[112] Arthur Schnitzler
Doktor Gräsler, Badearzt

1. Kapitel

Erstes Kapitel

Das Schiff lag zur Abfahrt bereit. Doktor Gräsler, dunkel gekleidet, in offenem grauen Überzieher mit schwarzer Armbinde, stand auf dem Verdeck, ihm gegenüber barhaupt der Hoteldirektor, dessen braunes, glattgescheiteltes Haar sich trotz des leisen Küstenwindes kaum bewegte. »Lieber Doktor,« äußerte der Direktor, mit dem ihm eigenen Tone von Herablassung, der dem Doktor Gräsler seit jeher so unangenehm gewesen war, »ich wiederhole, wir rechnen mit Sicherheit darauf, Sie im nächsten Jahr wieder bei uns zu haben, trotz des höchst beklagenswerten Unglücksfalles, der Sie hier betroffen hat.« Doktor Gräsler antwortete nichts, sondern schaute mit feuchten Augen zum Ufer der Insel hin, von wo das große Hotelgebäude mit den der Hitze wegen festgeschlossenen weißen Fensterläden grell herüberleuchtete; dann schweifte sein Blick weiter über die verschlafenen gelblichen Häuser und verstaubten Gärten, die im Mittagssonnendunst träge straßaufwärts schlichen, bis zu den spärlichen alten Mauerresten, die die Hügel kränzten. »Unsere Gäste,« sprach der Direktor weiter, »von denen einige im nächsten Jahr wiederkommen dürften, haben Sie schätzen gelernt, lieber Doktor, und so hoffen wir zuversichtlich, daß Sie die kleine Villa,« er wies nach einem bescheidenen, hellen Häuschen in der Nachbarschaft des Hotels, »trotz der traurigen Erinnerung, die sie für Sie birgt, wieder beziehen werden, um so mehr, als wir Ihnen für die Hochsaison Nummer dreiundvierzig begreiflicherweise nicht zur Verfügung stellen könnten.« Und als Gräsler trübe den Kopf schüttelte, und den steifen schwarzen Hut abnehmend, mit der linken Hand über sein straffes, blondes, etwas angegrautes Haar strich –: »Oh, mein lieber Doktor, die Zeit wirkt Wunder. Und wenn Sie sich vielleicht vor dem Alleinsein in dem kleinen weißen Haus fürchten, dagegen gibt es ja ein Mittel. Bringen Sie sich doch eine kleine, nette Frau aus Deutschland mit.« Und da Gräsler darauf nur mit einem zagen Augenaufschlag erwiderte, fuhr der Direktor lebhaft, fast befehlend, fort: »Ach, ich bitte Sie, zehn für [113] eine. Eine nette, kleine, blonde Frau, sie kann übrigens auch brünett sein, das ist vielleicht das einzige, was Ihnen zur Vollkommenheit fehlt.« Doktor Gräsler zog die Brauen hoch, als folgten seine Augen schwindenden Bildern der Vergangenheit. »Nun, wie immer,« schloß der Direktor leutselig, »so oder anders, ledig oder vermählt, Sie werden uns in jedem Falle willkommen sein. Und am 27. Oktober, wenn ich bitten darf, wie besprochen, nicht wahr? Sonst könnten Sie bei den trotz unserer Bemühungen leider noch immer recht mangelhaften Schiffsverbindungen erst am 10. November eintreffen, was uns, da wir ja schon am 1. eröffnen« – und nun hatte er den etwas schnarrenden Leutnantston, den der Doktor gar nicht leiden mochte – »nicht gerade erwünscht wäre.« Dann schüttelte er dem Doktor die Hand überaus heftig – eine Angewohnheit, die er aus den Vereinigten Staaten mitgebracht hatte –, tauschte einen flüchtigen Gruß mit einem eben vorübergehenden Schiffsoffizier, eilte die Treppe hinunter und war bald darauf auf der Landungsbrücke zu sehen, von wo er noch einmal dem Doktor zunickte, der immer noch, den Hut in der Hand, melancholisch an der Brüstung des Verdecks stand. Wenige Minuten darauf stieß der Dampfer vom Lande ab.

Auf der Heimreise, die vom schönsten Wetter begünstigt war, gingen die Abschiedsworte des Direktors dem Doktor Gräsler oftmals durch den Sinn. Und wenn er nachmittags auf dem Promenadendeck in seinem bequemen Streckstuhl leise schlummerte, den schottischen Plaid über die Knie gebreitet, zeigte sich ihm zuweilen, einem Traumbild gleich, eine hübsche, rundliche Frau in weißem Sommerkleid, durch Haus und Garten schwebend, mit einem rotbäckigen Puppengesicht, das ihm irgendwie, nicht aus der Wirklichkeit, sondern etwa aus einem Bilderbuch oder einem illustrierten Familienblatt, bekannt vorkam. Dieses Traumwesen aber besaß die geheimnisvolle Macht, das Gespenst seiner toten Schwester zu verscheuchen, so daß ihm diese dann wie vor längerer Zeit und gewissermaßen auf natürlichere Weise aus der Welt geschieden schien, als es in Wahrheit geschehen war. Freilich gab es auch andere Stunden, wache, erinnerungsschwere, in denen er das furchtbare Begebnis mit unerträglicher Deutlichkeit wie etwas Gegenwärtiges durchlebte.

Eine Woche, ehe Doktor Gräsler die Insel verließ, hatte das Unheil sich zugetragen. Wie es ihm manchmal begegnete, war er im Garten, nach dem Mittagessen, über seiner medizinischen Zeitung eingenickt, und als er erwachte, sah er an dem länglichen [114] Schatten der Palme, der indes unter seinen Füßen über die Breite des Kieswegs hingelaufen war, daß er mindestens zwei Stunden geschlummert haben mußte, was ihn verstimmte, weil er mit seinen achtundvierzig Jahren sich versucht fühlte, dies als ein Zeichen abnehmender Jugendfrische zu deuten. Er erhob sich, steckte die Zeitung ein, und, lebhafte Sehnsucht nach den verjüngenden Frühlingsdüften Deutschlands im Herzen, spazierte er langsam dem kleinen Häuschen zu, das er mit seiner um wenige Jahre älteren Schwester bewohnte. An einem der Fenster sah er sie selbst stehen, was ihm auffiel, da um diese schwüle Stunde sonst alle Läden fest geschlossen zu sein pflegten, und, näher herankommend, merkte er, daß Friederike ihm nicht, wie er von weitem zu bemerken geglaubt hatte, zulächelte, sondern daß sie ihm in vollkommen regungsloser Stellung den Rücken zugewandt hielt. In einer gewissen, ihm selbst nicht ganz verständlichen Unruhe eilte er ins Haus und, rasch auf die Schwester zutretend, die noch immer unbeweglich am Fenster zu lehnen schien, merkte er mit Entsetzen, daß ihr Kopf auf die Brust gesunken war, ihre Augen weit offen standen und sich um ihren Hals eine am Fensterkreuz befestigte Schnur schlang. Er rief laut Friederikens Namen, griff aber zugleich nach seinem Taschenmesser und durchschnitt die Schlinge, worauf die Leblose schwer in seine Arme sank. Er rief nach der Dienerin, die aus der Küche kam und durchaus nicht begriff, was geschehen war, bettete mit ihrer Hilfe die Schwester auf den Diwan hin und begann sofort mit allen möglichen Wiederbelebungsversuchen, wie sie ihm von seinem Berufe her wohlvertraut waren. Die Dienerin war indes zu dem Direktor geeilt; doch als dieser eintrat, war Doktor Gräsler eben, die Vergeblichkeit all seiner Bemühungen erkennend, ermattet und fassungslos an der Leiche seiner Schwester in die Knie gesunken.

Im Anfang mühte er sich vergeblich, eine Erklärung für diesen Selbstmord zu finden. Daß das ernste, in Würde alternde Mädchen, mit dem er sich noch während des letzten Mittagsmahls in harmloser Weise über die bevorstehende Abreise unterhalten hatte, mit einem Male verrückt geworden sein sollte, war nicht wahrscheinlich. Näher lag die Annahme, daß Friederike sich schon geraume Zeit, vielleicht jahrelang, mit Selbstmordgedanken getragen und aus irgendeinem Grunde gerade jene ungestörte Nachmittagsstunde für geeignet erachtet hatte, den allmählich gereiften Plan auszuführen. Daß sich unter ihrer [115] gleichmäßig stillen Laune eine linde Schwermut verbergen mochte, war dem Bruder manchmal flüchtig durch den Sinn gegangen, wenn er auch, von Berufspflichten allzusehr in Anspruch genommen, sich nicht weiter darum zu kümmern pflegte. Wirklich heiter, das wurde ihm allerdings erst allmählich bewußt, hatte er sie seit ihrer Kindheit kaum jemals gesehen.

Von ihren Mädchenjahren war ihm wenig bekannt geworden, da er als Schiffsarzt diese Epoche beinahe durchaus auf Reisen verbracht hatte. Als sie endlich vor fünfzehn Jahren, kurz nach des Bruders Austritt aus dem Lloyd, das Vaterhaus in der kleinen Stadt, aus dem die Eltern rasch hintereinander fortgestorben waren, verlassen und sich ihm zugesellt hatte, um ihm als Haushälterin in seine verschiedenen Aufenthaltsorte zu folgen, war sie weit über dreißig Jahre alt gewesen; doch ihre Gestalt hatte so jugendliche Anmut, ihre Augen einen so rätselhaft dunklen Glanz bewahrt, daß es ihr an Huldigungen nicht fehlte und Emil manchmal nicht ohne Grund besorgte, sie könnte ihm von irgendeinem Bewerber in eine späte Ehe entführt werden. Als mit den Jahren auch die letzten Aussichten dieser Art schwanden, schien sie sich wohl ohne Klage in ihr Los zu fügen, doch glaubte sich der Bruder nun manchen stummen Blicks aus ihren Augen zu erinnern, der mit leisem Vorwurf auf ihn gerichtet war, als hätte auch er die Glücklosigkeit ihres Daseins irgendwie mit zu verantworten gehabt. So mochte das Bewußtsein eines verlorenen Lebens mit den Jahren sich immer entschiedener in ihr geltend gemacht haben, je weniger sie sich ausgesprochen, und sie hatte endlich der nagenden Pein einer solchen Erkenntnis ein rasches Ende vorgezogen. Den ahnungslosen Bruder hatte sie hierdurch freilich in die Notwendigkeit versetzt, sich in einer Lebensperiode, die neuen Gewöhnungen im allgemeinen abhold zu sein pflegt, um Angelegenheiten des Haushaltes und der Wirtschaft zu kümmern, was ihm bisher durch Friederikens Fürsorge erspart geblieben war; und in den letzten Tagen der Schiffsreise, unbeschadet aller Trauer, zog ein kühles, aber irgendwie tröstliches Gefühl der Entfremdung gegenüber der Dahingeschiedenen in sein Herz, die ihn ohne Abschied und völlig unvorbereitet auf Erden allein gelassen hatte.

2. Kapitel

[116] Zweites Kapitel

Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin, wo er sich bei einer Anzahl klinischer Professoren für die beginnende Kurzeit in Erinnerung brachte, traf Doktor Gräsler an einem schönen Maitag in dem kleinen, hügelwaldumgebenen Badestädtchen ein, wo er seit nun sechs Jahren im Sommer die ärztliche Praxis auszuüben pflegte. Er wurde von der Hauswirtin, einer ältlichen Kaufmannswitwe, mit herzlicher Teilnahme begrüßt und freute sich der bescheidenen Feldblumen, mit denen sie die Wohnung zu seinem Empfang geschmückt hatte. Das kleine Zimmer, das im vorigen Jahre seine Schwester bewohnt hatte, betrat er nicht ohne Scheu, doch fand er sich nicht so tief ergriffen, als er eigentlich gefürchtet hatte. Im übrigen ließ das Leben sich gleich im Anfang ganz leidlich an. Der Himmel war von gleichmäßig milder Klarheit, die Luft frühlingshaft lau; und manchmal, zum Beispiel beim Frühstück auf seinem kleinen Balkon, wo auf reinlich gedecktem Tisch die weiße blaugeblümte Kanne, aus der er sich nun freilich den Kaffee selbst in die Tasse eingießen mußte, in der Morgensonne glänzte, kam ein Gefühl von Behaglichkeit über ihn, wie es ihm in Gesellschaft seiner Schwester, zum mindesten in den letzten Jahren, nicht mehr geworden war. Die anderen Mahlzeiten nahm er in dem stattlichen Hauptgasthof des Ortes in Gesellschaft einiger ihm von früher her bekannter, achtungswerter Bürger, mit denen sich's zwanglos und manchmal recht unterhaltsam plaudern ließ. Die Praxis aber setzte gleich recht vielversprechend ein, ohne daß Fälle von besonderer Schwere sein ärztliches Verantwortungsgefühl allzusehr belastet hätten.

So ging der Frühsommer ohne bemerkenswerte Ereignisse dahin, als an einem Juliabend, nach einem ziemlich arbeitsreichen Tage, Doktor Gräsler durch einen Boten, der sich eiligst wieder entfernte, in das Forsthaus gerufen wurde, das eine gute Wagenstunde von dem Städtchen entfernt lag. Der Doktor war hiervon wenig erfreut, wie er überhaupt für ortsansässige Kranke, deren Behandlung weder viel Ruhm, noch viel Gewinn zu bringen pflegte, keinerlei Vorliebe hegte. Doch als er, eine gute Zigarre rauchend, in der milden Abendluft die liebliche Straße zwischen hübschen Landhäusern, dann zwischen gelben Feldern im kühlen Hügelschatten und endlich durch den hohen Buchenwald talaufwärts fuhr, ward ihm behaglicher zumute; und als er gar des Forsthauses ansichtig wurde, dessen anmutvolle Lage ihm von [117] Spaziergängen vergangener Jahre her in guter Erinnerung stand, bedauerte er beinahe, daß die Fahrt so schnell vorüber war. Er ließ den Wagen am Straßenrand halten und ging den schmalen Wiesenweg zwischen jungen Tannen dem Hause zu, das mit blinkenden Fenstern, ein ungeheures Geweih über der schmalen Eingangstür, die Abendsonne auf dem rötlichen Dach, ihm freundlich entgegengrüßte. Über die Holzstufen der im Verhältnis zum Hause auffallend geräumigen Seitenterrasse kam dem Doktor eine junge Dame entgegen, die ihm gleich auf den ersten Blick bekannt erschien. Sie reichte ihm die Hand und berichtete, daß ihre Mutter an Magenbeschwerden erkrankt sei. »Nun schläft sie schon seit einer Stunde ganz ruhig«, erzählte sie weiter. »Das Fieber ist offenbar zurückgegangen. Um vier Uhr nachmittags war, es noch achtunddreißig vier Zehntel. Und da sie sich schon seit gestern Abend elend fühlt, habe ich mir erlaubt, Sie herzubitten, Herr Doktor. Es wird hoffentlich nichts sein.« Dabei sah sie ihm bescheiden bittend ins Auge, als hinge die weitere Entwicklung des Falles von seiner Entscheidung ab.

Er erwiderte ihren Blick mit angemessenem, aber mildem Ernst. Freilich kannte er sie. Schon manchmal war er ihr im Städtchen begegnet, doch hatte er sie für einen Sommergast gehalten. »Nun, wenn Ihre Frau Mama jetzt ruhig schläft«, sagte er, »wird es wohl nichts Schlimmes sein. Vielleicht sagen Sie mir noch etwas Näheres, Fräulein, ehe wir die Kranke am Ende ganz überflüssigerweise aufwecken.« Sie lud ihn ein, weiterzuspazieren, ging ihm voraus auf die Veranda und bot ihm einen Stuhl an, während sie an dem Pfosten der offenen, ins Innere des Hauses führenden Tür stehenblieb. In strenger Sachlichkeit gab sie eine Darstellung des bisherigen Krankheitsverlaufes, der für Doktor Gräsler keinen Zweifel übrig ließ, daß es sich hier um nichts anderes handeln könne, als um eine vorübergehende Magenverstimmung. Immerhin war er genötigt, allerlei medizinische Fragen an die junge Dame zu richten, wurde durch die höchst unbefangene Art überrascht, mit der sie natürliche Vorgänge mit einer Unbedenklichkeit, wie er sie von Mädchenlippen nicht gewohnt war, mitteilte und erläuterte, und fragte sich flüchtig während des Zuhörens, ob sie sich wohl einem jüngeren Arzt gegenüber mit der gleichen Unbefangenheit ausgedrückt hätte. Sie selbst mochte seiner Schätzung nach kaum weniger als fünfundzwanzig Jahre zählen, wenn es nicht etwa die großen, ruhigen Augen waren, die ihrem Antlitz den Ausdruck höherer [118] Reife verliehen. In den blonden, hochgesteckten Zöpfen trug sie einen unverzierten Silberkamm. Ihre Kleidung war einfach, aber durchaus ländlich, der weiße Gürtel durch eine zierlich vergoldete Schnalle geschlossen. Was dem Doktor am meisten auffiel, ja irgendwie verdächtig erschien, waren die höchst eleganten hellbraunen Halbschuhe aus Wildleder, die genau zur Farbe der Strümpfe gestimmt waren.

Doch sie war noch nicht mit ihrem Bericht und Doktor Gräsler noch nicht mit seinen Betrachtungen zu Ende, als es aus dem Innern des Hauses »Sabine« rief. Der Doktor erhob sich, das junge Mädchen wies ihm den Weg durch das geräumige, schon halbdunkel gewordene Speisezimmer in das nächste, hellere, wo in einem der beiden Betten, eine weiße Haube auf dem Kopfe, in einer weißen Nachtjacke, die Kranke aufrecht saß, und dem Eintretenden mit etwas erstaunten, im übrigen aber ganz frischen, beinahe lustigen Augen entgegenschaute.

»Herr Doktor Gräsler«, stellte Sabine vor und trat rasch an das Kopfende des Bettes, die Stirn der Mutter zärtlich mit der Hand berührend.

Die Frau, die nicht alt, sehr wohlgenährt und freundlich aussah, schüttelte mißbilligend das Haupt. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Doktor,« sagte sie, »aber wozu, liebes Kind –«

»Es scheint ja wirklich,« bemerkte der Doktor, indem er die dargebotene Hand der Patientin ergriff und zugleich den Puls fühlte, »daß ich hier ziemlich überflüssig bin, um so mehr, als ja Ihr Fräulein Tochter«, er lächelte fein, »über ganz verblüffende medizinische Kenntnisse zu verfügen scheint. Aber da ich nun schon einmal da bin, nicht wahr –« Und indes die Frau sich achselzuckend in ihr Schicksal zu ergeben schien, nahm er eine nähere Untersuchung vor, der Sabine mit ruhigen Augen aufmerksam folgte, worauf er tatsächlich, soweit es überhaupt notwendig war, sowohl die Patientin als deren Tochter vollkommen beruhigen konnte. Schwierigkeiten ergaben sich jedoch, als Doktor Gräsler die Kranke für die nächsten Tage auf strenge Diät setzen wollte. Dagegen verwahrte sich die Frau aufs heftigste. Sie behauptete, in früheren Jahren derartige Zufälle, die sie als nervös bezeichnete, gerade durch Genuß von Schweinefleisch mit Sauerkraut und einer gewissen Sorte von Bratwürstchen, die hier leider nicht zu beschaffen wären, aufs rascheste kuriert zu haben; und nur diesmal hatte sie sich von Sabine abhalten lassen, mittags [119] eine reichlichere Mahlzeit zu sich zu nehmen, welche Entsagung höchstwahrscheinlich das Fieber zur Folge gehabt hätte. Der Doktor, der diese Bemerkungen anfangs für Scherz hielt, erkannte im weiteren Verlauf der Unterhaltung, daß die Frau, im Gegensatz zu ihrer Tochter, über die medizinische Wissenschaft durchaus laienhaft, ja ketzerisch dachte, wie sie sich denn auch nachher an spöttischen Bemerkungen über die Heilquelle des Badestädtchens nicht genug tun konnte. So behauptete sie, daß zu Versandzwecken die Flaschen mit gewöhnlichem Brunnenwasser gefüllt würden, in das man Salz, Pfeffer und wohl auch noch bedenklichere Gewürze hineintäte, so daß Doktor Gräsler, der sich stets an dem Rufe der Badeorte, in denen er gerade praktizierte, mitbeteiligt und für Erfolge und Mißerfolge mitverantwortlich fühlte, eine gewisse Verletztheit nicht völlig unterdrücken konnte. Doch widersprach er der Mutter nicht ernstlich, sondern begnügte sich, mit der Tochter einen verständnisvoll lächelnden Blick zu wechseln, womit er seinen Standpunkt genügend und in würdiger Weise gewahrt zu haben meinte.

Als er, von Sabine begleitet, ins Freie trat, betonte er nochmals die vollkommene Harmlosigkeit des Falles, worin sich Sabine mit ihm einverstanden erklärte; doch müßte man, wie sie hinzufügte, gewissen Zufällen, die bei ganz jungen Leuten freilich ohne Bedeutung seien, in vorgerückteren Jahren immerhin größere Aufmerksamkeit schenken; und darum hätte sie heute, insbesondere wegen der Abwesenheit ihres Vaters, sich verpflichtet gefühlt, nach dem Doktor zu schicken.

»Der Herr Papa ist wohl auf einer Inspektionsreise?« meinte Doktor Gräsler.

»Wie meinen Sie das, Herr Doktor?«

»Auf einer Inspektionsreise durch das Revier?«

Sabine lächelte. »Mein Vater ist nicht Förster. Das ist auch schon lange nicht mehr das eigentliche Forsthaus. Es heißt nur so, weil bis vor sechs oder sieben Jahren der Förster des fürstlichen Reviers hier ge wohnt hat. Aber so wie man das Haus hier noch immer das Forsthaus nennt, so nennen sie in der Stadt drin den Vater immer den Förster, obwohl er niemals in seinem Leben irgend etwas dergleichen gewesen ist.«

»Sie sind das einzige Kind?« fragte Doktor Gräsler, während sie ihn, als verstünde sich das von selbst, unter den jungen Tannen auf dem schmalen Wege zur Straße hin begleitete.

»Nein«, erwiderte sie. »Ich habe noch einen Bruder. Der ist [120] aber viel jünger als ich, erst fünfzehn. Er läuft natürlich den ganzen Tag im Wald herum, wenn er daheim auf Ferien ist. Zuweilen schläft er sogar im Freien.« Und als der Doktor etwas bedenklich den Kopf schüttelte, fügte sie hinzu: »Oh, das macht nichts, das hab' ich früher auch manchmal getan. Nicht oft, freilich.«

»Doch wohl nur ganz in der Nähe des Hauses,« fragte der Doktor leicht besorgt, »und« – setzte er zögernd hinzu – »als kleines Mädchen?«

»Oh, nein, ich war ja schon siebzehn Jahre alt, als wir das Haus hier bezogen. Früher haben wir nicht in dieser Gegend gewohnt, sondern in der Stadt ... in verschiedenen Städten.«

Da sie sich so zurückhaltend vernehmen ließ, hielt es der Doktor für angemessen, nicht weiter zu fragen. Sie standen am Straßenrand. Der Kutscher war fahrbereit. Sabine reichte dem Doktor die Hand. Er hatte das Bedürfnis, noch ein Wort zu sagen. »Wenn ich mich nicht irre, sind wir einander schon einigemal im Städtchen begegnet?«

»Gewiß, Herr Doktor. Ich kenne Sie auch schon lang. Freilich vergehen manchmal Wochen, ehe ich hineinkomme. Im vorigen Jahr habe ich übrigens einmal Ihr Fräulein Schwester gesprochen, ganz flüchtig, beim Kaufmann Schmidt. Sie ist wohl wieder mit Ihnen da?«

Der Doktor blickte vor sich hin. Seine Augen trafen zufällig Sabinens Schuhe, und er schaute an ihnen vorbei. »Meine Schwester ist nicht mit mir gekommen«, sagte er. »Sie ist vor einem Vierteljahr gestorben, in Lanzarote.« Es war ihm weh ums Herz; doch daß er den Namen der fernen Insel aussprechen durfte, bereitete ihm eine kleine Genugtuung.

Sabine sagte »Oh« und weiter nichts. Nun standen sie eine Weile schweigend, bis Doktor Gräsler seine Züge zu einem etwas förmlichen Lächeln zwang und Sabinen die Hand reichte. »Gute Nacht, Herr Doktor«, sagte sie ernst. »Gute Nacht, Fräulein«, erwiderte er und stieg in den Wagen. Sabine stand noch eine kleine Weile, bis sich der Wagen in Bewegung gesetzt hatte, dann wandte sie sich zum Gehen. Doktor Gräsler blickte nach ihr zurück. Mit leicht gesenktem Kopfe, ohne sich umzuwenden, ging sie zwischen den Tannen dem Hause zu, aus dem ein Lichtstrahl über den Weg schimmerte. Eine Biegung der Straße, und das Bild war verschwunden. Der Doktor lehnte sich zurück und sah zum Himmel auf, der dämmerkühl mit spärlichen Sternen über ihm hing.

[121] Er dachte ferner Zeiten, junger, heiterer Tage, da ihm manches hübsche Wesen in Liebe angehört hatte. Zuerst fiel ihm die Ingenieurswitwe aus Rio de Janeiro ein, die den Dampfer, auf dem er als Schiffsarzt mitreiste, in Lissabon verlassen hatte, angeblich, um irgend etwas in der Stadt einzukaufen – und die trotz ihres bis Hamburg geltenden Billetts nicht wieder an Bord zurückgekommen war. Er sah sie noch vor sich, wie sie in ihrem schwarzen Kleid aus dem Wagen heraus, der sie vom Hafen zur Stadt hinaufführte, ihm freundlich zuwinkte, und wie sie ihm an irgendeiner Straßenecke entschwand für alle Ewigkeit. Er dachte ferner der Advokatentochter aus Nancy, mit der er sich in St. Blasien, dem ersten Ort, wo er seine Badepraxis ausübte, verlobt hatte, die dann plötzlich mit ihren Eltern eines wichtigen Prozesses halber nach Frankreich zurückreisen mußte und ihm die Nachricht von ihrer Ankunft sowie jede andere bis zum heutigen Tage schuldig geblieben war. Auch des Fräuleins Lizzie dachte er, aus seiner Berliner Studentenzeit, das sich seinetwegen sogar ein wenig angeschossen, und erinnerte sich, wie sie ihm widerstrebend die rauchgeschwärzte Stelle unter der linken Brust gezeigt, und wie er doch keine Spur von Rührung, sondern nur etwas Ärger und Langeweile empfunden hatte. Er dachte auch der netten, häuslichen Henriette, die er durch viele Jahre, wenn er von seinen Schiffsreisen nach Hamburg heimkehrte, in ihrer kleinen, hochgelegenen Wohnung mit dem Blick über die Alster wiederfand, so heiter, so harmlos und so bereit, wie er sie verlassen – ohne daß er je erfahren oder sich nur ernstlich darum gekümmert, was sie in der Zwischenzeit getan und erlebt hatte. Noch mancherlei anderes ging ihm durch den Sinn, darunter einiges, was nicht sonderlich hübsch, und manches, was sogar in verschiedenem Sinne nicht unbedenklich gewesen war, und wovon er heute gar nicht begriff, daß er sich überhaupt darauf hatte einlassen können; im ganzen aber blieb es doch traurig, daß die Jugend dahin und damit wohl auch das Recht verwirkt war, vom Leben noch etwas Schönes zu erwarten. Der Wagen fuhr zwischen Feldern hin, die Hügel ragten dunkel und höher als bei Tag, aus den kleinen Villen schimmerten Lichter her, auf einem Balkon lehnten stumm, enger aneinander geschmiegt, als sie es sich wohl bei Tageslicht erlaubt hätten, ein Mann und eine Frau. Von einer Veranda her, wo eine kleine Gesellschaft beim Abendessen saß, klang lautes Sprechen und Lachen. Doktor Gräsler begann Appetit zu verspüren, freute sich dem Abendessen entgegen, [122] das er im »Silbernen Löwen« einzunehmen pflegte, und trieb den gemächlichen Kutscher zu größerer Eile an. Am Stammtisch, wo er die Bekannten schon alle versammelt fand, trank er heute ein Glas Wein mehr als gewöhnlich, weil ihm, wie er von früher her wußte, in einer solchen ganz unmerklichen Benommenheit das Leben irgendwie süßer und leichter zu erscheinen pflegte. Er hatte anfangs die Absicht, von seinem heutigen Besuche im Försterhause zu erzählen; doch aus irgendeinem Grunde, der ihm nicht klar wurde, ließ er es sein. Der Wein versagte aber heute seine Wirkung. Doktor Gräsler erhob sich sogar melancholischer vom Tische, als er sich hingesetzt hatte und begab sich mit leichten Kopfschmerzen nach Hause.

3. Kapitel

Drittes Kapitel

In den nächsten Tagen nahm Doktor Gräsler öfter als sonst Gelegenheit, die Hauptstraße des Städtchens zu durchstreifen, in der unbestimmten Erwartung, Sabinen zu begegnen. Einmal lief er sogar, wie von einer Ahnung ergriffen, während seiner Sprechstunde, als das Wartezimmer zufällig eben leer stand, die Treppe hinab und tat einen eiligen, doch vergeblichen Gang bis zur Trinkhalle und wieder zurück. Am Abend dieses selben Tages erwähnte er wie beiläufig am Stammtisch, daß man ihn neulich ins Forsthaus gerufen habe, und horchte angespannt und etwas kampfbereit, ob etwa über Fräulein Sabine ein leichtfertiges Wort fiele, wie es in aufgeräumter Herrengesellschaft auch ohne Berechtigung wohl gelegentlich auffliegen mag. Aber die Familie Schleheim schien, wie das matte Echo seiner Mitteilung dem Doktor verriet, außerhalb jeden Interesses zu stehen; und nur ganz beiläufig war von Berliner Verwandten des sogenannten Försters die Rede, bei denen die Tochter, die der Tischgesellschaft offenbar nicht einmal als sonderliche Schönheit galt, zuweilen die Wintermonate verleben sollte.

An einem der nächsten Spätnachmittage entschloß sich Doktor Gräsler zu einem Spaziergang, der ihn allmählich in die Nähe des Forsthauses führte. Von der Straße aus sah er es stumm im Schatten des Waldes liegen, und auf der Veranda gewahrte er die Gestalt eines Mannes, dessen Gesichtszüge er nicht zu unterscheiden vermöchte. Einen Augenblick blieb er stehen und fühlte sich heftig gelockt, geradeswegs ins Haus zu treten und sich, als [123] hätte eben der Zufall ihn hier vorbeigeführt, nach dem Befinden der Frau Schleheim zu erkundigen; aber er besann sich rasch, daß dies, als mit seiner ärztlichen Würde kaum vereinbar, falscher Auffassung begegnen könnte. Von diesem Spaziergang kam er müder und verdrossener nach Hause, als er es nach einer so geringfügigen Enttäuschung für möglich gehalten, und als er Sabinen auch in den nächsten Tagen im Städtchen nicht begegnete, begann er zu hoffen, daß sie verreist oder am Ende gar für immer von hier verschwunden wäre, was ihm im Interesse seines seelischen Gleichmaßes eigentlich wünschenswert erschien.

Eines Morgens, als er, längst nicht mehr mit dem Behagen der ersten Tage, auf seinem besonnten Balkon das Frühstück einnahm, wurde ihm gemeldet, daß ein junger Herr ihn zu sprechen wünsche. Als gleich darauf ein hochgewachsener hübscher Junge im Radfahranzug auf dem Balkon erschien, zeigte er sich in Haltung und Gesichtsschnitt von einer so unverkennbaren Ähnlichkeit mit Sabine, daß der Doktor nicht umhin konnte, ihn wie einen Bekannten zu begrüßen.

»Der junge Herr Schleheim –?« fragte er in mehr überzeugtem als fragendem Tone.

»Der bin ich«, erwiderte der Junge.

»Ich habe Sie gleich an der Ähnlichkeit mit – Ihrer Mutter erkannt. Bitte, nehmen Sie Platz, junger Mann. Ich bin noch beim Frühstück, wie Sie sehen. Was gibt's? Die Frau Mama wieder leidend?« Es war ihm, als spräche er zu Sabine.

