mich nicht geirrt. Gestern noch hätte ich Alles was ich besitze für die Unmöglichkeit dessen eingesetzt, wovon ich hier den Beweis in der Hand halte! Wer mag alle die Abwege im Voraus berechnen, auf welche wir im Laufe des Lebens gerathen mögen! setzte er mit trübem Ernste hinzu.

Ein einziges in Ihrem Eifer von Ihnen nicht genugsam überlegtes Wort verrieth mir vorhin dieses Geheimniß; fing der Minister nach kurzem [310] Schweigen wieder an: jede Spur von Mißtrauen, das Sie, wenn Sie einen Augenblick in meine große Verantwortlichkeit sich hineindenken wollen, nicht ganz ungerecht finden werden, wurde durch diese Entdeckung beseitigt. Ich kenne den ganzen Umfang Ihrer Verbindlichkeit gegen jene Familie, ich begreife welche edleren Motive Sie zu dem Schritte bestimmten, den Sie jetzt thun, und alles was bis dahin mir an Ihnen zweideutig erschien, und erscheinen mußte, gewinnt nun eine andere Gestalt. Nochmals verpfände ich freiwillig Ihnen mein Ehrenwort, Sie sollen in mir sich nicht getäuscht sehen! Andreas wird einen Freund, einen Bruder in mir finden, der ihn vertritt, und, so viel dieses in meiner Macht steht, vor jeder zu herben Folge seines Fehltritts ihn schützt.

Auf des Ministers ausdrückliches Verlangen theilte Richard ihm nun umständlich mit, wie ein wunderlicher Zufall, früher als seine Freunde [311] es beabsichtigten, in die Geheimnisse des Bundes ihn eingeweiht habe. Er verhehlte die warme Begeisterung nicht, mit welcher der anscheinend hohe Zweck desselben ihn Anfangs erfüllte, bis er späterhin mit Schrecken und Abscheu ihn besser erkannte.

Das aufmerksame Wohlgefallen, das seinen Worten geschenkt wurde, ermuthigte ihn weiter zu gehen. Er sprach vom Fürsten Andreas, von der warmen Vaterlandsliebe seines Beschützers, und wie dieser mit innigster Treue dem Kaiser ergeben, nur durch seinen leidenschaftlichen Hang zu ausländischen Erfindungen und Neuerungen verlockt, in die Schlingen eigennütziger, herrschsüchtiger Bösewichter gefallen sei, von deren tiefer Verworfenheit seine edle Natur keine Ahnung haben konnte, während sie sein besseres Wollen, seine durchaus tadelfreien Absichten, in ganz entgegengesetztem Sinne auf das schändlichste mißbrauchten.

[312] Über dem allen war indessen viel Zeit verstrichen; der Courier, der Richards Aussage dem Kaiser überbringen sollte, war längst abgefertigt, der Abend brach mit starken Schritten herein. Richard, der bis dahin gar nicht in der Zeit gelebt hatte, wurde jetzt mit Schrecken gewahr, wie lange er hier verweilt habe, und erhob sich unter vielen Entschuldigungen, um sich vom Minister zu beurlauben, was dieser aber, und zwar auf das allerfreundlichste, gar nicht zugeben zu wollen schien. Richard begriff Anfangs nicht, wie dieses zu verstehen sei, bis endlich der Minister seine Absicht, ihn auf unbestimmte Zeit in seinem Hause festzuhalten, deutlicher an den Tag legte.

Zürnend fuhr Richard auf; sein Gesicht erglühte, sein Auge flammte.

Gefangen! also doch gefangen! nachdem ich alles erfüllt! nach so vielen schönen Worten! ich Thor! ich erbärmlicher Thor! zischte er vor [313] Ingrimm kaum verständlich zwischen den fest verbissenen Zähnen hindurch.

Nennen Sie es nicht so, sprach begütigend der Minister: Sie sind mein Gast, nicht mein Gefangener, nur für wenige Tage mein Gast, dann sind Sie sich selbst ganz überlassen. Doch ist es nothwendig, daß bis dahin Ihr Aufenthalt bei mir geheim gehalten werde. Bei Ihrem Chef werde ich Ihre kurze Abwesenheit unter dem Vorwande einer, in einem Auftrage von mir übernommenen Reise, zu entschuldigen wissen. Sie bewohnen ein Zimmer nahe an dem meinigen und nur einer, der treueste unter meinen Dienern, auf dessen Verschwiegenheit ich bauen darf, wird Zugang zu Ihnen erhalten, um Sie zu bedienen.

Vortrefflich! Alles auf das beste und bequemste. Nur eine Frage erlaubt Ihre Gnade mir wohl noch; bleibt mein Kerkermeister bei mir im Zimmer? oder darf ich hoffen, daß er [314] sich damit begnügt, die Thüre meines zierlichen Gefängnisses von außen zu bewachen? rief Richard in bittrer Ironie.

Die Thüre Ihres Kerkers, wie Sie das freundliche Zimmer nennen, bleibt von Innen und Außen unbewacht, und Wladimir wird nur erscheinen, so oft Sie seiner Dienste bedürfen; erwiederte der Minister etwas gereizt. Lassen Sie uns in diesem Tone nicht fortfahren, der uns allen Beiden nicht wohl thut; setzte er milder hinzu: glauben Sie fest, ich hege die besten Gesinnungen gegen Sie, und werde Alles versuchen, um die gezwungene Einsamkeit, die ich während dieser wenigen Tage Ihnen leider nicht ersparen kann, Ihnen so wenig als möglich fühlbar werden zu lassen.

Sehr gnädig, sehr herablassend; doch die einzige Wohlthat, die ich jetzt mir noch erbitten kann, wäre allein bleiben zu dürfen, allein, ganz allein! sprach Richard mit dem vollsten Ausdrucke [315] starrer Verachtung, die durch die erzwungene Höflichkeit, welche er beizubehalten sich bemühte, nur noch fühlbarer wurde.

Ihre Jugend, Ihre Unerfahrenheit, die seltsame Lage in der Sie sich befinden, und überdem ein gewisses Wohlwollen gegen Sie, dessen ich mich nicht erwehren mag, machen mich geneigt Ihnen mehr nachzusehen, als jedem Andern; sonst würde das Mißtrauen, das Sie gegen mich durchblicken lassen, mich tief beleidigen. Doch Niemand kann dafür stehen, daß er immer Herr seiner Empfindungen bleiben werde, am wenigsten in so widerwärtig-unruhiger Zeit wie die, welche jetzt mich erwartet; und ich bitte Sie darauf etwas Rücksicht zu nehmen; sprach der Minister eindringlich ernst, aber nicht bedrohend. Erinnern Sie sich, fuhr er fort, daß ich mein Ehrenwort einsetzte, ich muß und werde es lösen; jede Anwandlung von Zweifel wäre hier die höchste Beleidigung, die als Mensch [316] und Edelmann mir widerfahren könnte, das müssen Sie selbst fühlen. Deshalb ermahne ich Sie sich zu beruhigen, selbst wenn Sie nicht ganz begreifen, warum ich so und nicht anders handle. Erwägen Sie zum Beispiel, ob nicht vielleicht Sorge für Ihre eigene Sicherheit mich bewegt, Sie auf kurze Zeit unter meinen Augen fest zu halten.

Sorge für meine Sicherheit! wiederholte Richard fast unartig trotzend.

O du seltsames Gemisch von Muth und Verzagtheit, von feinem Scharfsinn und eigenwilliger Verblendung! rief halb lachend der Minister, indem er sich anschickte, Richard sich selbst zu überlassen. Können Sie wirklich glauben, daß unsre heutige Unterredung noch lange ohne sehr merkbare Folgen bleiben werde? und sollten nicht einige Ihrer ehemaligen Bundesbrüder sich bewogen fühlen, Ihnen für Ihren Antheil daran, auf ihre eigne Weise, ihren Dank auszudrücken? [317] setzte er noch hinzu, ehe er sich entfernte.


Es währte einige Zeit ehe Richard zum deutlichen Bewußtsein der Lage kam, in welche er so ganz unerwartet gerathen war. Gefangen! nach allem was zwischen ihm und dem Minister vorgegangen, nach so vielen schmeichelhaften Versicherungen, so vielen schönen Worten, gefangen, wirklich gefangen!

Es schien ihm unglaublich, und doch war es nicht anders; denn wer ohne Bewilligung eines Andern den Ort nicht wechseln darf, ist ein Gefangener, man möge noch so geschickt einen wohlklingenderen Namen dafür aufzufinden suchen.

Voll bittren, sehr verzeihlichen Unmuths, fing Richard jetzt an sein Gefängniß genauer zu betrachten. Die Lage desselben, am Ende eines [318] langen Korridors, war eine der abgelegensten in dem sehr großen Gebäude; die ziemlich hohen Fenster gingen auf einen mit Mauern umgebenen Hausgarten, ein bequemes Schlafkabinet befand sich dicht neben dem eigentlich recht hellen und eleganten Zimmer, beide zusammen hatten nur einen Ausgang auf den Korridor.

Jetzt erst fiel Richard auf, daß er gleich bei seiner Ankunft in dieses Zimmer geführt worden war, wo alles schon im Voraus für seinen längern Aufenthalt eingerichtet zu sein schien. Die Thüre war von innen unverschlossen, außen war der Schlüssel abgezogen, ohne welchen man sie nicht öffnen konnte.

Er trat hinaus auf den Korridor, lang und öde dehnte dieser in schauriger Abenddämmerung sich vor ihm aus; keine lebende Seele ließ sich blicken, Niemand der ihn am Weitergehen hätte hindern wollen. Er ging, stand unschlüssig still, ging wieder; Alles um ihn her schien wie ausgestorben; [319] schon sah er nahe vor sich den weiten Vorplatz der zur Treppe führte. Wie aus den Wolken gefallen stand jetzt Wladimir plötzlich vor ihm, ein paar brennende Armleuchter in der Hand; bat sehr devot um Verzeihung, ihn so lange ohne Licht gelassen zu haben, und begleitete, ihm vorleuchtend, ihn zurück auf sein Zimmer, ohne seinen Befehl dazu abzuwarten.

Ein Luftzug, vielleicht auch beim Hinaustreten Richard selbst, hatte die Thüre desselben zugeschlagen: Wladimir öffnete sie mit dem Schlüssel, den er bei sich trug, machte auf den Schellenzug ihn aufmerksam, bei dessen leisester Berührung er augenblicklich zur Erfüllung seiner Befehle herbei eilen werde, zeigte ihm wie bei Nacht, zu größerer Sicherheit, seine Thüre von innen zu verriegeln sei, erklärte das innige Bedauern seines mit dringenden Geschäften überhäuften Herrn ihn heute Abend nicht mehr sehen zu können, und ließ ihn endlich allein.

[320] Erbittert über alle diese Anstalten ihn täuschen zu wollen, eilte Richard zur Thüre, um den Riegel vorzuschieben; sie war unverschlossen geblieben, wie zuvor, doch er kannte jetzt die Gränze genau, die seiner scheinbaren Freiheit gestellt war.

Tausend wechselnde Gefühle stürmten auf ihn ein; es ward ihm schwer sie genugsam zu bemeistern, um zu ruhigem Nachdenken gelangen zu können, wozu der Stoff von allen Seiten sich ihm entgegen drängte. Ihm schwindelte, wenn er den gewaltigen Unterschied zwischen gestern und heute erwog, wenn er die ungeheure Bedeutung des Schrittes bedachte, den er ohne Zögern, von einem unerklärlichen Impuls getrieben, gewagt, den er noch jetzt nicht unterlassen würde, wäre er noch zu thun, so mächtig fühlte er noch immer sich dazu getrieben.

Ihm grauste vor sich selbst; Verräther, Wortbrüchiger, Eidbrüchiger! hallte es unaufhörlich [321] in seinem Innern wieder. So werden Tausende fortan mich nennen und mir fluchen, wenn was ich gethan ruchbar wird, und die Folgen davon über sie hereinbrechen; rief er: und kann ich mir selbst abläugnen, daß ich es bin? und wie ist es möglich daß ich keine Reue empfinde? Die gute Absicht kann keine ungerechte Handlung entschuldigen, lehren unsre Moralisten; ich hätte diesen Ausspruch nicht aus den Augen lassen, ihn besser berücksichtigen sollen. Doch wo lebt der Schriftgelehrte, der in diesem Falle entscheiden könnte, auf welcher Seite Recht oder Unrecht liegt?


Dumpfe, unbestimmte Gerüchte gingen am folgenden Morgen leise flüsternd durch ganz Petersburg; überall stieß man auf bedenkliche Gesichter, überall wurden geheimnißvoll-ängstlich wichtige Entdeckungen, bei Nacht vorgenommene [322] Verhaftungen angedeutet, und doch wagte Niemand über das, was er dachte oder wußte, sich deutlicher auszulassen. Ein eigner Geist der Unruhe hatte sich der Einwohner der prachtvollen Kaiserstadt bemächtigt, und trieb sie von und zu einander, als hätten sie etwas sehr Wichtiges zu besprechen, und doch scheute sich Jeder vor dem Anfange.

Kapellmeister Lange und seine Frau machten hierin keine Ausnahme; im Gegentheil, ihre Angst, ihre Unruhe stieg von Minute zu Minute, bis der lebhafte Kleine endlich beschloß sich auf's Recognosciren zu begeben; denn die Furcht, daß Richards Besuch, und der so dringend ihm empfohlene geheimnißvolle Auftrag desselben, mit der seltsamen allgemeinen Stimmung in Verbindung stehen müsse, drängte immer unwiderstehlicher sich ihm auf.

