Arthur Schnitzler
Das weite Land
Tragikomödie in fünf Akten

Personen

[217] Personen.

    • Friedrich Hofreiter, Fabrikant.

    • Genia, seine Frau.

    • Anna Meinhold-Aigner, Schauspielerin.

    • Otto, ihr Sohn, Marine-Fähnrich.

    • Doktor von Aigner, der geschiedene Gatte der Frau Meinhold.

    • Frau Wahl.

    • Gustav,
    • Erna, ihre Kinder.

    • Natter, Bankier.

    • Adele, seine Frau.

    • Doktor Franz Mauer, Arzt.

    • Demeter Stanzides, Oberleutnant.

    • Paul Kreindl.

    • Albertus Rhon, Schriftsteller.

    • Marie, seine Frau.

    • Serknitz.

    • Doktor Meyer.

    • [217] Erster,
    • Zweiter, Tourist.

    • Rosenstock, Portier im Hotel am Völser Weiber.

    • Eine Engländerin.

    • Eine Französin.

    • Eine Spanierin.

    • Penn, Führer.

    • Die zwei Kinder der Frau Natter.

    • Die Miss.

    • Stubenmädchen bei Hofreiter.

    • Touristen, Hotelgäste, Kellner, Boys usw.

1. Akt

Erster Akt

Veranda der Villa Hofreiter und Garten.
Rechts die Veranda, geräumig, mit Balustrade, die auch beiderseits längs der sechs in den Vorgarten führenden Stufen weiterläuft. Doppeltür von der Veranda zum Gartensalon steht offen. – Vor der Veranda Rasenplatz mit Rosensträuchern in Blüte. – Ein grüner, ziemlich hoher Holzzaun schließt den Garten ein, der Zaun biegt rückwärts im rechten Winkel um und läuft hinter der Villa weiter. Fußweg außen längs des Zauns. Fahrstraße parallel dem Fußweg. Innen, längs des Zauns Buschwerk. Die Gartentüre, links, Mitte, der Veranda gegenüber, steht offen. Rings um den Rasenplatz Bänke: eine vorn dem Zuschauerraum gegenüber, eine der Gartentür gegenüber, eine dritte jenseits des Rasens, also mit der Lehne zum Zuschauerraum. Auf der Veranda ein länglicher Tisch mit sechs Sesseln. In der Ecke hinten hinten Oleanderbaum. Die Veranda ist durch eine rotweiß gestreifte Markise überdeckt. Eine elektrische Lampe auf dem Tisch. Ein Wandarm rechts von der Türe. Auf dem Tisch Teegeschirr. Später Nachmittag, nach einem Gewitterregen. Wiesen und Blätter feucht. Lange Schatten der Gitterstäbe fallen in den Garten.

FRAU GENIA
31 Jahre, einfach-vornehm gekleidet; dunkelgrauer Rock, violette Seidenbluse, sitzt am Tisch der Veranda auf dem Sessel an der Schmalseite, die dem Publikum zugekehrt ist.

Sie stellt eben die Teetasse hin, sieht einen Augenblick vor sich hin, steht auf, rückt den Sessel fort, sieht nach hinten über die Balustrade in den Garten, dann geht sie über die Stufen in den Garten hinab, die Hände auf dem Rücken, wie es ihre Gewohnheit ist.

DAS STUBENMÄDCHEN
kommt aus dem Gartensalon auf die Veranda mit einer großen Tasse, will das Teegeschirr abräumen, zögert.
GENIA
noch auf den Stufen, wendet sich nach ihr um.
Servieren Sie nur ab. Der gnädige Herr wird wohl in der Stadt Tee getrunken haben.

Nach einer kleinen Pause, in der sie den Himmel betrachtet.

Übrigens könnten Sie aufziehen.
STUBENMÄDCHEN
während sie das Servierbrett hinstellt und die Markise hochzieht.
Soll ich der gnädigen Frau nicht was zum Umnehmen bringen? Es ist kühl geworden.
GENIA.

Ja. Den weißen Mantel. Sie riecht an einer Rose am Strauch, dann setzt sie ihren Spazierrgang fort, längs der Veranda nach hinten.

STUBENMÄDCHEN
hat die Markise ganz aufgezogen, räumt ab und entfernt sich mit dem Teegeschirr.
[219]
FRAU WAHL UND ERNA
kommen auf der Straße von rückwärts, längs des Zauns und nähern sich dem Eingang.
GENIA
weiter gehend längs der Wiese, nähert sich gleichfalls dem Eingang.
FRAU WAHL UND ERNA
grüßen schon von draußen durch Kopfnicken.
GENIA
winkt leicht mit der Hand, beschleunigt ihre Schritte ein wenig, und trifft am Tor mit beiden zusammen.
FRAU WAHL UND ERNA
beide in dunkeln englischen Kostümen mit Jacke bleiben stehn.
FRAU WAHL
schlank, beweglich, etwa 45 Jahre, von einer gewissen lässigen, aber sehr bewußten Vornehmheit.

Sie näselt ein wenig, spricht ein nicht ganz echtes aristokratisch-wienerisch. Blick und Redeweise bald zu müde, bald zu lebhaft. Während sie spricht, schaut sie meist an ihrem Partner vorbei und erst, wenn sie zu Ende geredet hat, betrachtet sie ihr Gegenüber freundlich-forschend, wie um sich beruhigt zu finden.

ERNA
größer als ihre Mutter, schlank, bestimmt und gradheraus bis zur Unbedenklichkeit, ohne vorlaut zu wirken.
Fester, unbefangener Blick.
GENIA
reicht beiden freundlich die Hand.
Wohlbehalten aus der Stadt zurück?
FRAU WAHL.
Wie Sie sehn, liebe Frau Genia. Es war ein fürchterliches Wetter.
GENIA.
Bei uns heraußen auch bis vor einer Stunde.
FRAU WAHL.