Der junge Schleheim blieb stehen, die Kappe höflich in der Hand. »Der Mutter geht's gut, Herr Doktor. Seit ihr Herr Doktor so ins Gewissen geredet haben, ist sie etwas vorsichtiger geworden.«

Der Doktor lächelte. Es war ihm sofort klar, daß Sabine ihre eigenen Befürchtungen zum Zwecke besserer Wirkung ihm als dem Arzte in den Mund gelegt hatte. Plötzlich fiel ihm ein, daß Sabine selbst diesmal die Kranke sein könnte, und er erkannte an der unvermuteten Beschleunigung seines Pulses, wie sehr ihm das Wohlbefinden des jungen Mädchens naheging. Doch ehe er noch zu fragen vermochte, sagte der Knabe: »Es handelt sich diesmal um den Vater.«

Doktor Gräsler atmete auf. »Was fehlt ihm? Hoffentlich nichts Ernstes.«

»Ja, wenn man das wüßte, Herr Doktor. Er hat sich so sehr verändert in der letzten Zeit. Es muß vielleicht gar keine wirkliche [124] Krankheit sein. Er ist nämlich schon zweiundfünfzig Jahre alt.«

Der Doktor runzelte unwillkürlich die Stirn. Etwas kühl fragte er: »Also welche Erscheinungen geben Ihnen denn Anlaß zu Besorgnis?«

»In der letzten Zeit, Herr Doktor, hat der Vater Schwindelanfälle, und gestern abend, wie er vom Sessel aufstehen wollte, ist er beinahe hingefallen und hat sich nur mühselig am Tischrand festgehalten. Und dann, wenn er sein Glas nimmt, um zu trinken, das merken wir schon lange, zittern ihm die Hände.«

»Hm.« Der Doktor sah von seiner Tasse auf.

»Ihr Herr Vater nimmt sein Glas wohl ziemlich oft in die Hand, und wahrscheinlich ist nicht immer Wasser im Glas –?«

Der Junge sah zu Boden. »Es kann freilich auch ein wenig damit zusammenhängen, meint Sabine. Und dann raucht der Vater auch den ganzen Tag.«

»Nun, mein lieber junger Herr, Alterserscheinungen müssen das ja eben nicht sein. Also, der Herr Papa wünscht meinen Besuch?« fügte er höflich hinzu.

»So einfach ist das leider nicht, Herr Doktor. Der Vater dürfte gar nicht wissen, daß Sie seinetwegen kommen, er hat nie was von einem Doktor hören wollen. Und Sabine meint, ob man es nicht auf einen Zufall hinausspielen könnte.«

»Auf einen Zufall?«

»Zum Beispiel, wenn Herr Doktor nächstens einmal wieder am Forsthaus vorbeikämen, wie neulich am Nachmittage, da würde die Sabine Sie von der Veranda aus grüßen oder anrufen, und Herr Doktor kämen heran – und – und dann müßte man eben weitersehen.«

Der Doktor fühlte sich bis in die Stirn rot werden. Und mit dem Löffel in der leeren Tasse rührend, sagte er: »Zum Spazierengehen reicht ja meine Zeit leider nicht sehr oft. Allerdings neulich einmal, ach ja, da bin ich wohl recht nah am Forsthaus vorbeigekommen.« Er wagte nun aufzuschauen und sah zu seiner Beruhigung den Blick des Knaben völlig harmlos auf sich gerichtet. In geschäftsmäßigem Ton fuhr er fort: »Wenn es nicht anders zu machen ist, so will ich denn Ihren Vorschlag – – freilich, mit einem Gespräch auf der Veranda wird wenig getan sein. Ohne gründliche Untersuchung läßt sich ja doch nichts sagen.«

»Selbstverständlich, Herr Doktor. Wir hoffen ja, daß der Vater sich allmählich auch dazu entschließen wird. Aber wenn Sie ihn [125] zuerst nur einmal sehen würden! Herr Doktor haben ja so viel Erfahrung. Vielleicht könnten Sie's ermöglichen, Herr Doktor, dieser Tage einmal nach Ihrer Ordination, am liebsten freilich wäre es uns schon heute –«

Heute – wiederholte Gräsler bei sich – heute schon könnte ich sie wiedersehen! Wie wunderbar! Aber er schwieg, blätterte in seinem Notizbuch, schüttelte den Kopf, schien vor unüberwindlichen Schwierigkeiten zu stehen, bis er plötzlich einen Bleistift nahm, entschlossen irgend etwas ausstrich, was gar nicht dastand, und auf die nächste Seite, da ihm dieses Wort eben zuerst einfiel, »Sabine« schrieb. Und er entschied sich freundlich, aber kühl: »Also schön, sagen wir denn: heute zwischen halb sechs und sechs. Ist Ihnen das recht?«

»Oh, Herr Doktor ...«

Gräsler erhob sich, wehrte die Dankbezeugungen des Knaben ab, gab ihm Empfehlungen an Mutter und Schwester mit und reichte ihm zum Abschied die Hand. Er trat dann vom Balkon in sein Zimmer und sah vom Fenster aus, wie der junge Schleheim mit seinem Rad aus dem Hausflur kam, die Kappe fester in die Stirn drückte, sich flink und geschickt aufschwang und bald um die nächste Ecke verschwunden war. Wäre ich nur um zehn Jahre jünger, dachte der Doktor, so könnte ich mir einbilden, das Ganze sei nichts als ein Vorwand des Fräulein Sabine, um mich wiederzusehen. Und er seufzte leise.

Bald nach fünf Uhr, in einem hellgrauen Anzug, dessen Trauercharakter im übrigen durch den Flor um den linken Arm gewahrt blieb, fuhr er von Hause ab. Seine Absicht war es, den Wagen in der Nähe des Forsthauses halten zu lassen; aber viel früher schon, bald nachdem er das Bereich der Villen verlassen hatte, sah er zu seiner angenehmen Überraschung auf dem schmalen Wiesenpfad, der sich längs der Landstraße hinzog, Sabine und ihren Bruder sich entgegenkommen. Er sprang aus dem langsam talaufwärts fahrenden Wagen und reichte zuerst Sabinen, dann dem Knaben die Hand.

»Wir müssen Sie sehr um Entschuldigung bitten«, begann Sabine leicht erregt. »Es ist uns nämlich nicht gelungen, den Vater zu Hause zu halten; und vor dem späten Abend wird er wohl nicht zurück sein. Ich bitte sehr, seien Sie mir nicht böse.« Der Doktor hätte gern eine verdrossene Miene gezeigt, es gelang ihm aber nicht, und er sagte leichthin: »Das tut ja nichts.« Er sah auf die Uhr mit gerunzelter Stirn, als gelte es eine neue Einteilung [126] für den Rest des Tages zu treffen; dann schaute er auf und mußte lächeln, da er Sabine und ihren Bruder wie zwei Schulkinder, die eigentlich eine Rüge erwarteten, am Wegrand stehen sah. Sabine trug heute ein weißes Kleid, ein breitrandiger Strohhut hing ihr an einem losen gelben Band über den linken Arm herab, und sie sah viel jünger aus als neulich.

»Und an solch einem heißen Nachmittag,« sagte der Doktor beinahe vorwurfsvoll, »sind Sie mir zu Fuß so weit entgegengekommen! Das war wirklich nicht notwendig.«

»Herr Doktor,« entgegnete Sabine ein wenig verlegen, »ich möchte doch vor allem, zur Vermeidung jedes Mißverständnisses, ausdrücklich betonen, daß auch dieser nicht geglückte Besuch selbstverständlich geradeso wie jede ärztliche Visite –«

Der Doktor unterbrach eilig. »Da muß ich doch bitten, mein Fräulein. Auch wenn unser Anschlag heute gelungen wäre, von einer ärztlichen Visite könnte keineswegs die Rede sein. Vielmehr bitte ich, mich bis auf weiteres nur als Mitverschworenen zu betrachten.«

»Wenn Sie die Sache so nehmen, Herr Doktor,« erwiderte Sabine, »so machen Sie es mir einfach unmöglich –«

Doktor Gräsler unterbrach nochmals: »Es war heute ohnedies meine Absicht gewesen, eine Spazierfahrt zu unternehmen. Und vielleicht gestatten Sie mir, Ihnen, da es sich schon so fügt, den Wagen zur Nachhausefahrt zur Verfügung zu stellen, ja? Und wenn Sie mich mitnehmen wollen, so darf ich mich vielleicht bei dieser Gelegenheit nach dem Befinden Ihrer Frau Mama erkundigen.« Er fühlte sich als Mann von Welt und nahm sich flüchtig vor, im nächsten Sommer doch wieder in einem größeren Badeort seine Praxis auszuüben, obwohl er in solchen bisher niemals Glück gehabt hatte.

»Der Mutter geht's ausgezeichnet«, sagte Sabine. »Aber wenn Sie den Abend schon verloren geben, Herr Doktor, wie wär's« – und sie wandte sich an ihren Bruder –, »wenn wir dem Herrn Doktor unsern Wald zeigten, Karl?«

»Ihren Wald?«

»Wir heißen ihn so«, sagte Karl. »Er gehört wirklich uns allein. Von den Kurgästen kommt keiner so weit. Da gibt es wunderschöne Partien. Manche wie im Urwald.«

»So was muß man sich natürlich ansehen«, sagte der Doktor. »Ich nehme dankbar an.«

Der Wagen wurde für alle Fälle in die Nähe des Forsthauses [127] dirigiert, und Doktor Gräsler, von den Geschwistern geleitet, schlug einen Feldweg ein, der ganz schmal, so daß eines sich hinter dem andern halten mußte, zuerst zwischen mannshohen Ähren, dann über Wiesengrund in den Wald hineinführte.

Der Doktor sprach davon, daß er schon sechs Jahre allsommerlich hierherkäme und die Gegend eigentlich doch nicht recht kenne. Dies aber sei nun einmal sein Los. Schon als Lloydarzt habe er meistens nur die Ufer gesehen, bestenfalls die Hafenstädte und deren nächste Umgebung; tiefer ins Land zu streifen, habe der Dienst beinahe immer verwehrt. Da Karl durch wiederholte Fragen sein Interesse für ferne Gegenden und Seereisen kundgab, nannte der Doktor aufs Geratewohl die Namen mancher Küstenorte, in die oder an denen vorüber sein Beruf ihn vor Jahren geführt hatte; und daß er so als eine Art von Weltfahrer gelten durfte, gab seiner Rede eine Lebhaftigkeit und Laune, die ihm sonst nicht immer zu Gebote standen. Von einer Lichtung aus eröffnete sich ein anmutiger Ausblick nach dem Städtchen, von wo das gläserne Dach der Trinkhalle in der Abendsonne heraufglitzerte. Man beschloß, eine Weile zu rasten. Karl streckte sich der Länge nach ins Gras hin, Sabine setzte sich auf einen abgehauenen, entrindeten Baumstamm; Doktor Gräsler aber, der seinen hellgrauen Anzug keinerlei Fährlichkeiten aussetzen wollte, blieb stehen, erzählte von seinen Reisen weiter; seine Stimme, sonst trotz häufigen Räusperns etwas belegt, erklang ihm selbst mit einer neuen oder ihm wenigstens fremd gewordenen Weichheit, und er fand sich mit einer Teilnahme angehört, deren er schon lange nicht genossen hatte. Am Ende erbot er sich, die Geschwister heimzubegleiten, so daß der Vater, wenn er schon zu Hause wäre, ohne weiteres an eine zufällige Begegnung glauben könnte, wodurch dann die Bekanntschaft in der harmlosesten Weise eingeleitet sei. Sabine nickte in einer kurzen, ihr ganz eigenen Art, was dem Doktor eine entschiedenere Zustimmung erschien, als Worte bedeutet hätten. Auf dem sich leicht bergab senkenden, immer breiter werdenden Waldwege war es nun hauptsächlich Karl, der die Unterhaltung führte und Reise-, ja Entdeckungspläne entwickelte, in deren kindlicher Abenteuerhaftigkeit Nachklänge kürzlich gelesener Jugendschriften nicht zu verkennen waren. Früher als der Doktor erwartet hatte, stand man vor dem Gartenzaun, und zwischen den hohen Tannen, in verdämmerndem Weiß schimmerte die Rückseite des Forsthauses mit ihren sechs schmalen, gleichförmigen Fenstern. Auf dem [128] zertretenen Rasen zwischen Haus und Zaun, roh gezimmert, stand ein länglicher Tisch mit Bank und Sesseln.

Da Karl vorausgelaufen war, um Nachschau zu halten, blieb der Doktor eine Weile mit Sabinen allein unter den Tannen stehen. Sie sahen einander an, der Doktor lächelte etwas verlegen; da Sabine ernst blieb, bemerke er, die Blicke langsam nach verschiedenen Seiten wendend: »Welch ein Friede hier«, und räusperte leise. Karl erschien an einem offenen Fenster und winkte lebhaft. Der Doktor verlieh seinem Antlitz beruflichen Ernst und folgte Sabinen durch den Garten auf die Veranda, wo der Förster und seine Frau sich eben von dem Sohn die Geschichte der nachmittägigen Begegnung berichten ließen. Gräsler, durch die falsche Bezeichnung Förster noch immer irre gemacht, hatte erwartet, sich einem langbärtigen, derben Mann im Jägeranzug mit der Tabakspfeife im Mund gegenüberzusehen und war nun verwundert, als ihn ein schlanker, glattrasierter Herr mit schwarzem, eben erst ergrauendem, sorgfältig gescheiteltem Haar freundlich, aber mit einer irgendwie theatralisch wirkenden Vornehmheit begrüßte. Doktor Gräsler begann damit, den schönen Wald zu preisen, mit dessen ganzer Herrlichkeit ihn erst Karl und Sabine bekanntgemacht hätten; und während sich ein Gespräch über das trotz der reizvollsten Umgebung doch so langsame Aufblühen des Badestädtchens entspann, unterließ Doktor Gräsler keineswegs, an dem Herrn des Hauses seine ärztlichen Beobachtungen anzustellen, vermochte aber vorerst nichts Auffallendes an ihm zu entdecken als eine gewisse Unruhe des Blicks sowie ein oft wiederkehrendes wie verächtliches Zucken der Mundwinkel. Als Sabine das Abendessen meldete, wollte Doktor Gräsler sich verabschieden, doch der Förster, in übertriebener Liebenswürdigkeit, ließ es nicht zu, und so saß der Doktor bald mit Eltern und Kindern am Familientische, über dem von der holzgetäfelten Decke eine grünbeschirmte Lampe herabhing. Er sprach von dem bevorstehenden Samstagkränzchen im Kursaal und wandte sich mit der Frage an Sabine, ob sie an derlei Veranstaltungen manchmal teilnehme.

»In den letzten Jahre nicht mehr«, erwiderte Sabine. »Früher, als ich noch jünger war –« Und dem abwehrenden Lächeln des Doktors zur Erwiderung fügte sie gleich und, wie ihm schien, nicht ohne Bedeutung bei: »Ich bin nämlich schon siebenundzwanzig.«

Der Vater warf eine spöttische Bemerkung über die kleinlichen [129] Verhältnisse des Badestädtchens ein, fing an, mit Lebhaftigkeit vom Zauber der großen Städte und des bewegten Weltlebens zu reden, und aus seinen weiteren Äußerungen war zu entnehmen, daß er früher Opernsänger gewesen war und diese Laufbahn erst lange nach seiner Verheiratung aufgegeben hatte. Während er nun allerlei Namen nannte von Künstlern, an deren Seite er gewirkt, von Gönnern, die ihn hochgeschätzt, und endlich von Ärzten, deren falschen Behandlungsmethoden er den vorzeitigen Verlust seiner Baritonstimme verdankte, leerte er ein Glas nach dem anderen, bis er ganz plötzlich ermüdet schien und mit einem Male einem verbrauchten und alten Manne gleichsah. Nun hielt es der Doktor an der Zeit, sich zu empfehlen. Die Geschwister begleiteten ihn zum Wagen und erkundigten sich ängstlich nach dem Eindruck, den er von ihrem Vater gewonnen hätte. Doktor Gräsler, wenn er sich auch heute schon getrauen wollte, eine ernstere Erkrankung auszuschließen, sprach die Erwartung aus, bald zu weiterer Beobachtung und lieber noch zu einer ordentlichen Untersuchung Gelegenheit zu finden, ohne die er als gewissenhafter Arzt doch nichts Bestimmtes aussagen könnte.

»Findest du nicht,« wandte sich nun Karl an seine Schwester, »daß der Vater schon lange nicht so gesprächig war wie heute abend?«

»Das ist wohl wahr,« bestätigte Sabine, – und zu Doktor Gräsler gewendet mit einem dankbaren Blick, »Sie sind ihm gleich sympathisch gewesen – man hat es deutlich merken können.«

Mit einer bescheidenen Handbewegung wehrte der Doktor ab, versprach auf der Geschwister Bitte, in den nächsten Tagen seinen Besuch zu wiederholen, und stieg ein. Die Geschwister blieben beide noch eine Weile am Straßenrande stehen und schauten dem Wagen nach. Unter einem kühlen Sternenhimmel fuhr der Doktor nach Hause. Sabinens Vertrauen erfüllte ihn mit Befriedigung, und mit einer um so süßeren, als er vermuten durfte, es nicht allein seinen ärztlichen Fähigkeiten zu verdanken. Es war ihm wohl bewußt, daß er, insbesondere in den letzten Jahren, müder und gleichgültiger geworden, seinen Kranken gegenüber es oft genug an wahrer menschlicher Teilnahme hatte fehlen lassen, und nach langer Zeit ging ihm heute wieder einmal die Hoheit eines Berufes auf, den er in verflossenen Jugendjahren zwar mit Begeisterung erwählt, dessen er sich aber gewiß nicht stets auf gleiche Weise innerlich wert erwiesen hatte.

4. Kapitel

[130] Viertes Kapitel

Als Doktor Gräsler am nächsten Tag die Tür zu seinem Wartezimmer öffnete, sah er zu seiner Verwunderung unter anderen Patienten Herrn Schleheim sitzen, der als Ersterschienener dem Arzte sofort in den Sprechraum folgte. Der Sänger stellte vorerst die Forderung, daß die Familie niemals von seinem Besuch erfahren dürfte, und war nach erhaltenem Versprechen ohne weiteres bereit, seine Beschwerden vorzutragen und sich einer Untersuchung zu unterziehen. Doktor Gräsler vermochte kein ernstliches körperliches Leiden zu entdecken, doch war eine tiefere seelische Verstimmung unverkennbar, wie sie bei einem Mann nicht überraschend erschien, der in seinen besten Jahren gezwungen war, einen äußerlich glänzenden Beruf aufzugeben, für den er weder in seiner Häuslichkeit und in der Liebe zu den Seinen, noch in eignem inneren Reichtum genügenden Ersatz zu finden verstand. Daß er sich mit jemandem einmal gründlich aussprechen durfte, tat ihm sichtlich wohl. Und so nahm er es gern an, als der Doktor, der erklärte, ihn überhaupt nicht als Patienten betrachten zu können, scherzhaft gewandt um die Erlaubnis ersuchte, bei gelegentlichen Spaziergängen im Forsthaus einsprechen und dort mit ihm plaudern zu dürfen.

Als er nächsten Sonntag vormittag von dieser Erlaubnis Gebrauch machte, traf er den Sänger vorerst allein an, der ihm sofort mitteilte, daß er es doch für klüger gehalten habe, die »Familie«, wie er sich immer zusammenfassend ausdrückte, von der stattgehabten Untersuchung und von deren günstigem Ausgang zu unterrichten, schon um die besorgten Mienen, die ihm widerwärtig seien, nicht mehr sehen und das langweilige Gerede, das ihn zur Verzweiflung bringe, nicht mehr hören zu müssen. Als der Arzt daraufhin die freilich übertriebene, aber dabei doch rührende Besorgnis der Kinder zu rühmen sich anschickte, stimmte der Vater leicht zu und erklärte, an ihnen überhaupt nichts anderes aussetzen zu wollen, als daß sie eben gar so gute und brave Menschen seien. »Darum,« setzte er hinzu, »werden sie beide nicht viel vom Leben haben; wahrscheinlich werden sie es nicht einmal kennenlernen.« Und in seinem Auge schimmerte eine blasse Erinnerung von fernen und verruchten Abenteuern. Sie hatten nur eine kurze Weile auf der Bank vor der Eingangstür gesessen, als die übrigen Mitglieder der Familie Schleheim herankamen, alle etwas sonntagsmäßig angetan und gerade dadurch kleinbürgerlicher [131] aussehend als sonst. Sabine, die sich dessen bewußt zu sein schien, nahm gleich den bewimpelten Hut ab und strich sich dann wie beruhigt über ihre schlichte Frisur. Der Doktor wurde über Mittag hiergehalten; das Gespräch bei Tische hielt sich durchaus an der Oberfläche der Dinge, und als die Rede darauf kam, daß der Leiter einer dem Badestädtchen ganz nahe gelegenen Heilanstalt sich mit Rücktrittsabsichten trage, fragte die Mutter den Gast beiläufig, ob ihn denn eine solche Stellung nicht lockte, wo ihm vielleicht Gelegenheit geboten würde, seine berühmten Hungerkuren systematisch anzuwenden. Nachdem Gräsler den Scherz lächelnd abgewehrt hatte, bemerkte er, daß er sich zu einer Stellung solcher Art bisher niemals habe entschließen können. »Ich kann auf das Bewußtsein meiner Freiheit nicht verzichten,« sagte er, »und wenn ich auch schon ein halbes dutzendmal hintereinander da unten im Ort praktiziert habe und aller Wahrscheinlichkeit nach in den nächsten Jahren wiederkommen werde, jeder Zwang würde mir die Freude an dieser Gegend, ja an meinem Berufe überhaupt erheblich stören.«

Sabine schien durch ein kaum merkliches Neigen des Kopfes ihr Verständnis für diese Auffassung ausdrücken zu wollen. Im übrigen zeigte sie sich über die Verhältnisse der Heilanstalt gut unterrichtet und erklärte sie insbesondere für viel ertragsfähiger, als sie sich unter dem derzeitigen, alten und nachlässig gewordenen Direktor in der letzten Zeit erwiesen hätte. Auch sprach sie die Meinung aus, daß für jeden Arzt die Wirksamkeit an einer Heilanstalt schon darum sehr wünschenswert sein müßte, weil nur da die Bedingungen zu einer wirklich dauernden Beziehung zwischen Arzt und Kranken und damit auch die Gelegenheit zur Anwendung von verläßlichen, weil stets kontrollierbaren Heilmethoden gegeben seien.

»Das hat freilich viel für sich«, meinte Doktor Gräsler mit jener Zurückhaltung im Ton, die er als Fachmann in diesem Kreise für angemessen hielt. Dies entging Sabine nicht, und sie bemerkte rasch und leicht errötend: »Ich habe nämlich eine Zeitlang in Berlin Krankenpflege getrieben.«

»Wahrhaftig!« rief der Doktor aus und wußte nicht gleich, wie er sich dieser Eröffnung gegenüber verhalten sollte. Und er bemerkte allgemein: »Ein schöner, ein edler Beruf. Aber düster und schwer! Und ich begreife wohl, daß es Sie bald wieder nach Hause in die heimatliche Waldesluft gezogen hat!«

Sabine schwieg, auch die anderen blieben stumm. Doktor Gräsler [132] aber ahnte, daß man nun hart an der Stelle vorgekommen war, wo das bescheidene Rätsel von Sabinens Dasein verborgen liegen mochte.

Nach dem Essen bestand Karl auf einer Dominopartie im Garten wie auf seinem verbrieften Recht. Der Doktor wurde aufgefordert, mitzutun; und bald, während die Mutter, auf einem bequemen Sessel unter den Tannen hingestreckt, über der mitgenommenen Handarbeit allmählich einschlummerte, war das Spiel harmlos klappernd im Gange. Doktor Gräsler erinnerte sich gewisser trübseliger Sonntagnachmittagsstunden aus den vergangenen Jahren an seiner schwermütigen Schwester Seite; er schien sich einer düstern, lastenden Epoche seines Lebens wundersam entronnen; und wenn Sabine, seine Zerstreutheit gewahrend, ihn durch einen lächelnden Blick oder gar durch eine leichte Berührung seines Armes ermahnte, die Steine weiter anzusetzen, so fühlte er von solcher Vertraulichkeit sich zu einer unbestimmten milden Hoffnung angerührt.

Das Spiel wurde abgeräumt, ein geblümtes Tuch über den Tisch gebreitet; und da ein Wagen heute nicht zu beschaffen war, so blieb dem Doktor eben nur noch Zeit, rasch eine Tasse Kaffee mit den andern zu trinken, wenn er seine Kranken, die ihn natürlich auch Sonntags nicht entbehren konnten, noch vor dem späten Abend besuchen wollte. Er nahm die Erinnerung an ein Lächeln und an einen Händedruck Sabinens mit sich, deren beglückendes Nachgefühl ihn auch auf noch staubigerer und heißerer Landstraße Langeweile und Beschwerde kaum hätte empfinden lassen.

Trotzdem hielt er es für richtig, eine Zeit hingehen zu lassen, ehe er sich im Forsthaus wieder sehen ließ. Es wurde ihm leichter, als er gedacht, da sein Beruf ihn auch innerlich wieder zu beschäftigen begann. Er führte nicht nur die Krankengeschichten seiner Patienten auf das sorgfältigste, sondern war auch bemüht, die allmählich entstandenen Lücken seines theoretischen Wissens durch das Studium medizinischer Werke und Zeitschriften so sehr als möglich auszufüllen. Aber wenn er sich auch klar darüber war, daß all dies auf die Wirkung von Sabinens Persönlichkeit zurückzuführen sei, so wehrte er sich doch weiter dagegen, eine ernstliche Hoffnung auf den Besitz des jungen Mädchens in sich aufkommen zu lassen; und selbst wenn er ganz leicht, im Spiel der Gedanken, die Möglichkeit einer Werbung erwog und nun den weiteren Verlauf eines mit Sabinen gemeinsamen Schicksals [133] innerlich zu verfolgen suchte, so erschien ihm ungerufen die in diesem Zusammenhang höchst unliebsame Gestalt des Hoteldirektors aus Lanzarote, wie er den ältlichen Doktor und dessen junge Frau mit einem impertinenten Lächeln an der Türe des Hotels empfing; und diese Erscheinung zeigte sich so regelmäßig, als wäre Lanzarote der einzige Ort, an dem Gräsler im Winter seine Praxis ausüben, und als wäre der Direktor der einzig lebende Mensch, der sein junges Eheglück gefährden könnte.

Gegen Ende der Woche einmal begegnete Gräsler Sabinen vormittags im Städtchen, wo sie Einkäufe zu besorgen hatte. Sie fragte ihn, warum er sich so lange nicht sehen ließe. »Es kommen so wenig Menschen zu uns,« sagte sie, »und mit wenigen läßt sich was Gescheites reden. Das nächste Mal müssen Sie uns auch mehr aus Ihrem Leben erzählen. Man möchte doch auch was von all den Dingen zu hören bekommen!« Ihre Augen erglänzten in milder Sehnsucht.

»Wenn Sie glauben, Fräulein Sabine, daß das Leben draußen in der Welt soviel Interessantes zu bieten hat, wie kommt's nur, daß Sie hier so in der Stille sitzen?«

»Es wird vielleicht nicht immer so bleiben«, erwiderte sie einfach. »Und es war ja einmal schon ein wenig anders. Im übrigen wünsche ich mir's für die Gegenwart kaum besser, als ich's habe.« Und die Sehnsucht in ihren Augen war verglommen.

5. Kapitel

Fünftes Kapitel

Seinen nächsten Besuch im Forsthause unternahm Doktor Gräsler nicht ganz unvorbereitet. Aus seinen Erinnerungen hatte er allerlei zusammengesucht, das des Erzählens wert erscheinen mochte, und war freilich anfangs ein wenig betrübt gewesen, daß ein äußerlich leidlich bewegtes Leben bei näherer Betrachtung an eigentlichem Inhalt sich so ärmlich erwies. Immerhin gab es den einen oder den andern Vorfall, der einem Abenteuer zum mindesten recht ähnlich sah. So hatte er auf einer Südseeinsel einen kleinen Überfall durch Eingeborene mitgemacht, bei welcher Gelegenheit sogar ein Schiffsleutnant getötet worden war; der Selbstmord eines Liebespaares auf hoher See, ein Zyklon in den indischen Gewässern, die Landung in einem japanischen Küstenort, der tags zuvor durch ein Erdbeben zerstört worden war, die Nacht in einer Opiumhöhle, deren Abschluß man allerdings zum [134] Vortrag im Familienkreis ein wenig verändern mußte, all dies mochte sich anregend genug berichten lassen; überdies waren ihm manche seiner Patienten aus Badeorten – Hochstapler, Sonderlinge, sogar ein russischer Großfürst, der im Winter darauf ermordet worden war und es vorhergeahnt hatte – mit genügender Deutlichkeit im Gedächtnis geblieben. Und als er an einem linden Sommerabend bei Schleheims, lässig an die Brüstung der Veranda gelehnt, auf eine zufällige Frage Karls hin zu erzählen anfing, da merkte er, daß ihm während des Erzählens manche seiner verblaßten Erinnerungen heller und lebendiger wurden, daß allerlei längst Vergessenes aus der Tiefe seiner Seele emporstieg; und in irgendeinem Augenblick war er sogar von einer ihm bisher unbekannt gebliebenen Fähigkeit zwiespältig überrascht: daß er nämlich seinem Gedächtnis, wenn es da oder dort versagen wollte, durch freie Erfindung nachzuhelfen imstande war. Doch nahm er dies um so weniger schwer, als er auf solche Art das lange nicht mehr genossene Vergnügen kosten durfte, eine gute Weile die Hauptperson eines wohlgeneigten Kreises zu bedeuten und es ihm vorbehalten war, in die verträumte Waldhausstille den verführerischen Nachhall eines für ihn selbst beinahe verklungenen Lebens zu bringen.

Ein nächstes Mal, während Sabine und ihre Mutter, was selten genug geschah, im Garten Besuch empfingen, saß er auf der Veranda allein mit dem alten Sänger, der heute lebhafter als je von seinem früheren Wirken an Stadttheatern und kleineren Hofbühnen erzählte, immer in einem Ton, als wäre es ein besonders reiches und stolzes Leben, dem er nun nachzuklagen hätte. Obzwar ihm nach dem allzufrühen Verlust der Stimme durch Vermittelung seines wohlhabenden Schwiegervaters, eines Weinhändlers aus den Rheinlanden, der Übergang in einen bürgerlichen Beruf offen gestanden wäre, hatte er sich doch für die Flucht in die Natur und in die Einsamkeit entschieden, wo er nicht unaufhörlich wie im städtischen Leben daran gemahnt werden konnte, was ihm verloren, und sich ungestörter an dem freuen durfte, was ihm geblieben war: am Glück der Häuslichkeit – was er nicht ohne Ironie aussprach – und an der Vortrefflichkeit seiner Kinder, welche Eigenschaft er wieder fast bedauernd festzustellen schien. »Ja, wenn Sabine,« bemerkte er dunkel, »mit meiner Begabung auch mein Temperament geerbt hätte, welch eine Zukunft wäre ihr erblüht!« Und er erzählte, daß sie in Berlin, wo sie bei Verwandten seiner Frau ein seines Erachtens allzu bürgerliches Heim [135] gefunden, eine Zeitlang Gesangs-und Bühnenstudien getrieben, diese aber aus einer unüberwindlichen Abneigung gegen den freien Ton ihrer jungen Kollegen und Kolleginnen wieder aufgegeben hätte. »Fräulein Sabine,« bemerkte darauf Gräsler – und nickte zustimmend – »hat eine wahrhaft reine Seele.«

»Ja, die hat sie wohl! Aber was will das besagen, mein bester Herr Doktor, gegenüber dem ungeheueren Gewinn, das Leben kennenzulernen in all seinen Höhen und Tiefen! Ist das nicht besser, als seine Seele rein zu bewahren?« Er blickte ins Weite; dann in verdrossenem Tone fuhr er fort: »So hat sie denn eines Tages all ihre oder vielmehr meine Pläne von Kunst und Ruhm fahren lassen und – wohl mit bewußter Betonung des Gegensatzes – sich in einen Kursus über Krankenpflege einschreiben lassen, für welchen Beruf sie plötzlich besondere Eignung in sich zu entdecken glaubte.«

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Es scheint aber, daß auch dieser Beruf Fräulein Sabine keine völlige Befriedigung verschafft hat; da sie ihn nach wenigen Jahren aufgab, wenn ich neulich recht verstanden habe?«

»Damit hat es eine eigene Bewandtnis«, erwiderte Schleheim. »Als Pflegerin lernte sie einen jungen Arzt kennen, mit dem sie sich verlobte. Ein sehr tüchtiger junger Arzt, wie behauptet wurde, der zu den größten Hoffnungen berechtigte. Ich selbst hatte nicht mehr Gelegenheit, ihn kennenzulernen ...« Er endete leise und rasch, da Karl eben vorbeigelaufen kam. »Der junge Mensch ist leider gestorben.«

»Gestorben«, wiederholte Gräsler vor sich hin und ohne tiefere Anteilnahme.

