Achtes Kapitel
In der Heimatstadt erwartete den Doktor Gräsler eine angenehme Überraschung. Obzwar er sein Eintreffen erst in letzter Stunde angezeigt hatte, fand er seine Wohnräume nicht nur in schönster Ordnung vor, sondern weit freundlicher hergerichtet, als er sie vor einem Jahr verlassen hatte. Jetzt erst erinnerte er sich, daß Friederike im vergangenen Herbst sich ein paar Tage allein hier aufgehalten und, wie sie ihm später erzählt, mancherlei Hausrat neu angeschafft sowie tüchtigen Handwerkern Aufträge erteilt hatte, über deren Ausführung sie noch während der Wintermonate mit Freund Böhlinger in Briefwechsel gestanden. Und als Gräsler die Wohnung zum zweiten Male durchmaß und zum Schlüsse das dem Hof zu gelegene Gemach der verstorbenen Schwester betrat, seufzte er leise auf; – ein wenig mit Rücksicht auf die seit Jahren das Haus betreuende Setzersgattin, die ihn durch die Wohnung geleitete, aber auch in ehrlicher Trauer der teuern Dahingegangenen gedenkend, der es nicht mehr beschieden war, den wohlvertrauten Raum in der gefälligen neuen Ausstattung und im Schein elektrischer Lichter wiederzusehen.
Doktor Gräsler packte aus, spazierte dazwischen in den Zimmern [152] hin und her, nahm gelegentlich ein oder das andere Buch aus der Bibliothek, um es wieder ungelesen an seinen Ort zu stellen, blickte hinab auf die enge, wenig belebte Straße, in deren feuchtem Pflaster die Ecklaterne sich spiegelte, setzte sich in den alten, noch vom Vater ererbten Schreibtischsessel, las Zeitung und war, wie er selbst mit wehmütigem Staunen fühlte, so fern von Sabinen, als lägen nicht nur viele Meilen zwischen ihm und ihr, sondern als wäre auch der Brief, in dem sie ihm ihre Hand angetragen, und der ihn in die Flucht getrieben hatte, nicht gestern, sondern vor vielen Wochen an ihn gelangt. Als er ihn hervornahm, schien ihm ein herber, beunruhigender Duft daraus emporzusteigen, und in einer ängstlichen Scheu, ihn wieder lesen zu müssen, sperrte er ihn in eine Lade. Am nächsten Morgen fragte er sich, wie er denn eigentlich diesen Tag und alle die nächsten verbringen sollte. Längst war er ein Fremder in seiner Vaterstadt geworden, die meisten Freunde waren ihm weggestorben, die Verbindungen mit den wenigen Überlebenden hatten sich allmählich gelockert und gelöst, nur seine Schwester hatte immer wieder ihre gelegentliche Anwesenheit zum Besuch von irgendwelchen uralten Leuten zu benützen gepflegt, die dem Bekanntenkreis der längst verstorbenen Eltern angehörten. So hatte denn Gräsler im Grunde daheim kein anderes Geschäft als die Unterredung mit seinem alten Freund, dem Rechtsanwalt Böhlinger, die ihm aber keineswegs dringend erschien.
Nachdem er seine Wohnung verlassen, machte er zuerst einen Gang durch die Stadt, wie meistens, wenn er nach langer Zeit wieder einmal zu kurzem Aufenthalt in die Heimat zurückgekehrt war. Eine gewisse leichte und beinahe wohltuende Rührung pflegte sich sonst bei solchen Wanderungen regelmäßig einzustellen, heute aber, unter dem schweren grauen Regenhimmel, blieb sie völlig aus. Ohne innere Bewegung ging er an dem alten Haus vorbei, von dessen schmalem hohen Eckfenster aus die Jugendgeliebte dem Gymnasiasten auf dem Wege von und zur Schule verstohlen zugewinkt und zugelächelt hatte, gleichgültig rauschte ihm der Brunnen im herbstlichen Park, den er in den alten Stadtgräben selbst hatte langsam entstehen sehen; und als er, aus dem Hof des altberühmten Rathauses hervortretend, um die Ecke in dem schmalen versteckten Gäßchen das uralte, fast verfallene Häuschen gewahrte, hinter dessen halbblinden, durch rote Vorhänge deutlich gekennzeichneten Fenstern er sein erstes armseliges, von wochenlanger Angst gefolgtes Abenteuer erlebt [153] hatte, da war ihm, als hob' es sich von seiner ganzen Knabenzeit wie verstaubte und zerrissene Schleier.