Zuerst begab er sich in Richards Wohnung. Der alte Diener desselben kam mit ängstlichen [323] Fragen nach seinem Herrn ihm entgegen; seitdem dieser am vorigen Tage das Haus verlassen, hatte er dasselbe nicht wieder betreten; Boris war dergleichen von seinem Herrn nicht gewöhnt, er hatte bei Caffarelli und an allen Orten, die er gewöhnlich zu besuchen pflegte, ihm nachgefragt, und immer vergebens.

Der Brief an Pestel fiel bei dieser Nachricht dem Kapellmeister schwer aufs Herz; Angst und Sorge trieben ihn, die ihm unbekannte Wohnung des Obristen aufzusuchen; nach vielem hin und her Fragen wurde sie ihm endlich in einem sehr entlegenen Theile der Stadt nachgewiesen; der Ton, mit welchem dieses von ihm ganz Unbekannten geschah, würde zu jeder andern Zeit ihm noch mehr aufgefallen sein als jetzt; doch konnte er nicht umhin, ihn zu bemerken.

Ohne sich dadurch weiter stören zu lassen, eilte er die Treppe hinauf, und fand die Thüre nicht nur verschlossen, sondern auch versiegelt. [324] Eine starke Wache hielt sie von außen besetzt, fragte laut und barsch nach seinem Begehren, und schien nicht abgeneigt ihn selbst festzuhalten, weßhalb er, ohne mit Reden und Gegenreden sich weiter abzugeben, das Freie suchte, und herzlich froh war, als er sich wieder auf der Straße befand.

Um nichts unversucht zu lassen, begab er sich noch ganz an das andre Ende der ungeheuern Stadt, in das Hotel des Fürsten Andreas; doch auch hier wollte seit vielen Tagen Niemand von seinem Freunde etwas gesehn oder gehört haben; übrigens war der Fürst noch nicht von der Reise zurück, wurde aber in diesen Tagen erwartet.

Müde, bleich, niedergeschlagen, wie Frau Karoline ihn noch nie gesehen, langte er nach Verlauf mehrerer Stunden wieder zu Hause an, um Rapport abzustatten.

Jetzt, wie die Franzosen zu sagen pflegen, bin ich am Ende meines Lateins! seufzte er, als [325] er damit fertig war. Jetzt, Du meine liebe Hausehre, zeige, daß Du eine kluge Frau bist, sage, was fangen wir an? Freilich ist heute erst Mittwoch, der Tag, an dem wir nach seiner Anordnung uns still und ruhig verhalten sollen; morgen erst bricht der Donnerstag an, der wunderliche, wie der wunderliche Freund selbst wunderlich genug ihn nannte. Doch Pestel ist in Arrest, keine Aussicht vorhanden, dieses Schreiben morgen in seine Hände zu bringen. Richard ist vielleicht dem schweren Kampfe unterlegen, dem entgegen gehen zu müssen, er uns gestand, als er uns gestern verließ. Vielleicht ist er aber auch noch zu retten, wenn die rechten Mittel schnell ergriffen werden; nun aber sind wir, seine Freunde, im Dunkeln, während ihm jeder Aufschub lebensgefährlich werden kann; was thun wir, wo ist Rath zu finden?

Hier, erwiederte Frau Karoline nach kaum Minuten langem Besinnen, indem sie Richards [326] beide Briefe hervorsuchte: ob wir heute oder morgen unsre Verhaltungsregeln erfahren, darauf kommt wenig an; setzte sie hinzu, indem sie mit rascher Hand das unbeschriebene Couvert erbrach.

Es enthielt ein versiegeltes Schreiben an den Fürsten Andreas, und die an Lange gerichtete Bitte, das selbe nicht nur verabredeter Maßen zur bestimmten Zeit sicher an die Adresse zu bringen, sondern auch den Brief an den Obrist Pestel, im Falle daß er diesen nicht habe bestellen können, dem Fürsten zu übergeben. Sollten aber, hieß es am Schlusse, unerwartete Ereignisse eintreten, welche auch dieses verhinderten, oder der Fürst von seiner Reise noch nicht wieder heimgekehrt sein, so ersuche ich Frau Karolinen, in eigner Person, unter irgend einem Vorwande, sich zur Prinzessin Helena zu begeben, und beide Briefe, in meinem Namen, zur Verfügung darüber ihr heimlich zuzustellen.

[327] Nun Gott Lob! rief der Kapellmeister: nun weiß man doch wenigstens einigermaßen wie oder wo. Unerwartete Ereignisse sind, dächte ich, zur Genüge eingetreten; wie wäre es daher, Alte, wenn Du Dich gleich aufmachtest?

Das bin ich sehr gesonnen; erwiederte Frau Karoline pathetisch, die, sobald ihr nur einigermaßen leichter um's Herz wurde, nach gewohnter Art in ihre theatralische Manier verfiel, und diesesmal dem Marquis Posa die Antwort auf der Prinzessin Eboli Frage, ob er sie umbringen will, abborgte. Viel Zeit auf ihre Toilette zu verwenden, war in solchen Fällen nicht die Sache der immer zierlich und anständig gekleideten Frau, und so kam sie denn in möglichst kurzer Zeit vor dem Hotel des Fürsten an.

Doch weiter zu gelangen war nicht so leicht; die Ruhe die noch während des Kapellmeisters kurzer Anwesenheit hier geherrscht hatte, war verschwunden. Unter der Dienerschaft gab es [328] viel hin und her Laufens, in allen Ecken steckten sie zischelnd die Köpfe zusammen, nach Ärzten wurde ausgesandt, Jemand, hieß es, sei plötzlich erkrankt, Einige nannten die alte Amme, Andre die Fürstin Eudoxia selbst; Fürst Andreas war noch immer abwesend.

Niemand bezeigte sich sonderlich geneigt um die fremde Frau sich zu bekümmern, oder auch nur ihr Rede zu stehn. Beleidigt, zornig, verlegen, wußte sie nicht ob sie zum Gehen oder Bleiben sich entschließen solle, doch zum Glück kam die junge Zoë des Weges, und erlöste sie aus dieser immer unangenehmer werdenden Lage.

Nur ein einzigesmal hatte die Kleine, unter dem Schutze der Amme, einem großen öffentlichen Konzert beigewohnt, das zu einem wohlthätigen Zwecke gegeben worden war, und das noch immer, als hell leuchtender Lichtpunkt ihres kurzen einförmigen Lebens, in der Erinnerung ihr vorschwebte. Nicht wenig entrüstet, die [329] bewunderte Künstlerin, die damals sie entzückt hatte, so verlassen mitten unter dem rohen Bediententroß stehen zu sehen, eilte sie sogleich auf sie zu, fragte sehr bescheiden nach ihren Befehlen, und fühlte sich wirklich geehrt, als Frau Karoline ihren Vorschlag annahm, ihr auf ihr Zimmer zu folgen, um dort die Prinzessin Helena zu erwarten, die für jetzt noch bei ihrer Mutter sich befand.

Sie hatte vollauf Zeit sich auf diese Zusammenkunft vorzubereiten; denn eine Viertelstunde nach der andern verlief, ohne daß sich etwas anderes sehen ließ, als Zoës freundliches Gesichtchen, das von Zeit zu Zeit in der Thüre sich zeigte, um sie um Verzeihung zu bitten und zugleich zur Geduld zu ermahnen, die fest zu halten, schwer zu werden begann.

Im geselligen Umgange mit geistig ausgezeichneten Frauen, vor allen mit Künstlerinnen, schwindet bei Männern aus den höheren, selbst [330] aus den höchsten Ständen, der Unterschied des Ranges; daher war Frau Karoline in ihrem Hause daran gewöhnt, mit allen, die Zutritt in dasselbe erlangten, auf gleichem Fuße umzugehen, sie wohlwollend zu empfangen, und ihre Huldigungen sich dagegen gefallen zu lassen. Die hochtönenden Titel ihrer vornehmen Gäste glitten im lebhaften Gespräche eben so leicht und unbefangen ihr über die Zunge hin, als die Namen ihrer nur durch Talent und Geist ausgezeichneten Freunde. Doch bei ihrem eignen Geschlecht war dieses nicht so ganz der Fall, und konnte es füglich nicht sein; weßhalb sie auch von jeher gern vermieden hatte, mit Damen von hohem Range in Berührung zu gerathen.

Erziehung, Konvenienz, Etikette, richten zwischen diesen und andern Frauen eine Scheidewand auf, welche mit Grazie zu umgehen, von beiden Seiten nur sehr wenigen gegeben ist. Beim besten Willen von der Welt wissen in solchen [331] Fällen die vornehmsten Damen nur selten das juste milieu richtig zu treffen; sie thun zu viel oder zu wenig, während die Furcht, durch scheinbare Zudringlichkeit sich selbst etwas zu vergeben, die andre Partei abhält, durch Entgegenkommen auf halbem Wege sich und ihnen die ersten Schritte zu erleichtern.

Bei allen ihren übrigen trefflichen und liebenswürdigen Eigenschaften, machte Frau Karoline in dieser Hinsicht keine Ausnahme von der allgemeinen Regel. Ohnehin hatte sie entweder nie geduldig warten gelernt, oder doch aus Mangel an Übung es wieder vergessen, und so war sie denn jetzt in einen Zustand von Mißmuth und Reizbarkeit hinein gerathen, der mit ihrem eigentlichen Wesen im vollkommensten Widerspruche stand.

Nur für die liebe Langeweile, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt, fing sie an von der Prinzessin, die so lange auf sich warten ließ, [332] ein durchaus nicht schmeichelhaftes Bild sich zusammenzusetzen, und war eben im Begriffe diesem die letzte Vollendung zu geben, als die lang Erwartete am Ende doch unerwartet vor ihr stand, ihre Hände ergriff, sie neben sich auf's Sopha zog, ihr langes Ausbleiben mit dem plötzlichen Unwohlsein ihrer Mutter entschuldigte, und zugleich um Verzeihung bat, daß sie hier ihren Besuch annähme, und nicht in ihr eignes Zimmer sie führe.

Hier darf ich erwarten ungestört mit Ihnen zu bleiben: sprach sie: und da ich jeden Augenblick wieder zu meiner Mutter abgerufen werden kann, so ist es mein sehr verzeihlicher Wunsch ohne Aufschub zu erfahren, auf welche Weise ich hoffen darf Ihnen nützlich zu werden. Ich will nicht erwähnen, daß ich seit längerer Zeit als Künstlerin Sie ehre und bewundere; das ist etwas worin sich wenigstens die halbe Stadt Petersburg mit mir theilt; aber unser beider [333] Freund, Richard Wood, hat sie meinem Herzen weit näher gebracht, als Ihre Kunst es könnte, so bewundernswürdig sie auch ist; und ich freue mich der Gelegenheit Ihnen dieses sagen, und hoffentlich auch beweisen zu können.

Wie Frühlingsschnee vor der warmen Sonne, wie Spreu vor dem Winde, kurz wie alles leicht Vergängliche in der Welt, schwand vor Helenens hinreißender Liebenswürdigkeit nicht nur jede unbehagliche Empfindung aus Karolinens leicht beweglichem Gemüthe, sondern sie empfand auch bereuend das Unrecht welches sie, wenn gleich nur in Gedanken, ihr angethan und hätte es ihr laut abbitten mögen, wenn dieses thunlich gewesen wäre. Wenigstens ließ sie von ihrem regen Gefühle zu einem Ergusse von Vertraulichkeit gegen die schöne Freundin ihres Freundes sich hinreißen, der bis dahin gegen eine Dame von so hohem Range ihr unmöglich gedünkt hatte. Eine Ahnung des Verhältnisses zwischen jenen beiden [334] stieg, ungeachtet seiner Unwahrscheinlichkeit, in ihr auf. Sie gestand, daß nur Sorge um Richard sie zu der Prinzessin getrieben, und helle Thränen, die sie kaum zurück zu halten vermochte, perlten dabei in den guten treuen Augen der kleinen Frau.

Auch ich habe seit vielen Tagen nichts von ihm vernommen; gesehen habe ich ihn zwar gestern früh, doch ohne ihn zu sprechen. Das darf uns aber weiter nicht beunruhigen, liebe Madame Lange: erwiederte Helena sehr weich und freundlich. Er ist Militair und die Pflichten seines Standes treten zwischen ihm und seinen Freunden oft sehr gebieterisch ein. Wie ich zufällig hörte, ist er in einem wichtigen Auftrage seines Chefs versendet.

Mein Mann suchte ihn diesen Morgen in seiner Wohnung auf; seit gestern Vormittag haben seine Diener nichts von ihm vernommen, nichts von einer Reise. Nicht den unbedeutendsten [335] Befehl haben Sie von ihm erhalten, der auf eine solche Bezug haben könnte: sprach Karoline, ihre Stimme zitterte merklich; Helena saß neben ihr, bleich wie ein Marmorbild.

Sie wissen mehr als dieß: flüsterte sie in namenloser Angst: bedenken Sie es wohl, wir wuchsen mit einander auf, er ist der Bruder meines Herzens, meiner Wahl; kann irgend ein lebendes Wesen auf Erden es besser mit ihm meinen als ich? Theure, theure Freundin meines Freundes, zögern Sie nicht, sagen Sie mir Alles! Sie haben einen Auftrag an mich, Sie sollen vielleicht auf etwas Entsetzliches mich vorbereiten; o reden Sie, sprechen Sie es aus, fürchten Sie nichts, ich ertrage alles, nur nicht diese peinlich langsam zögernde Qual!

Helena hatte anfangs Karolinens Hände bittend ergriffen, dann ihren Nacken umschlungen, dann sie an sich gezogen, fest, immer fester; Karoline fühlte das ängstlich pochende Herz an ihrem [336] Busen schlagen, sah dicht vor sich das schöne bleiche Gesicht, das Auge voll heißer Liebesbitte, und war ohne weitere Erklärung die Vertraute des reinsten innigsten Liebesbundes geworden.

