[228] Arthur Schnitzler
Der Witwer

Er versteht es noch nicht ganz; so rasch ist es gekommen.

An zwei Sommertagen ist sie in der Villa krank gelegen, an zwei so schönen, daß die Fenster des Schlafzimmers, die auf den blühenden Garten sehen, immer offen stehen konnten; und am Abend des zweiten Tages ist sie gestorben, beinahe plötzlich, ohne daß man darauf gefaßt war. – Und heute hat man sie hinausgeführt, dort über die allmählich ansteigende Straße, die er jetzt vom Balkon aus, wo er auf seinem Lehnstuhl sitzt, bis zu ihrem Ende verfolgen kann, bis zu den niederen weißen Mauern, die den kleinen Friedhof umschließen, auf dem sie ruht.

Nun ist es Abend; die Straße, auf die vor wenig Stunden, als die schwarzen Wagen langsam hinaufrollten, die Sonne herabgebrannt hat, liegt im Schatten; und die weißen Friedhofsmauern glänzen nicht mehr.

Man hat ihn allein gelassen; er hat darum gebeten. Die Trauergäste sind alle in die Stadt zurückgefahren; die Großeltern haben auf seinen Wunsch auch das Kind mitgenommen, für die ersten paar Tage, die er allein sein will. Auch im Garten ist es ganz still; nur ab und zu hört er ein Flüstern von unten: die Dienstleute stehen unter dem Balkon und sprechen leise miteinander. Er fühlt sich jetzt müde, wie er es noch nie gewesen, und während ihm die Lider immer und immer von Neuem zufallen, – mit geschlossenen Augen sieht er die Straße wieder in der Sommerglut des Nachmittags, sieht die Wagen, die langsam hinaufrollen, die Menschen, die sich um ihn drängen, – selbst die Stimmen klingen ihm wieder im Ohr.

Beinah alle sind dagewesen, welche der Sommer nicht allzuweit fortgeführt hatte, alle sehr ergriffen von dem frühen und raschen Tod der jungen Frau, und sie haben milde Worte des Trostes zu ihm gesprochen. Selbst von entlegenen Orten sind manche gekommen, Leute, an die er gar nicht gedacht; und Manche, von denen er kaum die Namen kannte, haben ihm die Hand gedrückt. Nur der ist nicht dagewesen, nach dem er sich am [229] meisten gesehnt, sein liebster Freund. Er ist freilich ziemlich weit fort – in einem Badeort an der Nordsee, und gewiß hat ihn die Todesnachricht zu spät getroffen, als daß er noch rechtzeitig hätte abreisen können. Er wird erst morgen da sein können.

Richard öffnet die Augen wieder. Die Straße liegt nun völlig im Abendschatten, nur die weißen Mauern schimmern noch durchs Dunkel, und das macht ihn schauern. Er steht auf, verläßt den Balkon und tritt ins angrenzende Zimmer. Es ist das seiner Frau – gewesen. Er hat nicht daran gedacht, wie er rasch hineingetreten ist; er kann auch in der Dunkelheit nichts mehr darin ausnehmen; nur ein vertrauter Duft weht ihm entgegen. Er zündet die blaue Kerze an, die auf dem Schreibtisch steht, und wie er nun das ganze Gemach in seiner Helle und Freundlichkeit zu überschauen vermag, da sinkt er auf den Diwan hin und weint.