Sie haben schon recht gehabt, daß Sie lieber zu Hause geblieben sind. Auf dem Friedhof ist man geradezu versunken. Ich bin wirklich nur Erna zu Liebe mit hinausgefahren. Es hätte wohl genügt, der Zeremonie in der Kirche beizuwohnen – meiner Ansicht nach! Ich bitte Sie, wem erweist man am Ende einen Dienst damit ...

ERNA.

Da hat die Mama freilich recht ... Zum Leben haben wir ihn doch nicht wieder erweckt, den armen Korsakow.

GENIA.
Die Beteiligung war wohl sehr groß?
FRAU WAHL.

Enorm. In der Kirche hat man sich kaum rühren können. Und auch auf dem Friedhofwaren sicher ein paar hundert Menschen – trotz des miserablen Wetters.

GENIA.
Viele Bekannte?
FRAU WAHL.
Ja, natürlich ... Natters kamen in ihrem neuen scharlachroten Automobil angefahren.
GENIA
lächelnd.
Von dem hab' ich schon gehört.
FRAU WAHL.

Es hat einen phantastischen Eindruck gemacht, an der Friedhofsmauer ... Nicht g'rad phantastisch, aber sonderbar hat's ausgeschaut ...

DAS STUBENMÄDCHEN
kommt mit dem weißen Mantel, den sie Genia [220] umgibt.
Küss' die Hand, gnädige Frau, küss' die Hand, Fräulein.
FRAU WAHL
leutselig.
Grüß' Sie Gott, liebe Kathi.
ERNA.
Guten Abend.

Stubenmädchen ab.
GENIA.
Haben Sie meinen Mann nicht gesprochen, draußen auf dem Friedhof?
FRAU WAHL.
Ja ... flüchtig.
ERNA.
Er war sehr erschüttert.
GENIA.
Das denk' ich mir.
ERNA.

Ich hab' mich eigentlich gewundert. Er gehört doch sonst nicht zu den Menschen, denen leicht etwas nahe geht.

GENIA
lächelnd.
Wie genau Sie ihn kennen.
ERNA.

Nun, sollt' ich nicht? Sehr einfach. Schon als siebenjähriges Mädel hab' ich ihn geliebt. Lang vor Ihnen, gnädige Frau.

GENIA.
Schon wieder »gnädige Frau«.

Erna beinahe zärtlich Frau Genia. Küßt ihr die Hand.
GENIA.
Er hat übrigens Alexei Korsakow sehr gerne gehabt.
ERNA.
Offenbar. – Früher dacht' ich nämlich, daß Korsakow einfach – sein Klavierspieler gewesen ist.
GENIA.
Wie meinen Sie das ... sein Klavierspieler?
ERNA.

Nun, so wie der Doktor Mauer sein guter Freund ist, Herr Natter sein Bankier, ich seine Tennispartnerin, der Oberleutnant Stanzides ... sein Sekundant.

GENIA.
Oh ...
ERNA.

Wenn's einmal zu so was käme, mein' ich ... Er nimmt sich von jedem, was ihm gerade konveniert, und um das, was sonst in dem Menschen stecken mag, kümmert er sich kaum.

FRAU WAHL.

Wissen Sie, Frau Genia, wie mein seliger Mann solche Bemerkungen von Erna zu nennen pflegte? Ihre Produktionen auf dem psychologischen Seil.

OTTO VON AIGNER
kommt herbei, grüßt beim Tor.
Guten Abend.
GENIA.
Guten Abend, Herr von Aigner. Wollen Sie nicht ein wenig zu uns hereinkommen?
OTTO.

Wenn's gestattet ist. Er tritt in den Garten. Er ist einfünfundzwanzigjähriger junger Mann, von zurückhaltendem und liebenswürdigem Benehmen; trägt die Uniform eines Marinefähnrichs. Begrüßung.

GENIA.
Wie geht's Ihrer Frau Mama? Ich hatte eigentlich gehofft, sie heute Nachmittag bei mir zu sehen.
OTTO.
Ist sie nicht gestern bei Ihnen gewesen, gnädige Frau?
[221]
GENIA.
Ja. Und vorgestern auch. Lächelnd. Sie hat mich eben ein wenig verwöhnt.
OTTO.

Meine Mutter ist schon vor zwei Stunden in die Stadt gefahren. Sie hat heute abend zu spielen.Zu Frau Wahl und Erna. Die Damen waren heute wohl auch in der Stadt? Ich sah Sie in der Früh' während dieses schrecklichen Wolkenbruchs zur Bahn fahren.

FRAU WAHL.
Wir haben dem Begräbnis von Korsakow beigewohnt.
OTTO.
Richtig, das war ja heute. Weiß man eigentlich, warum er sich umgebracht hat?
ERNA.
Nein.
FRAU WAHL.
Irgendwer heut' auf dem Friedhof meinte, es sei ein Selbstmord aus gekränktem Ehrgeiz gewesen.
GENIA.
Wie –? ... Korsakow ...?
FRAU WAHL.

Ja. Weil er nämlich immer zu hören bekam, er könne nur Chopin spielen und Schumann – aber keinen Beethoven und keinen Bach ... Ich hab' es übrigens auch gefunden.

OTTO.

Daß einen so was in den Tod treiben sollte, ist doch etwas unwahrscheinlich. Hat er keinen Abschiedsbrief hinterlassen?

ERNA.
Korsakow hat nicht zu den Menschen gehört, die Abschiedsbriefe schreiben.
FRAU WAHL.
Woher weißt du das wieder so bestimmt?
ERNA.