Und so entsagte sie fortan jeder Bedenklichkeit, die sie bis dahin noch abgehalten, alles was sie auf dem Herzen hatte, frei und offen auszusprechen. Umständlich, und doch für ihre Zuhörerin noch immer nicht umständlich genug, trug sie jedes Wort ihrer letzten Unterredung mit Richard ihr vor, beschrieb sein seltsames ungewöhnliches Benehmen, wiederholte die fast verworrenen Reden, die ihm, gleichsam unwillkürlich entschlüpften. Helena hing indessen an ihren Lippen, an ihren Augen, als gälte es dem Glück ihres ganzen Lebens, daß kein Ton, kein Blick ihrer Aufmerksamkeit entginge.

Und so verließ er uns, indem er die Besorgung seiner beiden Briefe uns nochmals dringend [337] empfahl: endete Karoline: wohin er sich gewendet, ist uns unmöglich zu errathen. Sorge um ihn, die seltsamen Gerüchte, welche dumpf und beängstigend die Stadt heute durchziehen, vereint mit der Verhaftung des Mannes, an welchen einer dieser Briefe gerichtet ist, haben uns bewogen die Erfüllung seines Auftrages um einen Tag zu beschleunigen. Seit ich Sie gesehen, bin ich über diesen Schritt beruhigt, und lege alles vertrauensvoll in Ihre Hände, setzte sie noch hinzu, indem sie die beiden Briefe nebst dem Zettel, in welchem Richard an Helena sie gewiesen, ihr übergab.

Wie jetzt alles steht, haben Sie das Beste erwählt: erwiederte Helena, schwer aufathmend, mit erzwungener Fassung: außerordentliche Ereignisse scheinen wirklich im Anzuge zu sein, und was uns Allen bevorsteht, kann Niemand vorhersehen. Doch kommt mein Vater hoffentlich noch heute; dann lege ich gleich, in der ersten [338] Stunde, alles in seine Hände, und Sie und ich sind jeder Verantwortlichkeit enthoben, was in solchen Fällen für unser Geschlecht immer das Rathsamste ist: setzte sie mit einem Lächeln hinzu, das wie ein Sonnenstrahl in das Herz ihrer Zuhörerin drang.

Zoë erschien in diesem Augenblicke um zu melden, daß die Fürstin Eudoxia ihre Tochter mit Ungeduld erwarte.

Sie hören es, liebe Madame Lange, andere Pflichten rufen mich jetzt, aber wir sehen uns wieder, und das bald. Sie haben Ihr Vertrauen an keine Unwürdige verschwendet, und vielleicht zugleich einen tieferen Blick in mein Herz gethan als – erröthend stockte sie, umarmte ihre neue Freundin, und eilte davon, von weit schwereren Vorgefühlen gedrückt, als sie es sich selbst gestehen mochte.


[339] Längst schon war Helena, ungeachtet ihrer großen Jugend, in die Geheimnisse ihres Vaters eingeweiht gewesen; beide wußten nicht genau, wann oder wie sie dazu gelangte: es war eben ganz allmälig, gleichsam von selbst dazu gekommen.

Fürst Andreas war von seinen patriotischen Ideen für die Verbesserung der allgemeinen Wohlfahrt zu erfüllt, um im engeren Kreise seiner Familie und vertrauten Freunde sie nicht vorzugsweise zum Gegenstande der Unterhaltung zu wählen; und die warme Theilnahme, mit welcher seine jüngste Tochter ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandte, während er oft den Anflug von Langerweile sich nicht ganz verbergen konnte, welcher bei seinem etwas breit gedehnten Vortrage des oftmals Gehörten den übrigen Theil seiner Zuhörer zuweilen überkam, erhob die Kleine gar bald zum Hauptgegenstande seiner väterlichen Liebe und Sorgfalt.

[340] Mit Entzücken sah er die junge Pflanze unter seinem Schutze an ihm emporranken, immer herrlicher sich entfalten, immer inniger mit seinem eigentlichsten Wesen sich verzweigen. Von ihm geleitet, entwickelte Helena nicht nur die edelsten und liebenswürdigsten Eigenschaften ihres eignen Geschlechts, sondern auch solche, die von demselben, in diesem hohen Grade kaum erwartet werden: Muth und Geistesgegenwart in dringender Gefahr, unbestechliche Urtheilskraft unverbrüchliche Verschwiegenheit, und jenes tiefe ritterliche Gefühl für Ehre, das den Mann zum Helden erhebt.

Helena, durch Lehre und Beispiel ihrer Mutter darin bestärkt, sah ihrerseits von ihrer frühesten Kindheit an in ihrem Vater das Bild der segnenden Gottheit auf Erden. Mit jener kindlichen Pietät, die einen Grundzug im Charakter ihres Volks ausmacht, hing sie an ihren beiden Eltern, in inniger Verehrung und Liebe, und [341] hätte den kleinsten Zweifel an das Urtheil, an den edlen hohen Sinn ihres Vaters, sich nie und nimmermehr verziehen.

Nie kam es ihr in den Sinn mehr erfahren zu wollen, als er ihr mitzutheilen für gut fand; daher kannte sie von den Geheimnissen des Bundes nur die glänzende Seite, die mit des Fürsten Plänen und Unternehmungen in Zusammenhang stand, und mochte nicht mehr davon wissen, wenn gleich mancher Argwohn der Kehrseite desselben sich zuweilen ihr aufdrängen wollte. Sie bauete mit Zuversicht auf ihren Vater, der wohl wisse was recht und erlaubt sei; er aber trug eine Art religiöser Scheu davor, ihre reine Phantasie mit Bildern von Greuelthaten zu beflecken, deren Ausführung abzuwenden, stets in seiner Macht stehen würde, wie er wähnte.

Im festen Vertrauen auf die unbegrenzte Liebe, den unbedingten Gehorsam seiner Kinder, [342] auf die treue Anhänglichkeit seiner Gemahlin, war Fürst Andreas wenig daran gewöhnt, in ihrer Gegenwart sich den mindesten Zwang in der Unterhaltung anzuthun, oder seine Worte abzuwägen; und so hatte denn die Fürstin ihrerseits aus halbverstandnen Äußerungen sich manches zusammengesetzt. Das Einzige, worüber sie zu einer Art von Gewißheit gelangte, war das Dasein eines geheimen großen Vereins, an dessen Spitze ihr Gemahl mit allen seinen wohlthätigen Plänen und Projecten sich gestellt hatte.

Sie sah voll inneren Jubels dem Tage sehnsüchtig entgegen, an welchem der geliebte Mann wie ein gottbegabter Wunderthäter auftreten und die Schaaren seiner Widersacher, an welchen es ihm, wie sie wußte, nicht fehlte, vor sich niederschlagen würde. Die vor einigen Tagen in Mitchells Begleitung angetretene Reise schien ihr gleichsam nur eine letzte Vorrichtung, eine Art Vorspiel zu der großen Haupt- und Staatsaction [343] zu sein, deren Entwicklung sie bei des Fürsten Heimkehr, in den nächsten Tagen, stolz und erwartungsvoll entgegen sah.

Die Sonne stand schon ziemlich hoch, als Eudoxia eines Morgens, zwischen Schlaf und Wachen, den ihrem Gemahl bevorstehenden Triumph auf das glänzendste sich ausmalte, bis eine Schreckensgestalt plötzlich ihre beglückenden Träume verscheuchte. Die noch immer halbkranke Amme war es, die gefolgt von dem Heere von Kammerfrauen zu ihr eindrang; mit verzerrtem Antlitz, zitternd, bis zum Unkenntlichen entstellt, trug sie ihr in heulendem Tone die wunderlichsten Gerüchte vor, die bis in ihr abgelegnes Zimmer so eben gedrungen waren. Von Verhaftungen, von ausgebrochnen Unruhen in der Stadt, von revolutionairen Bewegungen war die Rede. Die Namen des Fürsten, vieler Großen, und auch Richard Wood wurden bei dem Allen genannt. Einzelne Unbekannte, in Hut [344] und Mantel tief Verhüllte, sollten beim Portier eifrig und ängstlich nach des Fürsten Heimkehr sich erkundigt haben.

Die Fürstin starrte die Unglücksverkünderin an, begriff aus ihren verworrenen und verwirrenden Reden nur, daß etwas höchst Unglückliches sich zugetragen habe, und sank vom Schrecken übermannt in Ohnmacht hin. Die Kammerfrauen, die sich der Amme nach, hinter den Vorhängen des Alkovens zusammengedrängt hatten, brachen in überlautes Wehklagen aus. Die Verwirrung wurde groß, sie wäre noch größer geworden; doch Zoë, die von jugendlicher Neugier getrieben, überall, wo etwas Ungewöhnliches vorging, zugegen war, hatte glücklicher Weise Besinnung genug, ihre Gebieterin herbeizurufen. Helena erschien; und obgleich selbst innerlich beunruhigt, behielt sie doch Fassung genug dieses zu verbergen, und dem unnöthigen Gelärme zu steuern. Die Fürstin erholte sich aus ihrer tiefen [345] Ohnmacht und gelangte, unter dem tröstlichen Zureden ihrer Tochter, bald wieder zu einer Art von Beruhigung, die nicht wieder unterbrochen wurde, weil Helena Sorge trug, alles was diese stören konnte, von ihr fern zu halten.

Es fehlte nicht daran; die Nachricht von dem plötzlichen Erkranken der Fürstin hatte unter ihren näheren Bekannten sich schnell verbreitet. Ein eben nicht gefahrdrohendes Krankenbett ist in der höheren Societät, besonders an solchen Tagen wie dieses einer war, der willkommenste Versammlungsort; von allen Seiten strömten Besuche herbei, welche in dem an das Schlafgemach der Fürstin anstoßenden Zimmer von Helena empfangen wurden. Die eigentliche Absicht derselben war, ihrer Herzensbangigkeit in Vermuthungen Luft zu machen, ihre Neuigkeiten gegen andre einzutauschen, und nebenbei in diesem Hause sich ein wenig auf Kundschaft zu [346] legen, dessen abwesender Gebieter die allgemeine Aufmerksamkeit, wenn gleich ganz im Stillen, nicht wenig beschäftigte.

Die Conversation wurde sehr lebhaft betrieben, ohne ein befriedigendes Resultat zu gewähren; einige einzelne, meistens im Militair vorgefallene Verhaftungen ausgenommen, deren Veranlassung noch nicht bekannt worden, war eben keine besondere Thatsache vorhanden. Im Äußern herrschte überall scheinbare Ruhe; wie es im Innern mancher Brust damit stand, sah nur Gott! Schwer und düster hing der Himmel gleich einem Leichentuche über der glanzerfüllten Kaiserstadt; Jeder empfand die bange, beängstende Stille vor dem Ausbruche eines alles zerschmetternden Orkans; auch Helena! sie hatte an diesem Morgen Namen gehört, Anspielungen, Vermuthungen vernommen, welche die Sehnsucht nach der Rückkehr ihres Vaters beinahe bis zum Unerträglichen steigerten, und mit bedrückenden Vorahnungen sie erfüllten.

[347] Nie zuvor in diesem Grade hatte sie die Sehnsucht nach einer theilnehmenden Seele empfunden, nie unter den, nur für das Salonleben erzogenen jungen Damen ihres Standes, eine solche gefunden oder gesucht. Ihr Vater, ihr Bruder Eugen und Richard erfüllten allein ihr Gemüth, alle Drei waren jetzt fern, und sie mußte als eine wahre Gunst eines freundlichen Geschickes es annehmen, daß es gerade heute, wo sie zum erstenmal so ganz vereinsamt sich fühlte, Frau Karoline ihr zuführte.


Auch Richard lag indessen nicht auf Rosen. In ununterbrochener Einsamkeit der quälendsten Ungeduld Preis gegeben, brachte er eine Reihe von Tagen zu, die ihm zu Wochen sich ausdehnten. Täglich hielt er um eine Audienz beim Minister an, die unter dem Vorwande, über [348] keine Minute frei disponiren zu können, ihm eben so oft abgeschlagen wurde.

Ermahnungen, sich nicht zu beunruhigen, Versicherungen, daß alles nach Wunsch gehe, sollten jedesmal den widerwärtigen Eindruck dieser sich stets wiederholenden Antworten mildern, doch sie verfehlten gänzlich ihren Zweck. Empört über die Behandlung des Ministers, die er hinterlistig nannte, hatte Richard allen Glauben an ihn verloren; von allem was außerhalb der vier Wände, die ihn einschlossen, vorging, gelangte kein Laut bis zu ihm; und so brütete er ganz allein über sich selbst und tausend Möglichkeiten, eine immer grausiger als die andre, besonders wenn er an das Schicksal jener beiden Briefe dachte, die er dem Kapellmeister Lange übergeben hatte.

Es waren schwere, trübe Tage für ihn, aber sie zogen auch vorüber, wie alles Leid und alles Glück unsers Lebens.

[349] Der an den Kaiser abgefertigte Courier kehrte zurück, und der Minister säumte nicht dem Gefangenen seine Freilassung, nebst des Monarchen Genehmigung der von demselben vorgeschlagenen Bedingung selbst zu verkünden. In den schmeichelhaftesten, seiner Versicherung nach vom Kaiser selbst gewählten Ausdrücken, sprach er zugleich den Dank desselben für den ihm und dem Reiche geleisteten großen Dienst aus, und Richard hatte von dem Augenblicke an alles vergessen, was er in diesen Tagen gelitten, allen Groll, den er gegen den Minister im Herzen getragen.

Indessen war es doch wohl nur Höflichkeit, die ihn bewog, seinen während seiner Gefangenschaft oft sehr deutlich geäußerten Unmuth zu entschuldigen zu suchen, denn in seinem Gewissen war er darüber sehr ruhig; er glaubte jetzt, von jeder ferneren Verpflichtung befreit, sich endlich entfernen zu dürfen, und wurde zu seiner [350] nicht geringen Verwunderung abermals daran verhindert.