Karl hatte zu melden, daß unter den Tannen der Kaffee bereitstände. Die Herren begaben sich in den Garten, und der Doktor wurde den Besucherinnen vorgestellt, einer Witwe mit ihren zwei Töchtern, die, beide etwas jünger als Sabine, ihm vom Angesichte wohlbekannt waren, gleich wie er ihnen, so daß bei Kaffee und Kuchen bald eine unbefangen heitere Unterhaltung in Gang kam. Die beiden Fräulein hatten Gelegenheit, den Herrn Doktor an jedem Nachmittag um dreiviertel drei von ihrem Fenster aus, wo sie zu dieser Zeit natürlich immer mit Näharbeiten beschäftigt wären, aus dem Gasthof treten zu sehen, wobei er, wie sie behaupteten, ganz regelmäßig seine Taschenuhr heraus zu nehmen, ans Ohr zu halten, den Kopf zu schütteln und mit höchster Eile den Weg nach seiner Wohnung einzuschlagen [136] pflegte. Was denn der Herr Doktor daheim so Wichtiges zu tun hätte? fragte die Jüngere mit lustigen Augen. Ordination halten? Das sei doch wohl ein Spaß! Kranke kämen bekanntlich nie in diesen sogenannten Kurort. Der interessante junge Mann, der immer im Rollstuhl zur Trinkhalle hin gefahren werde, der sei von der Kurverwaltung engagiert, eigentlich sei es ein Schauspieler aus Berlin, der in den Ferienmonaten gegen freie Station hier immer den Kranken zu spielen habe. Ebenso wie die elegante Dame mit den siebzehn Hüten keineswegs eine Amerikanerin sei oder gar eine Australierin, wie die Fremdenliste behauptete, sondern so gut eine Europäerin wie sie alle, und daher gestern abend mit dem Offizier in Zivil, der zu ihrem Besuch aus Eisenach hier eingetroffen, auf der Bank im Kurgarten keineswegs englisch, sondern ein ganz unzweifelhaftes Wienerisch gesprochen habe. Der Doktor gab die eine Amerikanerin preis, die ohnedies in der Behandlung eines Kollegen stand, hatte aber dafür mit einem französischen Ehepaar aufzuwarten, das schon die ganze Welt bereist hatte und es nirgends schöner fände als gerade hier. Nun begann die ältere Schwester ernsthaft die schöne Wald- und Hügellandschaft zu preisen und die freundliche Behaglichkeit ihres Städtchens, das sich erst dann in seiner ganzen Anmut entfalte, wenn die Fremden über alle Berge wären. Und Frau Schleheim, sich an den Doktor wendend, bekräftigte: »Sie sollten wirklich einmal einen Winter hier verbringen, da wüßten Sie erst, wie schön es hier sein kann.« Doktor Gräsler erwiderte nichts; doch alle konnten merken, daß in seinen Augen sich Fernen spiegelten, die den übrigen sich bisher noch nicht aufgetan hatten und kaum jemals auftun würden.

Als man sich eine Weile später zu einem Spaziergang bereit machte, erklärte der Hausherr, lieber daheim zu bleiben und in einer Geschichte der französischen Revolution weiterzulesen, für welche Epoche er sich ganz besonders zu interessieren behauptete. Anfangs hielt sich die kleine Gesellschaft eng zusammen, später aber, wie mit Absicht, ließ man Gräsler mit Sabine vorangehen, und heute fühlte er sich ihr gegenüber sicherer, überlegener und vertrauter als je vorher. Es erschien ihm nicht unmöglich, daß Sabine mit jenem jungen Arzte, der ihr Bräutigam gewesen und gestorben war, in innigeren Beziehungen gestanden hatte, als Vater und Mutter ahnen mochten. In diesem Falle durfte sie als junge Witwe gelten, was den Altersunterschied zwischen ihm und ihr immerhin ein wenig ausglich.

[137] Man beschloß den freundlichen Tag bei den Klängen des Badeorchesters auf der großen Terrasse des Kurhauses mit einem gemeinsamen Abendessen, zu dem sich auch Herr Schleheim einfand, so elegant, ja geckenhaft gekleidet, daß sich der Doktor ihn nicht recht aus den Unbilden der französischen Revolution emportauchend vorstellen konnte. Die Freundinnen Sabinens gaben ihrer Bewunderung zwar scherzhaften, aber unverhohlenen Ausdruck, während Sabine selbst, wenn der Doktor ihren Blick richtig deutete, mit dem Aufzug ihres Vaters nicht völlig einverstanden schien. Im übrigen war die Laune allerseits die beste, und das kleine Fräulein ließ es an spaßig-boshaften Bemerkungen über die anderen Gäste nicht fehlen. So hatte sie bald die Dame mit den siebzehn Hüten entdeckt, die in Gesellschaft von drei jungen und einem älteren Herrn an einem Nebentisch saß und zu einem Wiener Walzer in einer in Australien sicher nicht üblichen Weise den Kopf hin und her wiegte. Als Doktor Gräsler in irgendeinem Augenblick fühlte, wie ganz flüchtig ein Fuß den seinen berührte, er schrak er beinahe. Sabine? Nein, die war es gewiß nicht. Auch hätte er das selbst nicht gewünscht; eher war es wohl das lustige kleine Fräulein, das ihm gegenüber saß und ein so besonders unschuldiges Gesicht machte. Da die sanfte Berührung sofort wieder aufhörte, konnte sie freilich auch zufällig gewesen sein, und in Doktor Gräslers Natur lag es sowohl, daß er sich dieser Annahme zuneigte, als auch, daß er sich darum keineswegs befriedigter fühlte. Allzu große Bescheidenheit, ja eine gewisse Selbstunterschätzung, die war zeitlebens sein schlimmster Fehler gewesen; sonst säße er wohl heute nicht als Badearzt in diesem lächerlichen kleinen Kurstädtchen, sondern in Wiesbaden oder Ems als Geheimer Sanitätsrat. Und trotzdem Sabine manchmal mit offenbarer Freundlichkeit die Augen auf ihn gerichtet hielt, ihm sogar einmal lächelnd zutrank, so spürte er auch diesmal wieder, daß er selbst mit jedem Tropfen immer nur melancholischer wurde. Seine sinkende Laune schien sich dem ganzen Kreise allmählich mitzuteilen; die älteren Damen wurden sichtlich müde, das Gespräch der jüngeren stockte; der Sänger, düster um sich blickend, rauchte stumm eine schwere Zigarre, und als man sich endlich voneinander verabschiedete, fühlte sich Gräsler so einsam wie nur je.

6. Kapitel

[138] Sechstes Kapitel

Die Schulferien gingen zu Ende, und Karl wurde von seiner Mutter nach Berlin gebracht, von wo sie nach wenigen Tagen und, wie nicht anders erwartet wurde, mit einer Magenverstimmung zurückkehrte. Doktor Gräsler, nun auch wieder ärztlich gewünscht, erschien Abend für Abend im Forsthaus, wobei es auch verblieb, nachdem Frau Schleheim vollkommen genesen war. Nun fügte es sich öfters, daß er stundenlang mit Sabinen allein im Haus oder im Freien plauderte, da die Eltern, ein ihnen wahrscheinlich nicht unwillkommenes Einverständnis vermutend, sich gerne abseits hielten. Gräsler sprach von seiner Jugend, von seiner alten wallumgebenen, vielgetürmten Heimatstadt und von seinem Elternhaus mit der altväterischen Wohnung, die jahraus, jahrein geduldig wartete, um für ein paar Wochen oder Tage ihn – und bis vor kurzem auch die Schwester – zu kurzer Frühjahrs- oder Herbstrast zu beherbergen. Und wenn ihm Sabine aufmerksam und nicht unbewegt zuhörte, so mußte er sich vorstellen, wie schön das wäre, wenn er mit ihr zusammen heimkehrte, und was sein alter Freund, der Rechtsanwalt Böhlinger, für Augen dazu machen würde, – der einzige Mensch übrigens, der noch eine gewisse lose Verbindung zwischen ihm und der Vaterstadt aufrecht erhielt.

Und als nun diesmal ungewöhnlich früh und mit besonderer Macht der Herbst einbrach, die meisten Kurgäste vor der Zeit entflohen und für Doktor Gräsler alle Stunden, die er nicht im Forsthaus verbringen durfte, leer und verödet waren, da überkam ihn eine solche Angst davor, sein einsames, sinn- und hoffnungsloses Wanderleben von neuem zu beginnen, daß er sich manchmal geradezu für entschlossen hielt, in aller Form um Sabine anzuhalten. Doch statt geradeaus eine Frage an sie selbst zu richten, wozu er den Mut nicht aufzubringen vermochte, kam er auf den Einfall – als wäre dies eine Art, sich beim Schicksal Rats zu erholen – Umfrage zu halten, ob die Heilanstalt des Doktor Frank, von der Sabine neulich zum zweitenmal flüchtig gesprochen hatte, ernstlich, und zu welchen Bedingungen sie zum Verkauf stünde. Als nichts Bestimmtes zu erfahren war, suchte er den Besitzer auf, der ihm persönlich bekannt war, fand den verdrossenen, alten Mann in einem schmutzig-gelben Leinenanzug, eher einem bäuerischen Sonderling als einem Arzt ähnlich, eine Pfeife rauchend, auf einer weißen Bank vor dem Sanatorium [139] sitzend und fragte ihn geradezu, was es denn eigentlich mit jenen Gerüchten auf sich hätte. Es zeigte sich, daß auch Direktor Frank nur beiläufig da und dort seine Absicht verraten und anscheinend auch seinerseits irgend etwas wie einen Schicksalswink erwartet hatte. Jedenfalls war er durchaus gesonnen, seinen Besitz je eher je lieber loszuschlagen, da er die paar Jahre, die ihm noch beschieden wären, in möglichster Entfernung von wirklichen und eingebildeten Kranken zu verbringen und sich von den hunderttausend Lügen zu erholen wünschte, zu denen ihn sein Beruf zeitlebens gezwungen hätte. »Sie können's auf sich nehmen,« sagte er, »Sie sind noch jung«, was Doktor Gräsler zu einer melancholisch abwehrenden Handbewegung veranlaßte. Er besichtigte die Anstalt in allen ihren Räumen, fand sie aber zu seinem Bedauern noch vernachlässigter und verfallener, als er gefürchtet hatte. Auch machten die wenigen Patienten, denen er im Garten, auf den Gängen und im Inhalationssaal begegnete, auf ihn keineswegs den Eindruck zufriedener oder hoffnungsvoller Menschen; ja es war ihm, als läge in den Blicken, mit dem sie ihren Arzt grüßten, Mißtrauen, beinahe Feindseligkeit. Aber als Gräsler von dem kleinen Balkon aus, der zu der Privatwohnung des Direktors gehörte, die Augen über den Garten und weiter hinaus über das freundliche Tal bis zu den gelind aufstrebenden und etwas umnebelten Hügeln schweifen ließ, an deren Rand er das Forsthaus ahnte, da fühlte er sich plötzlich von einer so heißen Sehnsucht nach Sabinen erfaßt, daß er sein Gefühl für sie zum ersten Male mit völliger Sicherheit als Liebe erkannte und es wie ein wunderbares Ziel vor sich sah, bald mit Sabinen eng umfaßt auf der gleichen Stelle zu stehen und ihr den ganzen Besitz erneut und verschönt als seiner Gefährtin und Frau gleichsam zu Füßen zu legen. Er bedurfte einiger Selbstbeherrschung, um sich scheinbar unschlüssig von Direktor Frank zu verabschieden, der übrigens diese Haltung höchst gleichgültig aufnahm. Im Forsthause desselben Abends hielt er es für richtig, von seinem Besuch in der Anstalt keine Erwähnung zu tun; doch schon am nächsten Tage nahm er den Baumeister Adelmann, seinen täglichen Tischgenossen aus dem »Silbernen Löwen«, mit sich in das Sanatorium, um einen Fachmann zu hören. Es erwies sich, daß weniger eingreifende und kostspielige Veränderungen notwendig waren, als Doktor Gräsler gefürchtet hatte, ja der Baumeister wollte jede Verantwortung dafür übernehmen, daß sich die Anstalt am ersten Mai nächsten Jahres wie neu präsentieren würde. Doktor [140] Gräsler spielte weiter den Zögernden und entfernte sich mit dem Baumeister, der nun, unter vier Augen, ihm mit noch größerer Entschiedenheit zu dem vorteilhaften Kaufe zuredete.

Am selben Abend noch, der heute wieder einmal von wahrhaft sommerlicher Wärme war, mit Sabinen und ihren Eltern auf der Veranda des Forsthauses sitzend, begann er wie beiläufig von seiner Unterredung mit Doktor Frank zu erzählen, die er als eine zufällige darstellte, indem er nämlich mit dem Baumeister eben am Tor der Anstalt vorbeigegangen sei, als der Besitzer heraustrat. Herr Schleheim, dem die Kaufbedingungen höchst günstig schienen, riet geradezu, Doktor Gräsler sollte schon für heuer auf die Winterpraxis im Süden verzichten, um eine so wichtige Angelegenheit gleich hier an Ort und Stelle weiter zu betreiben. Davon aber wollte Doktor Gräsler durchaus nichts wissen. Er könne seine Verbindlichkeiten in Lanzarote nicht so ohne weiteres lösen; und wenn er die Sache hier einem tüchtigen Manne, wie es der Baumeister doch sei, überließe, dürfe er sich wohl beruhigt fortbegeben. Nun erbot sich Sabine in ihrer einfachen Art, während Gräslers Abwesenheit die Arbeiten zu überwachen und ihm regelmäßig über den Fortgang Bericht zu erstatten. Die Eltern begaben sich bald, wie auf Verabredung, ins Haus, und Sabine ging mit dem Doktor, wie sie es gern zu tun pflegte, in der Tannenallee, die vom Haus zur Straße führte, langsam auf und ab. Sie hatte allerlei kluge Vorschläge für die Umgestaltung des alten Gebäudes bereit, die beinahe vermuten ließen, daß sie sich mit dieser Frage schon früher beschäftigt hatte. Für unerläßlich hielt sie übrigens die Anstellung einer Dame, einer wirklichen Dame, wie sie hinzufügte, als oberster Hausverwalterin; denn offenbar wäre es eine solche Oberaufsicht von gewissermaßen gesellschaftlichem Charakter, die der Anstalt im Laufe der letzten Jahre vor allem gefehlt habe. Nun war das Wort gesprochen – Doktor Gräsler fühlte es mit klopfendem Herzen – an das er anknüpfen durfte und mußte; ja schon glaubte er sich dazu bereit, als Sabine, wie wenn sie ihn selbst daran verhindern wollte, ungewohnt hastig ergänzte: »Das machen Sie am besten durch die Zeitung. Ich würde an Ihrer Stelle sogar eine Reise nicht scheuen, um eine geeignete Person für diesen wichtigen Posten zu gewinnen. Sie haben ja jetzt eine ganze Menge Zeit zur Verfügung. Ihre Patienten sind fast schon alle fort, nicht wahr? ... Wann gedenken Sie denn eigentlich abzureisen?«

»In – vier bis fünf Tagen. Vor allem muß ich aber natürlich [141] nach Hause, in meine Vaterstadt, meine ich. Meine Schwester hat kein Testament hinterlassen; es wird notwendig sein, so schreibt mir auch mein alter Freund Böhlinger, verschiedenes an Ort und Stelle ins reine zu bringen. Vorher aber will ich die Anstalt noch einmal bis ins kleinste besichtigen. Eine endgültige Entscheidung werde ich keineswegs treffen können, ehe ich mit meinem Freund Böhlinger gesprochen habe.« So redete er noch eine ganze Weile hin und her, vorsichtig und ungeschickt zugleich, und immer höchst unzufrieden mit sich selbst, denn er verhehlte sich nicht, daß Klarheit und Bestimmtheit sich in dieser Stunde besser geziemt hätten. Da Sabine völlig verstummt war, hielt er es für das Klügste, sich unter dem Vorwande eines Krankenbesuches zu verabschieden, ergriff Sabinens Hand, hielt sie eine Weile gefaßt, führte sie mit einemmal an seine Lippen und drückte einen langen Kuß darauf. Sabine ließ es geschehen; und als er aufblickte, schien ihm der Ausdruck ihrer Mienen befriedigter, ja heiterer als vorher. Er wußte, daß er nun nichts mehr sprechen durfte, ließ ihre Hand los, stieg in den Wagen, zog den Plaid über seine Knie und fuhr davon. Und als er sich umsah, stand Sabine noch immer da, im matten Lichtschein, regungslos. Doch es war, als schaute sie anderswohin, in die Nacht, ins Leere, keineswegs nach der Richtung, in der er ihr allmählich entschwand.

7. Kapitel

Siebentes Kapitel

Am nächsten Vormittag schon, in trübseligem Regengeriesel, begab sich Doktor Gräsler ohne rechte Freude, beinahe pflichtgemäß, in die Anstalt, ließ sich zum drittenmal durch die Räume fuhren, mußte sich aber diesmal mit der Begleitung eines sehr jungen Assistenzarztes begnügen, dessen allzu beflissene Höflichkeit nicht so sehr dem älteren Kollegen, als dem vermuteten künftigen Direktor gelten mochte, und der jede Gelegenheit benützte, seine Vertrautheit mit den allermodernsten Heilmethoden durchscheinen zu lassen, zu deren Anwendung nur vorläufig leider jede Möglichkeit fehle. Dem Doktor Gräsler erschien das ganze Gebäude noch vernachlässigter, der Garten noch ungepflegter als gestern, und als er endlich in dem kahlen Bureau dem Besitzer gegenübersaß, der zwischen Rechnungen und Amtspapieren eben sein Frühstück verzehrte, erklärte er, sich eine Entscheidung [142] bis nach seiner Rückkehr aus der Vaterstadt, das wäre in etwa drei Wochen, vorbehalten zu müssen. Der Besitzer nahm dies mit gewohnter Gleichgültigkeit auf und bemerkte nur, daß er sich selbstverständlich gleichfalls nicht für gebunden erachte. Gräsler wandte nichts weiter ein und fühlte sich geradezu befreit, als er wieder auf der Straße stand und dann mit aufgespanntem Schirm dem Städtchen zuschritt. Schwere Regentropfen flössen vom Schirmrand rings um ihn her, und alle Hügel standen tief im Nebel. Überdies war es so kühl geworden, daß ihm die Finger zu frieren anfingen und er, mit einiger Mühe den Schirm über sich haltend, sich die Handschuhe anziehen mußte. Mißbilligend schüttelte er den Kopf. Es war doch sehr fraglich, ob er sich überhaupt noch gewöhnen könnte, Spätherbst und Winter statt im Süden in der mit Unrecht sogenannten gemäßigten Zone zu verbringen, und fast wünschte er Sabinen schon heute abend mitteilen zu können, daß ihm das Sanatorium sozusagen vor der Nase von einem flinkeren, aber wahrlich nicht beneidenswerten Käufer weggeschnappt worden sei.

In seiner Wohnung fand er einen Brief vor, der auf der Adresse die Handschrift Sabinens zeigte. Er fühlte, wie ihm das Herz plötzlich stille stand. Was hatte sie ihm zu schreiben? Es konnte nur eines sein. Sie bat ihn, nicht mehr zu kommen. Der Handkuß gestern, er hatte es ja gleich gefühlt, der hatte alles verdorben. Solche Dinge standen ihm nun einmal nicht zu Gesicht. Er mußte unsäglich lächerlich gewesen sein in jenem Augenblick. Der Umschlag war plötzlich offen, Gräsler wußte selbst nicht wie, und er las:

»Lieber Freund! So darf ich Sie doch wohl nennen, nicht wahr? Heute abend kommen Sie wieder, und Sie sollen diesen Brief noch früher haben. Denn wenn ich Ihnen nicht schreibe, wer weiß, ob Sie nicht heute abend geradeso fortgehen, wie Sie alle diese Tage und Abende von mir fortgegangen sind, und endlich wären Sie abgereist und hätten nichts gesprochen und sich am Ende noch eingebildet, daß es sehr klug und recht von Ihnen gewesen ist. So bleibt mir denn nichts übrig, als selbst zu sprechen, oder vielmehr, da ich ja das doch nicht über mich brächte, Ihnen zu schreiben, was mir auf der Seele liegt. Also, lieber Herr Doktor Gräsler, mein lieber Freund Doktor Gräsler, hier schreibe ich es her, und Sie werden es lesen, und Sie werden sich vielleicht ein wenig freuen und werden es hoffentlich nicht unweiblich finden, und ich fühle, daß ich es niederschreiben darf – ich habe nichts [143] dagegen, gar nichts, falls Sie mich etwa fragen wollten, ob ich Ihre Frau werden möchte. Da steht es nun einmal. Ja, ich will gern Ihre Frau werden. Denn ich empfinde eine so tiefe, herzliche Freundschaft zu Ihnen, wie noch zu keinem Menschen, den ich gekannt habe. Liebe ist es wohl nicht. Noch nicht. Aber gewiß irgend etwas, was sehr nahe daran ist und es sehr wohl einmal werden könnte. Die letzten Tage, wenn Sie vom Abreisen sprachen, da ist mir wahrhaftig ganz sonderbar ums Herz geworden. Und als Sie heute abend meine Hand küßten, das war sehr schön. Aber als Sie dann davonfuhren, ins Dunkel hinein, da war mir mit einemmal, als wäre es aus, und ich hatte eine wahre Angst, daß Sie nie mehr zu uns wiederkommen wollten. Nun, das ist natürlich schon vorüber. Das sind so Nachtgedanken, nicht wahr? Ich weiß, Sie kommen wieder. Morgen abend schon. Ich weiß ja auch, daß Sie mir geradeso gut sind wie ich Ihnen. So was muß man ja wirklich nicht erst mit Worten sagen. Manchmal aber scheint mir, daß Sie an einem gewissen Mangel an Selbstvertrauen leiden. Ist es nicht so? Ich habe auch darüber nachgedacht, woher das kommen mag. Und ich glaube, es kommt daher, daß Sie noch nirgends Wurzel gefaßt und weil Sie sich doch eigentlich Ihr ganzes Leben noch gar nicht Zeit genommen haben, darauf zu warten, daß sich Ihnen jemand so recht von Herzen anschließt. Ja, das mag es wohl sein. Und vielleicht ist es noch etwas anderes, was Sie zögern macht. Es wird mir freilich etwas schwer, Ihnen das zu schreiben. Aber da ich nun einmal angefangen habe, kann ich doch wohl nicht mehr auf halbem Wege stehenbleiben. Also, Sie wissen, lieber Freund, daß ich einmal verlobt gewesen bin. Das sind nun vier Jahre her. Er war ein Arzt wie Sie. Mein Vater hat Ihnen wohl Andeutungen gemacht. Ich hab' ihn sehr liebgehabt, und es war ein großer Schmerz, als ich ihn verlor. Er war so jung. Achtundzwanzig Jahre. Ich habe damals gedacht, daß nun alles für immer vorüber sei, wie man das eben so denkt in solchen Tagen. – Übrigens muß ich der Wahrheit gemäß gestehen, daß das nicht meine erste Liebe war. Vorher war es ein Sänger, für den ich geschwärmt hatte. Das war zu der Zeit, da mein Vater in allerbester Absicht mich in eine Laufbahn hineintreiben wollte, zu der ich gar nicht geboren war. Und das ist eigentlich das Leidenschaftlichste gewesen, was ich erlebt habe. Erlebt, das kann man zwar nicht sagen. Aber doch – gefühlt. Und es hat recht dumm geendet. Der meinte eben ein Geschöpf von der Art vor sich zu haben, wie es ihm sonst in seinen Kreisen begegnet, [144] und er benahm sich danach, und da war es aus. Aber das Sonderbare ist, daß ich heute noch an diesen Menschen viel öfter denke als an meinen Verlobten, der mir so teuer war. Sechs Monate lang sind wir verlobt gewesen. So; und nun kommt das, was ein bißchen schwer zu sagen ist. Wissen Sie nämlich, was ich mir denke, lieber Doktor Gräsler? Sie vermuten etwas, was nicht wahr ist; und das ist es, was Sie zögern macht. Es ist ja gewiß zugleich ein Beweis Ihrer Neigung für mich. Aber es ist doch auch – Sie werden mir schon verzeihen, wenn ich das sage – ein bißchen Pedanterie dabei oder Eitelkeit. Freilich, ich weiß wohl, eine recht verbreitete männliche Eitelkeit und Pedanterie. Aber ich will Ihnen eben sagen, daß Sie das weiter nicht bedrücken darf. Muß ich noch deutlicher werden? Also, mein lieber Freund, ich habe Ihnen keinerlei Geständnisse zu machen. Es war überhaupt, wenn ich so zurückdenke, eine merkwürdige Art von Beziehung. Ich glaube nicht, daß er mich in den sechs Monaten öfter als zehnmal geküßt hat.

Nein, was man einem guten Freund so in der Nacht alles schreibt, besonders wenn man sich denkt, daß man den Brief am Ende doch nicht absenden muß. Aber nicht wahr, der Brief hätte wohl gar keinen Sinn, wenn ich nicht alles schriebe, was mir eben durch den Kopf geht. – Und doch, wie teuer war er mir. Vielleicht eben darum, weil er so ernst, so düster war. Er gehörte zu den Ärzten, es gibt ja nur wenige von der Art, die all das Elend, das sie mit ansehen müssen, selbst durchleiden. So war ihm das Leben furchtbar schwer, woher hätte er den Mut nehmen sollen, glücklich zu sein? Nun, ich hätte es ihn schon gelehrt mit der Zeit. Das traute ich mir wohl zu. Aber es hat eben anders kommen sollen. Ich will Ihnen auch sein Bild zeigen. Ich bewahre es natürlich auf. Das von dem andern, von dem Sänger, das hab' ich nicht mehr. Ich hatte es nicht von ihm selbst bekommen, sondern in einer Kunsthandlung gekauft, noch ehe ich ihn persönlich kannte. Was ich Ihnen wohl noch alles erzählen werde! Es ist Mitternacht vorüber. Da sitz' ich noch immer an meinem Tisch und habe gar keine Lust, fertig zu werden. Übrigens höre ich den Vater immer unten auf und ab gehen. Der hat nun wieder so unruhige Nächte. Wir haben uns doch recht wenig um ihn gekümmert in der letzten Zeit. Wir beide, lieber Doktor. Nun, das soll wieder anders werden. Ja, und nun will ich gleich noch etwas hierhersetzen, weil es mir eben einfällt. Sie müssen es nehmen, wie es gesagt ist. Der Vater meint nämlich, wegen des Sanatoriums, [145] falls Sie die notwendige Summe nicht so ohne weiteres flüssig machen könnten, er stehe Ihnen gerne zur Verfügung. Er wäre, glaub' ich, überhaupt bereit, sich finanziell an der Sache zu beteiligen. Und da wir gerade beim Sanatorium halten, und wenn Sie so ungefähr verstehen, was in diesem Brief da steht (ich mache es Ihnen wohl nicht allzu schwer), so können Sie die Annoncen und auch die Reisen vielleicht sparen, denn als Hausverwalterin empfehle ich mich mit dem allerbesten Gewissen. Und wäre es nicht wirklich hübsch, lieber Doktor Gräsler, wenn wir zwei als Kameraden, bald hätte ich gesagt: als Kollegen, in der Anstalt zusammen arbeiten würden? Das Sanatorium nämlich, daß ich es Ihnen nur gestehe, das gefällt mir schon lange. Noch länger als der künftige Direktor. Die Lage und die Parkanlage sind ja wundervoll. Es ist ein Jammer, wie der Doktor Frank es hat verkommen lassen. Übrigens war es auch ein Fehler, daß in der letzten Zeit alle möglichen Kranken dort aufgenommen worden sind, die gar nicht hineingehören. Ich glaube, man müßte es wieder ausschließlich für Nervenleidende einrichten, selbstverständlich mit Ausschluß der wirklichen Geistesstörungen. Aber wohin gerate ich noch? Damit hat's wohl noch Zeit – mindestens bis morgen für alle Fälle, auch wenn wir uns im übrigen nicht ganz verstehen sollten. Und Ihre Reisezeit könnten Sie jedenfalls dazu benützen, um in Berlin und in anderen großen Städten für die Anstalt Propaganda zu machen. Übrigens bin ich auch noch von meiner Krankenpflegezeit her mit einigen Berliner Professoren bekannt; vielleicht erinnern die sich meiner. Nun, ich sehe, wie Sie lächeln. Ich muß es wohl hinnehmen. So ein Brief ist ja keine ganz gewöhnliche Sache. Das weiß ich wohl. Boshafte Menschen könnten sich irgend etwas denken von An-den-Hals-Werfen oder dergleichen. Aber Sie sind kein boshafter Mensch und fassen den Brief so auf, wie er geschrieben ist. Ich habe Sie lieb, mein Freund, nicht eben, wie es in Romanen steht, aber doch so recht von Herzen! Und ein wenig kommt wohl auch dazu, daß es mir so leid tut, wie allein Sie in der Welt herumziehen. Es ist wahrhaftig ganz gut möglich, daß ich diesen Brief niemals geschrieben hätte, wenn Ihre gute Schwester noch lebte. Sie war gut, ich weiß es. Und vielleicht hab' ich Sie auch lieb, weil ich Sie als Arzt schätze. Ja, das tue ich. Man könnte Sie zwar manchmal ein wenig kühl finden. Aber das ist wohl nur Ihre Art sich zu geben, im Innersten sind Sie gewiß teilnehmend und gut. Und das Wesentliche ist, man hat sofort Vertrauen zu Ihnen, wie es sich ja bei Mutter[146] und Vater gezeigt hat, und damit, mein lieber Herr Doktor Gräsler, hat es doch wohl überhaupt angefangen. Und wenn Sie morgen kommen – ich will's Ihnen nicht schwer machen –, da müssen Sie nur so lächeln oder mir wieder die Hand küssen, so wie heute abend beim Abschied, dann werde ich schon wissen. Und wenn es anders sein sollte, als ich es mir einbilde, so sagen Sie mir's eben geradeheraus. Das können Sie ruhig tun. Dann werde ich Ihnen die Hand reichen und mir denken, es waren schöne Stunden heuer im Sommer; man muß nicht gleich unbescheiden sein und Frau Doktor oder gar Frau Direktor werden wollen, worauf es mir übrigens wirklich nicht sonderlich ankommt. Und nun merken Sie wohl auf, Sie mögen sich dann auch eine andere Frau mitbringen im nächsten Jahr, irgendeine schöne Fremde aus Lanzarote, eine Amerikanerin oder eine Australierin, aber eine echte – es bleibt jedenfalls dabei, daß ich die Bauarbeiten in der Anstalt überwache, falls es mit dieser Sache ernst wird. Denn das sind ja zwei Dinge, die im Grunde gar nichts miteinander zu tun haben. Aber nun wird es doch wohl endlich genug sein. Recht neugierig bin ich ja, ob ich Ihnen das Briefchen morgen früh schicken werde? Was glauben Sie? Nun, leben Sie wohl. Auf Wiedersehen! Ich bin Ihnen gut und bleibe, wie immer es werden mag, Ihre Freundin Sabine.«

Doktor Gräsler saß lange über diesem Brief. Er las ihn ein zweites und ein drittes Mal und wußte noch immer nicht recht, ob ihn das, was drin stand, froh oder traurig machte. Dies also war klar: Sabine war bereit, seine Frau zu werden. Sie warf sich ihm sogar an den Hals, wie sie selbst schrieb. Aber zugleich erklärte sie, daß es nicht Liebe war, was sie für ihn verspürte. Dazu sah sie ihn denn auch mit allzu hellsichtigen, man konnte wohl sagen kritischen Augen an. Sie hatte es richtig herausgebracht, daß er ein Pedant war, eitel, kühl, unentschlossen, lauter Eigenschaften, deren Vorhandensein er ja nicht bestreiten wollte, die Fräulein Sabine aber weniger an ihm bemerkt und kaum betont hätte, wenn er um zehn bis fünfzehn Jahre jünger gewesen wäre. Und er fragte sich sogleich: Wenn ihr alle seine Fehler schon aus der Ferne nicht entgangen waren, und wenn sie schon in ihrem Briefe nicht vergaß sie ihm anzustreichen, wie sollte das erst später werden, in täglicher naher Gemeinschaft, die gewiß auch noch manche andere seiner Mängel für sie zutage bringen würde? Da mußte man sich tüchtig zusammennehmen, um sich zu behaupten. Immer auf der Hut sein, gewissermaßen Komödie spielen, [147] was in seinem Alter gewiß nichts sonderlich Leichtes war, ja beinahe so schwer, als es sein mochte, aus einem etwas grämlichen, pedantischen, bequem gewordenen alten Junggesellen ein liebenswürdiger, galanter junger Ehemann zu werden. Im Anfang freilich, da würde es ja gehen. Denn sie hatte ja gewiß viel Sympathie für ihn, sogar irgendeine, man konnte es nun einmal nicht anders ausdrücken, eine Art von mütterlicher Zärtlichkeit. Aber wie lange würde das vorhalten? Nicht lange. Keineswegs länger, als bis eben wieder ein dämonischer Sänger oder ein düsterer junger Arzt oder sonst eine verführerische männliche Erscheinung auftauchte, dem das Glück bei der schönen jungen Frau um so leichter günstig sein würde, als sie ja durch die Ehe indes reifer und erfahrener geworden war.