Der erste Mensch, den er sprach, war der weißbärtige Tabakhändler in dem Laden, wo er sich mit Zigarren versorgte; als jener ihm sein Beileid zu dem Tode der Schwester in etwas weitschweifiger Weise aussprach, wußte Gräsler kaum, was er erwidern sollte, und er fürchtete sich davor, noch anderen Bekannten begegnen und die gleichen nichtssagenden Worte anhören zu müssen. Aber der nächste, den er traf, erkannte ihn nicht, und an einem dritten, der Miene machte, stehenzubleiben, ging er selbst mit eiligem, fast unhöflichem Gruß vorüber.
Nach dem Mittagessen, das er in einem ihm wohlbekannten alten, nunmehr aber allzu prunkvoll neu hergerichteten Gasthof einnahm, begab er sich zu Böhlinger, der, von seinem Eintreffen in der Stadt schon unterrichtet, ihn mit freundlicher Gelassenheit begrüßte und nach einigen teilnahmsvollen Worten näheres über den Tod Friederikens zu erfahren wünschte. Doktor Gräsler berichtete dem Jugendfreund mit gedämpfter Stimme und gesenktem Blick den traurigen Fall, und als er wieder aufsah, war er etwas verwundert, sich einem ältlichen, beleibten Herrn gegenüber zu sehen, dessen bartloses Gesicht, das er immer noch als ein jugendliches im Gedächtnis bewahrt hatte, sich recht fahl und verwittert ausnahm. Böhlinger zeigte sich zuerst sehr bewegt, schwieg lange, endlich zuckte er die Achseln und setzte sich an den Schreibtisch, als wollte er ausdrücken, daß den Überlebenden auch einem so beklagenswerten Ereignis gegenüber nichts anderes übrigbleibe, als sich den Forderungen des Tages entschlossen zuzuwenden. Dann öffnete er eine Lade, entnahm ihr eine Aktenmappe und machte sich daran, unter Vorweis des Testaments sowie anderer wichtiger Papiere die Erbschaftsangelegenheit in ausführlicher Weise zu behandeln. Da die Verstorbene erheblichere Ersparnisse hinterlassen hatte, als Gräsler vermutete, und er der einzige Erbe war, lag die Sache so, daß er von nun ab, ohne seine Praxis weiter auszuüben, einfach von seinen Renten bescheiden, doch immerhin behaglich hätte leben können, was ihm der Rechtsanwalt zum Schlüsse seiner Auseinandersetzungen zu verstehen gab. Aber gerade durch diese Eröffnung ward sich der Doktor bewußt, daß für ihn noch lange nicht die Zeit der Ruhe gekommen, ja daß ihm sogar ein heftiger Trieb zur Tätigkeit eingeboren wäre; und dies mit Lebhaftigkeit versichernd, stand er nicht länger an, dem alten Freund von der Heilanstalt zu berichten,[154] über deren Ankauf er kurz vor Verlassen des Badestädtchens in aussichtsvolle Unterhandlungen eingetreten sei. Der Rechtsanwalt hörte aufmerksam zu, ließ sich über manche Einzelheiten nähere Aufklärung geben, schien anfangs den Absichten des Doktors zustimmend gegenüberzustehen, zögerte aber am Ende doch, den Freund ernstlich zu einem Unternehmen anzueifern, das, abgesehen von ärztlicher Geschicklichkeit und gewandten Verkehrsformen, die er ihm natürlich in weitestem Ausmaß zugestehen wolle, eine gewisse ordnende und geschäftliche Begabung erforderte, von deren Vorhandensein Gräsler bisher keine ausreichenden Proben abgelegt habe. Der Doktor, der diese Einwendung mußte gelten lassen, fragte sich, ob es nicht geraten wäre, nun von Fräulein Schleheim zu sprechen, die ja diesem Teil der ihm vielleicht bevorstehenden Aufgabe durchaus gewachsen wäre. Aber der alte Junggeselle, der ihm hier gegenübersaß, wäre wohl der letzte gewesen, für eine Herzensgeschichte so besonderer Art das richtige Verständnis aufzubringen. Allzu gut kannte Gräsler Böhlingers Eigenheit, sich über die Frauen bei