Diesesmal ist es auf keine zweite Gefangenschaft abgesehen, wie Sie meine harmlose Verlängerung Ihres Besuches ungerecht genug zu nennen beliebten; sprach der Fürst ungemein freundlich: aber glauben Sie denn, daß unser Kaiser gewohnt sei, ihm geleistete, wichtige Dienste, gleich dem Ihrigen, mit bloßen kahlen Worten zu belohnen?

Und bin ich durch des Kaisers Anerkennung und die Bewilligung meiner Bitte nicht schon überschwänglich belohnt? rief Richard.

Was Sie für den geliebten Monarchen und unser Vaterland gethan, ist von weit bedeutenderen Folgen, als mitten in blutig-entscheidender Schlacht das Erstürmen einer feindlichen Batterie; und so will er es auch betrachtet wissen, erwiederte der Minister.

Und mit Erstaunen vernahm Richard jetzt, [351] wie der Kaiser aus eigner Huld und Macht, mit Übergehung aller dazwischen liegenden Grade, ihn zum Obrist erhoben, und ihn zugleich mit einer namhaften Anzahl Seelen dotirt habe, welche ihn in den Stand setzen konnten, auf seinem dermaligen Range angemessene Weise zu leben.

So war er denn gleichsam mit einem einzigen Wurfe dem Ziele all seines Hoffens nahe gebracht; denn bekanntlich dient in Rußland militairischer Rang zum Maaßstabe und geht jedem andern vor. Ihm schwindelte, indem diese Überzeugung sich ihm aufdrängte; ein paar Worte des Ministers, die auf sein jetzt so günstig sich gestaltendes Verhältniß zu dem Hause des Fürsten Andreas hinzudeuten schienen, setzten ihn vollends außer Fassung. Kaum vermochte er ein paar übel zusammengestellte Dankesworte aufzubringen; doch sein ihm wirklich wohlwollender Gönner verargte ihm dies weiter nicht, indem [352] er der ihn überwältigenden Freude es zuschrieb, und entließ ihn freundlich.

Ach aber diese Freude fand nicht lauter und rein Eingang in seine Brust! Sein Herz zog wie zu einem eisigen Klumpen sich zusammen, als er mit einem Gefühl von Entwürdigung, wie er nie zuvor es gekannt, seine Wohnung wieder betrat. Was war in den Augen der Welt aus ihm geworden, seit er diese Schwelle zum letztenmale überschritten! Meineidig, wortbrüchig, Verräther an Tausenden, die ihn Bruder genannt, mußte er in den Augen der Meisten dastehen: das war die dunkle Seite seiner That.

Daß er in seiner Lage so und nicht anders hätte handeln können, ohne ein fluchbeladener Verbrecher zu werden; daß ein unter solchen Umständen ihm abgenommener Eid jede bindende Kraft verlor; daß es pflichtgemäßer wäre ihn zu brechen, als ihn zu halten, würde seiner Überzeugung nach jeder Unparteiische und zuletzt auch [353] die allgemeine Stimme ihm zugestanden haben, hätte er nur den Verdacht des Eigennutzes von sich fern halten können, wäre es nur möglich gewesen, diese wahrhaft kaiserliche Belohnung auszuschlagen, die zu erhalten er nie gedacht, und die dennoch von so unbeschreiblich hoher Bedeutung für seine ganze Zukunft, für das höchste Glück seines Lebens werden mußte!

Schien es ihm doch sogar in seinem Unmuthe, als blicke sein alter treuer Diener mit einer Art mitleidiger Verachtung ihn an, als er Herr Obrist ihn nannte, zu seiner Standeserhöhung ihm Glück wünschte und wegen der, durch dieselbe nothwendig gewordenen neuen Uniform, seine Befehle erbat; denn die durch den Courier mitgebrachten Neuigkeiten hatten um mehrere Stunden früher sich in der Stadt verbreitet, als Richard selbst sie erfahren.

Immer noch hatte er keinen klaren Begriff von dem ausgebreiteten Umfange der Folgen dessen [354] was er gethan; er hatte Momente in denen er wünschte, sie nie zu erfahren. Niemand war um ihn, der ihm tröstend zugesprochen hätte; zu muthlos, um den Nachrichten entgegen zu gehen, welche er zu vernehmen erwarten mußte, zu ungeduldig, um sie unthätig an sich kommen zu lassen, stand er zögernd da.

Ein heller Freudenschrei dicht neben ihm riß aus diesem trübseligen Zustande ihn auf, liebende Arme umschlangen seinen Nacken, seine Kniee, Thränen und Küsse bedeckten seine Hände. Der gute kleine Kapellmeister war es, der mit seiner Freude ihn wiederzusehen, mit seinem Danke für das was er vollbracht, ihn bestürmte, und nicht von ihm abließ, bis er spät wie es war ihn bewog, nach Hause ihn zu begleiten, wo Frau Karoline nicht minder freudig bewegt als er, mit ihren guten und bösen Nachrichten, ungeduldig seiner harrte.


[355] Des Fürsten Andreas Heimkehr, ob zufällig, oder auf äußere Veranlassung, möge dahin gestellt bleiben, traf fast gleichzeitig mit Richards Freilassung und der Ankunft des Couriers von Taganrog zusammen. gleich in der ersten Stunde fand eine derselben unmittelbar folgende Zusammenkunft zwischen ihm und dem Minister Statt; sie währte lange, bis tief in die Nacht hinein, und endete mit anscheinender Zufriedenheit beider Theile.

Doch schon am folgenden Morgen gingen große Veränderungen, sowohl im Hotel des Fürsten Andreas, als in dem seines Schwiegersohns, des jungen Fürsten Konstantin vor, die auf baldiges schnelles Verlassen des bisherigen Wohnsitzes dieser beiden Familien deuteten, und zwar auf längere, anscheinend sehr lange Zeit. Gegenstände wurden eingepackt und zum Mitnehmen bereitet, die man sonst stets unberührt an ihrem Platze gelassen; seltne oder sonst sehr kostbare[356] Bücher und Handschriften aus des Fürsten Andreas Bibliothek, große Gemälde berühmter Meister, Kostbarkeiten, Kunstgegenstände aller Art; es sah beinahe aus, als sollten nur die kahlen Wände zurück bleiben.

Im strengsten Kontraste mit diesem lärmenden Treiben standen die von der fürstlichen Familie bewohnten Zimmer im Innern des Gebäudes; dort herrschte ängstliche Stille, nur leises Geflüster war hörbar, und lautloses Umherschleichen wie auf Socken. Der Fürst saß in seinem Kabinet, vertieft in Geschäften; ließ nur diejenigen seiner Untergebenen vor sich, mit denen er dergleichen abzuthun hatte, und nahm keinen andern Besuch an. Mitchell im Vorzimmer desselben, wie angemauert hinter seinem Schreibepulte, umgeben mit ellenlangen Rechnungen, Courszetteln, Preiscouranten, schien dort als Schildwache angestellt, und that über alle Maaßen wichtig.

[357] Die Fürstin Eudoxia hatte einen Rückfall ihrer Krankheit erlitten, auch sie ließ alle Besuche sich verbitten, Helena durfte weder bei Tag noch bei Nacht ihr von der Seite weichen.

Gleich allen Übrigen wurde auch Richard abgewiesen, seine Verzweiflung war grenzenlos. Frau Karoline wollte es unternehmen, ihm Nachricht von Helena zu bringen, aber auch ihr wurde, obgleich auf sehr höfliche Weise, der Zutritt für jetzt verweigert; selbst die kleine Zoë, an die sie, um doch nur etwas zu erfahren, sich wenden wollte, war nicht zugänglich; das arme Kind durfte keinen Augenblick von dem in der Nähe ihrer Gebieterin ihr angewiesenen Posten sich entfernen.

Bis zum grauenden Morgen wanderte Richard die Nacht hindurch um die Mauern des Palastes herum, der einst auch seine Wohnung gewesen, wie ein unseliger Geist die Stätte umwandelt, wo er seine Schätze vergraben; und [358] blickte hinauf zu dem vom Schimmer einer Lampe matt erleuchteten Fenster, hinter welchem Helena am Krankenbette ihrer Mutter wachte.

Später eilte er seiner Wohnung zu; auch dort fand er weder die körperliche noch die geistige Ruhe, deren er so nöthig bedurfte. Der Wunsch zu erfahren, was, wie er wohl sah, Freunde und Bekannte ihm zu verhehlen strebten, quälte ihn unsäglich: man ging nicht wahr, nicht offen mit ihm um, das merkte er deutlich. Die ihm wohl wollten, verschwiegen ihm aus Schonung, was er am Ende doch erfahren mußte, und seiner Ansicht nach je eher je besser; die Andern machten sich davon, sobald sie die Neugierde befriedigt hatten ihn zu sehen, nun er eine gewisse Notabilität erlangt hatte, und wollten erst abwarten, auf welchem Standpunkte er festen Fuß fassen würde, ehe sie über ihr künftiges Betragen gegen ihn sich entschieden.

Was hilft mir die Meinung, das Lob oder [359] der Tadel des Einzelnen; das Urtheil des Volkes, der Menge, ist hier das wahre ächte Gottesgericht, von welchem kein Appelliren gilt; rief Richard, indem er in einen ziemlich unscheinbaren Überrock sich warf, und, wie er früher in ähnlicher Absicht, wenn gleich auf andere Veranlassung, zuweilen gethan, einen entfernteren Theil der ungeheuern Stadt aufsuchte, wo er persönlich unbekannt zu sein hoffen durfte.

Es war ein schöner sonnenheller Feiertag; in Kaffee- und Weinhäusern, Billarden und Restaurationen, kurz an allen öffentlichen Orten war eine zahllose Menge, meistens aus den mittleren und diesen zunächst untergeordneten Ständen versammelt, überall hörte er die neuesten Neuigkeiten des Tages besprechen. Noch fielen täglich in den angesehensten und beliebtesten Familien neue Verhaftungen vor, von denen er durch seine Freunde nichts erfahren; hier erst, jetzt erst konnte er den ganzen Umfang des [360] Elendes übersehen, das diese Unglücklichen über sich selbst gebracht! Sie hatten zu Andrer Verderben die Mine gegraben, die jetzt sie und ihr Glück in die Luft sprengte. Sie waren unglücklich; das war für die, welche nicht weiter sahen, genug; ihre große Schuld blieb unsichtbar. Das oberflächliche, nicht tiefer blickende Mitleid sah nur ihr Unglück, und ließ, was wohlverdiente Strafe war, nur als solches erscheinen.

Bei jeder Gelegenheit hörte Richard seine That auf tausendfache Weise erzählen, kommentiren, beurtheilen, selten gerecht anerkennen. Er hörte Beweggründe derselben sich unterschieben, an die er nie gedacht: Ehrgeiz, Eigennutz, Sucht sich auszuzeichnen, sich einen Namen zu machen.

Mehrere ältere und jüngere Männer, Krämer, Handwerker, saßen in einer Ecke; sie steckten kannegießernd die weisen Häupter zusammen, und sprachen überlaut genug, um weiter als an ihrem Tische deutlich vernommen zu werden.

[361] Ich sage es Euch: sprach ein alter Mann, in welchem Richard einen Schreinermeister erkannte, der früher beim Fürsten Andreas einiges gearbeitet hatte: ich sage es Euch, rief der Alte, und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten: mit dem schwärzesten Undanke hat er der fürstlichen Familie gelohnt. Ich weiß es genau, denn ich ging damals dort viel aus und ein. Als einen kleinen verlassenen englischen Bettelbuben hat der Fürst Andreas ihn aufgenommen, aus Mitleid; hat mit seinen Kindern ihn auferziehen lassen, und nun lohnt er ihnen so!

Aus Rache, aus purer Rache; aber sollte man es glauben, daß die Frechheit so weit gehen kann! fiel sein Nachbar dem Schreinermeister ein: hat der neugebackene Herr Obrist sich es doch einfallen lassen, seine Augen bis zu der Prinzessin Tochter des Fürsten Andreas zu erheben! Und dafür, daß sie den Freiersmann [362] nach Verdienst abgewiesen haben, muß jetzt der Fürst mit den Seinigen aus Petersburg verbannt werden, und die jungen Prinzen – –

Richard hielt es nicht länger aus; – Gott steh' uns bei! ich glaube das war er selbst, sprach leise der alte Schreiner, und schlug ein Kreuz, indem er erbleichend dem Hinausstürmenden nachsah.


Ohne weiteres Besinnen, entschlossen nicht von der Stelle zu weichen, bis er beim Fürsten Andreas Zutritt erlangt, eilte Richard vorwärts. Am Eingange des Hotels hemmte Entsetzen seine Schritte, und die Kniee wollten unter ihm zusammenbrechen. Ein langer, von vielen Geistlichen begleiteter Leichenzug, bewegte sich langsamfeierlich aus dem Innern des Palastes hinaus, gefolgt von fast Allen die zum Hause gehörten, vom ersten Secretair des Fürsten an, bis hinab zum letzten Stallbuben.

[363] War es Wirklichkeit? war es ein der Hölle entsprossenes Traumgesicht? seiner selbst kaum sich bewußt, wollte Richard zum Sarge hin, fühlte aber von einer eiskalten Hand sich zurückgezogen und festgehalten.

Keinen Schritt weiter! rief dicht hinter ihm eine tiefe ernste Stimme. Ein neunzigjähriger Greis sprach drohend diese Worte: Richard kannte ihn wohl, es war der älteste Diener des Hauses, der den jetzigen Gebieter desselben noch auf den Armen getragen, unter dessen schonender Pflege er jetzt das Ende seiner Tage hier erwartete.