Die Wanduhr schlug halb zwei; die gewohnte Speisestunde war um ein Beträchtliches überschritten, was er als unangenehm empfand; und, seiner Pedanterie mit grimmigem Eigensinn bewußt, machte Gräsler sich auf den Weg in den Gasthof. Am Stammtisch fand er den Baumeister und einen Herrn von der Stadtverwaltung, die in ihrer Ecke beim Kaffee saßen und rauchten. Der Stadtrat nickte dem Doktor verständnisinnig zu und empfing ihn mit den Worten: »Nun, man kann ja gratulieren, wie ich höre.« – »Wieso«, fragte Doktor Gräsler fast erschrocken. – »Sie haben das Franksche Sanatorium gekauft?« Beruhigt atmete Gräsler auf. »Gekauft?« wiederholte er. »Davon ist noch keine Rede, das hängt noch von allerlei ab. Die Baracke ist ja in einem fürchterlichen Zustand. Man muß sie ja geradezu vom Grund aus neu aufbauen. Und unser Freund da« – er studierte die Speisekarte und deutete flüchtig auf den Baumeister hin – »macht Preise!«

Der Baumeister widersprach lebhaft, er wollte wahrhaftig an der Sache nichts verdienen; was die sogenannten Schäden anbelangte, die wären durchaus leicht zu beheben, und wenn die Aufträge schleunigst erteilt würden, so stände die Anstalt bis spätestens fünfzehnten Mai blitzblank, ja wie neu da.

Doktor Gräsler zuckte die Achseln, ermangelte nicht darauf hinzuweisen, daß der Baumeister gestern den ersten Mai als äußersten Termin genannt hätte; übrigens wisse man ja, wie es sich mit solchen Bauarbeiten verhalte, Termin sowohl als Kosten würden immer überschritten; er seinerseits fühle sich nicht mehr frisch genug, um sich auf dergleichen Dinge einzulassen, auch der Besitzer verlange eine lächerliche Summe, und »wer weiß«, fügte er, freilich in scherzender Absicht, hinzu, »ob Sie, mein lieber [148] Herr Baumeister, nicht mit ihm unter einer Decke spielen.« Der Angesprochene fuhr auf, der Stadtrat versuchte zu besänftigen, Doktor Gräsler lenkte ein; – doch ein gutes Einvernehmen wollte sich nicht mehr herstellen, und bald ließen beide Herren, Baumeister und Stadtrat, nach kühlem Abschied den Doktor allein und mit sich unzufrieden am Tische sitzen. Er berührte den letzten Gang nicht mehr und eilte nach Hause, wo ein Patient ihn erwartete, der vor der Abreise Verhaltungsmaßregeln für den Winter wünschte. Der Doktor erteilte sie zerstreut, ungeduldig, nahm sein Honorar mit schlechtem Gewissen in Empfang und verspürte einen dumpfen Groll nicht nur gegen sich, sondern auch gegen Sabine, die nicht versäumt hatte, ihm in ihrem Brief Gleichgültigkeit gegenüber seinen Kranken vorzuwerfen. Dann trat er auf seinen Balkon, zündete die kaltgewordene Zigarre von neuem an und blickte in das armselige Gärtchen hinab, wo trotz des trüben Wetters auf einer weißen Bank, das Nähkörbchen zur Seite, seine Hauswirtin wie alltäglich zu dieser Stunde mit ihrer Strickarbeit saß. Die ältliche Frau hatte noch vor drei oder vier Jahren ganz unverkennbare Absichten auf ihn gehabt; zum mindesten hatte Friederike es immer wieder behauptet, die den Bruder stets von heiratslustigen Jungfrauen und Witwen umlauert glaubte. Weiß Gott, es war nicht so weit her damit gewesen. Er war ja zum Junggesellen geboren, war ein Sonderling, Egoist und Philister gewesen sein Leben lang. Das hatte eben auch Sabine sehr wohl empfunden, wie aus ihrem Briefe mit zwingender Deutlichkeit hervorging, wenn sie auch aus mancherlei Gründen, unter denen die sogenannte Liebe die geringste Rolle spielte, sich ihm an den Hals zu werfen behauptete. Ja wenn sie das wirklich getan hätte, dann sähe sich die Sache anders an. Aber das, was er da in der Rocktasche knittern fühlte, das war wohl alles eher als ein Liebesbrief.

Der Wagen, der allabendlich zur Fahrt nach dem Forsthaus bestellt war, wurde gemeldet. Dem Doktor Gräsler klopfte das Herz. Er konnte sich's ja in diesem Augenblick nicht verhehlen, daß er nur eines zu tun hatte: zu Sabinen eilen, zärtlich dankend die lieben Hände ergreifen, die sich den seinen so innig und rückhaltlos entgegenboten, das holde Wesen zur Frau verlangen, und wäre es selbst auf die Gefahr hin, daß es nur wenige Jahre oder gar Monate des Glücks waren, die sich ihm erschlossen. Aber statt die Treppe hinunterzustürzen, blieb er wie auf den Fleck gebannt stehen. Es war ihm, als hätte er vorher etwas endgültig [149] klarzustellen und vermochte sich nicht zu besinnen, was es sein könnte. Plötzlich fiel es ihm ein: den Brief Sabinens mußte er noch einmal lesen. Er nahm ihn aus der Brusttasche hervor und begab sich in sein stilles Ordinationszimmer, um in völliger Ungestörtheit Sabinens Worte noch einmal auf sich wirken zu lassen. Und er las. Er las langsam, mit angespannter Aufmerksamkeit, und er fühlte sein Herz immer starrer werden. Alles Holde und Innige wollte ihm kühl, ja geradezu spöttisch erscheinen; und als er an die Stellen kam, in denen Sabine flüchtig seiner Zurückhaltung, seiner Eitelkeit, seiner Pedanterie Erwähnung tat, da war ihm, als wiederhole sie mit Absicht, was sie doch heute morgen schon ihm bis zum Überdruß und überdies mit Unrecht vorgeworfen hatte. Wie konnte sie sich's denn nur einfallen lassen, ihn einen Pedanten zu nennen, einen Philister, ihn, der ohne weiteres bereitgewesen war, ihr, und wie gerne, selbst einen wirklichen Fehltritt zu verzeihen? Und nicht nur, daß sie davon nicht das Geringste ahnte, sie mutete ihm sogar zu, daß er deswegen, gerade deswegen gezögert hätte. So wenig kannte sie ihn. Ja, das war es. Sie verstand ihn nicht. Und von hier aus schien ihm das ganze Rätsel seines Daseins plötzlich wie neu beleuchtet. Denn es war ihm nun klar, daß ihn eigentlich noch nie jemand wirklich verstanden hatte, weder Frau noch Mann! Nicht seine Eltern, nicht seine Schwester, so wenig als seine Kollegen und seine Patienten es getan hatten. Seine Verschlossenheit galt für Kälte, sein Ordnungssinn für Pedanterie, sein Ernst für Trockenheit; und so war er als ein Mensch ohne Überschwang und Glanz sein Leben lang zur Einsamkeit vorherbestimmt gewesen. Und weil er nun einmal so war und nicht anders und überdies um so viele Jahre älter als Sabine, darum konnte, darum durfte er das Glück nicht annehmen, das sie ihm darzubringen bereit war, oder sich bereit glaubte, und das wahrscheinlich das Glück gar nicht gewesen wäre. Hastig nahm er einen Briefbogen und begann ihr zu schreiben: »Liebes Fräulein Sabine! Ihr Brief hat mich ergriffen. Wie soll ich Ihnen danken, ich einsamer, alter Mann.« Ach, was für Unsinn, dachte er, zerriß das Blatt und begann aufs neue. »Meine liebe Freundin Sabine! Ich habe Ihren Brief, Ihren schönen, guten Brief. Er hat mich tiefbewegt. Wie soll ich Ihnen nur danken. Sie zeigen mir die Möglichkeit eines Glückes, von dem ich kaum zu träumen gewagt hätte, und darum, lassen Sie es mich gleich in diesem Zusammenhange aussprechen, wage ich auch nicht, es zu ergreifen, ich meine, nicht sofort zu ergreifen. Geben [150] Sie mir ein paar Tage Zeit zur Überlegung, lassen Sie mich zum Bewußtsein meines Glückes kommen und, o liebe Freundin Sabine, fragen auch Sie sich noch einmal, ob Sie denn wirklich und wahrhaftig Ihre holde Jugend mir reifem Manne anvertrauen wollen.

Es fügt sich vielleicht gut, daß ich für einige Tage in meine Vaterstadt reisen muß, wie Ihnen ja schon bekannt ist. Nun gedenke ich meine Reise um einige Tage vorzurücken und statt am Donnerstag lieber schon morgen früh abzureisen. So werden wir einander etwa vierzehn Tage lang nicht sehen, und während dieser Zeit soll sich alles entscheiden, in Ihnen und in mir. Mir ist es leider nicht gegeben, liebes Fräulein Sabine, die Worte so schön zu setzen wie Sie. Könnten Sie doch in mein Herz sehen. Aber ich weiß es, Sie werden mich nicht mißverstehen. Ich glaube, es ist besser, ich komme heute nicht ins Forsthaus. Lieber will ich mit diesem Brief von Ihnen vorläufigen Abschied nehmen. Zugleich bitte ich um die Erlaubnis, Ihnen schreiben zu dürfen, und erbitte von Ihnen das gleiche. Meine Adresse daheim ist: Am Burggraben 17. Wie Sie wissen, beabsichtige ich zu Hause auch mit meinem alten Freunde, dem Rechtsanwalt Böhlinger, wegen des Anstaltskaufes zu konferieren. Somit versage ich mir für heute auf das gütige Anerbieten Ihres verehrten Herrn Vaters einzugehen, für das ich vorläufig nur meinen verbindlichsten Dank aussprechen möchte. Übrigens wird sich vielleicht empfehlen, außer dem hiesigen Baumeister, gegen den ich damit freilich nichts gesagt haben will, einen auswärtigen Architekten zu Rate zu ziehen. Doch über all dies zu seiner Zeit. Und nun, liebe Freundin Sabine, leben Sie wohl. Grüßen Sie Ihre Eltern, denen ich zu bestellen bitte, daß ein dringendes Telegramm meines Rechtsanwaltes meine Abreise um einige Tage beschleunigt hat. In vierzehn Tagen also. Möchte ich doch dann alles hier so finden, wie ich es verlassen habe! Mit welcher Ungeduld werde ich daheim Ihrer Antwort entgegensehen. Nun will ich nichts mehr sagen. Ich danke Ihnen. Ich küsse Ihre lieben Hände. Auf Wiedersehen! Auf glückliches Wiedersehen! Ihr Freund Doktor Gräsler.«

Er faltete das Blatt zusammen. Manchmal während des Schreibens hatte er Tränen im Auge gefühlt, aus unbestimmter Rührung über sich selbst und auch über Sabine; aber jetzt, da eine vorläufige Entscheidung gefallen war, verschloß er trockenen Auges und gefaßt seinen Brief und übergab ihn dem Kutscher, der ihn persönlich im Forsthause abgeben sollte. Dem davonfahrenden Wagen sah er vom Fenster aus eine Weile nach; schon [151] war er daran, den Kutscher zurückzurufen; aber das Wort erstarb ihm auf den Lippen, und der Wagen entschwand bald seinen Blicken. Dann traf er seine Vorbereitungen für die beschleunigte Abreise. Er hatte so viel zu verfugen und zu besorgen, daß er anfangs nichts anderes zu denken vermochte; aber später, als ihm einfiel, daß Sabine seinen Brief nun schon in Händen haben müßte, tat ihm das Herz ganz körperlich weh. Nun wartete er, ob nicht vielleicht eine Antwort käme? Oder wenn sie selbst sich einfach in den Wagen setzte und sich ihn holen käme, den unentschlossenen Bräutigam? Ja, dann hätte sie wohl sagen dürfen, sie werfe sich ihm an den Hals. Aber diese Probe zu bestehen, dazu war ihre Liebe doch nicht stark genug. Sie kam nicht, und es kam nicht einmal ein Brief, und viel später, in der Dämmerung, sah er den Wagen vom Fenster aus mit irgendeinem unbekannten Fahrgast vorüberrollen. Gräsler schlief höchst unruhig in dieser Nacht; und am Morgen, fröstelnd und verdrossen, während ein spitzer Regen auf die Kautschukdecke des offenen Wagens niederprasselte, fuhr er zum Bahnhof.

8. Kapitel

Achtes Kapitel

In der Heimatstadt erwartete den Doktor Gräsler eine angenehme Überraschung. Obzwar er sein Eintreffen erst in letzter Stunde angezeigt hatte, fand er seine Wohnräume nicht nur in schönster Ordnung vor, sondern weit freundlicher hergerichtet, als er sie vor einem Jahr verlassen hatte. Jetzt erst erinnerte er sich, daß Friederike im vergangenen Herbst sich ein paar Tage allein hier aufgehalten und, wie sie ihm später erzählt, mancherlei Hausrat neu angeschafft sowie tüchtigen Handwerkern Aufträge erteilt hatte, über deren Ausführung sie noch während der Wintermonate mit Freund Böhlinger in Briefwechsel gestanden. Und als Gräsler die Wohnung zum zweiten Male durchmaß und zum Schlüsse das dem Hof zu gelegene Gemach der verstorbenen Schwester betrat, seufzte er leise auf; – ein wenig mit Rücksicht auf die seit Jahren das Haus betreuende Setzersgattin, die ihn durch die Wohnung geleitete, aber auch in ehrlicher Trauer der teuern Dahingegangenen gedenkend, der es nicht mehr beschieden war, den wohlvertrauten Raum in der gefälligen neuen Ausstattung und im Schein elektrischer Lichter wiederzusehen.

Doktor Gräsler packte aus, spazierte dazwischen in den Zimmern [152] hin und her, nahm gelegentlich ein oder das andere Buch aus der Bibliothek, um es wieder ungelesen an seinen Ort zu stellen, blickte hinab auf die enge, wenig belebte Straße, in deren feuchtem Pflaster die Ecklaterne sich spiegelte, setzte sich in den alten, noch vom Vater ererbten Schreibtischsessel, las Zeitung und war, wie er selbst mit wehmütigem Staunen fühlte, so fern von Sabinen, als lägen nicht nur viele Meilen zwischen ihm und ihr, sondern als wäre auch der Brief, in dem sie ihm ihre Hand angetragen, und der ihn in die Flucht getrieben hatte, nicht gestern, sondern vor vielen Wochen an ihn gelangt. Als er ihn hervornahm, schien ihm ein herber, beunruhigender Duft daraus emporzusteigen, und in einer ängstlichen Scheu, ihn wieder lesen zu müssen, sperrte er ihn in eine Lade. Am nächsten Morgen fragte er sich, wie er denn eigentlich diesen Tag und alle die nächsten verbringen sollte. Längst war er ein Fremder in seiner Vaterstadt geworden, die meisten Freunde waren ihm weggestorben, die Verbindungen mit den wenigen Überlebenden hatten sich allmählich gelockert und gelöst, nur seine Schwester hatte immer wieder ihre gelegentliche Anwesenheit zum Besuch von irgendwelchen uralten Leuten zu benützen gepflegt, die dem Bekanntenkreis der längst verstorbenen Eltern angehörten. So hatte denn Gräsler im Grunde daheim kein anderes Geschäft als die Unterredung mit seinem alten Freund, dem Rechtsanwalt Böhlinger, die ihm aber keineswegs dringend erschien.

Nachdem er seine Wohnung verlassen, machte er zuerst einen Gang durch die Stadt, wie meistens, wenn er nach langer Zeit wieder einmal zu kurzem Aufenthalt in die Heimat zurückgekehrt war. Eine gewisse leichte und beinahe wohltuende Rührung pflegte sich sonst bei solchen Wanderungen regelmäßig einzustellen, heute aber, unter dem schweren grauen Regenhimmel, blieb sie völlig aus. Ohne innere Bewegung ging er an dem alten Haus vorbei, von dessen schmalem hohen Eckfenster aus die Jugendgeliebte dem Gymnasiasten auf dem Wege von und zur Schule verstohlen zugewinkt und zugelächelt hatte, gleichgültig rauschte ihm der Brunnen im herbstlichen Park, den er in den alten Stadtgräben selbst hatte langsam entstehen sehen; und als er, aus dem Hof des altberühmten Rathauses hervortretend, um die Ecke in dem schmalen versteckten Gäßchen das uralte, fast verfallene Häuschen gewahrte, hinter dessen halbblinden, durch rote Vorhänge deutlich gekennzeichneten Fenstern er sein erstes armseliges, von wochenlanger Angst gefolgtes Abenteuer erlebt [153] hatte, da war ihm, als hob' es sich von seiner ganzen Knabenzeit wie verstaubte und zerrissene Schleier.

Der erste Mensch, den er sprach, war der weißbärtige Tabakhändler in dem Laden, wo er sich mit Zigarren versorgte; als jener ihm sein Beileid zu dem Tode der Schwester in etwas weitschweifiger Weise aussprach, wußte Gräsler kaum, was er erwidern sollte, und er fürchtete sich davor, noch anderen Bekannten begegnen und die gleichen nichtssagenden Worte anhören zu müssen. Aber der nächste, den er traf, erkannte ihn nicht, und an einem dritten, der Miene machte, stehenzubleiben, ging er selbst mit eiligem, fast unhöflichem Gruß vorüber.

Nach dem Mittagessen, das er in einem ihm wohlbekannten alten, nunmehr aber allzu prunkvoll neu hergerichteten Gasthof einnahm, begab er sich zu Böhlinger, der, von seinem Eintreffen in der Stadt schon unterrichtet, ihn mit freundlicher Gelassenheit begrüßte und nach einigen teilnahmsvollen Worten näheres über den Tod Friederikens zu erfahren wünschte. Doktor Gräsler berichtete dem Jugendfreund mit gedämpfter Stimme und gesenktem Blick den traurigen Fall, und als er wieder aufsah, war er etwas verwundert, sich einem ältlichen, beleibten Herrn gegenüber zu sehen, dessen bartloses Gesicht, das er immer noch als ein jugendliches im Gedächtnis bewahrt hatte, sich recht fahl und verwittert ausnahm. Böhlinger zeigte sich zuerst sehr bewegt, schwieg lange, endlich zuckte er die Achseln und setzte sich an den Schreibtisch, als wollte er ausdrücken, daß den Überlebenden auch einem so beklagenswerten Ereignis gegenüber nichts anderes übrigbleibe, als sich den Forderungen des Tages entschlossen zuzuwenden. Dann öffnete er eine Lade, entnahm ihr eine Aktenmappe und machte sich daran, unter Vorweis des Testaments sowie anderer wichtiger Papiere die Erbschaftsangelegenheit in ausführlicher Weise zu behandeln. Da die Verstorbene erheblichere Ersparnisse hinterlassen hatte, als Gräsler vermutete, und er der einzige Erbe war, lag die Sache so, daß er von nun ab, ohne seine Praxis weiter auszuüben, einfach von seinen Renten bescheiden, doch immerhin behaglich hätte leben können, was ihm der Rechtsanwalt zum Schlüsse seiner Auseinandersetzungen zu verstehen gab. Aber gerade durch diese Eröffnung ward sich der Doktor bewußt, daß für ihn noch lange nicht die Zeit der Ruhe gekommen, ja daß ihm sogar ein heftiger Trieb zur Tätigkeit eingeboren wäre; und dies mit Lebhaftigkeit versichernd, stand er nicht länger an, dem alten Freund von der Heilanstalt zu berichten,[154] über deren Ankauf er kurz vor Verlassen des Badestädtchens in aussichtsvolle Unterhandlungen eingetreten sei. Der Rechtsanwalt hörte aufmerksam zu, ließ sich über manche Einzelheiten nähere Aufklärung geben, schien anfangs den Absichten des Doktors zustimmend gegenüberzustehen, zögerte aber am Ende doch, den Freund ernstlich zu einem Unternehmen anzueifern, das, abgesehen von ärztlicher Geschicklichkeit und gewandten Verkehrsformen, die er ihm natürlich in weitestem Ausmaß zugestehen wolle, eine gewisse ordnende und geschäftliche Begabung erforderte, von deren Vorhandensein Gräsler bisher keine ausreichenden Proben abgelegt habe. Der Doktor, der diese Einwendung mußte gelten lassen, fragte sich, ob es nicht geraten wäre, nun von Fräulein Schleheim zu sprechen, die ja diesem Teil der ihm vielleicht bevorstehenden Aufgabe durchaus gewachsen wäre. Aber der alte Junggeselle, der ihm hier gegenübersaß, wäre wohl der letzte gewesen, für eine Herzensgeschichte so besonderer Art das richtige Verständnis aufzubringen. Allzu gut kannte Gräsler Böhlingers Eigenheit, sich über die Frauen bei jeder Gelegenheit in wegwerfender, ja zynischer Weise auszulassen, und er hätte es nicht über sich gebracht, eine leichtfertige Bemerkung über Sabine ruhig hinzunehmen. Aus dem Erlebnis, durch das er zu einem solchen Weiberverächter geworden, hatte Böhlinger dem Jugendfreund seinerzeit kein Geheimnis gemacht. Auf einer Redoute hier in der Stadt, wo einmal jedes Jahr die bürgerliche Gesellschaft sich mit der Welt des Theaters, aber auch mit sittlich noch bedenklicheren Elementen zu begegnen pflegte, hatte Böhlinger, im Fluge gleichsam, die vollkommene Gunst einer Dame gewonnen, der niemand, auch in den phantastischesten Träumen, solche Verwegenheit und solchen Leichtsinn zugetraut hätte. Sie selbst, die auch im letzten Rausch die Maske nicht fallen ließ, hatte sich damals und so für alle Zeit unerkannt gehalten; durch einen merkwürdigen Zufall aber war es Böhlinger nicht verborgen geblieben, wer in jener Nacht die Seine geworden war. Da er dem Freunde wohl das Abenteuer erzählt, den Namen der Geliebten aber dauernd verschwiegen hatte, gab es bald nicht ein weibliches Wesen in der Stadt, Frau oder Mädchen, auf das Gräsler nicht einen Verdacht geworfen hätte, der sich um so dringender meldete, je tadelloser Ruf und Lebenswandel der betreffenden Dame für die Welt sich darstellen mochte. Jenes Abenteuer war es auch gewesen, das Böhlinger davon abhielt, mit irgendeiner seiner Mitbürgerinnen eine innigere [155] oder gar eine auf Ehe hinzielende Verbindung einzugehen, und so war er, als geschätzter Rechtsanwalt in einer auf Anstand und Sittenreinheit sehr bedachten Mittelstadt, genötigt, auf häufig wiederholten kurzen und geheimnisvollen Urlaubsreisen weitere Erfahrungen zu sammeln, die ihn in seiner bitteren Anschauung vom weiblichen Geschlecht nur bestärken mußten. Daher wäre es von Gräslers Seite unklug gewesen, Sabinens Namen in dieses Gespräch zu ziehen, doppelt unklug sogar, da er das anmutige, reine Geschöpf, das sich ihm gewissermaßen an den Hals geworfen, doch wieder freigegeben, ja vielleicht schon für immer verloren hatte. Aus diesen Erwägungen ließ sich Gräsler in eine weitere Unterhaltung über seine Zukunftspläne lieber nicht mehr ein, erklärte ausweichend, daß er für alle Fälle noch Nachrichten von seiten des Baumeisters abzuwarten gesonnen sei, und forderte endlich den Jugendfreund, nicht so herzlich, als er sich vorgesetzt, zu baldigem Besuche am Burggraben auf, wobei ihm erst einfiel, daß er ihm auch noch für seine Mühewaltung bei der Beaufsichtigung der Tapezierarbeiten Dank schulde. Diesen lehnte Böhlinger bescheiden ab; doch freue er sich jedenfalls, die Räume bald wieder zu betreten, die auch für ihn an Jugenderinnerungen, leider an allzu fernen, nicht eben arm seien. Sie schüttelten einander die Hände und sahen sich in die Augen. Die des Rechtsanwaltes schienen feucht werden zu wollen; aber auch jetzt verspürte Gräsler nichts von der Rührung, die er den ganzen Tag vergeblich erwartet und die ihm den dürftigen Nachgeschmack dieser Stunde hätte veredeln können.

Eine Minute darauf stand er auf der Straße in einem fast quälenden Gefühl innerer Leere. Der Himmel hatte sich aufgeheitert, und die Luft war milder geworden. Doktor Gräsler spazierte durch die Hauptstraße, blieb vor einigen Auslagen stehen und empfand eine leise Befriedigung, daß nun auch in seiner Vaterstadt ein moderner Geschmack sich überall deutlich anzukündigen beginne. Endlich trat er in ein Herrenmodegeschäft, wo er nebst einigen Kleinigkeiten einen Hut zu kaufen gedachte.

Gegen seine sonstige Gewohnheit wählte er diesmal eine weiche Form mit ziemlich breiter Krempe, fand im Spiegel, daß sie ihm besser zu Gesichte stand als die steifen Kopfbedeckungen, zu denen er sich sonst verpflichtet glaubte, und konnte es unmöglich für Täuschung halten, als ihn bei Fortsetzung seines Spazierganges in beginnender Dämmerung mancher Frauen- und Mädchenblick freundlich zu mustern schien. Plötzlich fiel ihm ein, daß [156] indes ein Brief von Sabinen angekommen sein könnte; er eilte nach Hause; eine Anzahl von Briefen war eingelangt, zumeist noch aus dem Badestädtchen nachgesandt; – von Sabine war nichts darunter. Zuerst enttäuscht, sah er doch ein, daß er Unwahrscheinliches, ja Unmögliches erwartet hatte, verließ das Haus von neuem und spazierte wieder planlos in den Gassen umher. Später kam er auf den Einfall, mit der Trambahn, die neben ihm hielt, eine Strecke weit zu fahren. Er blieb auf der rückwärtigen Plattform stehen und erinnerte sich, nun zum ersten Male mit leiser Wehmut, daß an Stelle des vorstädtischen Viertels, das er durchfuhr, noch in seinen Jünglingsjahren nichts anderes zu sehen gewesen war als freies Feld und Ackerland. Die meisten Fahrgäste waren allmählich ausgestiegen, und jetzt erst fiel ihm auf, daß sich bisher kein Schaffner gezeigt hatte. Er warf einen Blick rings um sich und merkte, daß zwei Augen den seinen mit freundlichem Spott begegneten. Sie gehörten einem jungen, etwas blassen Mädchen, das, einfach, aber anmutig hell gekleidet, wohl schon geraume Zeit neben ihm auf der Plattform stand. »Sie wundern sich wohl, daß kein Schaffner kommt«, sagte sie, den Kopf nach oben werfend und unter ihrem schwarzen, flachen Strohhut, dessen Rand sie mit einer Hand festhielt, heiter zu Gräsler aufblickend.

»Allerdings«, erwiderte dieser etwas steif.

»Es gibt hier nämlich keinen«, erklärte das junge Mädchen. »Aber da vorn beim Wagenführer, sehen Sie wohl, da ist eine Büchse, da werfen Sie Ihr Zehnpfennigstück hinein, und die Sache ist in Ordnung.«

»Danke sehr«, sagte der Doktor, begab sich nach vorn, tat, wie ihm geheißen, kam zurück und wiederholte: »Ich danke sehr, mein Fräulein, das ist ja wirklich eine sehr praktische Einrichtung – besonders für Gauner.«

»Die hätten kein Glück«, erwiderte das junge Mädchen. »Wir sind hier lauter ehrliche Leute.«

»Daran zu zweifeln liegt mir selbstverständlich fern. Aber wofür werden mich nun wohl die Leute gehalten haben?«

»Für einen Fremden, was Sie doch wohl auch sind?« Sie blickte ihm neugierig ins Gesicht.

»Man könnte mich wohl so nennen«, erwiderte er, schaute in die Luft, und dann sich rasch wieder an seine Nachbarin wendend: »Für was für eine Art von Fremden würden Sie mich wohl halten?«

»Jetzt höre ich Ihnen natürlich an, daß Sie ein Deutscher sind, [157] vielleicht ganz aus der Nähe. Aber im Anfang, da habe ich gedacht, Sie sind von weit her: aus Spanien oder Portugal.«

»Portugal?« wiederholte er und griff unwillkürlich nach seinem Hut. »Nein, ein Portugiese bin ich freilich nicht. Ich kenne es allerdings ein wenig«, setzte er beiläufig hinzu.

»Ja, das denk' ich mir. Sie sind wohl viel in der Welt herumgekommen?«

»Ein wenig«, erwiderte Gräsler, und in seinen Augen glänzte es mild von Erinnerungen fremder Länder und Meere. Er merkte mit Befriedigung, daß der Blick des jungen Mädchens außer Neugier auch eine gewisse Bewunderung zu verraten begann. Ganz unerwartet sagte sie aber: »Hier muß ich aussteigen. Wünsche weiter gute Unterhaltung in unserer Stadt.«

»Danke sehr, mein Fräulein«, sagte Gräsler und lüftete den Hut. Das junge Mädchen war ausgestiegen, und von der Straße her nickte es ihm zu, – vertrauter, als es die kurze Dauer der Bekanntschaft hätte erwarten lassen. Einer kühnen Eingebung folgend, sprang Gräsler von dem Wagen ab, der sich eben wieder in Bewegung setzte, trat auf das Mädchen zu, das verwundert stehengeblieben war, und sagte: »Da Sie mir eben gute Unterhaltung gewünscht haben, mein Fräulein, und die unsere so vielversprechend anfing, wäre es vielleicht das beste ...«

»Vielversprechend?« unterbrach ihn das Mädchen. »Ich wüßte nicht.« Es klang wie eine ehrliche Ablehnung; und so fuhr er in etwas bescheidenerem Tone fort: »Ich wollte sagen – mein Fräulein, Sie verstehen ja so anmutig zu plaudern, und es wäre doch eigentlich schade –«

Sie zuckte leicht die Achseln. »Ich bin schon zu Hause, und man erwartet mich zum Abendessen.«

»Aber ein kleines Viertelstündchen.«

»Es geht wirklich nicht. Guten Abend.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Bitte, noch nicht«, rief Doktor Gräsler in beinahe angstvollem Ton, so daß das Mädchen stehenblieb und lächelte. »Wir wollen doch unsere Bekanntschaft nicht so jäh abbrechen.«

Sie hatte sich wieder zu ihm gewandt und sah lächelnd unter ihrem dunklen Strohhut zu ihm auf.

»Gewiß nicht,« sagte sie, »das wäre ja gar nicht möglich. Nun kennen wir uns einmal, und dabei muß es bleiben. Und wenn Sie mir irgendwo begegnen sollten, so werde ich immer gleich wissen: das ist der Herr – aus Portugal.«

[158] »Aber wenn ich Sie bäte, mein Fräulein, mir zu einer solchen Begegnung Gelegenheit zu geben, um ein Stündchen mit Ihnen plaudern zu dürfen?«

»Ein Stündchen gleich? Sie müssen wohl viel überflüssige Zeit haben.«

»Soviel Ihnen beliebt, mein Fräulein.«

»Das ist nun bei mir leider nicht so.«

»Bei mir natürlich auch nicht immer.«

»Aber jetzt haben Sie wohl Urlaub?«

»Gewissermaßen ja. Ich bin nämlich Arzt. Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle. Doktor Emil Gräsler – hier gebürtig und hier zu Hause«, setzte er rasch und wie eine Schuld gestehend hinzu.

Das junge Mädchen lächelte. »Gar von hier?« sagte sie. »Nein, was Sie sich verstellen können! Vor Ihnen muß man sich wahrhaftig in acht nehmen.« Sie blickte kopfschüttelnd zu ihm auf.

»Also, wann kann ich Sie wiedersehen?« fragte Gräsler dringender.