Dazu war er viel zu klug und zu geschmackvoll. Er hat eben gewußt, was das heißt: tot sein. Und daher war es ihm ganz egal, was die Leute am nächsten Morgen für ein Gesicht dazu machen werden.

OTTO.

Irgendwo hab' ich gelesen, daß er am Abend vor seinem Selbstmord noch mit einigen Freunden soupiert haben soll ... in bester Laune ...

FRAU WAHL.
Ja, das steht dann immer in der Zeitung.
GENIA.

Diesmal stimmt es zufällig. – Das weiß ich nämlich, weil mein Mann auch unter diesen Freunden gewesen ist, die mit ihm soupiert haben.

FRAU WAHL.
Ah ...
GENIA
beiläufig.

Er hat ja manchmal bis spät abends in der Stadt zu tun, und dann soupiert er immer im Imperial, – an einer Art Stammtisch – noch aus seinen Junggesellentagen. In der letzten Zeit war auch Korsakow oft dabei, der im Hotel gewohnt hat. Und wie mir Friedrich selbst erzählte, – es war [222] ihm an diesem letzten Abend nicht das geringste anzumerken. Sie haben nachher im Kaffeehaus noch miteinander Billard gespielt.

FRAU WAHL.
Wie, Ihr Mann und Korsakow?
GENIA.

Ja. Sie haben sogar gewettet – und Friedrich hat verloren. Am nächsten Morgen, vom Bureau aus, hat er den Diener ins Hotel geschickt mit den verwetteten Zigarren ... und – wissen Sie denn das nicht? Der Diener war es ja, der die Sache entdeckt hat.

FRAU WAHL.
Wieso denn?
GENIA.

Nun, er klopfte ein paarmal, niemand rief herein, endlich öffnete er die Türe, um die Zigarren zu deponieren und ...

ERNA.
Da lag Korsakow tot ...
GENIA.
Ja. Tot auf dem Diwan, den Revolver noch in der Hand ...

Pause.
FRAU WAHL.

Ihr Diener muß nicht wenig erschrocken sein. – Was hat er denn mit den Zigarren gemacht? Hat er sie dort stehn lassen?

ERNA.
Die Mama ist für historische Genauigkeit.
GENIA.
Verzeihen Sie, Frau von Wahl, aber darnach zu fragen hab' ich wirklich total vergessen.

Geräusch von einem Auto.
FRAU WAHL.
Es hält hier.
GENIA.
Das ist Friedrich ...
ERNA.
Da könnte man gleich eine Tennispartie verabreden. Ist der Platz schon instand gesetzt?
OTTO.
Natürlich. Ich hab' gestern mit Herrn Hofreiter zwei Stunden gesingelt.
FRAU WAHL.
Er war in der Stimmung, Tennis zu spielen?
ERNA.

Warum soll er denn nicht in der Stimmung gewesen sein, Mama? Daran kann ich nun gar nichts finden. Auf meinem Grab dürfte man Cake walk tanzen oder sogar Machich ... oh ja ... Es wäre mir eher ein sympathischer Gedanke.

DOKTOR MAUER
kommt.

Fünfunddreißig Jahre, groß, blonder Vollbart, Zwicker, Narbe von einem Säbelhieb auf der Stirne, dunkler Sakkoanzug, nicht elegant, aber durchaus nicht nachlässig gekleidet. Guten Abend, meine Herrschaften.

GENIA.
Sie sind's, Doktor?
MAUER
alle sehr schnell begrüßend.

Küss' die Hand, gnädige Frau. Zu Frau Wahl. Guten Abend, Fräulein Erna, guten Abend Herr Fähnrich: Zu Genia. Der Friedrich läßt sich schön empfehlen,[223] Frau Genia, er hat noch in der Fabrik zu tun. Ich bin mit ihm bis hin gefahren, und er war so freundlich, mir das Auto zu überlassen für ein paar Krankenvisiten, die ich da heraußen zu machen habe. Er kommt später mit der Bahn.

FRAU WAHL.

Wir müssen uns leider empfehlen. Zu Mauer. Hoffentlich sehn wir Sie auch bald einmal bei uns, Herr Doktor. Trotzdem wir uns, gottlob, eines ungestörten Wohlbefindens erfreuen.

ERNA.
Sie müssen aber bald kommen, Doktor, im Juli reisen wir nämlich nach Tirol, an den Völser Weiher.
MAUER.
Ah!
FRAU WAHL.

Wir haben dort Rendezvous mit dem Gustl. Zu Otto. Das ist nämlich mein Sohn, der reist das ganze Jahr herum. Na, nicht grad das ganze – aber recht viel ... das kann man schon sagen ... Voriges Jahr war er in Indien.

ERNA.
Und ich möcht' wieder einmal kraxeln.
MAUER.

So? Da trifft man sich vielleicht auf irgend einer Felsenspitze. Mich zieht es nämlich auch in die Dolomiten. Zu Genia. Und ich will nicht verhehlen, gnädige Frau, daß ich große Lust hab', mir heuer den Friedrich dazu auszuborgen.

GENIA.
Zu Dolomitentouren –? ... Was sagt er denn dazu ...?
MAUER.
Er scheint nicht gänzlich abgeneigt.
FRAU WAHL.

Ich hab' gemeint, daß der Friedrich seit ... seit ... dem Unglück von damals das Bergsteigen ganz aufgegeben hat.

MAUER.
Aber doch nicht für immer.
GENIA
zu Otto, erklärend.

Ein Freund meines Mannes, ein gewisser Doktor Bernhaupt, ist nämlich direkt von seiner Seite weg von einem Felsen abgestürzt und auf der Stelle tot geblieben. Es sind üb rigens schon sieben Jahre her.