Lange weint er; – wilde und gedankenlose Tränen, und wie er sich wieder erhebt, ist sein Kopf dumpf und schwer. Es flimmert ihm vor den Blicken, die Kerzenflamme auf dem Schreibtisch brennt trüb. Er will es lichter haben, trocknet seine Augen und zündet alle sieben Kerzen des Armleuchters an, der auf der kleinen Säule neben dem Klavier steht. Und nun fließt Helle durchs ganze Gemach, in alle Ecken, der zarte Goldgrund der Tapete glitzert, und es sieht hier aus wie an manchem Abend, wenn er herein getreten ist und sie über einer Lektüre oder über Briefen fand. Da hat sie aufgeschaut, sich lächelnd zu ihm gewandt und seinen Kuß erwartet. – Und ihn schmerzt die Gleichgültigkeit der Dinge um ihn, die weiter starr sind und weiter glitzern, als wüßten sie nicht, daß sie nun etwas Trauriges und Unheimliches geworden sind. So tief wie in diesem Augenblick hat er es noch nicht gefühlt, wie einsam er geworden ist; und so mächtig wie in diesem Augenblick hat er die Sehnsucht nach seinem Freunde noch nicht empfunden. Und wie er sich nun vorstellt, daß der bald kommen und liebe Worte zu ihm reden wird, da fühlt er, daß doch auch für ihn das Schicksal noch etwas übrig hat, das Trost bedeuten könnte. Wär' er nur endlich da! ... Er wird ja kommen, morgen früh wird er da sein. Und da muß er auch lang bei ihm bleiben; viele Wochen lang; er wird ihn nicht fortlassen, bevor es sein muß. Und da werden sie beide im Garten Spazierengehen und, wie früher so oft, von tiefen und seltsamen Dingen sprechen, die über dem Schicksal des gemeinen Tages sind. Und abends werden sie auf dem Balkon sitzen wie früher, den dunklen Himmel über sich, der so still und groß ist; werden da zusammen [230] plaudern bis in die späte Nachtstunde, wie sie es ja auch früher so oft getan, wenn sie, die in ihrem frischen und hastigen Wesen an ernsteren Gesprächen wenig Gefallen fand, ihnen schon längst lächelnd gute Nacht gesagt hatte, um auf ihr Zimmer zu gehn. Wie oft haben ihn diese Gespräche über die Sorgen und Kleinlichkeiten der Alltäglichkeit emporgehoben; – jetzt aber werden sie mehr, jetzt werden sie Wohltat, Rettung für ihn sein.

Immer noch geht Richard im Zimmer hin und her, bis ihn endlich der gleichmäßige Ton seiner eigenen Schritte zu stören anfängt. Da setzt er sich vor den kleinen Schreibtisch, auf dem die blaue Kerze steht, und betrachtet mit einer Art von Neugier die hübschen und zierlichen Dinge, die vor ihm liegen. Er hat sie doch eigentlich nie recht bemerkt, hat immer nur das Ganze gesehen. Die elfenbeinernen Federstiele, das schmale Papiermesser, das schlanke Petschaft mit dem Onyxgriff, die kleinen Schlüsselchen, welche eine Goldschnur zusammenhält; er nimmt sie nacheinander in die Hand, wendet sie hin und her und legt sie wieder sachte auf ihren Platz, als wären es wertvolle und gebrechliche Dinge. Dann öffnet er die mittlere Schreibtischlade und sieht da im offenen Karton das mattgraue Briefpapier liegen, auf dem sie zu schreiben pflegte, die kleinen Kuverts mit ihrem Monogramm, die schmalen, langen Visitenkarten mit ihrem Namen. Dann greift er mechanisch an die kleine Seitenlade, die versperrt ist. Er merkt es anfangs gar nicht, zieht nur immer wieder, ohne zu denken. Allmählich aber wird das gedankenlose Rütteln ihm bewußt, und er müht sich und will endlich öffnen und nimmt die kleinen Schlüssel zur Hand, die auf dem Schreibtisch liegen. Gleich der erste, den er versucht, paßt auch; die Lade ist offen. Und nun sieht er, von blauen Bändern sorgfältig zusammengehalten, die Briefe liegen, die er selbst an sie geschrieben. Gleich den, der oben liegt, erkennt er wieder. Es ist sein erster Brief an sie, noch aus der Zeit der Brautschaft. Und wie er die zärtliche Aufschrift liest, Worte, die wieder ein trügerisches Leben in das verödete Gemach zaubern, da atmet er schwer auf und spricht dann leise vor sich hin, immer wieder dasselbe: ein wirres, entsetzliches: Nein ... nein ... nein ...