Störe nicht die Ruhe der Todten, Leichen bluten von Neuem, wenn der Mörder ihnen naht: raunte der Alte zürnend ihm zu; es sah seltsam aus, wie lebhaft das dunkle zornflammende Auge unter den schneeweißen buschigen Augenbrauen hervor blitzte; kalte Schauer rieselten Richard durch Mark und Gebein. Du [364] darfst nicht weiter, und wärst Du Feldherr geworden, statt Obrist: rief der Alte abermals, eine unwillkürliche Bewegung Richards mißverstehend, und faßte ihn wieder.

Sprache und Athem versagten diesem vor Schreck und Grausen: er wollte sprechen, und konnte nur die Lippen bewegen. Der Alte sah dies, er war schwerhörig geworden, und glaubte zu verstehen was Richard seiner Meinung nach fragte.

Elisabetha Christianawna: sprach er feierlich; sie ist auch Deine Wohlthäterin gewesen, von Deiner Jugend an, und ist jetzt Dein erstes Opfer. Was thut's? andre werden folgen; am liebsten ich, denn ich bin es müde in einer Welt zu leben, wo solche Dinge geschehen. Die treue Amme sank vom Schlage getroffen zu den Füßen ihrer Herrin todt hin, als sie den Fall unsers Hauses unvorbereitet vernahm.

Jetzt riß Richard gewaltsam von dem Alten [365] sich los, der Leichenzug hatte sich indessen vorwärts bewegt, in der dadurch verödeten Vorhalle war Niemand ihn aufzuhalten, und ungehindert eilte er die Treppe hinauf, und stand in dem ersten der Reihe von Zimmern, die zu denen des Fürsten führten, vor Helena.


Ich wußte es wohl! und nun bist Du da! rief Helena ihm entgegeneilend; ihre Wange glühte, ihr Auge strahlte in erhöhtem Feuer; etwas ungewohnt Hastiges in ihren Worten, in ihren Bewegungen, deutete auf heftige innere Aufregung. Stumm lag Richard zu ihren Füßen, umfaßte ihre Kniee, verbarg sein Gesicht in ihrem Kleide; sie schien es nicht gewahr zu werden, machte keinen Versuch ihn zum Aufstehen zu bewegen, und fuhr ungewöhnlich schnell sprechend fort:

[366] Es ist Verläumdung, Unwahrheit, Mißverstand von Seiten meines Vaters, was weiß ich! ich habe es ihm gesagt, aber er will es nicht glauben. Und doch ist es so; wir können sterben, Richard, aber nicht ehrlos handeln. Du so wenig als ich. Du bist nicht zum Obrist erhoben, nicht mit Gold und Gütern für einen Verrath belohnt der – ich könnte darüber lachen, daß man Dir so etwas zutraut, wären die Folgen davon nur nicht so ernsthaft. Aber wie ist es nur möglich dergleichen zu ersinnen? Wie böse ist die Welt geworden! wie lügen die Menschen! und weßhalb?

Du sprichst noch immer kein Wort zu mir? fing sie nach kurzem Schweigen wieder an. Ich sehe es wohl, Du bist empört, daß selbst mein Vater – und Du bist's mit Recht. Ich aber, mein Richard, ich blieb immer Deiner gewiß, ich habe nie an Dir gezweifelt, nie, keinen Augenblick. Doch sage nur einmal: Helena, ich[367] that es nicht! nur einmal sprich es aus, das Einzige erbitte ich mir von Dir.

Denke nur nicht, daß ich, um im Glauben an Dich festzuhalten, dieser Versicherung bedarf; ich weiß es ja, wir beide sind nicht zu erkaufen, nicht um des Kaisers Thron, nicht um die Welt! fuhr sie, nach und nach immer besorgter, immer ängstlicher fort: sage es nur, weil ich es wünsche, aus Liebe zu mir, sprich es aus, mein Richard, bat sie, und versuchte mit zitternden Händen, mit nach Athem ringender Brust, ihn aus seiner knieenden Stellung zu bringen, und in's Auge ihm zu sehn.

Sage, nur einmal sage: ich that es nicht! nur die drei Worte, sprich sie aus: Richard! Geliebter! flehte sie nochmals mit ängstlich ersterbender Stimme und umfaßte ihn, und blickte ihn an, als wolle ihr Leben in dieser Bitte sich auflösen.

Tiefe Stille erfolgte. Helenas kleine zarten [368] Hände vermochten nicht länger ihn aufrecht zu erhalten, er sank wieder zu ihren Füßen. Sie kniete neben ihm nieder, sie umschlang seinen Nacken, sie lehnte ihr Köpfchen an seine Brust, sie hauchte leise, leise: o sage, ich that es nicht!

Er fühlte den warmen Lebensathem an seiner Wange wehen. Er sank tiefer, seine Stirne berührte den Boden, ein Seufzer wie Todesröcheln und nun die mühsam ausgestoßnen Worte: ich kann nicht, was Du verlangst!

Helena wankte einen Augenblick, ihre Farbe wechselte, ihr Athem stockte, dann erhob sie sich von den Knieen. Bleich wie ein Marmorbild reichte sie ihm die Hand, um ihn aufstehen zu heißen, und er gehorchte ihrem Winke.

Warum bleibst Du nicht wahr gegen mich? warum verläumdest Du Dich selbst? fragte sie feierlich ernst. Welche mißverstanden-edelmüthige Überspannung, denn ein andrer Grund Deines [369] seltsamen Beginnens ist unmöglich, verleitet Dich dies sogar gegen mich zu versuchen? Besinne Dich, Richard, komme wieder zu Dir selbst, erinnere Dich, daß der vollständigste Gegenbeweis Deiner Selbstanklage in meinen Händen ist; sieh her!

Richard blickte zu ihr auf; sie zeigte jene beiden Briefe, die er dem Kapellmeister zur Besorgung übergeben, erbrochen ihm vor.

In Abwesenheit meines Vaters öffnete ich sie an dem dazu bestimmten Donnerstage, wie Du selbst es angeordnet hattest, sprach Helena sehr fest und bestimmt. Hier zuerst diese zwei Worte an Pestel: »Verrath durch Mayboroda und Rostowzoff. Eile, morgen wäre es zu spät!« und nun diese Zeile an meinen Vater: »Das Unheil bricht los, Tod und Verderben rund um uns her. Schutz dem geheiligten Leben unsers Kaisers!« Und warum, sprich, warum willst Du auf Dich nehmen, was jene beiden mir völlig [370] Unbekannten verübten? Hast Du meiner denn so ganz vergessen können? fragte sie milder, beinahe lächelnd.

Richard hatte indessen jene Stimmung wieder gefunden, die damals auf dem Gange zum Minister ihm Kraft gab, das Schwerste zu vollbringen. Mit dem vollsten Ausdrucke innigster Liebe faßte er Helenas Hände und drückte sie an seine Brust. Höre mich Geliebte, bat er, höre mich bis an's Ende. Versprich mir mich nicht zu unterbrechen, wenn mein Geständniß Dir räthselhaft erscheint. Vertraue mir, wer hat gerechtere Ansprüche an Dein Vertrauen als ich? Bist Du nicht mein? Bin ich nicht Dein? darum glaube mir, glaube fest, das Räthsel wird zu Deiner Zufriedenheit sich lösen.

Ich glaube Dir! antwortete Helena eifrig und gespannt.

Was Mayboroda und Rostowzoff, zum Untergange Aller und zur eignen Sicherheit, aus [371] persönlicher Feigheit vollbringen wollten, Helena, Geliebteste, ich mußte es hindern – ich konnte dieses nur indem ich ihnen zuvor kam – nur einen Augenblick ertrage das Geständniß, daß ich es selbst gethan! Alles soll sogleich Dir deutlich werden, und Dich damit versöhnen.

Nein, nein, nein: rief Helena, muthe mir nicht Unmögliches zu! dies zu glauben ist unmöglich: ich verstehe Dich wahrscheinlich nicht, drücke deutlicher Dich aus, gewiß liegt hier ein Mißverstand zum Grunde, gewiß versteh' ich es nicht wie Du es meinst.

Helena, ich vollbrachte einige Tage früher als sie es konnten, nach schwerem Kampfe mit mir selbst, was jene beabsichtigten. Ich mußte es, nachdem der Zufall mir ihr Geheimniß entdeckt hatte; für Dich, für Deinen Vater, für den Kaiser und unser Land wagte ich es, da keine Aussicht zur Rettung vor allgemeinem Untergange sich mir zeigte.

[372] Und schriebst auch diese Zeilen? fragte Helena, fast unhörbar, aus schwer beklommener Brust.

Ich schrieb sie, und gab –

Nein, nein, nein! das kann nicht sein: rief abermals Helena.

Geliebteste, muß ich an Dein Versprechen, bis an's Ende mich anzuhören, Dich erinnern? bat Richard, und fuhr dann fort: Voraus zu sehen, welche Wendung meine Audienz beim Minister nehmen würde, war unmöglich. Um in jedem Falle, wenn ich etwa ganz unthätig gemacht würde, nicht Alles dem Zufalle zu überlassen, um doch so viel an mir lag dem größten Unheil vorzubauen, gab ich auf dem Wege zum Minister –

Falsch! zweizüngig! rief Helena verzweifelnd.

Nicht falsch, nicht zweizüngig, nur vorsichtig: erwiederte Richard.

Falschheit und Vorsicht gehen immer zusammen, erwiederte Helena.

[373] Richard schwieg, schmerzlich verletzt: sie sah es und reichte, gleichsam versöhnend, ihm die Hand. Er drückte sie an seine Lippen, an sein Herz. Beide standen schweigend, mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, neben einander da.

Aber Du bist nicht zum Obrist erhoben, bist nicht zum Lohn Deiner That vom Kaiser reich dotirt? fing Helena mit peinlicher Lebhaftigkeit wieder an. Nein, das bist Du nicht! Aber sage mir, daß Du es nicht bist, versichre mich, daß Niemand auf Erden sagen, oder denken, oder auch nur von fern argwöhnen kann, Du seist zum Meineid, zum Verrath erkauft! bat sie mit dem weichsten Tone schmeichelnder Überredung.

Meine Helena, flüsterte Richard auf ihre Hand gebeugt, ich bin wirklich durch des Kaisers Gnade reich beschenkt, bin zum Obrist plötzlich gestiegen, zu meinem höchsten Erstaunen, ohne mein Zuthun, wider mein Erwarten, ich könnte sogar sagen, gegen meinen Wunsch.

[374] Helena hörte ihn schon lange nicht mehr. Gleich nach den ersten Worten, die er gesprochen, stieß sie einen lauten Schrei aus und verbarg vernichtet, aber nicht ohnmächtig, ihr Gesicht in die Kissen des Diwans.

Helenas Vater trat in diesem Augenblicke in das Zimmer. Der Jammerruf seiner Tochter war bis zu ihm in das Innre seines abgelegenen Arbeits-Kabinets gedrungen, und aufgeschreckt eilte er ihr zu Hilfe, an dem verzweifelnden Richard vorüber, wie es schien, ohne die Gegenwart desselben gewahr zu werden. Mit unbeschreiblicher Liebe nahm er seine Tochter in die Arme, indem er zu ihr auf den Diwan sich setzte, nannte sie bei den süßesten Schmeichelnamen, wie nur die zärtlichste Vaterliebe sie ersinnen kann, und fuhr, ohne ihre Frauen zur Hilfe herbei zu rufen, in seinen Bemühungen sie wieder zu sich selbst zu bringen fort, bis Farbe und Lebenswärme ihr wiederkehrten.

[375] Mein Vater! mein lieber, lieber Vater! o bleibe Du bei Deinem ganz verarmten Kinde; mein Leben ist noch so jung, ach, und es war so reich! klagte Helena ganz leise, und brach dann, wohl zum erstenmal seit ihrer Kinderzeit, in seinem Arme, an seine Brust geschmiegt, laut schluchzend in einen Strom von Thränen aus.

Sie flossen lange und unaufhaltsam; der Fürst erkannte die wohlthätige Erleichterung, die sie seiner Tochter in ihrem Schmerze gewährten; er trocknete sie mit sanfter Hand, ohne sie hemmen zu wollen, bemühte sich Helena eine bequemere Stellung auf ihrem Diwan zu geben, stand dann auf, und ging auf Richard zu, der bei seiner Annäherung nicht trotzig, aber auch nicht wie ein Schuldbewußter, das von Schmerz umdunkelte Auge zu ihm erhob.

Viel Zeit ist verflossen, und gar vieles ist anders geworden, Herr Obrist, seit wir uns nicht [376] sahen: sprach der Fürst vornehm kalt, und mit sichtbar erzwungener Fassung.

Mein gnädigster Herr, erwiederte Richard tief bewegt, ich wage es an jene uns noch so nah liegende Zeit Sie zu erinnern, in der ich Sie Vater nennen durfte; beim Andenken an diese beschwöre ich Sie, mir heute endlich zu gewähren, wonach ich Monate, ich könnte sagen Jahre lang gerungen, freies unparteiisches Gehör. Wollte Gott, es hätte damals Ihnen gefallen, es mir nicht zu verweigern!

Richard, wozu längst Vergangnes nochmals besprechen? Laß Zeit und Athem uns sparen; erstere ist mir besonders karg zugemessen, da ich morgen auf lange, vermuthlich auf immer Petersburg verlasse: erwiederte Fürst Andreas, indem er, absichtlich oder aus alter Gewohnheit, in seinen sonst gewöhnlichen Ton gegen Richard verfiel. Diese Folge Deiner Donquixotiade, fuhr er fort, lag wohl nicht in Deinem Plane? Auch [377] nicht daß mein Sohn Isidor seinen Platz, als Attaché bei der Gesandtschaft in **** verlieren sollte, und Dein brüderlicher Freund Eugen den von hoher Hand ihm ertheilten Rath, um seinen Abschied vom Regiment einzukommen, befolgen muß?