OTTO
zu Genia.
So? An dieser Partie hat Ihr Herr Gemahl teilgenommen?
ERNA
nachdenklich.
Man muß sagen ... er hat nicht viel Glück mit seinen Freunden.
GENIA
zu Otto.
Sie wissen von dieser Geschichte?
OTTO.

Sie blieb mir begreiflicherweise im Gedächtnis, da sie gerade auf dem Felsen passiert ist, den – mein Vater vor mehr als zwanzig Jahren als allererster bestiegen hat.

GENIA.
Richtig, der Aignerturm war es.
MAUER.

Der Aignerturm ... Man hat wirklich schon vergessen, daß der nach einem lebendigen Menschen so heißt.


Kleine Pause.
[224]
ERNA.

Das muß doch eigentlich ein sonderbares Gefühl für Sie sein, Herr Fähnrich, daß da in den Dolomiten ein Felsen steht, mit dem Sie gewissermaßen verwandt sind.

OTTO.

Das ist gar nicht so sonderbar, Fräulein. Beide sind mir nämlich ziemlich fremd, der Felsen und mein Vater. Ich war ein Bub' von vier oder fünf Jahren, als sich meine Eltern von einander trennten ...

FRAU WAHL.
Und seither haben Sie Ihren Herrn Papa nicht mehr gesehn?
OTTO.
Es fügte sich so ...

Pause.
ERNA
zum Gehen auffordernd.
Also Mama ... ich denke, es wäre Zeit.
FRAU WAHL.

Ja, wahrhaftig! – Wann wir überhaupt mit dem Auspacken fertig werden sollen! Zu Mauer. Wir sind nämlich erst am Sonntag herausgezogen. Wir führen noch nicht einmal Menage ... Wir müssen in diesem entsetzlichen Kurpark unsere Mahlzeit nehmen.

ERNA.
Aber Mama, es schmeckt dir doch sehr gut.
FRAU WAHL.

Aber so viel Leut' sind immer dort, besonders abends ... Also auf Wiedersehn, Frau Genia ... Gehn S' ein Stückerl mit uns, Herr Fähnrich?

OTTO.
Wenn's erlaubt ist ... Adieu, gnädige Frau, bitte mich dem Herrn Gemahl zu empfehlen.
ERNA.
Auf Wiedersehn, Frau Genia. Adieu, Herr Doktor.

Verabschiedung. Frau Wahl, Erna, Otto ab.
Genia, Mauer.
MAUER
nach einer kleinen Pause, hat Erna nachgesehen.
Das ist eine, der man beinahe die Mutter verzeihn könnte.
GENIA.

Auch nicht die schlimmste, die gute Frau Wahl ... Ich find' sie eher amüsant. Wenn's also nur daran liegt! Während sie der Veranda zugeht. Ich hab's Ihnen neulich schon gesagt, überlegen Sie sich die Sache, Doktor.

MAUER
halb im Scherz.
Ich glaube, ich bin ihr nicht elegant genug. Folgt ihr allmählich.
GENIA
ein paar Stufen hinauf.
Ich hab' übrigens gar nicht gewußt, daß Friedrich auch nachher noch im Büro zu tun hätte.
MAUER.
Ja, das sollt' ich Ihnen noch ausrichten, Frau Genia, er muß eine wichtige Depesche abwarten.
[225]
GENIA.
Amerika?
MAUER.
Ja. Wegen der Patentangelegenheit mit seinen neu erfundenen Glühlichtern.
GENIA.
Es ist nur eine Verbesserung, Doktor! Setzt sich.
MAUER
stehend an die Balustrade gelehnt.

Wie immer, jedenfalls scheint die Sache gewaltige Dimensionen anzunehmen. Ich höre, er will zubauen zu der Fabrik; den Häuserblock daneben ankaufen ...

GENIA.
Ja ...
MAUER.

Und nebstbei hat sich wieder das Konsortium gemeldet, das ihm so nachläuft, wegen Ankaufs der Fabrik. Morgen früh hat er eine Konferenz mit seinem Bankier.

GENIA.
Mit Natter.
MAUER.
Natürlich, mit Natter.
GENIA.
Sie waren auch beim Begräbnis, die Natters, hör' ich.
MAUER.
Ja.
GENIA.
Das scharlachrote Automobil soll großes Aufsehen gemacht haben.
MAUER.
Ja, was ist da zu machen? Es ist nun einmal scharlachrot.

Kleine Pause.
Genia sieht Mauer schwach lächelnd an.
MAUER.
Übrigens – die Geschichte ist aus.
GENIA
weiter ruhig lächelnd.
Wissen Sie das ganz bestimmt?
MAUER.
Ich kann Sie versichern, Genia.
GENIA.
Hat Ihnen Friedrich etwa ...
MAUER.

Nein, von dergleichen spricht er ja nie. Aber wozu hätte man seinen diagnostischen Blick. Es ist sogar schon geraume Zeit her, daß es aus ist. Ich versichere Sie, Frau Genia, Friedrich ist tatsächlich immer im Büro oder in der Fabrik. Sie kennen ihn ja! Seine neuen Glühlichter müssen die Welt erobern, sonst macht ihm die ganze Sache keinen Spaß. Frau Natter existiert also nicht mehr für ihn.

GENIA.
Es ist immerhin beruhigend, so etwas zu hören.
MAUER.

Zur Unruhe war doch wahrhaftig nie ein Anlaß. Adelchen ist im Grunde die harmloseste Person von der Welt. Wenn man nicht zufällig wüßte –

GENIA.