jeder Gelegenheit in wegwerfender, ja zynischer Weise auszulassen, und er hätte es nicht über sich gebracht, eine leichtfertige Bemerkung über Sabine ruhig hinzunehmen. Aus dem Erlebnis, durch das er zu einem solchen Weiberverächter geworden, hatte Böhlinger dem Jugendfreund seinerzeit kein Geheimnis gemacht. Auf einer Redoute hier in der Stadt, wo einmal jedes Jahr die bürgerliche Gesellschaft sich mit der Welt des Theaters, aber auch mit sittlich noch bedenklicheren Elementen zu begegnen pflegte, hatte Böhlinger, im Fluge gleichsam, die vollkommene Gunst einer Dame gewonnen, der niemand, auch in den phantastischesten Träumen, solche Verwegenheit und solchen Leichtsinn zugetraut hätte. Sie selbst, die auch im letzten Rausch die Maske nicht fallen ließ, hatte sich damals und so für alle Zeit unerkannt gehalten; durch einen merkwürdigen Zufall aber war es Böhlinger nicht verborgen geblieben, wer in jener Nacht die Seine geworden war. Da er dem Freunde wohl das Abenteuer erzählt, den Namen der Geliebten aber dauernd verschwiegen hatte, gab es bald nicht ein weibliches Wesen in der Stadt, Frau oder Mädchen, auf das Gräsler nicht einen Verdacht geworfen hätte, der sich um so dringender meldete, je tadelloser Ruf und Lebenswandel der betreffenden Dame für die Welt sich darstellen mochte. Jenes Abenteuer war es auch gewesen, das Böhlinger davon abhielt, mit irgendeiner seiner Mitbürgerinnen eine innigere [155] oder gar eine auf Ehe hinzielende Verbindung einzugehen, und so war er, als geschätzter Rechtsanwalt in einer auf Anstand und Sittenreinheit sehr bedachten Mittelstadt, genötigt, auf häufig wiederholten kurzen und geheimnisvollen Urlaubsreisen weitere Erfahrungen zu sammeln, die ihn in seiner bitteren Anschauung vom weiblichen Geschlecht nur bestärken mußten. Daher wäre es von Gräslers Seite unklug gewesen, Sabinens Namen in dieses Gespräch zu ziehen, doppelt unklug sogar, da er das anmutige, reine Geschöpf, das sich ihm gewissermaßen an den Hals geworfen, doch wieder freigegeben, ja vielleicht schon für immer verloren hatte. Aus diesen Erwägungen ließ sich Gräsler in eine weitere Unterhaltung über seine Zukunftspläne lieber nicht mehr ein, erklärte ausweichend, daß er für alle Fälle noch Nachrichten von seiten des Baumeisters abzuwarten gesonnen sei, und forderte endlich den Jugendfreund, nicht so herzlich, als er sich vorgesetzt, zu baldigem Besuche am Burggraben auf, wobei ihm erst einfiel, daß er ihm auch noch für seine Mühewaltung bei der Beaufsichtigung der Tapezierarbeiten Dank schulde. Diesen lehnte Böhlinger bescheiden ab; doch freue er sich jedenfalls, die Räume bald wieder zu betreten, die auch für ihn an Jugenderinnerungen, leider an allzu fernen, nicht eben arm seien. Sie schüttelten einander die Hände und sahen sich in die Augen. Die des Rechtsanwaltes schienen feucht werden zu wollen; aber auch jetzt verspürte Gräsler nichts von der Rührung, die er den ganzen Tag vergeblich erwartet und die ihm den dürftigen Nachgeschmack dieser Stunde hätte veredeln können.
Eine Minute darauf stand er auf der Straße in einem fast quälenden Gefühl innerer Leere. Der Himmel hatte sich aufgeheitert, und die Luft war milder geworden. Doktor Gräsler spazierte durch die Hauptstraße, blieb vor einigen Auslagen stehen und empfand eine leise Befriedigung, daß nun auch in seiner Vaterstadt ein moderner Geschmack sich überall deutlich anzukündigen beginne. Endlich trat er in ein Herrenmodegeschäft, wo er nebst einigen Kleinigkeiten einen Hut zu kaufen gedachte.