Sie schaute zuerst nachdenklich vor sich hin, dann sagte sie: »Wenn es Ihnen nicht langweilig ist, so können Sie mich morgen abend wieder nach Hause begleiten.«

»Gern, gern. Und wo darf ich Sie erwarten.«

»Das beste wird wohl sein, Sie gehen gegenüber vom Geschäft auf und ab; ich bin nämlich in dem Handschuhladen von Kleimann, Numero vierundzwanzig, Wilhelmstraße. Um sieben Uhr schließen wir. Da können Sie dann, wenn es Ihnen recht ist, mit mir wieder auf der Trambahn bis hierher fahren.« Sie lächelte.

»Sollten Sie wirklich nicht mehr Zeit für mich übrig haben?«

»Wie sollte ich das wohl anstellen? Ich muß ja doch um acht Uhr zu Hause sein.«

»Sie wohnen bei Ihren Eltern, Fräulein?«

Sie blickte wieder zu ihm auf. »Nun muß ich Ihnen auch wohl endlich sagen, wer ich bin. Katharina Rebner heiße ich, und mein Vater ist Beamter bei der königlichen Post. Und dort, sehen Sie, im zweiten Stockwerk, wo das Fenster offen steht, dort wohnen wir: Vater, Mutter und ich. Und eine Schwester hab' ich, die ist verheiratet. Und die kommt mit ihrem Mann heute abend zu uns, wie immer am Donnerstag. Und darum muß ich nach Hause.«

»Heute – aber doch nicht jeden Abend?« fiel Doktor Gräsler rasch ein.

[159] »Wie meinen das der Herr Doktor?«

»Sie sind doch gewiß nicht alle Abende zu Hause, nicht wahr? Sie haben doch gewiß Freundinnen, die Sie besuchen ... oder gehen ins Theater?«

»Dazu kommt unsereins selten.« Plötzlich nickte sie jemandem, der auf der anderen Seite der Straße ging, freundlich zu. Es war ein einfach, in der Art eines besseren Handwerkers gekleideter, nicht mehr ganz junger Mann, der ein Paket in der Hand trug und ihren Gruß kurz und anscheinend ohne von Gräsler Notiz zu nehmen, erwiderte.

»Das ist nämlich mein Schwager. Da ist die Schwester jedenfalls schon bei uns oben. Aber nun ist es auch wirklich höchste Zeit.«

»Es wird Ihnen hoffentlich keine Unannehmlichkeit daraus entstehen, daß ich mir erlaubt habe, Sie so nahe bis an Ihr Haustor zu begleiten?«

»Unannehmlichkeiten? Glücklicherweise ist man doch majorenn, und sie wissen schon bei mir zu Hause, mit wem sie es zu tun haben. Nun, adieu, Herr Doktor.«

»Auf morgen!«

»Ja.«

Doktor Gräsler wiederholte: »Um sieben Uhr, Wilhelmstraße.«

Sie stand noch immer, schien etwas zu bedenken, blickte plötzlich zu ihm auf und sagte dann etwas hastig: »Sieben Uhr, ja. Aber« – setzte sie zögernd hinzu – »weil Sie früher vom Theater sprachen, Sie werden mir doch nicht böse sein –«

»Warum böse?«

»Ich meine, weil Sie früher eben davon gesprochen haben – wenn Sie vielleicht gleich Billette fürs Theater mitbringen wollten, das wäre sehr hübsch. Ich bin so lange nicht da gewesen.«

»Aber wie gern! Ich bin ganz glücklich, Ihnen eine kleine Gefälligkeit erweisen zu können.«

»Nur keine teueren Plätze, wie Sie sie wahrscheinlich gewöhnt sind. Das würde mir gar keinen Spaß machen.«

»Sie können ganz ruhig sein, Fräulein – Fräulein Katharina.«

»Und Sie sind mir gewiß nicht böse, Herr Doktor?«

»Aber – Fräulein Katharina, böse –?«

»Also auf Wiedersehen, Herr Doktor.« Sie reichte ihm die Hand. »Jetzt muß ich mich wirklich beeilen. Morgen dürfte es ja doch etwas später werden.« Sie wandte sich so rasch ab, daß er [160] den Blick nicht mehr erhaschen konnte, der ihre Worte begleitete. Aber in ihrer Stimme klang eine leise Versprechung nach. Als Doktor Gräsler wieder in seinen vier Wänden war, stellte das Bild Sabinens mit sehnsüchtiger Macht sich ein. Er fühlte das unabweisbare Bedürfnis, ihr zu schreiben, und wären es auch nur ein paar Worte. So teilte er ihr denn mit, daß er wohlbehalten angelangt sei, sein Haus in bester Ordnung vorgefunden, mit seinem alten Freund Böhlinger eine ernste, aber nicht abschließende Unterredung geführt habe, daß er morgen, um die Zeit nicht ungenützt verstreichen zu lassen, das Krankenhaus besuchen werde, wo einer seiner alten Studienkollegen, wie er ihr ja gelegentlich erzählt, einer Abteilung vorstehe, und er unterschrieb die hastigen Zeilen: »In Freundschaft innigst grüßend Emil.« Er eilte nochmals auf die Straße und trug den Brief selbst auf den Bahnhof, damit er noch mit dem Nachtzug seiner Bestimmung entgegenreise.

9. Kapitel

Neuntes Kapitel

Am nächsten Morgen, wie er es Sabinen in seinem Brief versprochen, begab sich Doktor Gräsler ins Krankenhaus, wurde vom Primarius willkommen geheißen und bat um die Erlaubnis, an der Visite teilnehmen zu dürfen. Er folgte ihr mit einer Aufmerksamkeit, die ihn selbst am meisten befriedigte, ließ sich nähere Aufschlüsse über Verlauf und Behandlung beachtenswerter Fälle geben und hielt auch mit eigenen abweichenden Ansichten nicht zurück, wobei er den einschränkenden Satz zu gebrauchen pflegte: »Soweit es eben uns Badeärzten gelingt, den Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Medizin aufrechtzuerhalten.« Das Mittagessen nahm er mit einigen Sekundärärzten in einem bescheidenen Speisehaus gegenüber dem Spital und behagte sich so sehr in Gesellschaft der jungen Fachgenossen bei zünftigen Gesprächen, daß er sich vornahm, öfter wiederzukommen. Auf dem Heimweg besorgte er die Theaterbillette, zu Hause blätterte er in medizinischen Büchern und Zeitschriften um so zerstreuter, je weiter die Stunden vorrückten, teils in Erwartung einer Nachricht von Sabine, teils in unklaren Vorstellungen von dem wahrscheinlichen Verlauf des kommenden Abends. Um allen Möglichkeiten wohlgerüstet gegenüberzustehen, entschloß er sich, einen kalten Imbiß und ein paar [161] Flaschen Wein bereit zu halten, was ja am Ende nach keiner Richtung hin verpflichtete. Er verließ seine Wohnung, besorgte die nötigen Einkäufe, ließ sie nach Hause schaffen; und ein paar Minuten vor sieben Uhr spazierte er in der Wilhelmstraße auf und ab, diesmal nicht mit der romantischen Kopfbedeckung von gestern, sondern, um minder auffällig zu erscheinen, und auch, wie er sich einbilden wollte, um Katharinens Gefühle auf ihre Echtheit zu prüfen, mit dem altgewohnten steifen schwarzen Hut.

Er betrachtete eben eine Auslage, als Katharinens Stimme hinter ihm erklang: »Guten Abend, Herr Doktor.« Er wandte sich um, reichte ihr die Hand und freute sich der anmutigen, wohlgekleideten Erscheinung, in der gewiß jedermann eine gut erzogene Bürgerstochter vermutet hätte, wofür sie ja auch, wie sich Doktor Gräsler sofort sagte, als Tochter eines Staatsbeamten unbedingt zu gelten hatte.

»Was denken Sie wohl,« fragte sie gleich, »wofür mein Schwager Sie gestern gehalten hat?«

»Davon habe ich keine Ahnung ... Auch für einen Portugiesen etwa?«

»Nein, das nicht. Aber für einen Kapellmeister. Er sagte, Sie sehen geradeso aus wie ein Kapellmeister, den er einmal gekannt hat.«

»Nun, haben Sie ihn eines Besseren oder Schlechteren belehrt?«

»Das hab' ich getan. War es nicht recht von mir?«

»Oh, ich habe keinen Grund, aus meinem Beruf ein Geheimnis zu machen. Und haben Sie denn zu Hause auch gesagt, daß Sie heute mit mir ins Theater zu gehen beabsichtigen?«

»Das geht niemanden was an. Und es fragt mich auch keiner. Ich könnte doch wohl allein gehen, wenn es mir beliebte – nicht wahr?«

»Gewiß könnten Sie, aber es ist mir lieber, – so wie es sich eben gefügt hat.«

Sie blickte zu ihm auf, nach ihrer Gewohnheit die eine Hand an den Rand ihres Hutes führend, und sagte: »Alleinmacht es einem keine rechte Freude. Theater ist nur in Gesellschaft schön. Es muß jemand danebensitzen, der auch lacht, und den man angucken kann und –«

»Und? was wollten Sie sagen?«

»Und in den Arm kneifen, wenn es besonders schön wird.«

[162] »Hoffentlich wird's heute besonders schön – ich stehe jedenfalls zur Verfügung.«

Sie lachte leise und ging rascher, als fürchtete sie, den Anfang zu versäumen.

»Wir sind zu früh da,« sagte Doktor Gräsler, als sie vor dem Theatergebäude standen; »es ist beinahe noch eine Viertelstunde Zeit.«

Sie hörte nicht auf ihn. Leuchtenden Auges lief sie ihm voraus in den ersten Rang, kümmerte sich kaum um ihn, als er ihr behilflich war, die Jacke abzulegen; und erst als sie nebeneinander auf ihren Plätzen in der dritten Reihe saßen, traf ihn ein dankbarer Blick.

Doktor Gräsler suchte in dem mäßig besetzten Zuschauerraum nach bekannten Gesichtern. Hier und dort bemerkte er eines, dessen er sich zu erinnern vermochte. Ihn selbst, der im Dämmer saß, erkannte gewiß niemand.

Der Vorhang hob sich. Man gab einen neueren deutschen Schwank. Katharina unterhielt sich vortrefflich, und oft lachte sie auf, aber ohne sich nach ihrem Nachbar umzuwenden. Im ersten Zwischenakt kaufte er ihr eine Tüte Bonbons, die sie dankbar lächelnd entgegennahm. Während des zweiten Aktes nickte sie ihm bei Stellen, die ihr besonders lustig erschienen, vergnügt zu. Während das Spiel weiterging, dem Doktor Gräsler etwas zerstreut zuhörte, fühlte er von einer Loge her einen Operngucker auf sich gerichtet. Er erkannte Böhlinger, grüßte ihn unbefangen und erwiderte in keiner Weise den pfiffig fragenden Blick des alten Freundes. Als er im letzten Zwischenakt mit Katharina in den Wandelgängen hin und her spazierte, hing er sich plötzlich in ihren Arm, was sie ohne weiteres geschehen ließ, gab über die Leistungen einiger Darsteller seine Meinung ab, aber so eindringlich und leise, als gäbe es ein holdes Geheimnis zwischen ihm und seiner reizenden Begleiterin, und er war etwas enttäuscht, Böhlinger nicht zu begegnen. Das letzte Zeichen tönte, und als Gräsler nun wieder neben Katharina saß, rückte er so nahe an sie heran, daß ihre Arme sich berührten und da sie den ihren nicht regte, fühlte er, wie sich allmählich eine immer vertrautere Beziehung zwischen ihm und ihr hergestellt hatte, und in der Garderobe, während er ihr in die Jacke hineinhalf, durfte er es wohl wagen, ihr flüchtig Haare und Wangen zu streicheln.

Als sie vor dem Tore standen, sagte sie, unter dem Hut zu ihm [163] aufblickend, in einem Ton, der nicht ganz ernst gemeint klang: »Jetzt muß ich zusehen, daß ich nach Hause komme.«

»Aber vorher,« entgegnete er gewandt, »werden Sie mir, wie ich hoffe, liebes Fräulein Katharina, die Ehre erweisen, mein bescheidenes Mahl mit mir zu teilen.«

Sie sah ihn zuerst an wie fragend, dann nickte sie ernst und so rasch, als verstünde sie mehr, als er gesagt hatte. Und wie Liebende, deren Schritte die Leidenschaft beschleunigt, Arm in Arm, eilten sie durch die abendlichen Straßen seinem Hause zu.

Als sie in seiner Wohnung angelangt waren und er im Arbeitszimmer Licht gemacht hatte, blickte Katharina rings um sich und betrachtete Bilder und Bücher mit neugierigen Augen. »Gefallt es Ihnen bei mir?« fragte er. Sie nickte. »Es ist aber doch ein ganz altes Haus, nicht wahr?« – »Dreihundert Jahre gewiß.« – »Und wie neu alles aussieht!«

Gern erbot er sich, ihr die übrigen Räume zu zeigen, die in Ausstattung und Anordnung ihren Beifall fanden; doch als sie mit ihm ins Zimmer seiner verstorbenen Schwester trat, sah sie ihn befremdet an. »Sie sind doch nicht am Ende verheiratet,« sagte sie, »und Ihre Frau ist – verreist?« Er lächelte zuerst, dann strich er sich mit der Hand über die Stirn, und mit gedämpfter Stimme erklärte er ihr, daß dieses völlig neu eingerichtete Zimmer für seine Schwester bestimmt gewesen sei, die vor wenigen Monaten im Süden gestorben war. Katharina blickte ihm wie prüfend ins Auge; dann trat sie näher auf ihn zu, nahm seine Hand und strich schmeichelnd mit der ihren darüber hin, was ihm sehr wohl tat. Er drehte das Licht ab, sie begaben sich ins Speisezimmer, und jetzt erst ließ sich Katharina bewegen, Hut und Jacke abzulegen. Dann aber war sie rasch wie zu Hause. Als er sich anschickte, den Tisch zu decken, ließ sie es nicht zu, sondern bestand darauf, das sei ihre Sache. Auf ihren scherzenden Befehl nahm er auf einem entfernten Sessel Platz und sah ihr mit leiser Rührung zu, wie sie hausmütterlich alle Vorbereitungen für das Abendessen traf, und wie sie sich nicht nur hierbei, sondern auch draußen in Küche und Vorzimmer mit einer Geschicklichkeit zurechtfand, als hätte sie hier seit jeher Haus und Wirtschaft geführt. Endlich setzten sie sich beide an den Tisch, sie teilte vor, er schenkte ein, und sie aßen und tranken. Sie plauderte entzückt von dem verflossenen Abend, und war verwundert, von Gräsler zu hören, daß er selten Theater besuche, was für sie den Inbegriff aller irdischen Genüsse vorzustellen schien. Nun [164] gab er ihr Aufschluß darüber, wie schon der äußere Verlauf seines Daseins Vergnügungen solcher Art nicht häufig erlaube, daß er seinen Aufenthalt von Halbjahr zu Halbjahr verändere, daß er eben aus einer kleinen deutschen Bäderstadt zurückkäme, und daß er bald wieder übers Meer nach einer fernen Insel reisen müsse, wo es keinen Winter gäbe, wo hohe Palmen stünden, und man auf kleinen Wagen unter einer brennenden Sonne ins gelbe Land hineinfahre. Katharina fragte, ob es dort auch viele Schlangen gäbe. »Man kann sich vor ihnen schützen«, sagte er. – »Wann müssen Sie denn wieder dorthin?« – »Bald. Möchten Sie wohl mit?« fragte er wie im Scherz und fühlte zugleich in seiner, durch den rasch genossenen Wein erhöhten Stimmung, daß in diesem Scherz eine Ahnung von Wahrheit zitterte.

Sie erwiderte ruhig, aber ohne ihn anzublicken: »Warum nicht?« Er setzte sich näher zu ihr und legte seinen Arm leise um ihren Hals. Sie wehrte es ab, was ihm nicht übel gefiel. Er stand auf, entschloß sich, Katharina von nun an vollkommen als Dame zu behandeln, und bat höflich um die Erlaubnis, sich eine Zigarre anzünden zu dürfen. Dann, rauchend und im Zimmer auf und ab wandelnd, sprach er ernst und mit Beziehung von dem seltsamen Lauf der menschlichen Tage, deren man auch nicht einen vorher zu berechnen imstande sei, erzählte dann von allen Orten im Norden und im Süden, wohin sein Beruf ihn schon geführt hatte, und ließ dahingestellt, wohin er ihn wohl noch führen könnte; im Reden blieb er zuweilen neben Katharinen stehen, die Datteln und Nüsse aß, und legte sachte die Hand auf ihr braunes Haar. Katharina, die ihm mit Teilnahme, und zuweilen durch wißbegierige Fragen ihn unterbrechend, zuhörte, ließ manchmal ein sonderbares, wie spöttisches Aufleuchten der Augen merken, was den Doktor dann immer veranlaßte, noch beflissener und sachlicher in seinen Reden fortzufahren. Als die Wanduhr Mitternacht schlug, erhob sich Katharina, als wäre es das unwiderrufliche Zeichen zum Aufbruch; und Gräsler tat recht ungehalten, obwohl er in der Tiefe seiner Seele eine gewisse Erleichterung verspürte. Bevor Katharina ging, räumte sie den Tisch ab, stellte die Sessel zurecht und machte Ordnung im Zimmer. An der Türe ganz plötzlich hob sie sich auf die Fußspitzen und reichte dem Doktor die Lippen zum Kuß. »Weil Sie so brav gewesen sind«, sagte sie dann, und in ihren Augen blitzte es wieder sonderbar spöttisch auf. Sie gingen die Treppe hinunter im Schein einer flackernden Kerze, die Gräsler vorantrug. An der nächsten Ecke stand ein [165] Wagen, Gräsler stieg mit Katharina ein, sie lehnte sich an ihn, er umschlang ihren Hals; und so fuhren sie stumm durch die nächtlichen Straßen, bis, schon in der Nähe von Katharinens Wohnhaus, Gräsler das junge Mädchen heftiger an sich zog und ihr Mund und Wangen mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte. »Wann seh' ich dich wieder?« fragte er, als der Wagen auf Katharinens Wunsch in einiger Entfernung von ihrem Wohnhaus hielt. Sie versprach ihm, morgen abend zu kommen. Dann stieg sie aus, bat ihn, sie nicht bis zum Tor zu begleiten, und verschwand im Schatten der Häuser.

Am nächsten Morgen verspürte Doktor Gräsler keinerlei Neigung, das Spital zu besuchen; doch als er später unter einer kühlen, klaren Herbstsonne, zu einer Tageszeit, da andere Leute ihrem Berufe nachgingen, im Stadtgarten herumspazierte, meldeten sich in ihm leise Regungen des Gewissens, als wäre er nicht nur sich selbst, sondern auch jemandem anderen Rechenschaft schuldig, und er wußte, daß diese andere Sabine war. Der Gedanke an die Anstalt des Doktor Frank drängte plötzlich mit Macht sich wieder auf; Gräsler überdachte allerlei bauliche Änderungen, erwog die Errichtung neuer Baderäume, entwarf Prospekte in Worten von überzeugender Kraft, wie sie ihm bisher noch niemals so verwegen zugeströmt waren, und schwor sich zu, daß er in derselben Stunde, in der von Sabinen eine Nachricht käme, zurückreisen und die Sache in Ordnung bringen werde. Wenn sie aber auch seinen letzten Brief unbeantwortet ließe, dann war alles zu Ende, zumindest zwischen ihm und ihr. Denn auch den Kauf des Sanatoriums ausschließlich von Sabinens Verhalten abhängig zu machen, dazu lag kein Grund vor, und es wäre wahrhaftig kein übler, ja sogar ein etwas verteufelter Gedanke, mit einer anderen Frau Direktorin in das herrlich umgestaltete Gebäude Einzug zu halten – womöglich mit einer, die ihn just nicht für einen egoistischen, pedantischen, langweiligen Gesellen hielt, wie Sabine es tat. Und wenn es ihm etwa beliebte, Fräulein Katharina als Begleiterin auszuersehen, dann dürfte ihn wohl niemand mehr für einen Pedanten oder Philister halten. Er ließ sich auf einer Bank nieder. Kinder liefen an ihm vorüber. Im gelblichen Laub flössen herbstliche Strahlen hin. Von einer fernen Fabrik her tönte das Mittagszeichen des Nebelhorns. Heute abend, dachte er. Heute abend! Steigt die Jugend noch einmal auf? Ist es denn noch an der Zeit für solche Abenteuer? Sollte man nicht doch auf der Hut sein? Fortreisen? Gleich ganz fort – das nächste Schiff [166] nehmen und nach Lanzerote? Oder zurück – zu Sabine? Zu dem Wesen mit der reinen Seele? Hm! Wer weiß, wie sich ihr Leben gestaltet hätte, wenn ihr im gegebenen Moment der Richtige begegnet wäre – nicht gerade ein unverschämter Tenor oder ein kopfhängerischer Medizinmann ... Er erhob sich und begab sich zunächst zum Mittagessen in den vornehmen Gasthof, wo man durch die Fachsimpelei der jungen Kollegen nicht behelligt wurde wie gestern; über alles andere konnte man nachher schlüssig werden.

10. Kapitel

Zehntes Kapitel

Kaum hatte er sich nachmittags an seinen Arbeitstisch gesetzt und den eben daliegenden anatomischen Atlas aufgeschlagen, als es klopfte und die Setzersgattin, die sich erbötig gemacht hatte, sein Junggesellenheim zu betreuen, bei ihm eintrat und unter vielen Entschuldigungen die Bitte vorbrachte, ob der Herr Doktor nicht vielleicht die Gnade haben und ihr aus der Garderobe des leider verstorbenen gnädigen Fräuleins ein oder das andere Kleidungsstück schenken wollte. Gräsler runzelte die Stirn. Diese Person, dachte er, hätte eine solche, fast unverschämte Forderung nicht gewagt, wenn sie nicht wüßte, daß ich hier in meiner Wohnung Damenbesuche empfange. Er erwiderte ausweichend, daß er im Sinne der Verstorbenen deren Hinterlassenschaft vor allem Wohltätigkeitsanstalten zuzuwenden gedenke, doch habe er überhaupt noch nicht Zeit zur Nachschau gefunden und könne daher vorläufig keinesfalls etwas versprechen. Es zeigte sich, daß die Frau für alle Fälle den Bodenschlüssel mitgebracht hatte; sie überreichte ihn dem Doktor mit einem zudringlichen Lächeln, dankte so überschwenglich, als wäre ihre Bitte schon erfüllt worden, und entfernte sich. Da Gräsler nun einmal den Schlüssel in der Hand hatte, und er im Grunde froh war, für die nächsten leeren Stunden eine Art Zeitvertreib gefunden zu haben, beschloß er, dem Bodenraum, den er seit Kinderzeiten nicht gesehen, einen Besuch abzustatten. Er stieg die Holztreppe hinauf, öffnete und betrat ein enges Gelaß, das durch das schräge Dachfenster so spärliches Licht erhielt, daß Gräsler sich nur allmählich zurechtfinden konnte. Überflüssiger und vergessener Hausrat stand in den dämmerigen Winkeln, die Mitte aber war von Kisten und Koffern erfüllt. Der erste, den Gräsler aufschloß, schien nichts zu [167] enthalten als alte Vorhänge und Hauswäsche, und Gräsler, der ja doch nicht daran dachte, hier selber auszupacken und Ordnung zu machen, ließ den Deckel wieder fallen. Eine längliche, sargartige Kiste, die er nun öffnete, ließ einen merkwürdigen Inhalt vermuten. Gräsler sah allerlei beschriebene Papiere vor sich liegen, zum Teil in Aktenformat, Briefe in Umschlägen, größere und kleinere verschnürte Päckchen, und las auf einem dieser letzteren: Aus dem Nachlaß des Vaters. Es war Doktor Gräsler neu, daß seine Schwester dergleichen so sorgfältig aufbewahrt hatte. Er nahm ein zweites Paket zur Hand, das dreimal versiegelt war, und auf dem mit dicken Lettern stand: Ungelesen zu verbrennen. Doktor Gräsler schüttelte wehmütig den Kopf. Bei Gelegenheit, dachte er, meine arme Friederike, soll dein Wunsch erfüllt werden. Er legte das Päckchen, das wohl Tagebücher und unschuldige Liebesbriefe aus der Mädchenzeit enthalten mochte, wieder an seinen Ort, und öffnete den dritten Koffer, in dem Tücher, Schals, Bänder und vergilbte Spitzen verwahrt waren. Mancherlei hob er empor, ließ es durch die Hände gleiten, glaubte wohl auch ein oder das andere Stück von Mutters oder gar Großmutters Zeiten her zu erkennen. Manches hatte die Schwester selbst, insbesondere in früheren Tagen, getragen, und den schönen indischen Schal mit den gestickten grünen Blättern und Blumen, den ihm vor vielen Jahren ein reicher Patient bei der Abreise für die Schwester geschenkt hatte, erinnerte er sich, noch vor gar nicht langer Zeit auf ihren Schultern gesehen zu haben. Dieser Schal, ebenso wie manches andere, taugte gewiß weder für die Druckersgattin, noch für eine Wohltätigkeitsanstalt – aber um so besser für eine hübsche junge Dame, die so freundlich sein wollte, einem einsamen alten Junggesellen ein paar arme Heimatsstunden zu erheitern und zu versüßen. Er verschloß den Koffer mit besonderer Sorgfalt, den Schal aber legte er wohlgeglättet über den Arm, und ein vergnügtes Lächeln auf den Lippen, verließ er den allmählich in Dunkel versinkenden Raum.

Er hatte nicht lange zu warten, bis Katharina, ein wenig vor der festgesetzten Stunde, erschien, geradeswegs aus dem Geschäft, ohne sich erst schön gemacht zu haben, wie sie, sich scherzhaft entschuldigend, bemerkte. Doktor Gräsler freute sich, daß sie da war, küßte ihr die Hand und überreichte ihr mit einer humoristischen Verbeugung den Schal, der auf dem Tisch für sie bereitgelegt war. »Was soll denn das sein?« fragte sie wie erstaunt. »Etwas zum Schönmachen,« erwiderte er, »wenn man's [168] auch nicht gerade notwendig hat.« »Aber was fällt Ihnen denn nur ein«, sagte sie, nahm den Schal in die Hände, ließ ihn zwischen den Fingern spielen, nahm ihn um, drapierte sich damit, betrachtete sich vor dem Spiegel immer noch wortlos, bis sie endlich mit aufrichtigem Entzücken vor Gräsler hintrat, zu ihm aufblickend, ihn mit beiden Händen beim Kopf nahm und seine Lippen an die ihren zog. »Ich danke Ihnen tausendmal«, sagte sie dann. – »Das ist mir nicht genug.« – »Also millionenmal.« – Er schüttelte den Kopf. Sie lächelte. »Ich danke dir«, sagte sie nun und reichte ihm die Lippen zum Kuß. Er nahm sie in die Arme und erzählte ihr gleich, daß er das hübsche Stück heute nachmittag auf dem Boden für sie herausgesucht, und daß sich wohl noch mancherlei in den Kisten und Koffern finden möchte, was ihr zum mindesten ebensogut zu Gesicht stünde wie dies. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sich nie wieder ein so kostbares Geschenk gefallen lassen. Er fragte sie, wie der gestrige Abend ihr angeschlagen, ob es heute im Geschäft viel zu tun gegeben; und nachdem sie ihm alles, was er wissen wollte, vorgeplaudert, stattete er ihr, wie einer lieben, alten Freundin, einen Bericht über den heutigen Tag ab: daß er das Spital geschwänzt und statt dessen lieber im Stadtgarten herumbummelnd, sich der fernen Zeit erinnert habe, da er dort als Kind noch zwischen den alten grasüberhangenen Wällen gespielt hatte. Dann kam er auf allerlei anderes aus seiner Vergangenheit zu reden, insbesondere halb zufällig, halb absichtlich auf die Zeit seiner schiffsärztlichen Tätigkeit; und wenn Katharina ihn durch kindlich neugierige Fragen nach Aussehen, Trachten und Sitten fremder Völker, nach Korallenriffen und Seestürmen unterbrach, so war ihm, als hätte er Dinge, die er kürzlich erst in höheren Sphären unter Beifall vorgetragen, für ein naiveres, aber um so dankbareres Publikum zu bearbeiten, und er nahm unwillkürlich Ton und Redeweise eines Märchenonkels an, der in dämmeriger Stube aufhorchende Kinder durch Erzählung merkwürdiger Abenteuer zu rühren und zu ergötzen sucht.

Eben hatte Katharina, die, ihre Hände in den seinen, neben ihm auf dem Diwan saß, sich erhoben, um das Abendessen vorzubereiten, als draußen die Klingel tönte. Gräsler fuhr leicht zusammen. Was hatte das zu bedeuten? Seine Gedanken jagten. Ein Telegramm? Aus dem Forsthaus? Sabine? War ihr Vater krank? Oder die Mutter? Oder war es etwas mit dem Sanatorium? Eine dringende Anfrage von Seiten des Besitzers? Hatte ein anderer [169] Käufer sich gemeldet? Oder war es am Ende Sabine selbst? Was wäre dann zu tun? Nun keinesfalls würde sie ihn länger für einen Philister halten. Doch junge Mädchen mit reiner Seele klingeln nicht zu so später Stunde an der Türe von Junggesellen. Gleich klingelte es, noch schriller, zum zweiten Male. Er sah Katharinens Blick auf sich gerichtet, fragend und unbefangen. Allzu unbefangen, wie ihm plötzlich schien. Es konnte wohl auch mit ihr zusammenhängen. Der Vater? Der Schwager, der angebliche Schwager? Eine abgekartete Sache? Ein Erpressungsversuch? Ah! Es geschah ihm recht. Wie konnte man sich in so was einlassen. Alter Narr, der er war. Aber, – es sollte ihnen nicht gelingen. Er würde sich nicht einschüchtern lassen. Er hatte andere Gefahren bestanden. Teufel noch einmal. Eine Kugel war hart an ihm vorbeigeflogen auf einer Südseeinsel. Ein hübscher blonder Seeoffizier war tot neben ihm hingesunken. »Willst du nicht nachsehen?« fragte Katharina und schien sich über seinen sonderbaren Blick zu wundern.

»Gewiß«, erwiderte er. – »Wer kann's denn sein – so spät?« hörte er sie noch fragen, die Heuchlerin, als er schon an der Türe war. Er schloß hinter sich zu und sah vorerst durch das Guckfenster ins Stiegenhaus. Da stand irgendeine Frauensperson barhaupt mit einem Licht in der Hand. »Wer ist da?« fragte er. – »Bitte sehr, ist der Herr Doktor zu Hause?« – »Was wünschen Sie? Wer sind Sie?« – »Bitte sehr, ich bin das Dienstmädchen, von der Frau Sommer.« – »Ich kenne keine Frau Sommer.« – »Die Partei aus dem ersten Stock. Dem Kinde ist so schlecht geworden. Kann ich den Herrn Doktor nicht sprechen –?«

Gräsler öffnete aufatmend. Er wußte, daß eine Witwe Sommer mit ihrem kleinen siebenjährigen Töchterchen hier im Hause wohnte. Es war jedenfalls die hübsche Frau in Trauer, der er gestern noch auf der Treppe begegnet war, nach der er sich sogar umgedreht hatte – ohne sich dabei irgend etwas Besonderes zu denken. »Ich bin Doktor Gräsler, was wünschen Sie?« – »Wenn der Herr Doktor so gut wären, die Kleine hat einen ganz heißen Kopf, und schreit in einem fort.« – »Hier in der Stadt übe ich keine Praxis aus, ich bin hier nur auf der Durchreise. Ich möchte Sie bitten, doch lieber einen anderen Arzt zu holen.« – »Ja, bis man einen bekommt in der Nacht.« – »Es ist noch nicht so spät.«

Ein Lichtschein von einer plötzlich geöffneten Tür fiel in den Flur des unteren Stockwerks; eine Flüsterstimme tönte herauf: »Anna.« – »Das ist die Frau Sommer selbst«, sagte rasch das [170] Dienstmädchen. Sie eilte zum Geländer. »Gnädige Frau.« – »Wo bleiben Sie denn so lang? Ist der Doktor nicht zu Hause?« Auch Gräsler trat zum Geländer hin und blickte hinab. Die Frau unten auf dem Stiegengang, deren Züge im Halbdunkel verschwammen, hob die Arme wie zu einem Retter empor. »Gott sei Dank! Nicht wahr, Herr Doktor, Sie kommen gleich? Das Kind ... ich weiß nicht, was mit ihm ist.«

»Ich – ich komme, selbstverständlich. Nur eine Minute bitte sich zu gedulden. Ich will auch gleich das Thermometer mitbringen; eine Minute, gnädige Frau –«

»Danke«, flüsterte es herauf, während Doktor Gräsler die Tür hinter sich schloß. Er trat rasch in das Zimmer, wo Katharina erwartungsvoll stehend, an den Tisch gelehnt, ihm entgegenblickte. Er war von tiefer Zärtlichkeit für sie erfüllt, um so mehr, als er sie früher in einem so schnöden Verdacht gehabt hatte. Sie erschien ihm rührend, engelhaft geradezu. Er trat auf sie zu und strich ihr über das Haar. »Wir haben kein Glück«, sagte er, »ich vielmehr. Denk' dir, da werde ich soeben zu einem kranken Kind gerufen hier im Hause, ich kann natürlich meine Hilfeleistung nicht verweigern. So bleibt mir leider nichts anderes übrig, als dich zu einem Wagen zu bringen.«

Sie ergriff seine Hand, die noch immer auf ihrem Kopf ruhte. »Du schickst mich fort?« – »Nicht gern, das kannst du mir glauben. Oder – oder würdest du am Ende auf mich warten wollen?« – Sie streichelte seine Hand. »Wenn's nicht gar zu lange dauert?« – »Jedenfalls will ich mich beeilen. Du bist sehr, sehr lieb.« Er küßte sie auf die Stirn, holte rasch aus seinem Arbeitszimmer die schwarze Instrumententasche, die stets zur Benützung bereit lag, ermahnte Katharina, sich's indes schmecken zu lassen, sah sich von der Tür aus nochmals nach ihr um, die ihm freundlich zunickte, dann eilte er die Treppe hinunter in der beglückenden Voraussicht, nach seiner Wiederkehr aus dem düstern Ernst seines Berufs von einem holdseligen jungen Ding liebevoll empfangen zu werden.