Und er löst das Seidenband und läßt die Briefe zwischen den Fingern gleiten. Abgerissene Worte fliegen vor ihm vorüber, kaum hat er den Mut, einen der Briefe ganz zu lesen. Nur den letzten, der ein paar kurze Sätze enthält – daß er erst spät abends aus der Stadt herauskommen werde – daß er sich unsäglich freue, [231] das liebe, süße Gesicht wiederzusehen –, den liest er sorgsam, Silbe für Silbe – und wundert sich sehr; denn ihm ist, als hätte er diese zärtlichen Worte vor vielen Jahren geschrieben – nicht vor einer Woche, und es ist doch nicht länger her.

Er zieht die Lade weiter heraus, zu sehen, ob er noch was fände.

Noch einige Päckchen liegen da, alle mit blauen Seidenbändern umwunden, und unwillkürlich lächelt er traurig. Da sind Briefe von ihrer Schwester, die in Paris lebt – er hat sie immer gleich mit ihr lesen müssen; da sind auch Briefe ihrer Mutter mit dieser eigentümlich männlichen Schrift, über die er sich stets gewundert hat. Auch Briefe mit Schriftzügen liegen da, die er nicht gleich erkennt; er löst das Seiden band und sieht nach der Unterschrift – sie kommen von einer ihrer Freundinnen, einer, die heute auch dagewesen ist, sehr blaß, sehr verweint. – Und ganz hinten liegt noch ein Päckchen, das er herausnimmt wie die anderen und betrachtet. – Was für eine Schrift? Eine unbekannte. – Nein, keine unbekannte ... Es ist Hugos Schrift. Und das erste Wort, das Richard liest, noch bevor das blaue Seiden band herabgerissen ist, macht ihn für einen Augenblick erstarren ... Mit großen Augen schaut er um sich, ob denn im Zimmer noch alles ist, wie es gewesen, und schaut dann auf die Decke hinauf, und dann wieder auf die Briefe, die stumm vor ihm liegen und ihm doch in der nächsten Minute alles sagen sollen, was das erste Wort ahnen ließ ... Er will das Band entfernen – es ist ihm, als wehrte es sich, die Hände zittern ihm, und er reißt es endlich gewaltsam auseinander. Dann steht er auf. Er nimmt das Päckchen in beide Hände und geht zum Klavier hin, auf dessen glänzend schwarzen Deckel das Licht von den sieben Kerzen des Armleuchters fällt. Und mit beiden Händen auf das Klavier gestützt, liest er sie, die vielen kurzen Briefe mit der kleinen verschnörkelten Schrift, einen nach dem andern, nach jedem begierig, als wenn er der erste wäre. Und alle liest er sie, bis zum letzten, der aus jenem Orte an der Nordsee gekommen ist – vor ein paar Tagen. Er wirft ihn zu den übrigen und wühlt unter ihnen allen, als suche er noch etwas, als könne irgend was zwischen diesen Blättern aufflattern, das er noch nicht entdeckt, irgend etwas, das den Inhalt aller dieser Briefe zunichte machen und die Wahrheit, die ihm plötzlich geworden, zum Irrtume wandeln könnte ... Und wie endlich seine Hände innehalten, ist ihm, als wäre es nach einem ungeheueren Lärm mit einem Male ganz still geworden ... Noch hat er die Erinnerung aller jener Geräusche: wie die zierlichen [232] Gerätschaften auf dem Schreibtisch klangen ... wie die Lade knarrte ... wie das Schloß klappte ... wie das Papier knitterte und rauschte ... den Ton seiner hastigen Schritte ... sein rasches, stöhnendes Atmen – nun aber ist kein Laut mehr im Gemach. Und er staunt nur, wie er das mit einem Schlage so völlig begreift, obwohl er doch nie daran gedacht. Er möchte es lieber so wenig verstehen wie den Tod; er sehnt sich nach dem bebenden heißen Schmerz, wie ihn das Unfaßliche bringt, und hat doch nur die Empfindung einer unsäglichen Klarheit, die in all seine Sinne zu strömen scheint, so daß er die Dinge im Zimmer mit schärferen Linien sieht als früher und die tiefe Stille zu hören meint, die um ihn ist. Und langsam geht er zum Diwan hin, setzt sich nieder und sinnt ...