Gegen seine sonstige Gewohnheit wählte er diesmal eine weiche Form mit ziemlich breiter Krempe, fand im Spiegel, daß sie ihm besser zu Gesichte stand als die steifen Kopfbedeckungen, zu denen er sich sonst verpflichtet glaubte, und konnte es unmöglich für Täuschung halten, als ihn bei Fortsetzung seines Spazierganges in beginnender Dämmerung mancher Frauen- und Mädchenblick freundlich zu mustern schien. Plötzlich fiel ihm ein, daß [156] indes ein Brief von Sabinen angekommen sein könnte; er eilte nach Hause; eine Anzahl von Briefen war eingelangt, zumeist noch aus dem Badestädtchen nachgesandt; – von Sabine war nichts darunter. Zuerst enttäuscht, sah er doch ein, daß er Unwahrscheinliches, ja Unmögliches erwartet hatte, verließ das Haus von neuem und spazierte wieder planlos in den Gassen umher. Später kam er auf den Einfall, mit der Trambahn, die neben ihm hielt, eine Strecke weit zu fahren. Er blieb auf der rückwärtigen Plattform stehen und erinnerte sich, nun zum ersten Male mit leiser Wehmut, daß an Stelle des vorstädtischen Viertels, das er durchfuhr, noch in seinen Jünglingsjahren nichts anderes zu sehen gewesen war als freies Feld und Ackerland. Die meisten Fahrgäste waren allmählich ausgestiegen, und jetzt erst fiel ihm auf, daß sich bisher kein Schaffner gezeigt hatte. Er warf einen Blick rings um sich und merkte, daß zwei Augen den seinen mit freundlichem Spott begegneten. Sie gehörten einem jungen, etwas blassen Mädchen, das, einfach, aber anmutig hell gekleidet, wohl schon geraume Zeit neben ihm auf der Plattform stand. »Sie wundern sich wohl, daß kein Schaffner kommt«, sagte sie, den Kopf nach oben werfend und unter ihrem schwarzen, flachen Strohhut, dessen Rand sie mit einer Hand festhielt, heiter zu Gräsler aufblickend.
»Allerdings«, erwiderte dieser etwas steif.
»Es gibt hier nämlich keinen«, erklärte das junge Mädchen. »Aber da vorn beim Wagenführer, sehen Sie wohl, da ist eine Büchse, da werfen Sie Ihr Zehnpfennigstück hinein, und die Sache ist in Ordnung.«
»Danke sehr«, sagte der Doktor, begab sich nach vorn, tat, wie ihm geheißen, kam zurück und wiederholte: »Ich danke sehr, mein Fräulein, das ist ja wirklich eine sehr praktische Einrichtung – besonders für Gauner.«
»Die hätten kein Glück«, erwiderte das junge Mädchen. »Wir sind hier lauter ehrliche Leute.«
»Daran zu zweifeln liegt mir selbstverständlich fern. Aber wofür werden mich nun wohl die Leute gehalten haben?«
»Für einen Fremden, was Sie doch wohl auch sind?« Sie blickte ihm neugierig ins Gesicht.
»Man könnte mich wohl so nennen«, erwiderte er, schaute in die Luft, und dann sich rasch wieder an seine Nachbarin wendend: »Für was für eine Art von Fremden würden Sie mich wohl halten?«
»Jetzt höre ich Ihnen natürlich an, daß Sie ein Deutscher sind, [157] vielleicht ganz aus der Nähe. Aber im Anfang, da habe ich gedacht, Sie sind von weit her: aus Spanien oder Portugal.«
»Portugal?« wiederholte er und griff unwillkürlich nach seinem Hut. »Nein, ein Portugiese bin ich freilich nicht. Ich kenne es allerdings ein wenig«, setzte er beiläufig hinzu.