Frau Sommer saß am Bett ihres Kindes, das sich fieberisch hin und her wälzte, als Doktor Gräsler eintrat. Er nahm, nach ein paar einleitenden Fragen und Bemerkungen, an der kleinen Kranken eine sorgfältige Untersuchung vor, nach deren Abschluß er sich genötigt sah, die Vermutung auszusprechen, daß ein Ausschlag zum Ausbruch kommen dürfte. Die Mutter gebärdete sich wie verzweifelt. Ein Kind hätte sie schon vor drei Jahren verloren, [171] ihr Gatte war vor einem halben Jahr auf einer Geschäftsreise in der Fremde gestorben; ja, sie hatte nicht einmal sein Grab gesehen. Was sollte nur aus ihr werden, wenn ihr nun das letzte geraubt würde, was ihr geblieben war. Doktor Gräsler erklärte, daß vorläufig kein Anlaß zu Befürchtungen vorläge, daß es vielleicht mit einer einfachen Halsentzündung sein Bewenden haben, daß aber ein so wohlgenährtes, kräftiges Kind auch einer ernsteren Krankheit genügenden Widerstand entgegensetzen könnte. So wußte er noch allerlei Beschwichtigendes vorzubringen und merkte mit Befriedigung, daß seine vernünftigen Worte ihre Wirkung auf die Mutter nicht verfehlten. Er verordnete das Nötige; das Dienstmädchen wurde in die nahe Apotheke geschickt: indes verweilte Gräsler am Krankenbette, von Minute zu Minute den Puls des Kindes fühlend, und öfters dessen heiße, trockene Stirn berührend, wo seine Hand zuweilen der der besorgten Mutter begegnete. Nach längerem Schweigen begann diese von neuem ängstliche Fragen zu flüstern, der Arzt faßte väterlich ihre Hände, sprach ihr gütig zu, mußte daran denken, daß Sabine nun wohl mit ihm zufrieden wäre, und merkte zugleich im grünlich matten Schein der verhängten Deckenlampe, daß das leicht fließende Hauskleid der jungen Witfrau sehr anmutige Formen barg. Als das Mädchen wiederkam, erhob er sich und wiederholte, was er schon beim Eintreten beiläufig erwähnt hatte, daß er die weitere Behandlung des Kindes zu übernehmen leider nicht in der Lage sei, da er schon in den nächsten Tagen abreisen müsse. Die Mutter beschwor ihn, mindestens so lange der Arzt des Kindes zu bleiben, als er noch in der Stadt verweile. Sie habe zu böse Erfahrungen mit den Ärzten hier am Ort gemacht, zu ihm aber habe sie sofort das rückhaltloseste Vertrauen gefaßt; und wenn irgendeiner, das fühle sie, sei er imstande, ihr das geliebte Kind zu retten. So blieb ihm denn nichts anderes übrig, als vorläufig für den nächsten Morgen seinen Besuch in Aussicht zu stellen, und nachdem er noch eine Weile still beobachtend am Krankenlager des Kindes gestanden hatte, das jetzt ruhiger atmete, drückte er der Mutter herzlich die Hand und empfahl sich, gefolgt von ihren dankbar heißen Blicken.

Rasch eilte er ins zweite Stockwerk, schloß seine Wohnung auf und trat ins Speisezimmer, das er leer fand. Sie hat rasch die Geduld verloren, dachte er bei sich. Das war zu erwarten. Vielleicht ist es gut so, da das Kind unten doch wohl eine ansteckende Krankheit bekommen wird. Das ist ihr wohl auch durch den[172] Kopf gegangen. Freilich, Sabine wäre in einem solchen Fall nicht geflohen. Immerhin hat sie sich's vorher noch schmecken lassen. Er betrachtete den Tisch mit den Resten des Mahls, und seine Lippen zuckten verächtlich. Es wäre keine üble Idee, sagte er sich dann, sich nochmals in den ersten Stock zu bemühen und der hübschen Witwe Gesellschaft zu leisten. Er empfand, daß er bei ihr, in dieser Stunde noch, am Bette des fiebernden Kindes erreichen könnte, was er nur wollte, und war von der Verworfenheit dieses Einfalls nicht unangenehm durchschauert. »Aber ich geh' ja doch nicht hinab,« sagte er dann vor sich hin, »ich bin und bleibe ein Philister, was mir Sabine dies mal vielleicht sogar verzeihen würde.« Die Tür ins Arbeitszimmer stand offen. Er trat hinein und machte Licht. Natürlich war Katharina auch hier nicht. Er drehte wieder ab; dann merkte er, wie durch den Türspalt aus dem Schlafzimmer ein Lichtschein drang. Eine leise Hoffnung in ihm regte sich. Er zögerte; denn jedenfalls tat es wohl, sich eine Weile an dieser Hoffnung zu erwärmen. Nun hörte er von drinnen ein Rascheln und Knittern. Er öffnete die Tür. Da lag Katharina oder saß vielmehr aufrecht in seinem Bett und sah von einem dicken Buche auf, das sie auf der Decke in beiden Händen hielt. »Du bist doch nicht böse«, sagte sie einfach. Ihre braunen, leicht gelockten Haare rannen aufgelöst über ihre blassen Schultern. Wie schön sie war! Gräsler stand noch immer in der Tür, ohne sich zu regen. Er lächelte; denn das Buch, das auf der Decke ruhte, war der anatomische Atlas. »Was hast du dir denn da ausgesucht?« fragte er, mit einiger Befangenheit nähertretend. »Es ist auf deinem Schreibtisch gelegen. Hätt' ich nicht sollen? Verzeih! Aber sonst war' ich vielleicht eingeschlafen, und da bin ich nicht wach zu kriegen.« Ihre Augen lächelten, ganz ohne Spott, – hingebungsvoll beinahe. Gräsler setzte sich zu ihr aufs Bett, zog sie an sich, küßte sie auf den Hals, und das schwere Buch klappte zu.

11. Kapitel

Elftes Kapitel

Am nächsten Morgen, während Doktor Gräsler seine kleine Patientin besuchte, bei der sich der Scharlach indes mit Entschiedenheit erklärt hatte, war Katharina aus seiner Wohnung verschwunden, erschien aber schon in früher Abendstunde und, zu Gräslers Verwunderung, mit einem kleinen Koffer wieder. Sie[173] hatte wohl in der vergangenen Nacht erwähnt, daß ihr alljährlich eine Woche Urlaub zustünde, wovon sie in diesem Sommer, wie in ahnender Voraussicht, keinen Gebrauch gemacht hätte; und er, im Rausch der ersten Umarmungen, hatte sie daraufhin zu einer kleinen Hochzeitsreise eingeladen; – aber als sie ihm nun so gerüstet mit den heiteren Worten entgegentrat: »Da bin ich; wenn du willst, können wir gleich auf die Bahn fahren«, wehrte sich in ihm etwas gegen diese Art, so ohne weiteres von seinem Dasein Besitz zu ergreifen, und er war beinahe froh, auf die ärztliche Verpflichtung hinweisen zu können, die ihn für die nächsten Tage in der Stadt festhielt. Katharina schien darüber nicht sonderlich betrübt, plauderte gleich von anderen Dingen, machte ihn auf ihre hübschen neuen gelben Halbschuhe aufmerksam, erzählte von dem Leiter ihrer Firma, der eben wieder mit neuer Ware von Paris und London zurückgekommen sei, ging dabei im Zimmer hin und her, stellte ein paar Bücher in die Reihen und brachte den Schreibtisch in Ordnung, während Gräsler, am Fenster stehend, schweigsam und irgendwie gerührt ihrem Treiben zusah. Sein Blick fiel auf das Kofferchen, das trübselig und wie beschämt auf dem Fußboden stand, und ein leises Mitleid regte sich in ihm, daß das gute Ding wieder damit abziehen sollte. Zunächst vermied er es, etwas in diesem Sinne zu äußern; später aber, als er auf seinem Schreibtischsessel, und sie wie ein Kind, die Arme um seinen Hals geschlungen, ihm auf dem Schöße saß, sagte er: »Muß es denn eben eine Reise sein? Willst du deinen Urlaub nicht einfach hier in meinem Haus verbringen?« – »Das wird doch wohl nicht möglich sein«, erwiderte sie schwach. – »Warum nicht? Ist's denn hier nicht wunderschön?« Er deutete durchs Fenster nach den fernen Hügellinien am Horizont, und scherzend fügte er hinzu: »Mit Kost und Quartier sollst du auch zufrieden sein.« Und mit einem plötzlichen Entschluß stand er auf, reichte Katharina den Arm, geleitete sie in das Zimmer seiner verstorbenen Schwester, schaltete die Deckenlampe ein, so daß durch den freundlichen Raum ein rötlich linder Schimmer floß, und mit vornehmer Gebärde bot er der Geliebten alles, was ihr Blick hier umfassen mochte, gleichsam als Geschenk dar. Katharina blieb stumm, endlich schüttelte sie ernsthaft den Kopf. »Willst du nicht?« fragte Gräsler zärtlich. – »Es ist doch nicht möglich«, erwiderte sie leise. – »Weshalb? Es ist sehr wohl möglich.« Und als hätte er nichts weiter als eine abergläubische Regung in ihr zu bekämpfen, erklärte er: »Alles ist ganz neu, sogar die Tapeten. [174] Früher sah es lange nicht so freundlich aus.« Und etwas zögernd fügte er hinzu: »Es hat wohl alles so kommen müssen.« – »Sag' das nicht«, erwiderte sie wie erschreckt. Dann blickte sie sich rings im Zimmer um, ihre Züge erhellten sich, und sie streifte wie prüfend über den buntgeblümten Waschstoff des Lehnstuhls, der an das Bett gerückt war. Dann fiel ihr Auge auf die lichten Vorhänge, die, über dem Toilettentisch auseinandergerafft, eine hübsche Kammgarnitur und geschliffene Glasphiolen sehen ließen. Während sie so versunken dastand, verließ Gräsler rasch das Zimmer, um nach ein paar Sekunden mit ihrem kleinen Koffer zurückzukehren. Sie wandte sich um, zuckte leicht zusammen, lächelte halb ungläubig; er nickte ihr zu, sie schüttelte den Kopf, – dann, wie endlich bezwungen, breitete sie die Arme nach ihm aus; er stellte das Kofferchen hin, und mit gerührtem Stolz schloß er die Geliebte an seine Brust.

Es wurde eine wunderschöne Zeit, wie er sie auch in seiner Jugend kaum jemals erlebt hatte. Sie hielten sich wie glückliche Neuvermählte beinahe den ganzen Tag in ihren behaglichen vier Wänden, sorgsam bedient von der Buchdruckersgattin, die sich mit einer hierorts immerhin nicht gewöhnlichen Sachlage um so gelassener abfand, als Doktor Gräsler indes ihren unbescheidenen Wunsch erfüllt und sie aus der Garderobe seiner verstorbenen Schwester reichlich genug beschenkt hatte. In den Abendstunden pflegte das junge Paar, Arm in Arm, zärtlich aneinandergeschmiegt in stilleren Gassen sich zu ergehen, und einmal, in einer sonnigen Frühnachmittagsstunde, fuhren sie im offenen Wagen ins Freie, gänzlich unbekümmert darum, daß man etwa Katharinens Angehörigen begegnen könnte, die das junge Mädchen bei einer Freundin auf dem Land vermuteten. Eines Tages, als sie eben noch bei Tische saßen, erschien Böhlinger, und Doktor Gräsler, nach anfänglichem Bedenken, ob er ihn vorlassen sollte, war später um so befriedigter, ihn empfangen zu haben, als der Rechtsanwalt der anmutigen Gefährtin seines Freundes alle erdenkliche Höflichkeit erwies, sie als gnädige Frau anredete und nach flüchtiger Behandlung der geschäftlichen Angelegenheit, die ihn heraufgeführt, mit einem leichten Kuß auf Katharinens Hand weltmännisch kühl sich empfahl. Gräsler aber war danach von einer gesteigerten Zärtlichkeit für Katharina erfüllt, die sich wie als Hausfrau auch gesellschaftlich so vollkommen zu bewähren wußte.

12. Kapitel

[175] Zwölftes Kapitel

Seine kleine Patientin besuchte Doktor Gräsler jeden Morgen, worauf er, mit Rücksicht auf eine mögliche Gefährdung von Katharinens Gesundheit, einen halbstündigen Spaziergang vorzunehmen pflegte. Der Fall, der so bedrohlich eingesetzt, nahm einen überraschend leichten Verlauf, und nachdem die angstvolle Erregung der ersten Tage geschwunden war, zeigte sich Frau Sommer als eine sehr umgängliche, heitere, ja plauderhafte Dame; und ob es nun als Zufall oder Absicht gedeutet werden mochte, keinesfalls achtete sie besonders darauf, ob der Morgenrock, in dem sie den Arzt ihres Kindes empfing, über Hals und Brust so sorgfältig geschlossen war, als es der strengere Anstand vielleicht erfordert hätte. Sie versäumte nie, sich nach dem Befinden von Gräslers kleiner Freundin zu erkundigen, wie sie Katharina gerne nannte, fragte ihn, ob er seinen Schatz nach Afrika mitzunehmen gedenke, – sie hatte sich nun einmal zu dieser ihr geläufigen Bezeichnung für Gräslers Winterziel entschlossen – oder ob dort schon eine andere Schöne, eine Schwarze vielleicht, in Sehnsucht seiner harre –; und endlich wollte sie ihm durchaus eine Tüte mit Schokoladenplätzchen als Geschenk für Katharina aufdrängen, was er aber mit Rücksicht auf die Ansteckungsgefahr abzulehnen für richtig fand. Andererseits ließ es Katharina an Bemerkungen über die junge Witwe nicht fehlen, die, wenn auch ein spöttischer Beiklang durch eifersüchtige Regungen mitveranlaßt sein mochte, nach Gräslers eigenem Eindruck nicht gänzlich unberechtigt schienen. Der Ruf von Frau Sommer war schon zu Lebzeiten des Gatten, der als Geschäftsreisender sich nur selten im ehelichen Heim aufhielt, nicht der allerbeste gewesen; ihr kleines Mädchen hatte sie in die Ehe mitgebracht, und es galt als zweifelhaft, ob ihr Gatte zugleich der Vater des Kindes wäre. Dies alles wurde Katharinen von der Buchdruckersfrau zugetragen, mit der sie in den spärlichen Stunden, da Doktor Gräsler vom Hause abwesend war, mehr und jedenfalls vertrauter sich zu unterhalten liebte, als diesem angenehm war.

Einmal versuchte er, die Geliebte auf das Unstatthafte eines solchen Verkehrs aufmerksam zu machen; doch als Katharina seine Bedenken kaum zu verstehen schien, kam er nicht wieder darauf zurück, da er sich die so kurz bemessene Zeit seines Glücks durch Mißhelligkeiten nicht wollte trüben lassen, und er überdies [176] fest entschlossen war, dieses Erlebnis nur als ein hübsches Abenteuer anzusehen, dem keinerlei Folge verstattet war. Wenn sie ihn daher neugierig bescheiden und wie absichtslos über seine Winterpläne auszufragen und sich nach den klimatischen und gesellschaftlichen Verhältnissen der Insel Lanzarote zu erkundigen begann, führte er das Gespräch so beiläufig als möglich, lenkte es auch bald anderswohin, um nur ja keinerlei Hoffnungen in ihr aufkommen zu lassen, die zu erfüllen er sich keineswegs geneigt wußte. In dem steten Wunsch, diese kurzen Wochen schattenlos zu genießen, fragte er auch nicht viel nach ihrer Vergangenheit, ließ sich's an der Gegenwart genügen und freute sich nicht nur des Glücks, das er genoß, sondern mehr noch dessen, das er zu geben imstande war.

Und allmählich, während die Tage und Nächte weiterrückten, insbesondere in Morgenstunden, wenn Katharina schlummernd an seiner Seite lag, begann die Sehnsucht nach Sabinen sich heftig in ihm zu regen. Er überlegte, um wieviel glücklicher er doch wäre, um wieviel würdiger sein Dasein sich gestaltet hätte, wenn statt dieser hübschen kleinen Ladenmamsell, die außer dem Buchhalter, mit dem sie verlobt gewesen war, gewiß noch ein paar Liebhaber gehabt hatte, die ihre braven Eltern anschwindelte und mit der Nachbarin klatschte, – wenn statt dieses unbedeutenden Geschöpfes, dessen Anmut und Gutherzigkeit er durchaus nicht verkannte, das blonde Haupt jenes wundersamen Wesens hier auf dem Polster ruhte, das sich ihm mit so reiner Seele als Lebensgefährtin angetragen, und das er in einem völlig unbegründeten Mangel an Selbstvertrauen verschmäht hatte. Denn er konnte sich nicht darüber täuschen, daß sie seinen schüchterntörichten Brief als entschiedene Ablehnung aufgefaßt hatte, wie er ja im Grunde damals auch von ihm gemeint gewesen war. Aber sollte es denn nicht wieder gutzumachen sein, was er durch seine Ungeschicklichkeit und Voreiligkeit verschuldet hatte? Ja, war es überhaupt möglich, daß die Gefühle, die Sabine ihm gegenüber gehegt und in so wohlüberdachter Weise ausgesprochen, einfach erloschen oder nie wieder zu entzünden wären? Hatte er denn nicht selbst in seinem Brief ihr und sich eine Frist gesetzt, – hielt sie sich nicht, indem sie jetzt nichts von sich hören ließ, einfach an das, was er gefordert, und drückte sich nicht eben in ihrem Schweigen, ihrer Geduld das Edelste und Wahrste ihres Wesens aus? Und wenn er nun, nach Einhaltung der von ihm selbst gesetzten Frist vor sie hinträte, ihr seinen Dank, sein endgültiges, [177] sein reiflich überlegtes, um so wertvolleres Ja zu Füßen zu legen – konnte er sie denn anders wiederfinden, als er sie verlassen? In der umfriedeten Stille des Forsthauses hatte sich gewiß kein anderer ihr genähert; – ihre reine Seele konnte weder durch seinen törichten, aber doch gutgemeinten Brief, noch durch das plötzliche Hereinbrechen einer anderen Leidenschaft in Verwirrung geraten sein, – ja dieser ängstliche Gedanke war selbst nichts anderes als das letzte Erzittern seines einsamen, verschüchterten Gemütes, dem nun durch eine wunderbare Fügung des Schicksals Vertrauen und Sicherheit wiedergegeben war. Immer mehr schien ihm Katharinens eigentliche Sendung die zu sein, ihn zu Sabinen zurückzuführen, in deren Liebe ihm der wahre Sinn seines Daseins beschlossen war; und je vertrauensvoller, an irgendein Ende nicht denkend, Katharina ihr heiteres, junges Herz ihm darbrachte, um so ungeduldiger und hoffnungsvoller verlangte seine tiefste Sehnsucht nach Sabinen hin.

Auch die äußeren Verhältnisse drängten zu baldiger Entscheidung, als der Oktober seinem Ende zuging. Vor allem hielt es Doktor Gräsler für angezeigt, den Besitzer des Sanatoriums zu verständigen, daß er in wenigen Tagen bei ihm eintreffen und die Angelegenheit ins Reine bringen wolle. Da eine Antwort ausblieb, sandte er ein Telegramm nach, ob er darauf rechnen dürfe, Direktor Frank an diesem und diesem Tage anzutreffen. Daß auch diesmal keine Erwiderung kam, machte ihn ärgerlich, aber nicht eigentlich besorgt, da ihm das verdrossene, unhöfliche Wesen des Mannes in widerwärtig deutlicher Erinnerung geblieben war. Sabinen selbst sein Kommen in einem Briefe anzukündigen, fühlte er sich nach seinen bisherigen Erfahrungen gänzlich außerstande; – er würde einfach hinfahren, da sein, ihr gegenüberstehen, ihre beiden Hände in die seinen nehmen, und ihr klarer Blick sollte – mußte ihm die erlösende Antwort geben.

13. Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Der Tag, an dem Katharinens Urlaub ablief, und an dem sie Gräslers Haus verlassen mußte, um wieder bei den Eltern zu wohnen, war von Beginn an natürlich festgestanden; aber wie auf Verabredung sprachen sie beide mit keiner Silbe von dem nahen und immer näherrückenden Abschied, und Katharinens ganzes Gehaben ließ Trennungsgedanken irgendwelcher Art so wenig [178] erraten, daß Gräsler zu besorgen anfing, ob das anhängliche Geschöpf, so wie sie eines Abends ungebeten mit ihrem kleinen Koffer angerückt war, nicht etwa daran dächte, sich ihm ohne weiteres als Reisegefährtin fürs Leben anzuschließen. So reifte der Plan in ihm, eines Morgens, während sie noch schliefe, aus Wohnung und Stadt zu fliehen; und ohne daß sie es merken durfte, begann er mit den Vorbereitungen zu seiner Abreise. Er hatte der Geliebten nach dem indischen Schal noch mancherlei anderes aus dem Nachlaß seiner Schwester geschenkt, – auch ein oder das andere bescheidene Schmuckstück war darunter, während er einige kostbarere Stücke für Sabine aufzubewahren dachte. Doch zwei Tage vor der geplanten Abreise, in einer regentrüben Nachmittagsstunde, während Katharina sich, wie manchmal um diese Zeit, in das ihr eingeräumte Gemach zurückgezogen hatte, trieb es Gräsler noch einmal hinauf in den Bodenraum, als müßte er dort irgendein letztes Andenken finden, durch dessen Überreichung er nicht nur sein eigenes Gewissen beruhigen, sondern das sogar geeignet sein könnte, Katharina über sein Verschwinden einigermaßen zu trösten. Wie er nun oben suchte und wühlte, einen Koffer nach dem anderen aufschloß; Seidenstoffe, Linnenzeug, Bildermappen, Schleier, Taschentücher, Bänder, Spitzen betrachtete und prüfte, geriet ihm unversehens das Päckchen wieder in die Hände, das nach der Verstorbenen Weisung ungelesen zu verbrennen war. Zum erstenmal, wie in der Ahnung, daß er nun lange Zeit oder nie wieder diesen dahindämmernden Raum betreten würde, verspürte er eine Regung der Neugier. Er legte das Päckchen beiseite, sich fürs erste vorspiegelnd, daß er es an sicherem Orte aufbewahren und einem späteren Erben hinterlassen wollte, der es ja eröffnen dürfte, ohne damit Rücksichten gegenüber einer nie Gekannten, längst Verstorbenen zu verletzen. So nahm er denn mit ein paar hübschen Kleinigkeiten, die er für Katharina gefunden, vor allem ein zartes Bernsteinkettchen und eine vergilbte orientalische Stickerei, die er übrigens, wie so manches andere, zu Lebzeiten Friedrikens niemals an ihr gewahrt hatte, diesmal auch jenes ziemlich gewichtige Päckchen mit sich hinab und legte es mit den anderen Dingen auf seinen Schreibtisch, ehe er sich in Katharinens Zimmer begab.

Als er eintrat, saß sie auf dem Lehnstuhl, ganz eingewickelt in einen rötlichbraunen, mit goldgestickten Drachen durchwirkten chinesischen Schlafrock, den er ihr neulich geschenkt hatte, eine illustrierte Romanlieferung auf dem Schoß, wie sie sie gerne zu [179] lesen pflegte, und war eingeschlummert. Gräsler betrachtete sie gerührt, vermied es, sie aufzuwecken, ging zurück in sein Arbeitszimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch und spielte halb gedankenlos mit den lockeren Fäden, die das Päckchen umschlangen, bis die Siegel knackten und brachen. Er zuckte die Achseln. Warum nicht? sagte er sich dann. Sie ist tot, an eine persönliche Unsterblichkeit glaube ich nicht, und sollte es wider mein Erwarten eine geben, so wird mir Friederikens Seele, die nun in so hohen Regionen schwebt, nichts übelnehmen. Allzu düstere Geheimnisse werden da drin wohl nicht enthalten sein. Das Umschlagpapier war bald entfaltet, und was nun vor ihm lag, waren Briefe in großer Zahl, geschichtet, und einzelne Schichten durch weiße Blätter getrennt; im ganzen, wie bald zu bemerken war, sorgfältig geordnet. Der erste, den Gräsler aufnahm, war über dreißig Jahre alt und von einem jungen Menschen geschrieben, der den Vornamen Robert trug und offenbar die Berechtigung hatte, Friederike in sehr zärtlichen Worten anzureden. Der Inhalt ließ erkennen, daß dieser Robert im Eltern hause verkehrt hatte; doch konnte sich Gräsler durchaus nicht besinnen, wer es gewesen sein mochte. Es waren wohl ein Dutzend Briefe von ihm da: verliebtes, aber doch im ganzen recht unschuldiges Geschreibsel, das den Lesenden nicht sonderlich fesselte. Es folgten andere Briefe, aus der Zeit, da Gräsler als Schiffsarzt in der Welt herumgesegelt war und nur alle zwei Jahre auf kurze Frist die Heimat besucht hatte. Doch wechselten hier verschiedene Schriften miteinander ab, und Gräsler vermochte anfangs nicht klug zu werden, was all diese leidenschaftlichen Versicherungen, Treueschwüre, Anspielungen auf schöne Stunden, Wallungen von Eifersucht, Warnungen, unklare Drohungen, ungeheuerliche Beschimpfungen eigentlich zu bedeuten hatten, ja, was diese ganze wüste Angelegenheit überhaupt für einen Bezug auf seine Schwester haben könnte. Und er war schon nahe daran zu glauben, daß diese Briefe an jemanden andern, vielleicht an eine Freundin Friederikens, gerichtet und dieser nur zur Aufbewahrung übergeben worden waren, bis ihm gewisse Schriftzüge plötzlich bekannt vorkamen, und bald, auch nach anderen Anzeichen, kein Zweifel mehr übrig blieb, daß die Briefe von Böhlinger herrührten. Nun entwirrten sich bald die ineinander geflochtenen Fäden des sonderbaren Romans, und es wurde Gräsler klar, daß seine Schwester vor mehr als zwanzig Jahren, also schon als ziemlich reifes Mädchen, mit Böhlinger im geheimen verlobt gewesen [180] war, daß dieser mit Rücksicht auf irgendeine früher vorgefallene Herzensgeschichte Friederikens die Heirat hinausgezögert, daß Friederike ihn dann mit irgend jemandem aus Ungeduld, Laune oder Rache betrogen, und daß sie endlich eine Versöhnung angestrebt, welche Versuche Böhlinger nur mit Ausbrüchen des Hohns und der Verachtung beantwortet hatte. Der Ton seiner letzten Briefe war jeder Mäßigung, ja jedes Anstandes so bar, daß Gräsler nicht recht begreifen konnte, wie sich allmählich doch wieder eine leidliche Beziehung, am Ende sogar eine Art von Freundschaft, zwischen den beiden hatte entwickeln können. Es war eher Spannung als Staunen, was Gräsler während des Lesens empfunden hatte, und so forschte er denn nur in gesteigerter Neugier, ohne tiefere Erschütterung, was für Geheimnisse aus Friederikens Leben ihm die nächsten Blätter verraten würden. Es blieben nicht mehr viele übrig, doch da die Handschriften nun sehr rasch zu wechseln begannen, so durfte Gräsler vermuten, daß Friederike immer nur einzelne Proben zur Aufbewahrung ausgewählt hatte. Da lagen vorerst ein paar Briefe, die nichts enthielten als Buchstaben und Zahlen, offenbar Zeichen geheimer Verständigung. Nun gab es eine Pause von Jahren, dann erschienen Briefe aus der Zeit, da Friederike sich mit dem Bruder zusammengetan hatte, auch französische, englische waren darunter, und zwei in einer vermutlich slawischen Sprache, von der er gar nicht gewußt hatte, daß sie seiner Schwester bekannt gewesen war. Es gab Briefe, die warben, andere, die dankten, es gab achtungsvoll-vorsichtige und verliebt-unzweideutige, in einem und dem anderen Falle tauchte vor Gräsler die verblaßte Erscheinung irgendeines seiner Patienten auf, dem er wohl selbst, ein ahnungsloser Kuppler, die Bekanntschaft mit Friederike vermittelt haben mochte. Der letzte Brief aber, glühend, wirr und voll Todesahnungen, ließ keinen Zweifel übrig, daß ihn der brustkranke neunzehnjährige Jüngling geschrieben, den Gräsler vor zehn Jahren etwa als einen beinahe Sterbenden aus dem Süden nach der Heimat hatte schicken müssen; und unwillkürlich stellte er sich die Frage, ob nicht die vielerfahrene, liebesdurstige Frau, als die sich seine scheinbar so tugendstill gewesene Schwester vor ihm nun entschleierte, jenem armen, jungen Menschen ein allzu frühes Ende bereitet hatte. Aber wenn auch brüderliche Beschämung, daß sie ihn des Vertrauens so wenig würdig, daß sie ihn wohl auch, wie eine andere, für einen Philister gehalten; – wenn auch ein verspäteter Groll, daß er den Leuten so lächerlich erschienen [181] sein mochte, wie ein betrogener Ehemann, ihm das Bild der Verstorbenen anfangs verzerren wollte, am Ende überwog doch all dies ein Gefühl der Befriedigung, daß Friederike ihr Leben nicht versäumt hatte, daß er selbst von jeder Verantwortung ihr gegenüber sich frei erkennen durfte, und daß sie, wie nun klar zutage lag, aus einem Dasein geschieden war, das ihr die Freuden, die sie wahrlich im Überfluß genossen, nicht länger bieten wollte. Und als er die Briefe noch einmal betrachtete, den einen und anderen in die Hand nahm, da und dort etliche Zeilen wieder las, dämmerte ihm auf, daß durchaus nicht alles, was er nun erfahren, für ihn so neu und rätselhaft gewesen war, als es ihm zuerst geschienen. Mancherlei, so zum Beispiel eine kleine Geschichte, die sich vor vielen Jahren am Genfer See zwischen Friederike und einem französischen Kapitän angesponnen, und auf die eines der eben gelesenen Billette hinwies, hatte er seinerzeit entstehen gesehen, freilich ohne ihrer Bedeutung inne zu werden oder ohne sich berechtigt zu fühlen, die Selbstbestimmung einer mehr als Dreißigjährigen anzutasten; und daß zwischen Friederike und Böhlinger schon in längst entschwundener Kinderzeit eine ernste Neigung sich ankündigte, war ihm ebensowenig verborgen geblieben, wenn ihm auch deren weitere Entwicklung notwendig entgehen mußte. Und so war es wohl möglich, daß die sonderbaren Blicke, die Friederike in den letzten Jahren manchmal auf ihm hatte ruhen lassen, nicht, wie er früher gefürchtet, Klage und Vorwurf, sondern daß sie vielmehr eine Bitte um Verzeihung bedeuteten, weil sie, all ihr Fühlen und Erleben vor ihm verschließend, als eine Fremde neben ihm einhergegangen war. Aber auch er hatte von mancherlei, was er in all der Zeit erlebt und durchfühlt, und was sich in solchen ungelesen zu verbrennenden Briefen wahrscheinlich nicht minder bedenklich ausgenommen hätte als Friederikens Herzensabenteuer, ihr gerade nur das Harmloseste erzählt, und so glaubte er sich nicht berechtigt, ihr eine geschwisterlich keusche Verschwiegenheit nachzutragen, die er selbst so sorgfältig zu hüten gewußt hatte.

