22.
Eine Hexe beichtete ihren Stand einem Klostergeistlichen, erklärte ihm aber auf Abmahnen, daß ihren Versammlungen die Muttergottes leibhaftig anwohne; er möge sie nur bey der nächsten Ausfahrt begleiten, so könne er sich selber überzeugen.
Es setzte sich daher der fromme Mann am bestimmten [389] Tage mit der Hexe in einen Wagen, und beyde fuhren dahin durch die Luft über Berg und Thal. Da hörte er Geläute, der Wagen senkte sich und stand in Mitte einer prachtvollen Kirche, angefüllt mit einer zahllosen Menge. In der That wandelte auch die Mutter Gottes leibhaftig auf dem Altare herum, voll Glanz und Schönheit. Doch meynte der Pater, für eine Mutter Gottes wäre sie doch etwas zu üppig und verführerisch gekleidet, sprang auf den Altar und hob ihr ein bisher verborgen gehaltenes Kruzifix mit den Worten unter die Augen: »Bist du die Mutter des Herrn, so sieh hier deinen Sohn!«
Da erlöschten wie mit einem Male sämmtliche Lichter, und dichte Finsterniß und Grabesstille lagerten ringsum. Der Pater stieß sich an rauhen Steinen, und als es gegen den Tag ging, befand er sich im Gemäuer eines Galgens. Waldthurn.