Was ist denn geschehen?

Es hat sich wieder einmal zugetragen, was alle Tage geschieht, und er ist einer von denen gewesen, über die Manche lachen. Und er wird ja auch gewiß –, morgen oder in wenigen Stunden schon – wird er all das Furchtbare empfinden, das jeder Mensch in solchen Fällen empfinden muß ... er ahnt es ja, wie sie über ihn kommen wird, die namenlose Wut, daß dieses Weib zu früh für seine Rache gestorben; und wenn der andere wiederkehrt, so wird er ihn mit diesen Händen niederschlagen wie einen Hund. Ah, wie sehnt er sich nach diesen wilden und ehrlichen Gefühlen – und wie wohler wird ihm dann sein als jetzt, da die Gedanken sich stumpf und schwer durch seine Seele schleppen ...

Jetzt weiß er nur, daß er plötzlich alles verloren hat, daß er sein Leben ganz von vorne beginnen muß wie ein Kind; denn er kann ja von seinen Erinnerungen keine mehr brauchen. Er müßte jeder erst die Maske herunterreißen, mit der sie ihn genarrt. Denn er hat nichts gesehen, gar nichts, hat geglaubt und vertraut, und der beste Freund, wie in der Komödie, hat ihn betrogen ... Wäre es nur der, gerade der nicht gewesen! Er weiß es ja und hat es ja selbst erfahren, daß es Wallungen des Blutes gibt, die ihre Wellen kaum bis in die Seele treiben, und es ist ihm, als wenn er der Toten alles verzeihen könnte, was sie wieder rasch vergessen hätte, irgend wen, den er nicht gekannt, irgendeinen, der ihm wenigstens nichts bedeutet hätte – nur diesen nicht, den er so lieb gehabt wie keinen anderen Menschen und mit dem ihn ja mehr verbindet, als ihn je mit seinem eigenen Weib verbunden, die ihm niemals auf den dunkleren Pfaden seines Geistes gefolgt ist; die ihm Lust und Behagen, aber nie die tiefe Freude des [233] Verstehens gegeben. Und hat er es denn nicht immer gewußt, daß die Frauen leere und verlogene Geschöpfe sind, und ist es ihm denn nie in den Sinn gekommen, daß sein Weib ein Weib ist, wie alle anderen, leer, verlogen und mit der Lust, zu verführen? Und hat er denn nie gedacht, daß sein Freund den Weibern gegenüber, so hoch er sonst gestanden sein mag, ein Mann ist wie andere Männer und dem Rausch eines Augenblicks erliegen konnte? Und verraten es nicht manche scheuen Worte dieser glühenden und zitternden Briefe, daß er anfangs mit sich gekämpft, daß er versucht hat, sich loszureißen, daß er endlich dieses Weib angebetet und daß er gelitten hat? ... Unheimlich ist es ihm beinahe, wie ihm alles das so klar wird, als stünde ein Fremder da, ihm's zu erzählen. Und er kann nicht rasen, so sehr er sich danach sehnt; er versteht es einfach, wie er es eben immer bei anderen verstanden hat. Und wie er nun daran denkt, daß seine Frau da draußen liegt, auf dem stillen Friedhof, da weiß er auch, daß er sie nie wird hassen können und daß aller kindische Zorn, selbst wenn er noch über die weißen Mauern hinflattern könnte, doch auf dem Grabe selbst mit lahmen Flügeln hinsinken würde. Und er erkennt, wie manches Wort, das sich kümmerlich als Phrase fristet, in einem grellen Augenblicke seine ewige Wahrheit zu erkennen gibt, denn plötzlich geht ihm der tiefe Sinn eines Wortes auf, das ihm früher schal geklungen: Der Tod versöhnt. Und er weiß es: wenn er jetzt mit einem Male jenem anderen gegenüberstände, er würde nicht nach gewaltigen und strafenden Worten suchen, die ihm wie eine lächerliche Wichtigtuerei irdischer Kleinlichkeit der Hoheit des Todes gegenüber erschienen – nein, er würde ihm ruhig sagen: Geh, ich hasse dich nicht.