Ja, sie! Von ihr aus drohte keinerlei Gefahr. Aber Herrn Natter halt' ich bei all seiner äußern Liebenswürdigkeit und Gutmütigkeit für einen brutalen Menschen. Sogar für etwas tückisch. Und manchmal hab' ich schon Angst gehabt um Friedrich. Das können Sie sich ja denken. Angst, wie um [226] einen Sohn, – einen ziemlich erwachsenen, der sich in zweifelhafte Abenteuer einläßt.

MAUER
sitzt ihr gegenüber.

Es ist wirklich interessant, wie Sie die Dinge auffassen. Man möchte fast glauben, daß Frauen, die zu Müttern geboren sind, gelegentlich die Gabe besitzen – es auch für ihre Gatten zu sein.

GENIA.

Oder zu werden, lieber Doktor. Es war mir ja nicht immer so mütterlich zumute. In früherer Zeit war ich mehr als einmal nahe daran, auf und davon zu gehen.

MAUER.
Oh! –
GENIA.
Mit meinem Buben natürlich. Den Percy hätt' ich ihm nicht gelassen, da können Sie ruhig sein!
MAUER.
Sie wollten einmal von Friedrich fortgehen ...?
GENIA.

Ja, das wollt' ich ... Und ein anderes Mal hab' ich mich sogar umbringen wollen. Das ist freilich schon lange her. Vielleicht kommt's mir jetzt auch nur so vor, daß ich das – –

MAUER.
Gewiß ... Das hätten Sie nie und nimmer getan ... Schon um ihm keine Ungelegenheiten zu verursachen.
GENIA.

Halten Sie mich für so rücksichtsvoll? Das ist ein Irrtum, Doktor ... Es gab sogar eine Zeit, in der ich das Rücksichtsloseste vorhatte, was eine Frau einem Mann und besonders einem eiteln antun kann. Mich ... zu rächen.

MAUER.
Zu rächen?
GENIA.
Sagen wir zu revanchieren.
MAUER.

Ach so ... Das wäre jedenfalls das einfachste gewesen. Und hätte vielleicht auch sonst manches für sich gehabt. Na, vielleicht kommt's noch. Es kann auch Ihnen einmal die Stunde des Schicksals schlagen, Frau Genia.

GENIA.
Und es müßte am Ende gar nicht die Stunde des Schicksals sein.
MAUER
ernst.

Bei Ihnen schon. Das ist es eben. Eigentlich schade. Mein Gerechtigkeitsgefühl wehrt sich schon lange entschieden dagegen, daß gerade mein alter Freund Friedrich – nicht bezahlen sollte.

GENIA.

Und wer sagt Ihnen, lieber Doktor, daß Friedrich nicht bezahlt? Muß es denn gerade in gleicher Münze sein? Er bezahlt schon – in seiner Weise! Es geht ihm wirklich nicht so gut, wie Sie glauben. Auch nicht so gut, wie er selber manchmal glaubt. Zuweilen tut er mir geradezu leid. Wirklich, Doktor, manchmal denk' ich, es ist ein Dämon, der ihn so treibt.

[227]
MAUER.

Ein Dämon –? Na ja! ... aber es gibt Frauen, die ihren Herrn Gemahl samt dem Dämon zum Teufel jagten in einem solchen Fall ... Auf einen fragenden Blick Genias. wie es seinerzeit zum Beispiel die Mutter des Herrn Fähnrich mit ihrem doch auch ziemlich dämonischen Gemahl gemacht hat.

GENIA.

Vielleicht hat sie ihren Gatten mehr geliebt als ich den meinen. Vielleicht ist es überhaupt die höhere Art von Liebe, die nicht verzeiht.

FRIEDRICH HOFREITER
kommt.

Schlank, nicht sehr groß, schmales, feines Gesicht, dunkler Schnurrbart, englisch gestutzt; blondes grau meliertes, rechts gescheiteltes Haar. Er trägt Zwicker ohne Band, den er manchmal abnimmt; geht etwas nach vorn gebeugt. Kleine, ein wenig zusammengekniffene Augen. Liebenswürdige weiche, beinahe weichliche Art zu reden, die manchmal ins ironisch Bissige umschlägt. Seine Bewegungen sind geschmeidig, aber verraten Energie. Er ist mit Eleganz, ganz ohne Geckenhaftigkeit gekleidet; dunkler Sakkoanzug, darüber offener schwarzer Überzieher mit breitem Atlasrevers, runder schwarzer Hut, schlanker Regenschirm mit einfachem Griff. – Noch am Tor. Guten Abend. Im Hereinkommen. Servus Mauer. Mit einem eigentümlichen Lachen, das zu seinen Gewohnheiten gehört und das oft klingt, als wenn er sich über den Angeredeten lustig machen wollte.

MAUER.
Grüß' dich Gott, Friedrich. Steht auf.
FRIEDRICH
über die Stiege auf die Veranda, küßt Genia flüchtig auf die Stirn.
Guten Abend, Genia. Wie geht's? Gibt's was Neues? Briefe?
GENIA.
Gar nichts. Die Abendpost ist übrigens noch nicht da.
FRIEDRICH
sieht auf die Uhr.

Dreiviertel sieben. Den Briefträger sollt' man auch pensionieren. Von Jahr zu Jahr wird er langweiliger. Das läßt sich direkt beobachten. Vor drei Jahren war die Abendpost immer um halb sieben da. Jetzt selten vor halb acht. Wenn das so weitergeht, wird er nächstens um Mitternacht angetanzt kommen.

GENIA.
Willst du vielleicht noch einen Tee?
FRIEDRICH.

Dank' schön ... Ich hab' im Büro einen getrunken. Gut war er nicht. Also hat dir der Mauer ausgerichtet ...?