Daß mein jüngster Sohn Alex dies Schicksal mit ihm theilt, will ich nicht erwähnen; Alex ist noch so jung, daß diese Frist, die ihm vergönnt, in England oder Amerika für den Dienst der Marine sich vollends auszubilden, ihm nur vortheilhaft werden kann. Du siehst ich bin billig, ich suche nicht Deine Schuld zu vergrößern.

O warum mußte ich, von geheimnißvollem Dunkel umgeben, auf den schmalen, zwischen Abgründen hinlaufenden Pfad hinausgestoßen werden! rathlos! verlassen! ohne eine leitende Hand, die mir zum Führer dienen konnte! seufzte Richard.

Dieses Warum kann mit sehr wenigen Worten [378] Dir gelöst werden; erwiederte der Fürst: Dir ward kein Führer beigesellt, weil Du auf dem Platze, an welchen Du gestellt worden warst, keinen bedurftest. Hast Du denn unsre Abschiedsstunde, vor Antritt Deiner Reise mit dem nervenkranken Schwärmer Iwan, so gänzlich vergessen? und wie zutraulich ich damals mein ganzes Herz, alle meine Gedanken Dir offenbarte? Erinnerst Du Dich nicht mehr Deines Versprechens: es komme was da wolle, mir unbedingten Glauben zu schenken? Hättest Du Dir an dem Vertrauen genügen lassen, das ich Dir bewiesen; wäre es nie Dir eingefallen, da selbstthätig eingreifen zu wollen, wo Du doch offenbar die Verknüpfung des Ganzen nicht überschauen konntest, ja freilich, dann stände Alles um uns her anders!

Der Mensch im Allgemeinen ist bestimmt, entweder Ambos oder Hammer zu sein, sagt ein berühmter deutscher Poet; fuhr der Fürst fort: [379] Du wardst zum Ambos geschaffen, Du meintest Dich geeigneter Hammer zu sein, und nun liegen die Folgen dieses stolzen Wahns, zu Deinem eigenen Entsetzen, in Trümmern um Dich her!

Richard erröthete; es ward ihm schwer das zornige Gefühl zu unterdrücken, das bei dieser letzten Äußerung des Fürsten in ihm aufloderte; doch behielt er sich genugsam in seiner Gewalt, um weder sich selbst zu viel zu vergeben, noch die dem edlen Greise schuldige Ehrfurcht zu verletzen, dem er so unendlich viel zu verdanken hatte.

Hammer wollte ich nie sein, denn ich fühle zum Zertrümmern mich nicht geeignet; doch wahrlich auch nicht der geduldige Ambos, der schwerfällige Klotz, auf welchem Jeder nach eigenem Gutdünken herumhämmern darf; erwiederte er bescheiden, aber fest und bestimmt. Nur Ihr Unwille kann für den Augenblick mich so erniedrigen [380] wollen; all mein Hoffen, das ganze Glück meines Lebens geht an ihm zu Grunde; wie ich es in Zukunft tragen werde, weiß ich nicht, wohl aber daß ich Ihrer Verachtung rettungslos erliegen müßte. Mein Fürst, fuhr er in steigender Bewegung fort: Sie, der Sie im niedrigsten Leibeigenen das Gefühl seines Menschenrechtes anerkennen, können Sie mir, dem Unglücklichen, den Sie einst Ihren Söhnen gleich stellten, es verargen, daß er zum blinden Werkzeuge sich nicht erniedrigen lassen konnte?

Mein Gleichniß hinkt, ich merke es wohl; doch das ist nun einmal so in der Regel, mag es darum sein! erwiederte der Fürst leicht hingeworfen, mit scheinbarer Gleichgültigkeit. Doch jetzt sprich ohne Scheu es aus, was Du etwa noch auf dem Herzen haben kannst. Ich möchte diese letzte Gelegenheit dazu, die sobald Dir nicht wiederkehren wird, Dir nicht verkümmern; setzte er nach einigem Schweigen hinzu, während welches [381] er Richard betrachtete, als wolle er die geheimsten Gedanken seiner Seele durchschauen.

Durch Mitchell veranlaßt, entdeckte mir ein Zufall die Gefahr, welche dem Geheimnisse des Bundes drohte; fing Richard an.

Und Du meinst daß ich, ja daß selbst Pestel, sie nicht weit früher erkannt haben sollten, als Du und Dein weiser Landsmann? fiel der Fürst ihm lebhaft ein.

Richard erbleichte vor Schrecken. O hätte ich dies ahnen können! rief er: hätten Sie damals, als ich, wahrscheinlich im Vorgefühle dessen, was jetzt geschehn, so ängstlich strebte – –

Nach gewünschter Gelegenheit all Deine Zweifel, Deine Besorgnisse, zum – ich weiß nicht wie vielsten Male vor mir auszuschütten? fiel Fürst Andreas abermals ihm ein. Ohne die Wahrheit im mindesten zu verletzen, könnte ich, bei dem seit Mitchells Hiersein besonders sich häufenden Andrange von Geschäften, den wirklichen [382] Mangel an Zeit als erstes Hinderniß angeben, daneben aber auch, ganz unter uns, die heimliche Furcht vor dem Ennui, dem dabei nicht entgehen zu können, ich voraussah. Doch die ganze Sache ist für uns Beide zu ernst geworden, als daß ich nur den Anschein eines frivolen Scherzes darüber mir erlauben sollte. Da ich indessen von Allem was Dich angeht zu genau unterrichtet bin, um von Dir etwas Neues erfahren zu können, so höre lieber meine Bekenntnisse an:

Stets ging ich darauf aus meine Menschenkenntniß zu erweitern, und machte mir daher, von Eurer frühesten Kindheit an, sowohl Deinen, als meiner eigenen Söhne Charakter zum Gegenstande aufmerksamster Beobachtung. Dein ahnungsvolles Wesen, Dein zu weiches, leicht zu verletzendes Gemüth, zeichneten vor allen Deinen Jugendgenossen sehr merklich Dich aus; daher faßte ich, als Du völlig erwachsen warst,[383] aus wahrhaft väterlicher Fürsorge für Deine künftige Ruhe, den festen Entschluß, von jenem Geheimnisse, auf welches ich damals noch meine kühnsten Hoffnungen gründete, Dich stets fern zu halten, und Deine Aufnahme in den Bund, so eifrig Dein Freund Eugen sie auch betreiben mochte, standhaft zu verhindern.

Der Zufall wollte es anders; wider meinen Willen machte er Dich zum Augenzeugen dessen, was ich Dir ewig verbergen wollte; und um aus dringender, sehr großer Gefahr Dich zu retten, blieb mir nichts andres übrig, als zu dem einzigen Mittel zu greifen, das mir noch zu Gebote stand.

Mein Beschützer, mein Wohlthäter, mein Vater, habe ich denn andres gewollt als dieses? rief Richard gerührt bis zu Thränen: war denn, was ich mit dem beabsichtigte was ich gewagt, nicht ganz das Nämliche was Sie gewollt? War nicht bei gänzlichem Vergessen meiner selbst [384] mein einziger Zweck, Sie und die Ihrigen, Kaiser und Vaterland, vor schmähligem Untergange zu bewahren?

Der Fürst blickte düster vor sich nieder, schwere Wolken des Unmuths zogen auf seiner Stirne sich zusammen. Nie sollte der Mensch unternehmen, in den Lebensgang eines Andern einzugreifen, oder auch nur unberufen ihn bevormunden zu wollen, und in dieser Hinsicht haben, genau genommen, vielleicht wir alle Beide gefehlt; sprach er sehr ernst und trübe vor sich hin. Doch aber will mir bedünken, als ob wir in diesem einzelnen Falle nicht auf ganz gleichem Boden einander gegenüber gestanden wären; setzte er bitter lächelnd, fast höhnisch hinzu: ein geringer zwischen uns bestehender Unterschied läßt sich doch nicht ganz abläugnen, etwa wie der zwischen Vater und Sohn. Und so hätte ich denn damals mich doch nicht als ganz unberufener Vormund Dir aufgedrängt.

[385]

O hätten Sie nie, nie Ihre väterliche Hand von mir abgezogen! hätten nie meiner eigenen Leitung mich überlassen! seufzte Richard.

Im Gegentheil, nachdem Du gewissermaßen als mündig Dich emancipirt hattest, hätte ich meine Vormundschaft aufgeben, und gegen Dich vorsichtigere Maaßregeln in Anwendung bringen sollen, um Deinem Einmischen zur unrechten Zeit Schranken zu setzen, erwiederte Fürst Andreas mit sichtbar steigendem Unmuthe. Daß ich dieses versäumte, ist ein Fehlgriff von meiner Seite; ein weit größerer aber ist es noch, daß ich so fest auf Dein mir gegebenes Wort mich verließ, als ob es mein eigenes gewesen wäre, auf Dein Versprechen, im Glauben an mich nicht zu wanken, mir unbedingt zu vertrauen. Ich sagte Dir, der Bund sei aufgelöst, er war es damals, und wäre für Dich es immer geblieben. Sogar mein Nichtbeachten Deiner Besorgnisse, mein Vermeiden Dich anzuhören, [386] mußte, wenn Du mir recht vertrautest, in diesem Glauben Dich bestärken.

Wie wäre, bei den Beweisen vom Gegentheile, die von allen Seiten sich mir aufdrängten, dieses möglich gewesen! rief Richard: und als ich nun vollends mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören mußte –

Was ich lange vor Dir gesehen und gehört hatte; oder meinst Du wirklich, ich wäre etwa taub und blind geworden? fuhr der Fürst, seinen Vorsatz, sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen, vergessend, sehr heftig auf. Voreiliger Thor! rief er, wie kannst Du wissen, ob ich nicht noch vor der Stunde, in welcher Du auf Deinen irrenden Ritterzug auszogst, auf dem Wege nach Tangarog mich befand, und ob nicht der mich einholende Courier des Ministers mir Depeschen überbrachte, die zur Rückkehr nach Petersburg mich nöthigten, während jener auf [387] seiner Sendung zum Kaiser nach Tangarog vorwärts eilte?

Des Fürsten Augen sprühten Feuer, flammende Röthe überzog sein Gesicht; seine Haltung, seine hohe kräftige Gestalt gewannen den furchtbarsten Ausdruck höchster Entrüstung: Ich war Stifter des Bundes, rief er, und schlug mit geballter Faust auf seine Brust, daß es hohl wiederhallte: und ich, ich allein war berechtigt, ihn in seiner Entartung zu vernichten; ich besaß die Kraft, den Muth, den Willen dazu. Eitler, Schwachsinniger, der Du Dich berufen, der Du Dich fähig wähntest, die Entscheidung des Schicksals unsers großen Monarchen und seines unabsehbar großen Reichs, mit all den Millionen Seelen, auf Deine schwachen Schultern zu laden!

Richards Blut wallte heiß auf, vor Zorn, und zugleich vor innerer tiefer Reue; er fühlte ganz das Unhaltbare, Unzusammenhängende in [388] dem was der Fürst, von wilder Leidenschaftlichkeit getrieben, zu seiner eigenen Vertheidigung, und zu Richards Anklage vorbrachte, und war doch außer Stande ihn deutlich und völlig zu widerlegen. Die noch immer fest auf ihn gerichteten Augen seines ehemaligen Wohlthäters brannten ihn wie glühende Kohlen. Daß ohne seine Einmischung alles vollbracht, vom Fürsten selbst vollbracht worden wäre, drückte bis zur Vernichtung ihn nieder. Hätte jetzt der Boden unter seinen Füßen sich geöffnet, und in den Mittelpunkt der Erde ihn geschleudert, in diesem Augenblicke wäre es ihm die höchste Wohlthat gewesen.

Unhörbar leise schwebte jetzt Helena herbei; sie stand gleich dem Engel des Friedens zwischen den Beiden, und schlug das dunkle, schmerzumwölkte Auge zu ihrem Vater auf. Ihr Anblick wirkte mit magischer Gewalt. Völlig umgewandelt in Ton und Stimmung, schloß er sie in [389] seine Arme und berührte die schöne bleiche Stirn mit seinen Lippen. Du Beklagenswertheste unter uns, seufzte er leise vor sich hin, wie war es möglich, daß ich Deine Gegenwart vergessen konnte!

Sterbenden würde in der letzten Stunde Alles erlaubt, sagte man mir. Sterben, Scheiden, ist es nicht das nämliche, nur mit anderm Namen benannt? flüsterte sie bittend, an die Brust des Vaters gelehnt. Sie hatte sich ausgeweint. Er entließ sie sanft aus seinen sie umschlingenden Armen, und sie stand jetzt vor ihm, das schönste, rührendste Bild der schwersten Aufgabe ihres Geschlechts, das Bild muthig duldender Ergebung.

Arme Seele! diese letzte, bängste, – ich mag in Verbindung mit Dir ihren Namen nicht nennen, – von mir bleibe sie Dir unverkümmert. Doch trage sie, wie es meiner Tochter ziemt; erwiederte der Vater mit bedrückter, vor innerer [390] Rührung bebender Stimme, und wandte sich dann an Richard.

Unser beider Wirkungskreis geht von heute an weit auseinander; nimm auf der neuen Bahn, die Du Dir selbst gewählt hast, die Versicherung mit, daß ich keinen Groll gegen Dich hege, und mögest Du mit nicht weniger Gelingen auf ihr fortschreiten, als Du auf der gethan, auf welcher ich bei Deinem Eintritte in die Welt Dich gestellt hatte; sprach er mit würdigem Ernst.