Er kann ihn nicht hassen, er sieht zu klar. So tief kann er in andere Seelen schauen, daß es ihn beinahe befremdet. Es ist, als wäre es gar nicht mehr sein Erlebnis – er fühlt es als einen zufälligen Umstand, daß diese Geschichte gerade ihm begegnet ist. Er kann eigentlich nur eines nicht verstehen: daß er es nicht immer, nicht gleich von Anfang an gewußt und – begriffen hat. Es war alles so einfach, so selbstverständlich, und aus denselben Gründen kommend wie in tausend anderen Fällen. Er erinnert sich seiner Frau, wie er sie im ersten, zweiten Jahre seiner Ehe gekannt, dieses zärtlichen, beinahe wilden Geschöpfes, das ihm damals mehr eine Geliebte gewesen ist als eine Gattin. Und hat er denn wirklich geglaubt, daß dieses blühende und verlangende Wesen, weil überihn die gedankenlose Müdigkeit der Ehe kam – [234] eine andere geworden ist? Hat er diese Flammen für plötzlich erloschen gehalten, weil er sich nicht mehr nach ihnen sehnte? Und daß es gerade – Jener war, der ihr gefiel, war das etwa verwunderlich? Wie oft, wenn er seinem jüngeren Freunde gegenübersaß, der trotz seiner dreißig Jahre noch die Frische und Weichheit des Jünglings in den Zügen und in der Stimme hatte – wie oft ist es ihm da durch den Sinn gefahren: Der muß den Weibern wohl gefallen können ... Und nun erinnert er sich auch, wie im vorigen Jahre gerade damals, als ... es begonnen haben mußte, wie Hugo damals eine ganze Zeit hindurch ihn seltener besuchen kam als sonst ... Und er, der richtige Ehemann, hat es ihm damals gesagt: Warum kommst du denn nicht mehr zu uns? Und hat ihn selbst manchmal aus dem Büro abgeholt, hat ihn mit herausgenommen aufs Land, und wenn er fort wollte, hat er selbst ihn zurückgehalten mit freundschaftlich scheltenden Worten. Und niemals hat er was bemerkt, nie das geringste geahnt. Hat er denn die Blicke der beiden nicht gesehen, die sich feucht und heiß begegneten? Hat er das Beben ihrer Stimmen nicht belauscht, wenn sie zueinander redeten? Hat er das bange Schweigen nicht zu deuten gewußt, das zuweilen über ihnen war, wenn sie in den Alleen des Gartens hin und her spazierten? Und hat er denn nicht bemerkt, wie Hugo oft zerstreut, launisch und traurig gewesen ist – seit jenen Sommertagen des vorigen Jahres, in denen ... es begonnen hat? Ja, das hat er bemerkt, und hat sich auch wohl zuweilen gedacht: Es sind Weibergeschichten, die ihn quälen – und sich gefreut, wenn er den Freund in ernste Gespräche ziehen und über diese kleinlichen Leiden erheben konnte ... Und jetzt, wie er dieses ganze vergangene Jahr rasch an sich vorüber gleiten läßt, merkt er nicht mit einem Mal, daß die frühere Heiterkeit des Freundes nie wieder ganz zurückgekommen ist, daß er sich nur allmählich daran gewöhnt hatte, wie an alles, was allmählich kommt und nicht mehr schwindet? ...