GENIA.
Ja ... Ist die Depesche aus Amerika gekommen?
FRIEDRICH.
Natürlich ... Und es ist so gut wie sicher, daß ich gegen Herbst hinübermuß.
GENIA.
Du wolltest ja einen Herrn aus dem Büro hinüberschicken.
FRIEDRICH.

Ah – ich muß ja doch alles selber machen. Willst [228] mitfahren, Genia? Am 29. August von Liverpool, oder am 2. September von Hamburg. Norddeutscher Lloyd. Vom King James kenn' ich den Kapitän.

GENIA.
Wir sprechen uns noch bis dahin, nicht?
FRIEDRICH.
Ich hoffe das Vergnügen zu haben. Er setzt sich.
GENIA.
Es wird dir warm sein im Überzieher.
FRIEDRICH.

Nein, ich find' es eher kühl. Ein Wetter war das. Hat's auch hier so gegossen? Auf dem Friedhof war ein Quatsch! – Womit ich nicht die Reden gemeint habe. Sei froh, daß du nicht ... Wirklich, das sollt' endlich abgeschafft werden! Was die wieder zusammengeplauscht haben. –Pause. Na, Mauer, wie bist du denn herausgekommen? Nichts passiert? Wie seid's ihr denn gefahren? Zehn Kilometer die Stund', was? Auf mehr laßt du dich doch nicht ein.

MAUER.

Du kannst mich lang frotzeln. Ich trau' keinem Chauffeur. Ich bin ganz wie du, ich verlass' mich nur auf mich selber. In den letzten acht Tagen hab' ich wieder drei Verletzungen nach Automobilunfällen in Behandlung gekriegt.

FRIEDRICH.
Richtig, wie geht's denn dem Stanzides?
MAUER.

Für einen doppelt gebrochenen Arm gut genug. Ich will jetzt eben noch zu ihm hinschaun. Sehr ungeduldig ist er halt. Und er sollte eigentlich froh sein, daß er sich nicht das Genick gebrochen hat.

FRIEDRICH.

Ich auch, das vergißt du. Ich bin nämlich auch zehn Meter weit auf die Straße hinaus geflogen. – Aber es ist schon wahr, die Versicherungsgesellschaften werden bald keine Bekannten von mir annehmen wollen.

MAUER.

Du hast wirklich kein Glück mit deinen Freunden, wie das vor einer halben Stunde die Erna Wahl behauptet hat.

FRIEDRICH.
So, die Erna ist dagewesen?
GENIA.
Ja, mit der Mutter. Sind eben in Begleitung des Herrn Fähnrich fortgegangen.
FRIEDRICH.
So, der Otto war auch da? ... Zu Mauer. Hast ihn gesehn?
MAUER.
Ja.
FRIEDRICH.
Wie g'fallt er dir denn eigentlich?
MAUER
etwas befremdet von der Frage.
Ein ganz netter Bursch.
FRIEDRICH.
Merkwürdig wie er an seinen Vater er innert! Dieselbe Couleur in Grau. Findest du nicht?
MAUER.
Möglich ... Der Doktor von Aigner war übrigens nie mein Fall. Zu viel Poseur für meinen Geschmack.
[229]
FRIEDRICH.

Ah, er hat nur Stil. Das verwechselt man oft. Auch schon lang her, daß ich ihn zuletzt gesehn hab'. Vor sieben Jahren. In Bozen. Erinnerst du dich, Genia?

GENIA.
Freilich. Zu Mauer. Mir hat er sehr gut gefallen.
FRIEDRICH.

Ja, er hat damals eine gute Zeit gehabt. Jedenfalls war er besser aufgelegt wie ich. Zu Mauer. Weißt, das war nämlich grad ein paar Tag', nachdem die Geschichte mit dem Bernhaupt passiert ist. Na und der Aigner ist damals gerade von einer Wahlreise zurückgekommen; sehr montiert; irgendwo war er angeschossen worden, in einem südtirolischen Nest, von Irredentisten, darauf hat er natürlich von den Deutschen riesige Ovationen bekommen ... nebstbei hat er jeden Tag zwei bis drei Reden zu halten gehabt ...

MAUER.

Reden! Ja! Das war immer sein Fall. Schon damals als Präsident des Touristenklubs, wie ich im Ausschuß war. Na, und gar jetzt als Abgeordneter ... Da hat er reichlich Gelegenheit!

FRIEDRICH.

Ah, er redt nicht nur; – er tut auch was fürs Land. Die neuen Dolomitenstraßen wären ohne ihn nie gebaut worden. Und diese Riesenhotels und die Automobilverbindungen, eigentlich alles sein Werk! Und nebstbei hat er in jedem Tiroler Dorf mindestens ein Kind. Auch außerhalb seines Wahlkreises.

MAUER.
Also gut, sagen wir, er hat Stil. Aber ich muß jetzt gehn. Der Stanzides wird mich schon erwarten. –
FRIEDRICH.

Grüß' ihn schon von mir. Ich schau' vielleicht morgen zu ihm hinauf. Zum Nachtmahl kommst du doch wieder her?

MAUER.
Ich weiß nicht.
FRIEDRICH.
Aber selbstverständlich.
MAUER
zögernd.

Danke. Ich fahr' doch lieber mit dem zehn Uhr zwanzig Zug hinein. Ich hab' morgen früh im Spital zu tun.

FRIEDRICH.
Bist du abergläubisch, Mauer?
MAUER.
Warum denn?
FRIEDRICH.

Na, ich hab' gedacht, vielleicht willst du nicht im Fremdenzimmer schlafen, weil der arme Korsakow vor acht Tagen oben übernachtet hat. Aber ich glaube nicht, daß die Toten schon in der ersten Nacht Ausgang kriegen zum Erscheinen.

MAUER.
Wenn man dich so reden hört ...!
FRIEDRICH
plötzlich ernst.