»Ja, das denk' ich mir. Sie sind wohl viel in der Welt herumgekommen?«
»Ein wenig«, erwiderte Gräsler, und in seinen Augen glänzte es mild von Erinnerungen fremder Länder und Meere. Er merkte mit Befriedigung, daß der Blick des jungen Mädchens außer Neugier auch eine gewisse Bewunderung zu verraten begann. Ganz unerwartet sagte sie aber: »Hier muß ich aussteigen. Wünsche weiter gute Unterhaltung in unserer Stadt.«
»Danke sehr, mein Fräulein«, sagte Gräsler und lüftete den Hut. Das junge Mädchen war ausgestiegen, und von der Straße her nickte es ihm zu, – vertrauter, als es die kurze Dauer der Bekanntschaft hätte erwarten lassen. Einer kühnen Eingebung folgend, sprang Gräsler von dem Wagen ab, der sich eben wieder in Bewegung setzte, trat auf das Mädchen zu, das verwundert stehengeblieben war, und sagte: »Da Sie mir eben gute Unterhaltung gewünscht haben, mein Fräulein, und die unsere so vielversprechend anfing, wäre es vielleicht das beste ...«
»Vielversprechend?« unterbrach ihn das Mädchen. »Ich wüßte nicht.« Es klang wie eine ehrliche Ablehnung; und so fuhr er in etwas bescheidenerem Tone fort: »Ich wollte sagen – mein Fräulein, Sie verstehen ja so anmutig zu plaudern, und es wäre doch eigentlich schade –«
Sie zuckte leicht die Achseln. »Ich bin schon zu Hause, und man erwartet mich zum Abendessen.«
»Aber ein kleines Viertelstündchen.«
»Es geht wirklich nicht. Guten Abend.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Bitte, noch nicht«, rief Doktor Gräsler in beinahe angstvollem Ton, so daß das Mädchen stehenblieb und lächelte. »Wir wollen doch unsere Bekanntschaft nicht so jäh abbrechen.«
Sie hatte sich wieder zu ihm gewandt und sah lächelnd unter ihrem dunklen Strohhut zu ihm auf.
»Gewiß nicht,« sagte sie, »das wäre ja gar nicht möglich. Nun kennen wir uns einmal, und dabei muß es bleiben. Und wenn Sie mir irgendwo begegnen sollten, so werde ich immer gleich wissen: das ist der Herr – aus Portugal.«
[158] »Aber wenn ich Sie bäte, mein Fräulein, mir zu einer solchen Begegnung Gelegenheit zu geben, um ein Stündchen mit Ihnen plaudern zu dürfen?«
»Ein Stündchen gleich? Sie müssen wohl viel überflüssige Zeit haben.«
»Soviel Ihnen beliebt, mein Fräulein.«
»Das ist nun bei mir leider nicht so.«
»Bei mir natürlich auch nicht immer.«
»Aber jetzt haben Sie wohl Urlaub?«
»Gewissermaßen ja. Ich bin nämlich Arzt. Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle. Doktor Emil Gräsler – hier gebürtig und hier zu Hause«, setzte er rasch und wie eine Schuld gestehend hinzu.
Das junge Mädchen lächelte. »Gar von hier?« sagte sie. »Nein, was Sie sich verstellen können! Vor Ihnen muß man sich wahrhaftig in acht nehmen.« Sie blickte kopfschüttelnd zu ihm auf.
»Also, wann kann ich Sie wiedersehen?« fragte Gräsler dringender.
Sie schaute zuerst nachdenklich vor sich hin, dann sagte sie: »Wenn es Ihnen nicht langweilig ist, so können Sie mich morgen abend wieder nach Hause begleiten.«
»Gern, gern. Und wo darf ich Sie erwarten.«
»Das beste wird wohl sein, Sie gehen gegenüber vom Geschäft auf und ab; ich bin nämlich in dem Handschuhladen von Kleimann, Numero vierundzwanzig, Wilhelmstraße. Um sieben Uhr schließen wir. Da können Sie dann, wenn es Ihnen recht ist, mit mir wieder auf der Trambahn bis hierher fahren.« Sie lächelte.