Und ein seltsames Gefühl quillt in seiner Seele empor, das er sich anfangs kaum zu begreifen traut, eine tiefe Milde – ein großes Mitleid für diesen Mann, über den eine elende Leidenschaft wie ein Schicksal hereingebrochen ist; der in diesem Augenblick vielleicht, nein, gewiß, mehr leidet als er; für diesen Mann, dem ja ein Weib gestorben, die er geliebt hat, und der vor einen Freund treten soll, den er betrogen.

Und er kann ihn nicht hassen; denn er hat ihn noch lieb. Er weiß ja, daß es anders wäre, wenn – sie noch lebte. Da wäre auch [235] diese Schuld etwas, das vonihrem Dasein und Lächeln den Schein des Wichtigen liehe. Nun aber verschlingt dieses unerbittliche Zuendesein alles, was an jenem erbärmlichen Abenteuer bedeutungsvoll erscheinen wollte.

In die tiefe Stille des Gemachs zieht ein leises Beben ... Schritte auf der Treppe. – Er lauscht atemlos; er hört das Schlagen seines Pulses.

Draußen geht die Tür.

Einen Augenblick ist ihm, als stürze alles wieder hin, was er in seiner Seele aufgebaut; aber im nächsten steht es wieder fest. – Und er weiß, was er ihm sagen wird, wenn er hereintritt: Ich hab' es verstanden – bleib!

Eine Stimme draußen, die Stimme des Freundes.

Und plötzlich fährt ihm durch den Kopf, daß dieser Mann jetzt, ein Ahnungsloser, da hereintreten wird, daß er selbst es ihm erst wird sagen müssen ...

Und er möchte sich vom Diwan erheben, die Tür verschließen – denn er fühlt, daß er keine Silbe wird sprechen können. Und er kann sich ja nicht einmal bewegen, er ist wie erstarrt. Er wird ihm nichts, kein Wort wird er ihm heute sagen, morgen erst ... morgen ...

Es flüstert draußen. Richard kann die leise Frage verstehen: »Ist er allein?«

Er wird ihm nichts, kein Wort wird er ihm heute sagen; morgen erst – oder später ...

Die Tür öffnet sich, der Freund ist da. Er ist sehr blaß und bleibt eine Weile stehen, als müßte er sich sammeln, dann eilt er auf Richard zu und setzt sich neben ihn auf den Diwan, nimmt seine beiden Hände, drückt sie fest, – will sprechen, doch versagt ihm die Stimme.

Richard sieht ihn starr an, läßt ihm seine Hände. So sitzen sie eine ganze Weile stumm da.

Mein armer Freund, sagt endlich Hugo ganz leise.

Richard nickt nur mit dem Kopf, er kann nicht reden. Wenn er ein Wort herausbrächte, könnte er ihm doch nur sagen: Ich weiß es ...

Nach ein paar Sekunden beginnt Hugo von neuem: Ich wollte schon heute früh da sein. Aber ich habe dein Telegramm erst spät abends gefunden, als ich nach Hause kam.

Ich dachte es, erwidert Richard und wundert sich selbst, wie laut und ruhig er spricht. Er schaut dem andern tief in die [236] Augen ... Und plötzlich fällt ihm ein, daß dort auf dem Klavier – die Briefe liegen. Hugo braucht nur aufzustehen, ein paar Schritte zu machen – und sieht sie ... und weiß alles. Unwillkürlich faßt Richard die Hände des Freundes – das darf noch nicht sein; er ist es, der vor der Entdeckung zittert.

Und wieder beginnt Hugo zu sprechen. Mit leisen, zarten Worten, in denen er es vermeidet, den Namen der Toten auszusprechen, fragt er nach ihrer Krankheit, nach ihrem Sterben. Und Richard antwortet. Er wundert sich anfangs, daß er das kann; daß er die widerlichen und gewöhnlichen Worte für all das Traurige der letzten Tage findet. Und ab und zu streift sein Blick das Gesicht des Freundes, der blaß, mit zuckenden Lippen lauscht.