Kinder, es ist doch scheußlich! Vor acht [230] Tagen hat er da oben geschlafen, und am Abend vorher hat er noch Klavier gespielt da drin – Chopin – das cis moll-Nocturno – und was von Schumann –, und da auf der Veranda sind wir gesessen, der Otto war auch dabei und das Natternpaar, – wer von uns hätt sich das träumen lassen! – Wenn man nur eine Ahnung hätte, warum? Na, Genia, – hat er dir auch nichts g'sagt?

GENIA.
Mir? ...
FRIEDRICH
ohne Genias Haltung Bedeutung beizulegen.

Plötzliche Sinnesverwirrung, sagen die Leute. Aber es soll uns erst einer sagen, was das heißt: Plötzliche Sinnesverwirrung. Na, Mauer, möchtest du mir's vielleicht erklären?

MAUER.

Erstens bin ich kein Psychiater – und zweitens wunder' ich mich nie, wenn sich wer umbringt. Wir sind alle so oft nahe daran. Ich hab' mich einmal umbringen wollen, mit vierzehn Jahren, weil mich ein Professor ins Klassenbuch geschrieben hat.

FRIEDRICH.

In einem solchen Falle hätt' ich lieber den Professor umgebracht ... Nur wäre ich dann ein Massenmörder geworden.

MAUER.

Ich bitt' dich, ein Künstler! Die sind alle mehr oder weniger anormal. Schon daß sie sich so wichtig nehmen. Der Ehrgeiz an und für sich ist ja eine Geistesstörung. Dieses Spekulieren auf die Unsterblichkeit! Und die reproduzierenden Künstler, die haben's gar schlecht. Sie mögen so groß sein, wie sie wollen, es bleibt doch nichts übrig als der Name und nichts von dem, was sie geleistet haben. Ich glaub' schon, daß einen das verrückt machen kann.

FRIEDRICH.

Aber was redst denn! Du hast ihn ja nicht gekannt. Ihr habt ihn ja alle nicht gekannt. Ehrgeiz ... Der? – Dazu war er ja viel zu gescheit! Zu philosophisch könnt' man sagen. Die Klavierspielerei war ihm in Wirklichkeit Nebensache. Habt ihr denn eine Ahnung, für was alles der sich interessiert hat? Den Kant und den Schopenhauer und den Nietzsche hat er im kleinen Finger gehabt, und den Marx und den Proudhon gleichfalls. Es war ja fabelhaft. Ich weiß schon, wen ich mir aussuch' zum Konversieren ... Und dabei täglich sechs Stunden üben! Wo er nur die Zeit zu dem allen hergenommen hat? – Und siebenundzwanzig Jahre! Und bringt sich um. Herr Gott, was hat so ein Kerl noch alles vor sich gehabt. Jung und berühmt, ganz hübsch obendrein – und schießt sich tot. [231] Wenn das ein alter Esel tut, dem das Leben nichts mehr bieten kann ... Aber grad die ... Na. – Und noch am Abend vorher sitzt man zusammen mit so einem Menschen, beim Nachtmahl – und spielt Billard mit ihm ... Was ist denn, Genia? Was ist denn da zum Lachen?

GENIA.

Ich hab' die Geschichte eben der Frau Wahl erzählt. Sie hat sich sofort erkundigt, wo die Zigarren hingekommen sind, die du ihm am nächsten Tag geschickt hast.

FRIEDRICH.

Ha! ... Die ist doch unbezahlbar.Nimmt eine Zigarrentasche herauf offeriert dem Mauer. Du bist ja nicht abergläubisch. Ich rauch' grad auch eine. Der Franz hat sie mir natürlich zurückgebracht.

MAUER.
Danke. Es ist eigentlich schad' drum vor dem Nachtmahl. Nimmt sie.
FRIEDRICH
gibt ihm Feuer.
STUBENMÄDCHEN
kommt mit Briefen.
GENIA
nimmt sie ihr am der Hand.
Eine Karte von Percy.
FRIEDRICH.
Dear mother. An dich. Schon wieder nur eine Karte. So ein fauler Strick.
MAUER.
Was soll denn ein dreizehnjähriger Bursch Briefe schreiben. Und gar noch englisch.
FRIEDRICH.
Kann er grad so gut wie deutsch.
MAUER.

Also auf Wiedersehn. In einer halben Stunde bin ich wieder da. Die Zigarre hat übrigens wirklich keine Luft. Das ist kein Aberglaube. Bleib nur. Ab.


Friedrich, Genia.
FRIEDRICH.

Ja, es war ganz gut, daß du nicht hineingefahren bist, Genia. Die Reden ... und das Wetter dazu. Er sieht die Briefschaften und die Zeitungen flüchtig durch. Übrigens, wie man den Sarg in die Erde gesenkt hat, ist plötzlich die Sonne hervorgekommen. – Pause. Ist heut nicht Donnerstag? Heut hätt' er ja bei uns nachtmahlen sollen. Das muß man dem Mauer auch noch sagen ... Geh, laß mich doch die Karte von Percy anschaun.

GENIA
reicht sie ihm.
In vier Wochen ist er da.
FRIEDRICH
lesend.

Ja. Also die beste griechische Aufgabe. Na, auch nicht schlecht. Vielleicht wird er Philoiog oder Archäolog. Hast du übrigens gestern im Daily Telegraph den Artikel über die neuen Ausgrabungen in Kreta gelesen?

[232]
GENIA.
Nein.
FRIEDRICH.
Sehr interessant. Da müßte man eigentlich auch einmal hin. Ja. Pause.
GENIA.
Was du da früher von Amerika gesagt hast, – ist das dein Ernst?
FRIEDRICH.