»Sollten Sie wirklich nicht mehr Zeit für mich übrig haben?«
»Wie sollte ich das wohl anstellen? Ich muß ja doch um acht Uhr zu Hause sein.«
»Sie wohnen bei Ihren Eltern, Fräulein?«
Sie blickte wieder zu ihm auf. »Nun muß ich Ihnen auch wohl endlich sagen, wer ich bin. Katharina Rebner heiße ich, und mein Vater ist Beamter bei der königlichen Post. Und dort, sehen Sie, im zweiten Stockwerk, wo das Fenster offen steht, dort wohnen wir: Vater, Mutter und ich. Und eine Schwester hab' ich, die ist verheiratet. Und die kommt mit ihrem Mann heute abend zu uns, wie immer am Donnerstag. Und darum muß ich nach Hause.«
»Heute – aber doch nicht jeden Abend?« fiel Doktor Gräsler rasch ein.
[159] »Wie meinen das der Herr Doktor?«
»Sie sind doch gewiß nicht alle Abende zu Hause, nicht wahr? Sie haben doch gewiß Freundinnen, die Sie besuchen ... oder gehen ins Theater?«
»Dazu kommt unsereins selten.« Plötzlich nickte sie jemandem, der auf der anderen Seite der Straße ging, freundlich zu. Es war ein einfach, in der Art eines besseren Handwerkers gekleideter, nicht mehr ganz junger Mann, der ein Paket in der Hand trug und ihren Gruß kurz und anscheinend ohne von Gräsler Notiz zu nehmen, erwiderte.
»Das ist nämlich mein Schwager. Da ist die Schwester jedenfalls schon bei uns oben. Aber nun ist es auch wirklich höchste Zeit.«
»Es wird Ihnen hoffentlich keine Unannehmlichkeit daraus entstehen, daß ich mir erlaubt habe, Sie so nahe bis an Ihr Haustor zu begleiten?«
»Unannehmlichkeiten? Glücklicherweise ist man doch majorenn, und sie wissen schon bei mir zu Hause, mit wem sie es zu tun haben. Nun, adieu, Herr Doktor.«
»Auf morgen!«
»Ja.«
Doktor Gräsler wiederholte: »Um sieben Uhr, Wilhelmstraße.«
Sie stand noch immer, schien etwas zu bedenken, blickte plötzlich zu ihm auf und sagte dann etwas hastig: »Sieben Uhr, ja. Aber« – setzte sie zögernd hinzu – »weil Sie früher vom Theater sprachen, Sie werden mir doch nicht böse sein –«
»Warum böse?«
»Ich meine, weil Sie früher eben davon gesprochen haben – wenn Sie vielleicht gleich Billette fürs Theater mitbringen wollten, das wäre sehr hübsch. Ich bin so lange nicht da gewesen.«
»Aber wie gern! Ich bin ganz glücklich, Ihnen eine kleine Gefälligkeit erweisen zu können.«
»Nur keine teueren Plätze, wie Sie sie wahrscheinlich gewöhnt sind. Das würde mir gar keinen Spaß machen.«
»Sie können ganz ruhig sein, Fräulein – Fräulein Katharina.«
»Und Sie sind mir gewiß nicht böse, Herr Doktor?«
»Aber – Fräulein Katharina, böse –?«
»Also auf Wiedersehen, Herr Doktor.« Sie reichte ihm die Hand. »Jetzt muß ich mich wirklich beeilen. Morgen dürfte es ja doch etwas später werden.« Sie wandte sich so rasch ab, daß er [160] den Blick nicht mehr erhaschen konnte, der ihre Worte begleitete. Aber in ihrer Stimme klang eine leise Versprechung nach. Als Doktor Gräsler wieder in seinen vier Wänden war, stellte das Bild Sabinens mit sehnsüchtiger Macht sich ein. Er fühlte das unabweisbare Bedürfnis, ihr zu schreiben, und wären es auch nur ein paar Worte. So teilte er ihr denn mit, daß er wohlbehalten angelangt sei, sein Haus in bester Ordnung vorgefunden, mit seinem alten Freund Böhlinger eine ernste, aber nicht abschließende Unterredung geführt habe, daß er morgen, um die Zeit nicht ungenützt verstreichen zu lassen, das Krankenhaus besuchen werde, wo einer seiner alten Studienkollegen, wie er ihr ja gelegentlich erzählt, einer Abteilung vorstehe, und er unterschrieb die hastigen Zeilen: »In Freundschaft innigst grüßend Emil.« Er eilte nochmals auf die Straße und trug den Brief selbst auf den Bahnhof, damit er noch mit dem Nachtzug seiner Bestimmung entgegenreise.