Katharina stand hinter seinem Sessel und legte die Hände um seine Stirn. »Du?« fragte er wie erwachend. »Ich war schon zweimal herinnen,« sagte sie, »aber du warst so vertieft, ich wollte dich nicht stören.« Er sah auf die Uhr. Es war halb neun. Vier Stunden lang war er in jenes abgelaufene Schicksal eingesponnen gewesen. »Ich habe alte Briefe meiner armen Schwester durchgesehen«, sagte er, Katharina auf seinen Schoß niederziehend. »Sie war ein [182] merkwürdiges Wesen.« Einen Augenblick dachte er daran, Katharinen einiges aus dem Inhalt der Briefe mitzuteilen, aber er fühlte gleich, daß er das Andenken der Toten nur verletzen würde, wenn er sich einfallen ließe, ihre Geschicke vor einem Geschöpf auszubreiten, dem notwendig das tiefere Verständnis dafür fehlen und das sich am Ende einfallen ließe, hier gewisse Ähnlichkeiten herauszuspüren, die in höherem Sinne keineswegs vorhanden waren. So deutete er denn durch eine Handbewegung, mit der er die Briefe zugleich zur Seite schob, an, daß sie das Vergangene sollten ruhen lassen; und im Ton eines Menschen, der aus dunklen Träumen zu einer lichten Gegenwart emportaucht, fragte er Katharina, wie sie sich indes die Zeit vertrieben. Sie hätte in ihrem Roman weitergelesen, berichtete sie, das Silber und das Glas auf dem Toilettentisch wieder einmal sorgfältig geputzt, an dem weiten chinesischen Hauskleid einige Knöpfe versetzt; schließlich aber mußte sie auch eingestehen, daß sie ein halbes Stündchen im Treppenhaus mit der Buchdruckersgattin geschwatzt, die doch eine recht brave, tüchtige Frau sei, wenn der gestrenge Herr Doktor sie auch nicht wohl leiden möge. Ihm war es freilich weder recht, daß sie an der Unterhaltung mit einer so untergeordneten Person Gefallen fand, noch daß sie mit dem chinesischen Schlafrock angetan im Treppenhaus gestanden war; aber nun dauerte es ja nicht mehr lange, in wenigen Tagen war er weit fort, in einer würdigeren, reineren Umgebung; würde Katharina niemals und auch die Heimatstadt nur auf Stunden und Tage wiedersehen, da ja das Sanatorium hoffentlich das ganze Jahr hindurch seine Anwesenheit und Tätigkeit erfordern dürfte. So liefen seine Ge danken weiter, während er Katharina noch immer auf dem Schöße hielt und mechanisch mit der einen Hand ihre Wangen und ihren Hals streichelte. Plötzlich aber merkte er, daß sie ihn aufmerksam und traurig betrachtete. »Was hast du?« fragte er. Sie schüttelte nur den Kopf und versuchte zu lächeln. Und er sah mit Rührung und Staunen, wie ein paar kleine Tränen aus ihren Augen rollten. »Du weinst«, sagte er leise und war in diesem Augenblick Sabinens sicherer als je zuvor. – »Was du nicht denkst«, erwiderte Katharina, sprang auf, machte ein lustiges Gesicht, öffnete die Türe zum Speisezimmer und wies auf den freundlich gedeckten Tisch. »Und erlauben der Herr Doktor auch, daß ich im Schlafrock bleibe?«

Da fiel ihm ein, daß er ihr wieder etwas vom Boden heruntergebracht hatte; er suchte nach dem Bernsteinkettchen, das auf [183] dem Schreibtisch zwischen die Briefe geglitten war, und als er es gefunden, legte er es ihr um den Hals. »Schon wieder?« sagte sie. – »Nun ist es aber auch das letzte«, erwiderte er, doch gleich bedauerte er die Bemerkung, die schwerer klang, als sie gemeint war. Er wollte sich verbessern. »Ich meine nämlich« – sie erhob leicht die Hand, als wollte sie ihm Schweigen gebieten. Sie setzten sich zu Tische. Plötzlich, nach einigen Bissen, fragte sie: »Wirst du manchmal an mich denken dort unten?« Es war das erstemal, daß sie auf die bevorstehende Trennung an spielte, so daß Gräsler etwas betroffen war, was sie ihm wohl anmerkte, denn sie setzte rasch hinzu: »Sag' nur ja oder nein.« – »Ja«, erwiderte er, mühsam lächelnd. Sie nickte, wie vollkommen befriedigt, schenkte für sie beide Wein ein, und nun plauderte sie weiter in ihrer Art, harmlos, lustig, als gäbe es kein Abschiednehmen – oder doch, als läge ihr wenig daran, wenn es einmal dazu kommen mochte. Später wickelte sie sich fest in den chinesischen Schlafrock, dann wieder ließ sie ihn, der ihr viel zu weit war, frei um ihre Glieder wallen, zog ihn über den Kopf, ließ ihn sinken, dann tanzte sie im Zimmer auf und ab, in der einen Hand das geraffte Hauskleid mit den goldgestickten Drachen, in der andern das Weinglas, lachte hell mit verschwimmenden süßen Augen; endlich nahm Gräsler sie in die Arme und trug sie mehr, als er sie führte, in Friederikens halbdunkles Gemach, wo er sie mit einer Lust umfing, auf deren geheimem Grund er den dumpfen Groll gegen die Dahingeschiedene, die Schwester, die Lügnerin, zittern und verglühen fühlte.

14. Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Am nächsten Morgen, noch während Katharina schlief, erhob sich Gräsler von ihrer Seite, um seine kleine Patientin, die sich längst vortrefflich befand, aber das Bett noch nicht verlassen durfte, ein letztes Mal zu besuchen. Doch daß von seiner so nahe bevorstehenden Abreise nicht etwa auf dem Umweg über die Buchdruckersgattin die Kunde zu Katharina dringe, versicherte er die freundliche Mutter seiner Kranken, daß er wohl noch eine Woche in der Stadt zu bleiben gedenke. Frau Sommer lächelte: »Wie gut begreif ich, daß Ihnen der Abschied von Ihrer kleinen Freundin schwer wird! Was für ein reizendes Geschöpf! Und wie sie gar in dem chinesischen Schlafrock aussieht, den Sie ihr geschenkt [184] haben.« – Der Doktor runzelte die Stirn, dann beschäftigte er sich mit der kleinen Fanny, die ihre blonde Puppe mit Kinderernst frisierte. Vor einigen Tagen hatte er begonnen, dem Kinde von den wilden Tieren zu erzählen, die einst, für einen Zirkus bestimmt, auf dem gleichen Schiff mit ihm von Australien nach Europa gereist waren; und seither ließ ihn die Kleine nie fort, ohne daß er die Geschichte wiederholen und ihr eine genaue Schilderung der Löwen, Tiger, Panther, Leoparden geben mußte, deren Fütterung in den unteren Schiffsräumen er zuweilen beigewohnt hatte. Heute faßte er sich kürzer als sonst, denn vor der für morgen früh geplanten Abfahrt hatte er noch allerlei Vorbereitungen zu treffen. Er stand plötzlich auf zur großen Unzufriedenheit der Kleinen, wurde aber noch in der Tür von Frau Sommer mit einem Dutzend Fragen hinsichtlich der weiteren Pflege des Kindes angehalten, die er schon hundertmal beantwortet hatte. Seine Ungeduld entging ihr nicht, aber sie versuchte, ihm das Scheiden schwer zu machen, indem sie gewohntermaßen sich nah, fast bis zur Berührung, an ihn herandrängte und ihn mit dankbar zärtlichen Augen anblickte. Endlich gelang es ihm, sich loszureißen, und rasch eilte er die Treppe hinunter. Katharina hatte von ihm nur so viel erfahren, daß er heute allerlei in der Stadt besorgen und endlich einmal sich auch wieder im Spital zeigen wolle, so daß sie nicht ungeduldig werden und er zu seinen Reisevorbereitungen genügend Zeit haben mochte. Er fuhr ins Krankenhaus, verabschiedete sich vom Chefarzt, machte einige Einkäufe in der Stadt, gab Auftrag wegen Fortschaffung und Verladung seines Gepäcks und sprach endlich bei Böhlinger vor, mit dem er noch allerlei Geschäftliches zu bereden hatte. Jener schien seine Unruhe kaum zu bemerken und gab ihm, mit einigen klugen Ratschlägen, die besten Wünsche für einen günstigen Abschluß des Anstaltskaufes auf die Reise mit. Er ent hielt sich, mit Absicht offenbar, jeder naheliegenden Anspielung, und Gräsler fiel es erst auf der Treppe ein, daß er soeben mit einem Liebhaber seiner verstorbenen Schwester gesprochen hatte. Nun aber trieb es ihn nach Hause zum letzten gemeinsamen Mittagessen mit Katharina. Diese letzten Stunden wollte er ungestört mit ihr verbringen, ohne sich das geringste merken zu lassen, und morgen früh, während sie noch schlief, mit Hinterlassung eines Briefes, der auch eine kleine Geldsumme enthalten sollte, von ihr stummen Abschied nehmen.

Als er in sein Speisezimmer trat, fand er nur ein Gedeck aufgelegt; [185] die Buchdruckersfrau erschien und bemerkte mit einem Ausdruck boshaft-albernen Bedauerns, daß auf Anordnung des Fräuleins, das sich entschuldigen ließe, sie selbst den Mittagstisch besorgt hätte. Gräslers Blick schien sie so zu erschrecken, daß sie das Zimmer sofort verließ; er aber ging rasch in sein Arbeitszimmer, wo er einen verschlossenen Brief Katharinens vorfand. Er öffnete ihn und las: »Mein lieber, mein allerliebster Doktor. Es war so schön bei dir. Ich werde viel an dich denken müssen. Ich weiß ja, daß du morgen fortreist, da ist es wohl besser, ich störe dich heute nicht mehr. Laß es dir Wohlergehen. Und wenn du im nächsten Jahre wiederkommst – aber bis dahin hast du mich ja längst vergessen. Ich wünsche dir auch, daß du eine schöne Fahrt übers Meer hast. Und ich danke dir für alles viele viele Male. Deine treue Katharina.« Gräsler war von den herzlichen Worten, von der unbeholfenen Kinderschrift in gleicher Weise ergriffen. »Liebes, gutes Wesen«, sagte er vor sich hin. Aber er wollte nicht weich werden; er begab sich wieder zurück ins Speisezimmer, ließ sich das Essen bringen und trug in den Zwischenpausen eifrig Bemerkungen in sein Notizbuch ein, um nur ja kein Wort an die Buchdruckersfrau richten zu müssen, die er übrigens gleich nach Tische wieder entließ. Er selbst ging von einem Zimmer ins andere. Überall war die vollkommenste Ordnung, alles, was Katharinen gehörte, war fortgeschafft, nichts war zurückgeblieben als ein eigentümlicher Duft, besonders in dem Zimmer, das sie durch drei Wochen bewohnt hatte. Im übrigen erschien Gräsler die ganze Wohnung, obwohl gar nichts darin fehlte, unsäglich kühl und öde. Er fühlte sich so vereinsamt mit einem Male, daß ihm der Gedanke durch den Kopf fuhr, ob er nicht, alle übrigen Hoffnungen und Möglichkeiten in den Wind schlagend, sich Katharina einfach aus dem Elternhause wieder zurückholen sollte; doch sah er zugleich die Unklugheit, ja Lächerlichkeit eines solchen Einfalls ein, dessen Ausführung seine ganze Zukunft in Frage gestellt und ein Glück, das nun so nah herangerückt schien, für alle Zeit vernichtet hätte. Wundersam hell leuchtete mit einem Male Sabinens Bild in seiner Seele auf. Es fiel ihm ein, daß ihn nun nichts mehr abhielt, schon heute mit dem Abendzug abzureisen, und daß er schon morgen früh Sabine wiedersehen könnte. Doch ließ er diesen Gedanken wieder fahren, weil er sich scheute, der Ersehnten nach einer vielleicht schlaflosen Nachtreise unfrisch und müd gegenüberzutreten, und so beschloß er, die gewonnene Zeit lieber zur Abfassung eines[186] Briefes zu benützen, der seinen Besuch ankündigen und in günstiger Weise vorbereiten sollte. Aber als er vor dem Schreibtisch saß, die Feder in der Hand, wollte ihm auch nicht ein Satz gelingen, der den Zustand seines Innern auch nur annähernd auszudrücken vermocht hätte, und er begnügte sich mit den wenigen, aber groß und gleichsam leidenschaftlich hingeworfenen Worten: »Morgen abend bin ich bei Ihnen. Ich hoffe gütigen Empfang. In Sehnsucht E.G.« Dann faßte er ein Telegramm an Doktor Frank ab des Inhalts, daß er morgen früh ankäme und in seiner Wohnung Bescheid zu finden wünsche, ob mit den Bauarbeiten am 15. November begonnen werden könne. Er beförderte Brief und Telegramm persönlich zum Amt, begab sich wieder nach Hause, räumte, ordnete, verschloß, packte seine Handtasche und legte ganz obenauf eine kleine antike, in Gold gefaßte Kamee, die das Haupt einer Göttin vorstellte. In der Nacht fuhr er wohl ein halbes dutzendmal auf, in einer wirren Traumangst, als wäre alles für immer verloren, Sabine und Katharina und das Sanatorium und sein Vermögen und seine Jugend und die schöne Sonne des Südens und die Kamee aus Elfenbein – wenn er morgen die Abfahrtsstunde verschliefe.

15. Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Es war ein später, aber mild-sonniger Herbstnachmittag, als Doktor Gräsler in dem Badestädtchen ankam. Vor dem Bahnhofsgebäude stand wohl ein halbes Dutzend Hotel wagen und zwei Droschken; die Lohndiener riefen die Namen ihrer Gasthöfe aus, aber ohne rechte Überzeugung, da zu dieser vorgerückten Jahreszeit Kurbedürftige nicht anzukommen pflegten. Doktor Gräsler fuhr nach seiner Wohnung und wies den Kutscher an, zu warten. Er fragte vorerst nach Briefen, war geärgert, daß keine Antwort von Doktor Frank, bitter enttäuscht, daß nicht eine begrüßende Zeile von Sabine da war, und erkundigte sich bei der gefälligen Hauswirtin, was es aus Stadt und Umgebung zu berichten gäbe, ohne neues, auch aus dem Forsthause nicht, wie er dunkel gefürchtet hatte, zu erfahren. Endlich, schon im tiefen Abenddämmer, fuhr er die wohlbekannte Straße zwischen den zum größeren Teil verlassenen Villen und den finsteren Hügeln, unter einem Sternenlosen Himmel, talaufwärts der Stätte zu, wo ihm – nun wußte er mit einem Male unerbittlich klar, was er sich [187] tagelang und noch bis in die letzte Stunde töricht zu verhehlen gesucht hatte – ein verzweifelter, wahrscheinlich hoffnungsloser Versuch bevorstand, die halb leichtfertig, halb feig verscherzte Gunst des herrlichsten Wesens neu zu erobern.

Während er in seiner Seele so unablässig wie vergeblich nach unwiderleglichen Worten der Rechtfertigung, unwiderstehlichen der Zärtlichkeit suchte, hielt plötzlich der Wagen – wie Doktor Gräsler vorkam – mitten auf der Landstraße –; und mit einem Male, als wäre eben erst das Haus erleuchtet worden, fiel ein rötlicher Schein über den Fußpfad zu ihm her. Er stieg aus; langsam, um sein heftig klopfendes Herz zu beruhigen, schritt er bis zum Eingang, aufsein Klingeln wurde geöffnet, zugleich tat sich die Tür des Wohnzimmers auf, aus der eben Frau Schleheim trat, während am Tische, den Blick von einem Buch erhebend, Sabine ruhig sitzengeblieben war. »Das ist ja hübsch,« sagte die Mutter, ihm herzlich die Hand entgegenstreckend, »daß Sie sich um uns arme, verlassene Frauen kümmern.« – »Ich war so frei, Fräulein Sabine durch ein Wort zu verständigen.« Nun hatte auch Sabine sich erhoben und dem Doktor, der bis an den Tisch herangetreten war, freundlich die Hand reichend, sagte sie: »Seien Sie willkommen.« Er versuchte in ihrem Blick zu lesen, der klar, allzu klar auf ihm ruhen blieb. Er fragte nach dem Herrn des Hauses. »Er ist auf Reisen«, erwiderte Frau Schleheim. »Und darf man wissen, wo er sich zur Zeit befindet?« fragte Doktor Gräsler weiter, während er auf Sabinens Einladung Platz nahm. Frau Schleheim zuckte die Achseln. »Wir wissen es selber nicht. Das passiert zuweilen. Er kommt schon wieder nach ein paar Wochen. Wir kennen das«, schloß sie mit einem verständnisinnigen Blick zu ihrer Tochter hin. »Sie bleiben längere Zeit hier, Herr Doktor?« fragte diese. Er sah sie an, aber ihr Blick blieb ihm die Antwort schuldig. »Es kommt darauf an«, sagte er. »Nicht allzulange wohl – bis ich eben meine Angelegenheiten erledigt habe.« Sabine nickte wie abwesend.

Das Mädchen trat ein, um den Tisch zu decken. »Sie bleiben doch zum Abendessen bei uns?« fragte die Mutter. Er zögerte mit der Antwort; wieder fragte sein Blick bei Sabine an. »Natürlich ißt der Herr Doktor mit uns. Wir haben mit Sicherheit darauf gerechnet.« Gräsler fühlte: Nicht Güte erweist sie mir – Gnade vielleicht. Und er neigte stumm sein Haupt.

Da nun alle schwiegen und ihm das besonders peinlich war, begann er lebhaft: »Vor allem muß ich morgen den Doktor Frank [188] aufsuchen. Denn denken Sie, meine Damen, er hat mir auf meine letzten Briefe nicht einmal geantwortet. Aber ich hoffe noch immer, daß wir uns einigen werden.« – »Zu spät«, warf Sabine kühl ein, und Gräsler fühlte gleich, daß sich dies nicht allein auf das versäumte Geschäft bezog. »Doktor Frank,« erklärte Sabine dann, »hat sich entschlossen, die Anstalt selbst weiterzuführen. Seit ein paar Tagen wird schon fleißig renoviert. Ihr Freund, der Baumeister Adelmann, hat die Arbeiten übernommen.« – »Mein Freund ist er nicht,« sagte Gräsler, »sonst hätte er mich wohl irgendwie verständigt.« Und er schüttelte den Kopf, schwer und langsam, als hätte er an dem Baumeister eine bittere Enttäuschung erlebt. »Unter diesen Umständen,« bemerkte Sabine höflich, »werden Sie wohl wieder nach dem Süden gehen?« – »Natürlich«, erwiderte Gräsler rasch. »Nach meiner guten Insel Lanzarote. Ja. Überhaupt dieses Klima hier! Wer weiß, ob ich solch einem mitteleuropäischen Winter noch gewachsen wäre.« Es fiel ihm ein, daß er bei der mangelhaften Schiffsverbindung vor Mitte November auf der Insel nicht eintreffen und daß er bis dahin, da er sich weder angekündigt noch entschuldigt hatte, seinen Platz schon ausgefüllt finden könnte. Nun, glücklicherweise war er nicht mehr darauf angewiesen. Wenn es ihm beliebte, konnte er sich ein halbes Jahr und länger Ferien gönnen; ja, wenn er sich nur ein wenig einschränkte, durfte er seine Praxis gänzlich aufgeben. Aber der Gedanke machte ihn bange. Er war ja gar nicht imstande, ohne Beruf zu leben. Er mußte arbeiten, Menschen gesund machen, das Dasein eines edeln, tätigen Mannes führen – und am Ende war ihm dies Los doch noch an dieses wundersamen, reinen Wesens Seite bestimmt, das ihn für sein Zögern vielleicht nur ein wenig strafen, ihn vielleicht noch einmal prüfen wollte. Und so erklärte er, daß er bisher keinerlei bindende Abmachungen getroffen, daß er noch einen Brief aus Lanzarote zu erwarten habe mit der Annahme von neuen vorteilhaften Bedingungen, die er der dortigen Verwaltung gestellt hätte, und würden die ihm nicht gewährt, so sei er entschlossen, den kommenden Winter zu Studienzwecken an verschiedenen deutschen Universitäten zu verbringen. Oh, er wäre auch in seiner Vaterstadt keineswegs mäßig gewesen; nicht nur, daß er das Krankenhaus fleißig besucht, er habe sogar Privatpraxis ausgeübt. Ganz zufällig natürlich. Ein Kind war es gewesen, ein reizendes kleines Mädchen von sieben Jahren, das Töchterchen einer Witwe, die in seinem Hause wohnte. Er konnte sich dem nicht entziehen. Es [189] war ein nicht unbedenklicher Fall gewesen ... Scharlach. Aber das Kind war nun außer aller Gefahr. Sonst hätte er kaum abreisen können. Während er so redete, versuchte er das Bild der Frau Sommer in seiner Erinnerung hervorzurufen; aber immer erschien statt ihrer die Dame mit dem Puppengesicht aus dem illustrierten Familienblatt, die seine Träume auf der Schiffsreise erfüllt hatte. Offenbar bestand eine gewisse Ähnlichkeit; – ja gewiß, war sie ihm denn nicht gleich aufgefallen? Sabine hatte seinen letzten Mitteilungen anscheinend mit wachsendem Anteil, doch, wie er vielleicht nur aus seinem bangen Gewissen heraus fürchtete, mit geringem Glauben zugehört, und beinahe unvermittelt begann sie von ihren beiden Freundinnen zu erzählen, deren Gräsler sich wohl erinnern dürfte, und von denen die jüngere sich mit einem verspäteten Kurgast aus Berlin verlobt hätte. Zur Hochzeit wollte man dorthin reisen und bei dieser Gelegenheit, wie die Mutter bemerkte, sich nach langer Zeit wieder einmal in den Großstadttrubel stürzen. Von neuem und ungeduldiger, beschwörend beinahe, richtete Gräslers Blick an Sabine die Frage: Wie ist's nun eigentlich mit uns beiden? Aber ihre Augen blieben undurchdringlich; und wenn sie selbst auch im Laufe des Abends freundlicher, ja milder geworden schien, er fühlte, daß er das Spiel so gut wie verloren hatte. Doch wehrte sich sein Stolz dagegen, eine solche, gleichsam stumme Verabschiedung, wie sie ihm zugedacht schien, hinzunehmen, und er war entschlossen, Sabine vor seinem Fortgehen um eine Unterredung zu bitten. Als er sich erhob und mit erkünstelter Leichtigkeit auf die Möglichkeit eines weihnachtlichen Wiedersehens in Berlin anspielte, stand auch Sabine vom Tische auf, und ihre Absicht war unverkennbar, dem Gast das Geleite zu geben. Und so gingen sie denn Seite an Seite, wie in jenen schöneren Zeiten, doch schweigend, unter den Tannen der Straße zu, wo der Wagen wartete. Plötzlich aber, fast unwillkürlich, hielt Gräsler inne und fragte: »Sind Sie mir böse, Sabine?« – »Böse?« erwiderte sie tonlos. »Warum sollt ich?« – »Mein Brief, ich weiß es ja, mein unglückseliger Brief.« Und da er sie, im Dunkel, nur schmerzlich mit einer abwehrenden Handbewegung zusammenzucken sah, versuchte er, hastig, im Gefühl sich immer unrettbarer zu verstricken, eine Erklärung. Sie habe seinen Brief mißverstanden, völlig mißverstanden. Seine Gewissenhaftigkeit, sein Pflichtgefühl habe ihn zu diesem Briefe veranlaßt. Oh, wenn er einfach seinem Herzen, seiner Leidenschaft gefolgt wäre! – Er hatte sie ja [190] geliebt, angebetet, vom ersten Augenblick an, da er ihr am Krankenbett der Mutter gegenübergestanden. Aber er hätte ja nicht den Mut gehabt, an sein Glück zu glauben. Nach einem so lichtlosen, so einsamen, so friedlosen Dasein! Er hatte nicht mehr zu hoffen, nicht mehr zu träumen gewagt. Ein alter Mann wie er! Beinah ein alter Mann. Denn freilich, nicht die Zahl der Jahre mache die Jugend aus, das fühle er wohl. Gerade in den endlosen Wochen der Trennung habe er es einsehen gelernt .... Aber ihr Brief, dieser wunderbare, himmlische Brief – oh, solcher Worte war er nicht wert gewesen ... So überstürzten und verwirrten sich seine Worte, und er wußte, daß er die rechten nicht fand, nicht finden konnte, weil zwischen seinen Lippen und ihrem Herzen der Weg verschüttet war. Und als er endlich, hoffnungslos, mit dem fast erstickten Ausruf endete: »Verzeihen Sie, Sabine, verzeihen Sie mir« – hörte er sie wie aus der Ferne erwidern: »Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Aber es wäre hübscher gewesen, wenn Sie nicht gesprochen hätten. Das hab' ich gehofft. Sonst hätte ich Sie gebeten, nicht zu kommen.« Ihre Stimme klang nun so hart, daß Gräsler mit einem Male neue Hoffnung faßte. War es nicht beleidigte Liebe, die sie so unversöhnlich machte?Beleidigte Liebe – aber eben doch Liebe, die noch vorhanden war, deren sie sich nur schämte? Und er begann mit neuem Mut: »Sabine – ich will nichts von Ihnen erbitten, als dies eine – daß ich im nächsten Frühjahr wiederkommen, Sie im nächsten Frühjahr noch einmal fragen darf.« – Sie unterbrach ihn: »Es ist recht kühl heraußen. Leben Sie wohl, Doktor Gräsler.« Und er glaubte trotz der Dunkelheit ein spöttisches Lächeln auf ihrem Antlitz zu sehen, als sie hinzufügte: »Ich wünsche Ihnen für weiterhin alles Gute!« – »Sabine!«

Er faßte ihre Hand, er versuchte sie zu halten. – Sie entzog sie ihm sanft. »Reisen Sie glücklich«, sagte sie, und in ihrer Stimme klang noch einmal alle Güte mit, die ihm nun für alle Zeit verloren war; sie wandte sich, ohne ihren Schritt zu beschleunigen, aber unwiderrufbar ging sie nach dem Hause zurück, hinter dessen Türe sie verschwand.

Nur eine kurze Weile stand Gräsler starr, dann eilte er zum Wagen, stieg ein, hüllte sich in Mantel und Decke und fuhr durch die Nacht heimwärts. Trotz erwachte in seinem Herzen. Gut denn, sagte er bei sich, du willst es so, du treibst mich selbst in die Arme einer andern, du sollst deinen Willen haben. Mehr noch. Du sollst es erfahren ... Eh' ich in den Süden reise, komme [191] ich mit ihr hierher. Ich werde ein paar Tage mit ihr hier wohnen. Ich werde mit ihr spazierenfahren, am Forsthause vorbei. Du sollst sie sehen! Du sollst sie kennenlernen. Du sollst mit ihr sprechen. Hier erlaube ich mir, Ihnen meine Braut vorzustellen, Fräulein Sabine! Keine so reine Seele als Sie, mein Fräulein, aber dafür auch keine so kalte! Nicht so stolz, aber gütig. Nicht so keusch, aber süß! Katharina heißt sie – Katharina ...

Er sprach den Namen laut vor sich hin. Und je weiter der Wagen sich vom Forsthaus entfernte, um so heißer stieg die Sehnsucht nach Katharina in ihm empor, und wurde bald zu dem wundersam sicheren Frohgefühl, daß er die Geliebte bald – morgen – morgen abend schon wieder in seinen Armen halten konnte. Was sie für Augen machen würde, wenn sie ihn plötzlich abends um sieben Uhr in der Wilhelmstraße erblickte? Das sollte eine Überraschung sein. Und eine andere, größere stand ihr bevor. Denn ein Philister war er nicht. Er hatte nichts anderes als den Wunsch, glücklich zu sein, und so wollte er das Glück nehmen, wo es so herzlich, so unbedenklich, so wahrhaft frauenhaft dargeboten wurde, wie von Katharina ... Katharina ... Wie gut war es doch, daß er Sabine noch einmal gesehen hatte. Nun erst wußte er, daß Katharina die Rechte für ihn war und keine andere.

16. Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Am nächsten Abend, eine Stunde nach seiner Ankunft, stand er an der Straßenecke, von der aus er Katharina sofort erblicken mußte, wenn sie den Handschuhladen verließ. Die beiden neben ihr in dem Geschäft angestellten Verkäuferinnen traten eine nach der andern aus der Tür und verschwanden, die Rolladen wurden geschlossen, der Geschäftsdiener entfernte sich, das Bogenlicht erlosch – und Katharina war nicht erschienen. Sonderbar. Höchst sonderbar. Ihr Urlaub war doch abgelaufen! Was also konnte sie vom Geschäfte ferngehalten haben? Eine plötzliche Eifersucht flammte in Gräsler auf; kein Zweifel – sie war mit jemand anderm zusammen. Mit einem alten Bekannten vermutlich, für den man wieder Zeit hatte, jetzt, da der alte Doktor aus Portugal mit den indischen Schleiern und Bernsteinketten abgereist war. Vielleicht war's auch eine ganz neue Bekanntschaft. Warum nicht? So was macht sich ja sehr geschwind bei unsereinem, Fräulein Katharina, nicht wahr? Wo mögen Sie denn nur stecken? Im Theater wahrscheinlich! [192] Das ist ja wohl die feststehende Reihenfolge? Am ersten Abend Theater und gemeinsames Abendessen, am zweiten – alles übrige! Das hatte sie wohl schon etliche Male mitgemacht. Aber daß die Geschichte gleich am nächsten Tage von neuem anfing, das ging denn doch über den Spaß! Die Elende, um deretwillen er ein Wesen wie Sabine verloren hatte. Davonspaziert mit Schals und Hüten und Kleidern und Schmuck und macht sich am Ende noch lustig mit irgendeinem jungen Kerl über den alten Narren aus Portugal ... So jagten seine Gedanken, und in absichtlicher Selbstquälerei lehnte er die Möglichkeit harmloserer Gründe für Katharinens Nichterscheinen innerlich ab. Was also beginnen? Sich ruhig nach Hause trollen und die Sache auf sich beruhen lassen, das wäre gewiß das Vernünftigste gewesen; aber so viel Selbstüberwindung brachte er nicht auf. So entschloß er sich denn, den Weg nach der Vorstadt einzuschlagen, um vor allem einmal in der Nähe ihres Hauses Aufstellung zu nehmen und zu warten. Es würde sich ja bald zeigen, mit wem sie angerückt käme, es sei denn, sie hätte sich etwa bei dem neuen Liebhaber gleich häuslich eingerichtet ... Aber das war nicht zu befürchten. Es fand sich nicht bald wieder ein Narr, solch ein Geschöpf als Hausgenossin bei sich aufzunehmen, solch ein abgefeimtes, schwatzhaftes, ungebildetes, verlogenes Ding. Er verachtete sie unbändig und gab sich diesem Gefühl rückhaltlos, ja mit einer gewissen Wollust hin. Finden Sie das etwa philiströs? mein Fräulein, wandte er sich plötzlich an die ferne Sabine, gegen die er nun gleichfalls einen heftigen Groll in sich aufsteigen verspürte. Nun, ich kann Ihnen nicht helfen. Es kann eben keiner aus seiner Haut, kein Mann und kein Weib. Die eine ist zur Dirne geboren, die andere ist dazu geschaffen, eine alte Jungfer zu werden, und eine dritte, trotz der besten Erziehung in einem guten deutschen Bürgerhaus, führt eine Existenz wie eine Kokotte, hintergeht ihre Eltern, ihren Bruder – und bringt sich um, wenn kein gefälliges Männerherz mehr sich findet. Und mich hat Gott nun einmal zum Pedanten und Philister geschaffen. Aber beim Himmel, es ist nicht das Schlechteste, ein Philister zu sein! Denn wenn man gegenüber gewissen Frauenzimmern nicht den Philister herauskehrt, so ist man eben der Genarrte. Und ich bin noch lange nicht Philister genug; denn wenn ein gewisses Fräulein zufällig ihr Stelldichein verschoben hätte und um sieben Uhr abends sittsam aus dem Geschäft gekommen wäre, ich wäre wahrhaftig imstande gewesen und hätte sie mir als Frau Doktor nach [193] Lanzarote mitgenommen. Da hätten Sie wohl Ihre Freude daran gehabt, Herr Direktor. Aber daraus wird nichts. Ich komme Gott sei Dank so allein, wie ich abgereist bin, wenn ich überhaupt komme, was noch nicht ausgemacht ist. Keineswegs aber werde ich Ihrem geschätzten Befehle nach schon am 27. Oktober eintreffen, selbst, wenn es noch möglich wäre! Vorher werde ich nach Berlin, möglicherweise auch nach Paris fahren und mich einmal ordentlich amüsieren, so wie ich mich noch nie amüsiert habe. Und er träumte sich in übel-berüchtigte Lokale mit wilden Tänzen von halbnackten Weibern, plante ungeheuerliche Orgien als eine Art dämonischer Rache an dem erbärmlichen Geschlecht, das so tückisch und treulos an ihm gehandelt, Rache an Katharina, an Sabine und an Friederike.