Wie Richard innehält, schüttelt der andere den Kopf, als hätte er Unbegreifliches, Unmögliches vernommen. Dann sagt er: Es war mir furchtbar, heute nicht bei dir sein zu können. Das war wie ein Verhängnis.

Richard sieht ihn fragend an.

Gerade an jenem Tag ... in derselben Stunde waren wir auf dem Meer.

Ja, ja ...

Es gibt keine Ahnungen! Wir sind gesegelt, und der Wind war gut, und wir waren so lustig ... Entsetzlich, entsetzlich.

Richard schweigt.

Du wirst doch aber jetzt nicht hier bleiben, nicht wahr?

Richard schaut auf. Warum?

Nein, nein, du darfst nicht.

Wohin soll ich denn gehn? ... Ich denke, du bleibst jetzt bei mir? ... Und eine Angst überfällt ihn, daß Hugo wieder weggehen könnte, ohne zu wissen, was geschehen.

Nein, erwiderte der Freund, ich nehme dich mit, du fährst mit mir weg.

Ich mit dir?

Ja ... Und das sagt er mit einem milden Lächeln.

Wohin willst du denn?

Zurück! ...

Wieder an die Nordsee?

Ja, und mit dir. Es wird dir wohltun. Ich lasse dich ja gar nicht hier, nein! ... Und er zieht ihn wie zu einer Umarmung an sich ... Du mußt zu uns! ...

Zu uns? ...

Ja.

[237] Was bedeutet das »zu uns«? Bist du nicht allein?

Hugo lächelt verlegen: Gewiß bin ich allein ...

Du sagst »uns« ...

Hugo zögert eine Weile. Ich wollte es dir nicht gleich mitteilen, sagt er dann.

Was? ...

Das Leben ist so sonderbar – ich habe mich nämlich verlobt ...

Richard schaut ihn starr an ...

Darum meint' ich: »Zu uns« ... Darum geh' ich auch wieder an die Nordsee zurück, und du sollst mit mir fahren. – Ja? Und er sieht ihm mit hellen Augen ins Gesicht.

Richard lächelt. Gefährliches Klima an der Nordsee.

Wieso?

So rasch, so rasch! ... Und er schüttelt den Kopf.

Nein, mein Lieber, erwidert der andere, nicht eben rasch. Es ist eigentlich eine alte Geschichte.

Richard lächelt noch immer. Wie? ... eine alte Geschichte?

Ja.

Du kennst deine Braut von früher her? ...

Ja, seit diesem Winter.

Und hast sie lieb? ...

Seit ich sie kenne, erwidert Hugo und blickt vor sich hin, als kämen ihm schöne Erinnerungen.

Da steht Richard plötzlich auf, mit einer so heftigen Bewegung, daß Hugo zusammenfährt und zu ihm aufschaut. Und da sieht er, wie zwei große fremde Augen auf ihm ruhen, und sieht ein blasses, zuckendes Gesicht über sich, das er kaum zu kennen glaubt. Und wie er angstvoll sich erhebt, hört er, wie von einer fremden, fernen Stimme, kurze Worte zwischen den Zähnen hervorgepreßt: »Ich weiß es.« Und er fühlt sich an beiden Händen gepackt und zum Klavier hingezerrt, daß der Armleuchter auf der Säule zittert. Und dann läßt Richard seine Arme los und fährt mit beiden Händen unter die Briefe, die auf dem schwarzen Deckel liegen, und wühlt, und läßt sie hin und her fliegen ...

Schurke! schreit er, und wirft ihm die Blätter ins Gesicht.

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TextGrid Repository (2012). Schnitzler, Arthur. Erzählungen. Der Witwer. Der Witwer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D9CB-5