Suche die überschwängliche Gnade unsers großen Kaisers, die er Dir bezeigt, durch treuen Dienst zu verdienen; fuhr er nach kurzem Schweigen fort, da er sah, daß Richard keine Sylbe ihm zu erwiedern vermochte. Hüte Dich vor dünkelhafter Übereilung, laß durch zu hoch gespannten Wahn Dich nie wieder verleiten, die Schranken übersteigen zu wollen, welche Natur und Verhältnisse um Dich gezogen; das ist der letzte wohlgemeinte väterliche Rath, den Du von [391] mir erhalten wirst. Die Blüthe des Lebens ist mit dem heutigen Tage Dir abgeblüht, Dir bleibt nur Erinnerung an ihre Herrlichkeit, mögest Du auch von dieser Dich losmachen können, damit sie auf Deinem neuen Lebenspfade Dir nicht zur lästigsten Begleiterin werde. Dies sei mein Abschiedssegen, und nun fahre wohl!

Der Fürst zog in das Innere seiner Zimmer sich zurück, und lautlos sah Richard ihm nach.


Hast Du's vernommen? es ist wie er sagt, diese Stunde ist die Scheidestunde, die Todesstunde unsres Glücks; sie ist so kurz und doch hätte ich so vieles Dir noch zu sagen, mein Herz ist so voll, aber ich finde keine Worte, keine Ordnung in meinen Gedanken, mir ist so dumpf zu Sinn! klagte Helena, und drückte, wie vom Schwindel ergriffen, beide flachen Hände gegen die Stirn.

[392] Und warum wäre es so? warum scheiden? rief Richard von der Gewalt des Augenblicks ergriffen, und hielt die in seine Arme hinsinkende leidenschaftlich fest an seine Brust. Helena, Geliebteste! Du Stern meines Lebens, Du Licht meiner Augen, sieh wie der Weg zum Gipfel unsrer Wünsche im hellsten Sonnenscheine dicht vor uns liegt. Ein einziges hohles Hirngespinnst spreitzt an seinem Eingange sich uns entgegen. Habe den Muth es näher zu betrachten, und es wird vor Deinen Augen verschwinden! flehte er mit bebender Stimme, glühend zitternd.

Richard, ich verstehe nicht wie Du es meinst, ich kann nichts denken, nichts fassen, der Schmerz betäubt mich; habe Geduld, ich hoffe ich werde mich wieder finden: erwiederte Helena.

Was sollte, was könnte uns scheiden, was jetzt? hat sich nicht Alles auf's Günstigste gestaltet? Laß uns nur vorurtheilsfrei die Dinge sehen wie sie sind: fuhr Richard mit glühendem [393] Eifer fort, wende Dein liebes Auge mir zu, holder, schöner Engel, sei aufrichtig gegen Dich selbst. Seh' ich aus wie ein Verbrecher? wie ein Frevler an allem, was dem Menschen heilig sein soll und muß? Kannst Du, konntest Du jemals glauben, konnte in Deinem reinen Gemüthe der Argwohn jemals Wurzel fassen, daß ich, daß der Mann den Du Deiner Liebe werth gehalten, seine Seele, seine Ehre für Rang und Reichthum, ja selbst für das Höchste, für Deinen Besitz, verkaufen könnte? Daß Meineid, daß Verrath, fuhr er immer begeisterter fort – nie, nie, nie, unterbrach ihn Helena, und hob die Hände bittend zu ihm auf, o lästre so nicht Dich und mich!

Ich wußte es wohl; mochte immerhin der Anschein gegen mich zeugen, Du glaubtest an mich, Dich täuschte er nicht: fuhr Richard fort: auch Deinen Vater nicht, höchstens nur in der Überraschung des ersten Augenblicks. Was trennt [394] uns dann? ein Traum, ein kurzer Wahn, der vor dem Lichte der Wahrheit schwinden muß. Helena, o höre die Stimme der Natur! die Stimme der reinsten innigsten Liebe! höre, o höre die Stimme Deines Herzens.

Richard, was verlangst Du? ich verstehe Dich nicht; Dein Auge flammt, Deine Lippen brennen auf meiner Hand, Du ängstigst mich, was willst Du, wie ist Dir! sprach Helena.

Rettung will ich! Rettung für Dich, für mich, für Deinen Vater; er wird es uns heimlich danken, wenn wir zu dem Schritte ihn zwingen, den er freiwillig zu thun sich nie entschließen kann und wird. Helena, Du einziger Stern meines Hoffens, meines Lebens, sei mein! Die Stimme der Gottheit, die unser Schicksal lenkt, spricht aus mir. Unvorbereitet giebt sie mir ein, was, als ich hier eintrat, mir nie als möglich erschienen wäre. Fliehe mit mir, noch in dieser Nacht, die Zeit drängt, morgen ist es [395] viel zu spät, morgen, morgen ist furchtbar! Du darfst hier nicht wieder die Sonne aufgehen sehen, oder Du bist mir entrissen. Auf immer und ewig sind wir morgen getrennt.

Flehend warf Richard sich vor sie hin, umfaßte ihre Kniee, ihre Hände, den Saum ihres Kleides, den Teppich den ihr Fuß berührte, erschöpfte alle Beredsamkeit, welche die glühendste Liebe nur eingeben kann. Helena bebte, erglühte, erbleichte, und sank in Schmerz und Liebe aufgelöst ihm an das Herz. Seines Sieges gewiß, hielt er sie in seinen Armen, vor Wonne kaum seiner selbst sich bewußt.

Helena ruhte einige Minuten in dieser Stellung, ohne einen Laut, fast ohne zu athmen, still wie ein schlummerndes Kind; ihr Leben schien in sich zurückgezogen, ihr Herzschlag stille zu stehn, um auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln; Richards Blicke wachten über sie: er selbst regte sich nicht.

[396] Sie schlug die Augen auf, sie löste sich sanft aus seinem Arme und richtete sich empor; sie sah umher, wie aus einem Traume erwachend, und war wieder was sie immer gewesen, war wieder sie selbst, muthig, liebend und klar.

Richard, sprach sie, zuerst mit unsichrer, bebender Stimme, dann immer gefaßter, je länger sie sprach: Richard, seit das Unglück über uns hereinbrach, ach seit jenem sonnenhellen Morgen in meinem Oratorium, weißt Du es noch wohl? seitdem sehen wir uns zum erstenmal wieder. Ich habe so viel Dir zu sagen, und so wenig Zeit, so wenig Athem, so wenig Besinnung, habe Geduld, und höre mich an.

Damals wußte ich nicht was aus Dir geworden sei, jetzt weiß ich es wohl, Du wurdest festgehalten, damit mein Vater nicht selbst nach Tangarog – doch das ist vorbei, und gehört nicht mehr hierher. Ach, mein Freund, ich gab Dich damals verloren, verloren für Alles, nur [397] nicht für mich, nicht für meine Liebe, wenn es Gott nur gefiele, das Leben Dir zu fristen. Sprich nicht, rege Dich nicht, höre mich bis an's Ende: bat sie als Richard sie unterbrechen wollte.

Ich wähnte als Verschworner Dich angeklagt, verhaftet, verurtheilt, die Leute um mich her sagten es so, ich glaubte ihnen. O Richard, Geliebter, Einziger, welch ein Traum schmerzlicher und reinster Seligkeit tröstete, erfüllte damals mich ganz und hielt mich aufrecht, mich allein, während alles um mich her in Trauer versank! Du warst verurtheilt, nach Sibirien verbannt, die Kibitka, so glaubte ich es, die Wache, die Dich fortführen sollte, alles war bereit, aber auch ich war es. Vor aller Welt, vor meinem Vater, meiner Mutter, vor all' meinen stolzen Anverwandten bekannte ich mich als Dein, als die unzertrennliche Gefährtin Deines Geschicks. Ich begleitete Dich, ich diente Dir, ich pflegte Dich, sorgte für Dich, und[398] theilte mit Dir jede Entbehrung, Mangel und Noth. Ich wäre ja nicht das erste Fürstenkind; hat Mentzikoffs stolze schöne Tochter, sie, einst als kaiserliche Braut dem Throne so nah, nicht Gleiches für ihren Vater erduldet und vollbracht? Nichts sollte mich hindern meinen festen Vorsatz auszuführen, nicht das Urtheil der Welt, auch nicht das Gebot meines Vaters. Bis zu meinem letzten Athemzuge hätte ich der Gewalt widerstanden, hätte Mittel gefunden Dir zu folgen, wenn man mich hinderte Dich zu begleiten. Dein Unglück gab meiner Liebe den Freibrief alles zu thun, alles zu wagen für Dich!

Welch ein Bild rollst Du vor meinen Augen auf, wie weiß Deine Liebe selbst das Fürchterliche mit unnennbarem Liebreiz auszuschmücken, o wäre es, wie Du es malst! seufzte Richard.

Es ist anders, ganz anders gekommen. Ich weiß Du fühlst wie ich, ein mit Schande beflecktes, von der öffentlichen Meinung gebrandmarktes [399] Glück – wer trüge das? Von Tausenden gehaßt, verachtet, des Meineids angeklagt, Tausende die unser Glück auf den Trümmern des ihrigen erbaut wähnen – – Du trügst es so wenig als ich! Dein Traum zerrinnt, meiner ist längst zerronnen!

Richard hatte keine Antwort! jedes Hoffen auf die Zukunft, jedes glückliche Gefühl in seiner Brust erstarb vor der ihn überwältigenden Wahrheit, die furchtbar, gleich dem jedes warme Leben versteinernden Haupte der Medusa, ihm entgegen starrte.

Fahre wohl! fahre wohl! o fahre wohl: seufzte Helena, immer leiser und leiser, das Wort erstarb auf ihren Lippen, entgeistert hing sie in Richards Armen, über sie hingebeugt unterstützte er sie, starr, bleich, regungslos wie ein Todter.

Von ihm unbemerkt war Helenas Vater hinter ihn getreten; sie zuckte schmerzlich, aber still, [400] indem er sanft und mit höchster Vorsicht aus Richards Umarmung sie löste.

Gott tröste Dich, und gebe Dir Muth, mein Sohn: sprach der Fürst sehr mild, und eine Thräne glänzte in seinem Auge, indem er die leichte, geliebte Last auf seinen Armen in sein Zimmer trug.


Wunden wie die, welche das Leben dem armen Richard geschlagen, heilt erst nach dem Verlaufe vieler langen Jahre die Zeit; wenn unser Haar bleicht, das Blut in unsern Adern langsamer pulsirt, und unser Wünschen und Hoffen über diese Erde hinweg in andern höheren Regionen sicheren Ankergrund suchet und findet.

Einige Monate reichen bei weitem nicht hin, ein solches Wunder zu bewirken, aber sie beschwichtigen wenigstens den Schmerz durch den [401] Zauber der Gewöhnung. Wenn uns alles Hoffen verläßt, wenn uns jeder Tag fester überzeugt, daß nun und nimmermehr eine Änderung unsres Zustandes eintreten kann, dann hören die Wunden auf zu bluten, die Klage verstummt, in verschwiegner Einsamkeit wird der Schmerz unser stiller Begleiter, den wir mit einer Art peinlicher Wollust pflegen, und der Zerstörung gelassen zusehen, die unser irdisches Dasein untergräbt.

Doch dahin war Richard noch bei weitem nicht gelangt, obgleich es dem Laufe der Zeit gemäß wohl der Fall hätte sein können. Mehrere Monate hatte er seit jener Trennung von dem Leben seines Lebens still und trübe hingebracht, und immer noch erneuerten unter seinen Augen sich die Folgen seiner That, und frischten Erinnerungen in ihm auf, die seine Ruhe untergruben.


[402] Kaiser Alexanders stets zur Milde und Nachsicht sich neigendes Gemüth fühlte durch das frevelhafte Unternehmen seiner Unterthanen sich sehr tief und schmerzlich verletzt. Mehr betrübt als entrüstet, schämte sein hoher edler Sinn sich gewissermaßen des schwarzen Undanks, der, wo er es am wenigsten erwartet hatte, in so gräßlicher Gestalt ihm entgegen trat, und wünschte nichts sehnlicher, als diese traurige Erfahrung der ganzen übrigen Welt verbergen zu können.

Er mußte leider strafen; der damals schon körperlich leidende Monarch that es mit innerm Widerstreben, stets zum Verzeihen geneigt. Nur wenige bedeutende Familien befanden sich im ganzen Lande, die nicht wenigstens ein schuldiges Mitglied zu betrauern gehabt hätten. Doch die Kunde davon ward der Öffentlichkeit so viel als möglich entzogen, und um die schuldlosen Verwandten der Schuldigen zu schonen, wurde sowohl von den Vergehungen derselben, als von [403] der darauf erfolgenden Strafe, so wenig als möglich im Publikum, besonders aber im Auslande ruchbar.

So geschah es denn, daß die Hydra Empörung für den Augenblick zwar unterdrückt, doch bei weitem nicht ausgerottet wurde. Einige Monate später hob sie die giftgeschwollenen Häupter wieder, und jetzt erst traf sie der Arm der strafenden Gerechtigkeit mit vernichtender Strenge; doch diese Ereignisse liegen weit hinaus über dem Ziele, das ich diesen Blättern gesetzt habe, welche auf historische Bedeutung keinen Anspruch machen.


Den großen Schmerz abgerechnet, für den dieses Leben keinen Trost ihm zu bieten hatte, wurde Richards wundes Gemüth auch auf andre Weise vielfach verletzt. Schmeichler, die ihren Vortheil darin zu finden hofften, erhoben [404] was er gethan bis in die Wolken, priesen als Retter des Vaterlandes ihn überlaut, und versuchten das Mögliche und Unmögliche, ihm recht bemerkbar zu werden. Sie meinten eine jener über Nacht pilzartig aufschießenden Erscheinungen in ihm zu sehen, wie jede an bedeutenden Ereignissen reiche Zeit sie erzeugt; einen werdenden, dereinst vielleicht allmächtigen Günstling des mit so ausgezeichneter Gnade und Huld ihn überhäufenden Kaisers, den sie in der Folge für sich zu benutzen hoffen durften; denn dem Gemeinen wird Alles gemein.