Indes war er unversehens vor Katharinens Wohnhaus angelangt. Ein unfreundlicher Wind hatte sich erhoben und fegte den Staub durch die armselige Gasse. Da und dort wurden eilig Fenster geschlossen. Gräsler sah auf die Uhr. Es war noch lange nicht acht. Wie viele und was für Stunden standen ihm nun bevor. Es konnte zehn werden, auch elf Uhr, zwölf, auch morgen früh, bis das Fräulein nach Hause kam.

Der Gedanke, so aufs Ungewisse hin hier in Wind und Regen – schon fielen die ersten Tropfen – stundenlang auf und ab zu laufen, war recht peinlich. Und nun begann er doch einer inneren Stimme Gehör zu geben, die sich schon längst schüchtern gemeldet hatte: Wenn Katharina am Ende zu Hause wäre? Vielleicht, daß sie früher aus dem Geschäft fortgegangen war – wenn das auch am ersten Tag nach ihrem Urlaub nicht viel Wahrscheinlichkeit für sich hatte. Oder ihr Urlaub war noch gar nicht abgelaufen, und sie verbrachte den letzten freien Tag im Kreise der Familie? Er glaubte das alles selbst nicht recht, aber diese Erwägungen taten ihm wohl, um so mehr, als es ja nicht übermäßig schwierig war, sich Gewißheit zu verschaffen. Man bemühte sich einfach die drei Treppen hinauf und fragte oben beim Herrn Postbeamten Rebner, ob das Fräulein Tochter nicht daheim wäre. Das würde kaum sonderlich auffallen. So genau nahm man es wohl nicht in einer Familie, wo das Fräulein Tochter mit doppelt soviel Gepäck vom Lande zurückkam, als sie abgereist war. Und wenn sie nicht zu Hause war, so erfuhr man vielleicht bei dieser Gelegenheit, unter welch einem Vorwand sie den Abend außer Haus verbrachte. Und wenn sie daheim war, nun, um so besser, da war ja alles schön und gut, da hatte man sie eben gleich wieder [194] und machte alles Nötige für morgen, übermorgen und die nächsten Tage mir ihr ab. Denn dann war ja alles unsinnig, was ihm durch den Kopf gegangen war. Dann hatte er nichts zu tun, als ihr innerlich abzubitten, was er ihr zugemutet in seiner erbärmlichen Laune, an der eine andere viel mehr Schuld trug als sie. So stand er mit den besten Gesinnungen für sie vor der Wohnungstür.

Er klingelte; eine kleine ältliche Frau im Hauskleid, mit vorgebundener Küchenschürze, öffnete und sah ihn verwundert an.

»Verzeihung,« sagte Gräsler, »ich bin hier recht bei Herrn Postbeamten Rebner?« – »Gewiß, ich bin seine Frau.« – »Natürlich. Ja. Ich möchte gern – ich wollte nämlich fragen, ob ich vielleicht ein Wort mit Fräulein Katharina sprechen könnte. Ich habe nämlich das Vergnügen –« – »Ah,« unterbrach ihn Frau Rebner sichtlich erfreut, »Sie sind wohl der Herr Doktor, den Katharina auf dem Land bei Ludmilla kennengelernt, und von dem sie das schöne Tuch bekommen hat?« – »Ja, der bin ich, Doktor Gräsler ist mein Name.« – »Freilich, – Doktor Gräsler ... sie hat uns von Ihnen erzählt ... ja. Und ich will gleich nachsehen, ob es möglich ist, sie liegt nämlich zu Bette. Gestern ist sie erst zurückgekommen, sie wird sich wohl erkältet haben.«

Gräsler erschrak heftig. »Zu Bette? Seit wann?« – »Sie ist heute noch gar nicht aufgestanden. Es wird wohl auch ein wenig Fieber dabei sein.« – »Haben Sie denn schon einen Arzt hier gehabt, Frau Rebner?« – »Ach, das Frühstück hat ihr noch so gut geschmeckt, das geht schon vorüber.« – »Vielleicht würden Sie mir aber erlauben, da mich der Zufall eben hergeführt hat – ich denke, Fräulein Katharina wird nichts dagegen haben.« – »Nun ja, da Sie doch Arzt sind, es trifft sich vielleicht ganz gut.«

Und sie führte ihn durch ein ziemlich geräumiges, nicht erleuchtetes Zimmer in ein kleineres, wo Katharina im Bette lag. Auf dem Nachtkästchen stand eine Kerze, von der ein Lichtschein über das feuchte, weiße Tuch flackerte, das vielfach zusammengefaltet auf Katharinens Stirn lag, so daß ihre Augen vorerst ganz unsichtbar waren.

»Katharina«, rief Gräsler. Sie rückte das Tuch anscheinend mühsam von den Augen fort, die trüb erglänzten. »Guten Abend«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln, doch wie abwesend.

»Katharina!« Er stand an ihrem Bett, entfernte hastig die Decke von ihrem Hals, schob das Hemd von ihren Schultern weg, [195] und eine dunkle Röte zeigte sich. Das Fieber schien sehr hoch gestiegen, die Abgeschlagenheit war beträchtlich, und so bedurfte es für Gräsler keiner eingehenderen Untersuchung mehr, um Katharinens Erkrankung als Scharlach zu erkennen. Und ihre eine Hand in der seinen haltend, tief bedrückt, sich wie ein Schuldiger fühlend, sank er auf den Sessel neben dem Bette hin.

In diesem Augenblick kam der Vater heim, und schon in der Türe rief er: »Aber, Kinder, was macht ihr denn für Geschichten? So habt ihr also wirklich einen Doktor –« Seine Frau trat ihm entgegen. »Nicht so laut«, sagte sie, »der Kopf tut ihr weh. Es ist ja der Doktor, den sie draußen bei Ludmilla kennengelernt hat.«

»Ach so,« sagte der Vater nähertretend, »das freut mich ja sehr, Ihre werte Bekanntschaft zu machen. Ja, sehen Sie, da schickt man so ein Mädchen aufs Land, läßt sich's was kosten, und nun kommt sie einem erst recht elend zurück. Na, es wird wohl nicht viel sein, Herr Doktor. Sicher ist sie abends im Freien gesessen bei der vorgerückten Jahreszeit. Nicht wahr, Katharina, so ist's gewesen?«

Katharina antwortete nichts und schob das Tuch wieder über ihre Augen. Doktor Gräsler wandte sich an den Vater. Es war ein ziemlich kleiner, beleibter Mann mit glanzlosen Augen, beinahe kahl, und mit einem aufgedrehten grauen Schnurrbart. »Es ist keine Erkältung,« sagte Gräsler, »es ist Scharlach.«

»Aber, Herr Doktor, davon kann doch wohl keine Rede sein. Das ist doch eine Kinderkrankheit. Ihre Schwester hat's gehabt, da war sie fünf Jahre alt. Da hätte sie's doch gleich damals bekommen.«

Katharina schien durch das überlaute Wesen ihres Vaters zu klarerem Bewußtsein gebracht und sagte: »Der Herr Doktor wird es wohl besser wissen als du, Vater. Aber er wird mich auch sicher gesund machen, nicht wahr?«

»Ja, das werde ich, Katharina, das werde ich«, erwiderte Gräsler, und er liebte sie in diesem Augenblick so sehr, wie er noch niemals ein menschliches Wesen geliebt hatte. Während er nun seine Anordnungen traf, erschien die Schwester mit ihrem Gatten, der den Doktor zuerst mit einem vergnügten Zwinkern begrüßte, aber vor dem Ernst der Lage alsbald mit seiner Frau ins Nebenzimmer entwich. Den Eltern jedoch erklärte Gräsler leise, daß er diese Nacht über jedenfalls hierbleiben werde, gerade die erste Nacht sei in solchen Fällen sehr bedeutungsvoll, und wenn er ununterbrochen bei ihr wachte, so vermöchte er vielleicht [196] mancher Gefahr vorzubeugen, deren erste Anzeichen ungeschulten Augen entgehen könnten.

»Nun, Katharina,« sagte der Vater, wieder an ihr Bett tretend, »du kannst von Glück sagen. So einen Doktor hat nicht jede. Aber, Herr Doktor,« er zog ihn mit sich zur Tür, »das will ich Ihnen doch gleich sagen, wir sind keine reichen Leute. Wenn sie auch auf dem Land gewohnt hat, sie war ja nur zu Gast bei Ludmilla, wie Sie wohl bemerkt haben. Nur das Billett hin und zurück, das haben natürlich wir bezahlt.« Seine Frau verwies ihm das Reden, zog ihn mit sich ins Wohnzimmer, da sie fühlen mochte, daß es an der Zeit war, Katharina mit ihrem Arzt allein zu lassen.

Gräsler beugte sich über die Kranke, streichelte ihr Wangen und Haare, küßte sie auf die Stirn, versicherte sie, daß sie in ein paar Tagen wieder gesund sein werde und daß sie dann gleich zu ihm zurück müsse; daß er sie überhaupt nie wieder von sich fortlassen und überallhin mitnehmen werde, wo sein Schicksal ihn hinführe; daß es ihn ja mit aller Macht wieder hergetrieben habe und daß sie sein Kind sei und seine Geliebte und seine Frau, und daß er sie liebe, liebe, wie noch nie ein Wesen geliebt worden sei. Aber während er sie noch befriedigt lächeln sah, merkte er schon, daß alle seine Worte den Weg ins Tiefste ihrer Seele nicht mehr fanden, daß sie nur mehr als schwankende Schatten erfaßte, was ringsum sich bewegte, daß er am Beginn von Tagen stand, in denen jede Stunde erfüllt sein sollte von der grauenhaften Angst um etwas Geliebtes, das einem unsichtbar nahenden Feind verfallen ist; und daß er sich zu einem verzweifelten Ringen rüsten mußte, – das er doch schon in diesem Augenblick als nutzlos erkannte.

17. Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Nach drei Tagen und drei Nächten, die Gräsler beinahe ununterbrochen am Bett der Kranken wachte, ohne daß sie noch einmal zu völligem Bewußtsein gekommen wäre, an einem trüben Novemberabend, schwand ihre fiebernde Seele dahin, und nach weiteren zwei Tagen, in denen Gräsler durch die Ordnung all der traurigen Geschäfte, die sich an das Unglück anschlössen, vollauf in Anspruch genommen war, wurde sie begraben. Gräsler ging hinter dem Sarg her, ohne mehr als das Notwendige mit [197] ihren Verwandten zu sprechen, die ihm in all der gemeinsamen Trauer völlig ferngeblieben waren. Er stand starr am Grabe, als der Sarg versenkt wurde, und dann, ohne sich von den anderen nur zu verabschieden, verließ er den Friedhof und fuhr in seine Wohnung. Bis zum Abend lag er auf dem Diwan seines Arbeitszimmers in dumpfem Schlaf. Es war dunkel, als er sich erhob. Er war allein, so allein, wie er es noch nie gewesen, nicht nach seiner Eltern, nicht nach seiner Schwester Tod. Sein Leben war mit einem Male allen Inhalts bar. Er begab sich auf die Straße, ohne zu wissen, was er mit sich anfangen, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Er haßte die Menschen, die Stadt, die Welt, seinen Beruf, der am Ende doch zu nichts anderem gut gewesen war, als gerade dem Geschöpf den Tod zu bringen, das bestimmt schien, seinen alternden Jahren ein letztes Glück zu geben. Was blieb ihm nun auf Erden noch übrig? Daß er in der Lage war, seinen Beruf hinzuwerfen und, wenn es ihm beliebte, nie wieder mit irgendeinem menschlichen Wesen ein Wort wechseln mußte, erschien ihm der einzige Trost, der einzige Gewinn seines Daseins. Die Straßen waren feucht, auf den Wiesen des Stadtgartens, in dem er sich wie zufällig fand, lag ein weißlicher Nebel. Er sah zum Himmel auf, an dem zerrissene Wolken trieben. Er fühlte sich müde werden, nicht nur von dem ziellosen Hin und Her, sondern auch von seiner eigenen Gesellschaft, die ihm mit einem Male unerträglich wurde. Ganz unmöglich erschien es ihm, nach Hause zu gehen, und in den Räumen, wo er mit Katharina glücklich gewesen, eine hoffnungslose einsame Nacht zu verbringen. Er ertrug es nicht, sich immer wieder mit den gleichen dürftigen Worten sein Schicksal vorzuerzählen, ohne daß von irgendwoher Antwort, Trost und Teilnahme kam, und ward sich der Notwendigkeit bewußt, wenn er nicht im Freien zu schluchzen, zu schreien, dem Himmel zu fluchen anfangen wollte, noch in dieser Stunde einen Menschen aufzusuchen, dem er sich mitteilen konnte. Da sein alter Freund Böhlinger der einzige war, der hierfür in Betracht kam, so machte er sich auf den Weg zu ihm. Er hatte Angst, ihn nicht zu Hause anzutreffen, doch war das Glück ihm günstig, und der Rechtsanwalt saß, als Gräsler bei ihm eintrat, vor seinem aktenbedeckten Schreibtisch, im türkischen Schlafrock, von Rauchqualm umgeben.

»Du bist schon wieder hier?« empfing er ihn. »Was gibt's denn? Eine ungewohnte Stunde.« Er blickte auf die Wanduhr, die zehn Uhr wies.

[198] »Entschuldige,« sagte Gräsler heiser, »ich störe dich hoffentlich nicht.« – »Was fällt dir ein? Willst du nicht Platz nehmen? Eine Zigarre gefällig?«

»Danke,« sagte Gräsler, »ich kann jetzt nicht rauchen. Ich habe nämlich noch nicht zur Nacht gegessen.« Böhlinger betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »So, so,« sagte er, »es handelt sich wohl um eine wichtige Sache. Nun, wie steht es denn mit dem Sanatorium?«

»Mit dem Sanatorium ist es nichts.«

»Ah, hat sich das also zerschlagen? Sollte das dich doch so schwer treffen? Sag' doch! Du dürftest doch nicht ganz ohne Grund – dein Besuch freut mich selbstverständlich sehr – sprich dich nur aus. Oder soll ich raten? Weibergeschichten?«Er lächelte. »Untreue?«

Gräsler machte eine abwehrende Handbewegung. »Sie ist tot«, sagte er hart, stand plötzlich auf und ging im Zimmer hin und her.

»Oh«, sagte Böhlinger. Dann schwieg er; und als Gräsler eben wieder an ihm vorbeikam, ergriff er seine Hand und drückte sie einige Male. Gräsler aber sank auf einen Stuhl, und den Kopf in beiden Händen weinte er bitterlich, wie er seit seinen Knabenjahren nicht mehr geweint hatte. Böhlinger wartete geduldig und rauchte. Zuweilen warf er einen Blick in den Akt, der aufgeschlagen vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und machte Notizen an den Rand. Nach einiger Zeit, da Gräsler sich allmählich zu beruhigen schien, fragte er sanft: »Wie ist es denn geschehen? Sie war ja so jung.«

Gräsler sah auf. Er verzog seine Lippen zu einem höhnischen Lächeln. »An Altersschwäche ist sie allerdings nicht gestorben. Scharlach. Und ich bin schuld daran. Ich, ich bin schuld.«

»Du bist schuld? Aus dem Spital?« Gräsler schüttelte den Kopf, stand wieder auf, lief im Zimmer hin und her, griff mit den Armen wie verzweifelt in die Luft und atmete tief. Böhlinger lehnte sich zurück und folgte ihm mit den Blicken. »Wie wär's,« sagte er, »wenn du mir alles erzähltest. Es wird dich vielleicht ein wenig beruhigen.«

Und Doktor Gräsler begann, zuerst stockend, dann immer fließender, wenn auch nicht geordnet, die Geschichte seiner letzten Monate zu erzählen. Bald ging er auf und ab, bald blieb er stehen, in einer Ecke, am Fenster, oder an den Schreibtisch gelehnt; er erzählte nicht nur von Katharina, auch von Sabinen [199] sprach er; von seinen Hoffnungen, seinen Befürchtungen, seiner neuen Jugend; – von seinen Träumen hier und dort, – und wie sie am Ende alle zunichte geworden waren. Manchmal hatte er die Empfindung, als wären beide tot, Katharina und Sabine, und er wäre es, der ihnen den Tod gebracht hätte. Zuweilen warf Böhlinger eine neugierige oder teilnahmsvolle Frage dazwischen. Und als ihm die Erlebnisse des Freundes in ihrem Zusammenhange klar geworden waren, wandte er sich an ihn mit den Worten: »Bist du denn eigentlich in die Stadt zurückgekommen mit der Absicht – sie zu heiraten?«

»Gewiß bin ich das. Meinst du etwa, daß ihre Vergangenheit mich gehindert hätte?«

»Das meine ich keineswegs. Denn ich weiß, die mit der Zukunft sind im allgemeinen nicht vorzuziehen.« Und er sah vor sich hin.

»Da dürftest du recht haben«, sagte Gräsler, und indem er ihn ins Auge faßte, fügte er hinzu: »Was ich dir übrigens auch noch sagen wollte –« er brach ab.

Der Tonfall hatte Böhlinger befremdet: »Was meinst du?« fragte er.

»Ich habe deine Briefe an Friederike gelesen, deine und – auch andere.«

»So?« sagte Böhlinger unerschüttert und lächelte trüb. »Das ist lange her, mein Freund.«

»Ja, es ist lange her«, wiederholte Gräsler. Und in einem Bedürfnis, seine Stellungnahme zu der Angelegenheit in Kürze und endgültig auszusprechen, setzte er hinzu: »Es ist mir natürlich nach Lektüre der Briefe ganz klar geworden, warum ihr euch nicht geheiratet habt.«

Böhlinger sah ihn zuerst wie verständnislos an. Dann, mit zuckenden Mundwinkeln, sagte er: »Ach so, du denkst – weil sie – mich betrog. So nennt man's ja wohl. Herrgott, was macht man daraus für Geschichten in jungen Jahren. In Wirklichkeit hat sie nur sich selber und ich – mich betrogen! Ja, das ganz besonders. Na, nun ist's wohl zu spät.« Und beide schwiegen eine Weile.

»Es ist lange her«, sagte Gräsler dann noch einmal, aber wie aus dem Schlaf. Denn eine tiefe Ermattung hatte ihn plötzlich überkommen, und die Lider fielen ihm zu. Doch er schrak gleich wieder auf, da Böhlinger ihn bei den Händen nahm und ihm herzlich zusprach, den Rest der Nacht, die schon weit vorgeschritten war, bei ihm zu verbringen. Ja, er erklärte sich bereit, [200] ihm sein eignes Bett zur Verfügung zu stellen. Aber Gräsler zog es vor, sich, angekleidet wie er war, in dem raucherfüllten Zimmer auf den Diwan hinzulegen, wo er sofort in schweren Schlaf verfiel. Böhlinger breitete eine Decke über ihn, dann öffnete er für eine Weile die beiden Fenster, brachte seine Akten in Ordnung, schloß die Fenster wieder zu und ließ den ruhenden Freund allein.

Als Gräsler erwachte, stand Böhlinger vor ihm teilnahmsvoll lächelnd: »Guten Morgen«, sagte er mit einem guten Blick, – wie ein Arzt, so dachte Gräsler, dem ein krankes Kind aus dem Genesungsschlummer erwacht. Eine kühle Herbstsonne schien ins Zimmer herein. Gräsler spürte, daß er sehr lange geschlafen haben mußte, und fragte: »Wie spät ist es denn?« Da begannen eben die Mittagsglocken zu läuten.

Gräsler erhob sich und reichte dem Freunde die Hand. »Ich danke dir für deine Gastfreundschaft. Nun ist es Zeit nach Hause zu gehen.«

»Ich begleite dich,« sagte Böhlinger, »es ist Sonntag, ich habe in der Kanzlei nichts zu tun. Vor allem aber wirst du frühstücken, auch ein Bad ist für dich bereitgemacht.«

Gräsler nahm alles mit Dank an. Nach dem Bad, das ihn sehr erfrischte, begab er sich in das Speisezimmer, wo das Frühstück wartete. Böhlinger saß neben ihm, teilte ihm vor und plauderte indes, in der offenbaren Absicht, den Freund von traurigen Gedanken abzuziehen, von allerlei gleichgültigen politischen und städtischen Neuigkeiten. Was ist mir die Welt, dachte Gräsler, der Staat, die Menschen? Ja, wenn man Sabine wieder zum Leben auferwecken könnte, – er verbesserte sich sofort innerlich – Katharina! Die andere lebt ja ... gewissermaßen. Er lächelte und wußte selbst nicht recht warum.

Die Freunde verließen das Haus, Spaziergänger, sonntäglich angetan, belebten die Straßen, und Böhlinger hatte viele Leute zu grüßen. Sie kamen an dem Handschuhladen in der Wilhelmstraße vorbei. Gräsler betrachtete die herabgelassenen Rolläden feindselig und mit Grauen. Endlich standen sie vor dem Hause, in dem Gräsler wohnte. »Wenn's dir recht ist, begleite ich dich hinauf«, sagte Böhlinger. In diesem Augenblick trat aus dem Tor eine hübsche rundliche Dame, in anständiger Trauerkleidung, deren Ernst durch einen anmutig und fröhlich geschwungenen Hut ein wenig gemildert schien; sie führte ein kleines Mädchen an der Hand, und ihre Augen leuchteten überrascht, als sie des [201] Doktors ansichtig wurde. »Schau, wer da kommt«, sagte sie laut und erfreut zu ihrer Kleinen. Gräslers Augen aber weiteten sich wie in Entsetzen, als er Frau Sommer erkannte, auf das Kind richtete er einen raschen, aber völlig unbeherrschten Blick des Hasses; und jedes Grußes vergessend, an Mutter und Kind vorbei, trat er unters Tor. Böhlinger aber merkte, daß die Frau, ihre Kleine immer an der Hand, stehengeblieben war und seinem Freund verständnislos, ja wie verzweifelt nachschaute. Mit unzufriedenem Kopfschütteln folgte er Gräsler über die Treppe, zu einer Frage entschlossen; doch kaum hatte sich die Wohnungstür hinter ihnen zugetan, so stieß Gräsler schon die Worte hervor: »Das war das Kind. Das war die Mutter und das Kind. Dieses Kind ist schuld daran! Katharina hat sterben müssen, und dieses Kind hab' ich gesund gemacht.«

»Von Schuld kann hier wohl nicht die Rede sein«, erwiderte Böhlinger. »So beklagenswert die Sache auch sein mag, die Kleine kann doch nichts dafür – und die Mutter gewiß nicht. Dein Benehmen dürfte ihr kaum recht verständlich gewesen sein.«

»Sie weiß ja auch nicht, was indes vorgefallen ist«, sagte Gräsler.

»Du hast sie angestarrt wie ein Gespenst. Und erst das Kind –! Du hättest das Gesicht der Mutter sehen sollen. Sie war zu Tode erschrocken.«

»Das tut mir leid. Aber sie wird sich schon wieder fassen. Ich will es ihr bei Gelegenheit aufklären.«

»Das solltest du gewiß tun,« und in einem unangemessen heiteren Tone fügte er hinzu, »um so mehr, als es eine sehr hübsche und appetitliche kleine Frau ist.« Gräsler runzelte die Stirn und machte eine abwehrende Handbewegung. Dann bat er Böhlinger um Entschuldigung: er wolle nur rasch die Post der letzten Tage durchsehen, um die er sich nicht gekümmert hatte. Eine leise Hoffnung, daß Sabine ihn rufen könnte, vermochte er nicht völlig zu unterdrücken, trotzdem er die Unsinnigkeit eines solchen Gedankens empfand. Es war keine Zeile von ihr, noch irgend anderes von Bedeutung eingelangt.

Dann begab er sich mit Böhlinger in einen Gasthof, und während des Mittagessens, im Zwielicht einer warmen, traulichen Nische, bei einer Flasche guten Rheinweins, riet ihm der Freund, sich keinem unfruchtbaren Schmerz hinzugeben, sondern sich so bald als irgend möglich innerhalb seines Berufes zu betätigen. Gräsler versprach, heute noch nach Lanzarote seine Ankunft für Ende des Monats anzukündigen. Er war überzeugt, daß er willkommen [202] sein würde. Später, bei Kaffee und Zigarre, sprachen sie von Friederike. Der Bruder hielt ihr, während Böhlinger mit halbgeschlossenen Augen, den Rauch langsam vor sich her ringelnd, lauschte, einen gerührten Nachruf, rühmte ihre Fürsorglichkeit und Treue, – ja er wollte es sogar für möglich halten, daß sie bei der Neuausstattung ihres alten Zimmers hier in der Stadt nicht mehr an sich selbst, sondern gütig ahnungsvoll und in Selbstaufopferung an irgendein anderes Wesen gedacht hatte, das bestimmt sein mochte, dem Bruder Gefährtin und Geliebte zugleich zu bedeuten. Böhlinger nickte nur; manchmal blickte er den alten Freund, den er nie so gesprächig gesehen, mit einer von Bedauern nicht ganz freien Verwunderung an, endlich schien er zerstreut und etwas ungeduldig zu werden, und, plötzlich aufstehend, verabschiedete er sich unvermutet rasch, mit der Entschuldigung, daß er über die Abendstunden leider schon verfügt habe.

Gräsler spazierte allein nach Hause. Ruhelos ging er in dem Zimmer hin und her und spürte, wie sein Kummer allmählich in Langeweile hinzufließen begann. Er setzte sich an den Schreibtisch und teilte der Hoteldirektion in Lanzarote mit, daß seine Ankunft sich wohl einige Wochen verzögern würde, doch hoffe er, damit der Leitung um so weniger Ungelegenheiten zu bereiten, als vor Mitte, ja Ende November der Besuch der Insel ohnedies kein reger zu sein pflege. Nach Beendigung dieses Briefes war er mit seinem Tagewerk zu Ende. Er nahm Hut und Stock, verließ seine Wohnung neuerdings, und als er im Treppenflur an der Tür der Frau Sommer vorbei kam, zögerte er zuerst einen Augenblick, dann aber drückte er auf die Klingel. Die Hausfrau selbst öffnete. Sie empfing ihn viel freundlicher, als er es hätte erwarten dürfen, ja mit einem Ausdruck von Freude. Er war gekommen, so bemerkte er gleich, sein mehr als sonderbares Benehmen von heute vormittag aufzuklären. Aber Frau Sommer wüßte wahrscheinlich schon, was für ein großes Unglück ihm begegnet sei – so werde sie ihn vielleicht entschuldigen. Sie wußte nichts, wahrhaftig gar nichts, und sie bat ihn, sich doch vor allem mit ihr ins Wohnzimmer zu bemühen. Und dort erzählte er ihr, daß seine liebe kleine Freundin, dieselbe, die sie noch vor wenigen Wochen im chinesischen Schlafrock mit den goldgestickten Drachen am Treppengeländer gesehen hätte, nach einer Krankheit von wenigen Tagen dahingeschieden sei. Erst auf die teilnahmsvolle Frage der Frau Sommer ergänzte er, daß ein tückisches Scharlachfieber das junge Geschöpf dahingerafft [203] habe. Es kämen jetzt viele Fälle in der Stadt vor, ja man könnte fast von einer Epidemie sprechen. Und irgendein Zusammenhang zwischen der Krankheit seiner Freundin und dem Fall der kleinen Fanny sei um so weniger anzunehmen, als der Scharlach des Kindes so leicht verlaufen sei, daß er an der Richtigkeit seiner Diagnose beinahe zweifeln möchte. Und er nahm das Kind, das eben herein gelaufen kam, zwischen die Knie, streichelte dessen Locken und küßte es auf die Stirn. Dann weinte er leise vor sich hin, und als er wieder aufblickte, sah er Tränen im Auge der jungen Frau.

Am nächsten Tage besuchte er Katharinens Grab, auf dem noch einige bescheidene Kränze mit Schleifen lagen. Frau Sommer hatte ihn mit dem Kind auf den Friedhof begleitet; und während Gräsler stumm und gebeugten Hauptes dastand und Frau Sommer die Aufschriften der Schleifen betrachtete, hielt die Kleine die Hände im stillen Gebet gefaltet. Auf dem Heimweg hielt man sich eine Weile beim Konditor auf, und Fanny kam mit einer großen Tüte Bonbons nach Hause.

Von nun an nahm sich Frau Sommer des vereinsamten Junggesellen mit unaufdringlicher Güte an; er verbrachte viele Stunden, insbesondere jeden Abend in ihrer Wohnung und brachte der Kleinen, die er immer zärtlicher liebgewann, allerlei Spielzeug mit, darunter wilde Tiere aus Holz und Pappe, von denen er dann überdies Geschichten erzählen mußte, als wären es eigentlich wirkliche, aber verzauberte Bestien. Frau Sommer aber zeigte sich in Wort und Blick von Tag zu Tag dankbarer für all das Liebe, das der Doktor ihrem vaterlosen Kinde erwies. – –

Es war noch kein Monat seit Katharinens Tod vergangen, als Doktor Emil Gräsler auf der Insel Lanzarote mit Frau Sommer, die übrigens seit dem Tag ihrer Abreise Frau Gräsler hieß, und der kleinen Fanny ans Land stieg. Der Direktor stand an der Landungsbrücke, barhaupt wie gewöhnlich, und sein glattgestrichenes braunes Haar bewegte sich trotz des Küstenwindes kaum. »Willkommen, lieber Doktor«, begrüßte er den Ankommenden, mit dem amerikanischen Akzent, der auf Gräsler schon im vorigen Jahre unangenehm gewirkt hatte. »Willkommen! Sie haben wohl ein wenig auf sich warten lassen, aber wir freuen uns um so mehr, Sie wieder hier zu haben. Die Villa ist natürlich instand gesetzt, und ich hoffe, daß sich auch die gnädige Frau bei uns wohl fühlen wird.« Er küßte ihr die Hand und tätschelte die Wange der Kleinen.

[204] Die Luft war wundersam durchsonnt, wie an einem Sommertag, und sie gingen alle dem Hotel zu, das ihnen blendend weiß entgegenglänzte; voran der Direktor und die junge Frau im lebhaften Gespräch, hinter ihnen Doktor Gräsler und die kleine Fanny in einem etwas zerdrückten weißen Leinenkleid und mit einem weißen Seidenbändchen in den schwarzen Locken. Gräsler hielt ihre weiche Kinderhand in der seinen und sagte: »Siehst du dort das kleine weiße Haus, wo alle Fenster offen stehen? Da wirst du wohnen, und gleich dahinter, das kannst du jetzt natürlich nicht sehen, ist ein Garten mit merkwürdigen Bäumen, wie du sie noch nie gesehen hast ... und unter denen wirst du spielen; und wenn es anderswo schneien wird und die Leute frieren, da wird hier die Sonne scheinen geradeso wie heute.« So redete er weiter, immer die weiche Kinderhand in der seinen, deren Druck ihn beglückte, wie nie eine andere Berührung ihn beglückt hatte. Die Kleine, neugierig zu ihm aufblickend, horchte ihm zu.

Indes führte auch der Herr Direktor seine Unterhaltung mit der jungen Frau weiter. »Die Saison läßt sich nicht übel an«, bemerkte er. »Der Herr Gemahl wird stark beschäftigt sein. Für den Vierten nächsten Monats erwarten wir Seine Hoheit den Herzog von Sigmaringen mit Gemahlin, Kinder und Suite ... Wir haben hier einen gesegneten Fleck Erde. Ein kleines Paradies. Und wie der Schriftsteller Rüdenau-Hansen sagt, ein regelmäßiger Besucher unserer Insel seit zwölf Jahren ...«

Der Wind, der hier an der Küste auch an den ruhigsten Tagen zu gehen pflegt, blies die nächsten Worte davon und noch viele andere.

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TextGrid Repository (2012). Schnitzler, Arthur. Erzählungen. Doktor Gräsler, Badearzt. Doktor Gräsler, Badearzt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-DA08-2