Der Haß, der still verbissene Neid, und, so ungern er dieses sich selbst gestand, die kaum zu verhehlende Verachtung, mit welcher die große Anzahl derer ihn betrachtete, welche am meisten durch ihn gelitten, und die jetzt durchaus keine andre Triebfeder seiner That anerkennen wollten, als schmutzigen Eigennutz und den Wunsch, um jeden Preis sich empor zu schwingen, [405] war ihm nicht minder peinigend, als die ihn anekelnde Kriecherei jener Elenden.

Am drückendsten aber empfand er die Kälte, die überall ihm entgegen starrte, wo man sonst mit unverkennbarer Herzlichkeit sich ihm zu nähern pflegte. Es war als ob ein heimliches Grauen von ihm ausginge, das selbst diejenigen von ihm scheuchte, von denen er überzeugt sein konnte, daß sie ihm eigentlich nicht abgeneigt wären.

Wo er auch immer sich zeigen mochte, er konnte darauf rechnen, mit einer Art förmlicher Höflichkeit behandelt zu werden, die ihn oft innerlich zur Verzweiflung brachte, doch artete diese nie in Hohn aus. Niemand erlaubte sich in seiner Gegenwart eine Anspielung, ein Wort, eine Miene, die ihn hätte beleidigen können. Alle Offiziere, mit denen er im Dienste in Berührung kam, bezeigten ihm die nicht nur seinem Range, sondern auch seiner Persönlichkeit [406] gebührende Achtung, die mancher von ihnen auch wohl wirklich für ihn empfand. Keiner von denen, die bei seiner Erhebung übergangen worden waren, erlaubte sich die mindeste Äußerung darüber, die ihm hätte mißfallen können; doch Alle hüteten sich dafür ihm näher zu treten, als gerade erforderlich war, und an ein kameradliches Verhältniß, wie es früher wohl Statt gehabt hatte, war für Richard gar nicht mehr zu denken.

Sogar das Haus des Kapellmeisters Lange, das einzige, in welchem er alte Liebe und Treue und einen warm ihm entgegen kommenden Empfang zu finden gewiß war, wurde durch Frau Karolinens zu große Theilnahme an seiner Trennung von Helena, die sie weder begreiflich noch verzeihlich fand, ihm gewissermaßen verleidet.

Mitten im Gewühle eines geräuschvollen Lebens, das jedes Interesse für ihn verloren hatte, von Keinem geradezu angegriffen, von Vielen [407] gefürchtet, von Allen gemieden, kam er sich selbst wie ein abgeschiedener Geist vor, der verurtheilt war, zum Schrecken der Lebenden eine Zeit lang die Welt zu durchwandern, ehe ihm erlaubt wurde zur Grabesruhe einzugehen. Sehnsucht nach menschenfernster, stillster Einsamkeit bemächtigte sich seiner mit immer zunehmender, verzehrender Allgewalt, bis er endlich zu dem Entschlusse getrieben wurde, zur Herstellung seiner wirklich leidenden Gesundheit um seinen Abschied vom Regimente anzuhalten.

Was er, bekannt mit den Schwierigkeiten, welche in Rußland die Gewährung solcher Bitten begleiten, kaum zu hoffen gewagt hatte, geschah; auf Fürsprache des Ministers erhielt er seine Entlassung, und auf die schmeichelhafteste, ehrenvollste Weise.


[408] Da lag nun die Welt, die außerhalb dem russischen Reiche ihm völlig unbekannte, offen vor ihm da; doch fühlte er sich nicht versucht, sie näher kennen zu lernen. Der Gedanke, in die Verhältnisse zurückzukehren, zu denen er in seinem eigentlichen Vaterlande geboren worden war, fand keinen Anklang in ihm. Rußland war sein, war Helenens Vaterland; dort lebte sie, wenn gleich in weiter Ferne von ihm, und diesen letzten, kleinsten Trost aufzugeben, konnte er sich nimmer entschließen.

Bei der vollkommensten Gleichgültigkeit gegen alles, was im gewöhnlichen Leben zu den Annehmlichkeiten desselben gezählt wird, trieb ihn eine Art von dumpfem Pflichtgefühle das weit entlegene Fleckchen Erde zuerst aufzusuchen, das er durch des Kaisers Gnade sein Eigenthum nennen durfte. Dort wollte er, mitten unter seinen Bauern, sich niederlassen, nach dem Beispiele und den Lehren des Fürsten Andreas für [409] ihre geistige Bildung und die Verbesserung ihres Zustandes Sorge tragen, und in selbst gewählter, tiefer Einsamkeit sein hoffentlich kurzes Leben so beschließen.

Bei seiner Ankunft in jenem abgelegenen Winkel der Erde, breitete ein viel weiteres Feld für seine wohlthätigen Absichten sich vor ihm aus, als er zu finden erwartete. Er hatte den besten Willen mit den, von allen Seiten als unentbehrlich sich ihm aufdringenden Verbesserungen, sogleich den Anfang zu machen; doch er entdeckte zugleich, daß es ihm nicht nur an den dazu nöthigen Vorkenntnissen, sondern auch an dem Beistande sacherfahrner Gehülfen mangele, indem die Kraft eines Einzelnen, zur Ausführung eines so vielseitigen Unternehmens, unmöglich auslangen könne; jetzt versagte die seinige ihm gänzlich, mehr noch sein Muth; er hatte nicht einmal den, sich eine leidlich anständige Wohnung erbauen zu lassen. So versank er [410] denn immer tiefer in grenzenlose Apathie und den traurigen Genuß, sich ganz ungestört seinem Schmerze zu überlassen, während er die Anstalten zur Ausführung seiner Pläne von einem Tage zum andern hinausschob.

Ein Brief seines Freundes Eugen, der ziemlich verspätet, auf tausend Umwegen in seiner Einöde ihn auffand, war nach mehreren Wochen das einzige Ereigniß, das die trübe Einförmigkeit seines matt hingleitenden Lebens unterbrach.

Der Brief brachte ihm beides, Freude und Leid; der Inhalt desselben war zwar ernst, aber doch voll zarter Schonung, wie nur die innige Bruderliebe sie eingeben konnte, welche beide Freunde von Jugend auf verbunden. Eugen, nachdem er so viel Tröstliches, als die Lage der Dinge nur erlaubte, von seinem und der Seinigen gegenwärtigen Zustande dem Freunde gemeldet, sprach, nothgedrungen wie es schien, den Wunsch aus, einige Jahre stumm vorüber [411] ziehen zu lassen, und die künftige Gestaltung der Zeit und ihres beiderseitigen eigenen Geschicks zuvor abzuwarten, ehe sie, sei es schriftlich oder mündlich, sich einander wieder zu nähern versuchten.

Es war ein Abschied auf lange, unübersehbar lange Zeit, wahrscheinlich auf immer; Richard fühlte es, und seine noch nicht vernarbten Wunden bluteten von neuem schmerzlicher.

Übrigens ging aus dem Briefe hervor, daß Eugen in der Gegend von Astrachan, in einem gesegneten reich bebauten Lande, ein großes Gut bewohne, welches sein Vater ihm übergeben, und sich dort eifrig und mit gutem Erfolge bemühe manches, in seiner früheren Jugend Versäumte, nachzuholen, und durch höhere wissenschaftliche Bildung, als zu erwerben er in seinen ehemaligen Verhältnissen Zeit und Gelegenheit gehabt, sich auf eine Thätigkeit andrer Art vorzubereiten, als seine bisherige gewesen.

Helena, schrieb Eugen, lebe in Moskau, anscheinend [412] ruhig, ganz der Pflege ihrer fortdauernd kränkelnden Mutter, und wohlthätigen Zwecken geweiht; geehrt, bewundert, angebetet von denen, die glücklich genug waren ihr nahen zu dürfen, aber durchaus zurückgezogen von der großen Gesellschaft, beschränkt auf den Umgang mit wenigen nähern Freunden und Verwandten.

In der Fürstin Eudoxia war die alte Überzeugung von dem ursprünglichen Unterschiede der vornehmen und geringen Klassen wieder erwacht, in der sie von Kindheit an erwachsen war, und es verging kein Tag, an welchem sie nicht die schmerzlichste Reue darüber bezeigte, in der Strenge nachgelassen zu haben, mit welcher sie früher auf diesen Unterschied gehalten. Gekränkter Stolz, stiller Unmuth nagten an ihrem Leben. Richard in ihrer Gegenwart nur zu erwähnen war hoch verpönt; ein alter treuer Diener, der unversehens einst seinen Namen nannte, wurde [413] hart gestraft, und durfte nie wieder vor ihr erscheinen.

Eugen schrieb es zwar nicht ausdrücklich, aber es ging doch aus seinem Briefe hervor, daß er zur Beruhigung seiner Mutter ihr habe das Versprechen leisten müssen, jede Verbindung mit Richard aufzuheben. Richard verstand ihn wohl und der Zorn, so wie die geistige Verstimmung seiner ehemaligen Wohlthäterin erfüllten ihn mit Reue und Schmerz; aber es tröstete ihn doch, denn es ließ ihn hoffen, daß Eugen in seinem Herzen noch immer mit Liebe seiner gedenke.

Erfreulicher, oder vielmehr im höchsten Grade erfreulich war, was Eugen von seinem Vater schrieb. Der Sturm, der so leicht das ganze Lebensglück desselben hätte zertrümmern können, hatte den alten Herrn nur in sein eigentliches, ihm am besten zusagendes Element geworfen, in welchem er nun, von allen Banden frei, sich gar lustig bewegte. Im kleineren, wenn gleich [414] noch immer sehr großen Maaßstabe, führte er auf seinen weitläuftigen Gütern aus, was er nach einem weit kolossaleren einst gewollt; richtete Schulen und Bildungsanstalten ein, bauete Dampfmaschinen, legte Fabriken an, deren Erzeugnisse mit den besten andrer Länder wetteifern konnten, und war dabei, in nie rastender Thätigkeit, heiter und gesund. Mitchell blieb im merkantilischen wie im technischen Fache als brauchbares, geduldiges Werkzeug ihm stets zur Hand, und befand sich nicht übel dabei.


Kein Tag verging, an welchem Richard dieses Schreiben, das einzige zwischen ihm und seiner glücklichern Vergangenheit bestehende Band, nicht wenigstens einmal gelesen; es war der erste Lichtpunkt in seinem jetzigen Leben, der wenigstens die trübe Dämmerung desselben unterbrach, [415] dem aber kein zweiter folgen zu wollen schien.

Und immer düsterer und farbloser gestaltete die Gegenwart sich um ihn her; das Jahr neigte merklich dem Untergange sich zu, immer länger dehnten seine schlaflosen Nächte sich aus; der in diesem Klima früh eintretende Herbst sandte seine Vorboten, die Stürme, um die Wälder von ihrem früh angelegten bunten Schmucke zu entkleiden; die Thiere des Waldes suchten ihre Schlupfwinkel auf, um dort die lange Nacht des Winters ruhig zu verträumen, und auch die Menschen in ihren räuchrigen niedern Hütten trafen alle ihnen zu Gebote stehenden Anstalten, um gegen den nun bald schonungslos eindringenden Feind, Kälte und Mangel, sich zu vertheidigen.

Wenn Abends Schloßen und Regen gegen die kleinen Fenster von Richards schlecht verwahrter, baufälliger Wohnung heftiger anschlugen, [416] der Sturmwind lauter braußte, die zersplitterten Bäume im Walde krachten, dann überlief ihn wohl ein Schauer, indem er der sechs oder acht vor ihm liegenden Wintermonate gedachte, die er in dieser gänzlich abgeschiednen Einsamkeit, jeder gewohnten Bequemlichkeit entbehrend, ohne Bücher, ohne Freund, ohne alles geistige Interesse mit sich allein zubringen sollte. Helenas Traum von ihrer beider Leben in Sibirien stand oft vor ihm auf, und erfüllte ihn mit bänglichster Sehnsucht.

Noch war es Zeit, noch waren die Wege nicht unfahrbar geworden, noch immer stand es in seiner Macht, ohne zu große Beschwerlichkeiten zu erdulden, bewohntere Stätten aufzusuchen; doch dazu gehörte ein Entschluß, und diesen zu fassen, lag für ihn, in seiner jetzigen Stimmung, außerhalb dem Bereiche der Möglichkeit!

So saß er oft Stunden lang in Gedanken, in Erinnerungen, zuweilen in wortlosem, an [417] Betäubung grenzendem Sinnen verloren, nichts von allem was um ihn her vorgehen mochte beachtend.

Siehst Du, Richard, ist es nicht gekommen wie ich es Dir vorher sagte? sprach eines Abends eine kräftige bekannte Stimme, dicht neben ihm, und eine warme starke Hand faßte und drückte die seine. Richard schreckte zusammen, er hatte die Eintretenden nicht kommen gehört: ein Mann und eine Frau standen neben ihm, beide in armenischer Tracht. Es waren Iwan und Julie: Deine Kneesen haben Dich verlassen, Deine Glücksträume sind aufgeflogen, Deine Luftschlösser zusammengebrochen, fuhr Iwan fort, darum sind wir gekommen, ich und mein Weib, Dich abzuholen, komm nach Hause, was willst Du hier?

O komm gleich mit uns nach Hause! bat schmeichelnd Julie, hier ist es nicht gut für Dich. Unsre Mutter hält alles zu Deinem Empfange [418] bereit, und wir wollen Dich lieben, Deiner pflegen, Dich trösten, so gut wir es können: komm nur schnell, komm nach Hause!

Und Richard ging mit ihnen nach Hause.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Schopenhauer, Johanna. Romane. Richard Wood. Richard Wood. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-EFB3-E