Natürlich. Na, hättest du keine Lust, Genia? In New York selbst hätt' ich nicht lang zu tun. Aber dafür auch in Chicago und in Washington, und St. Louis ... Und ich finde, es wäre unverantwortlich, wenn man bei dieser Gelegenheit nicht weiter rutschte; – hinüber bis nach San Francisco. Erinnerst du dich, wie uns der arme Korsakow von seiner Tournee durch Kalifornien erzählt hat? Es muß schon prachtvoll sein.

GENIA.
Das wäre ja dann eine Reise von ein paar Monaten.
FRIEDRICH.

Ja, wenn bis dahin hier alles in Gang gebracht ist, insbesondere der Neubau, dann könnte man die Reise wohl bis zum Frühjahr ausdehnen ... Na, überleg's dir.

GENIA
schüttelt langsam den Kopf.
FRIEDRICH.

Hast Angst vor der Seefahrt? Ich bitt' dich, jetzt auf den neuen Schiffen! Und übrigens ist soeben wieder ein vollkommen sicheres Mittel gegen Seekrankheit erfunden worden. Vibrationselektrizität.

GENIA.

Ich glaub' nicht, daß ich mich entschließen werde. Trotz der Vibrationselektrizität. Aber eine andere Idee hätt' ich ...

FRIEDRICH.
Und zwar?
GENIA.
Während du drüben bist, möcht' ich in England bleiben – beim Percy.
FRIEDRICH
sieht sie von der Seite an.
Hm. Du hättest nicht viel von ihm.
GENIA.

Er könnte ja während der Zeit als Externist weiterstudieren. Grad so wie die Buben von meiner Schwester, der Mary. Und ich könnte mit ihm zusammenwohnen.

FRIEDRICH.
Was sind denn das ... wie kommst du denn so plötzlich auf diese Idee ...?
GENIA.

Nicht so plötzlich. Ich habe erst neulich mit dir davon gesprochen. – Erinner' dich nur. Und da du doch entschlossen scheinst, ihn noch ein paar Jahre drüben zu lassen ...

FRIEDRICH.

Natürlich. Du siehst ja, wie famos er sich drüben entwickelt. Es wäre nichts als verdammter Egoismus, wenn wir ihn jetzt, mitten in seiner Ausbildung, wieder zurückholten, in unsern Kontinent, wo sie einen systematisch zu [233] allerlei Sentimentalitäten und Brutalitäten erziehen, statt zum Golfspielen und Rudern.

GENIA.
Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre ...
FRIEDRICH.

Ja, das muß man schon mit in den Kauf nehmen. Meinst du vielleicht, ich sehn' mich nicht nach ihm? Aber Sehnsucht ist meiner Ansicht nach ein sehr gesundes Element in der Ökonomie der Seele. Sehnsucht hat die Eigenschaft, menschliche Beziehungen zu verbessern. Ich finde überhaupt, man sollte die menschlichen Beziehungen mehr auf Sehnsucht einrichten als auf Gewohnheit. Übrigens können wir ihn ja jedenfalls hinüberbegleiten nach England, und du kannst dich dann noch immer entscheiden, ob du mit mir fahren oder beim Buben bleiben willst über den Winter.

GENIA.
Es wäre mir lieber, wenn du die Sache schon heute als meinen festen Entschluß ansähst.
FRIEDRICH.
Als deinen Entschluß?
GENIA.

Ich hätte ja noch allerlei zu besorgen, eh' ich nach England fahre. Von heute auf morgen läßt sich doch so eine Übersiedlung nicht bewerkstelligen.

FRIEDRICH.
Übersiedlung?
GENIA.
Nenn's, wie du willst.
FRIEDRICH.
Ja, was hast du denn, Genia? Du bist ja geradezu sonderbar?
GENIA.

Was ist denn daran sonderbar? Daß eine Mutter ... daß man seinen einzigen Sohn ... Wenn er um ein paar Jahre älter ist, hab' ich ja überhaupt nichts mehr von ihm. Im Sommer zwei Monate, und zu Weihnachten acht Tage und zu Ostern, – das ist doch zu wenig. Ich hab' lang genug gekämpft, – ich kann einfach nicht mehr.

FRIEDRICH.

Du, Genia, man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, als wenn's dir nicht so sehr darauf ankäme, einige Zeit bei deinem Sohn zu verbringen, als von deinem ... als von hier abzufahren.

GENIA.
Sonderlich vermissen wirst du mich wohl nicht, denk' ich ... Aber wozu darüber reden. Sie steht auf.
FRIEDRICH.
Was ist denn?
GENIA.
Nichts. In den Garten hinunter geh' ich.Über die Stufen hinab.
FRIEDRICH
sieht ihr nach.
GENIA
langsam längs der Wiese nach rückwärts.
FRIEDRICH
von der Veranda herunter, noch im Überzieher, den Hut hat [234] er oben gelassen, bleibt an einem Rosenstrauch stehen.

Riecht daran. Die haben heuer überhaupt keinen Duft mehr. Ich weiß nicht, was das ist. Jedes Jahr schaun sie üppiger aus, aber das Duften haben sie sich ganz abgewöhnt.

GENIA
langsam nach rückwärts, Hände auf dem Rücken.
FRIEDRICH
nach einer Pause.
Du, – Genia.
GENIA.
Was?
FRIEDRICH.
Na, wenn du bei mir angelangt bist.
GENIA
langsam näher.
Da bin ich.
FRIEDRICH.

Du, Genia, sag' einmal. Faßt sie ins Auge, ganz ruhig. Solltest du vielleicht doch wissen, warum sich der Korsakow erschossen hat?

GENIA
ruhig.
Was soll denn diese Frage bedeuten? Du weißt, ich bin nicht weniger erstaunt gewesen als du.
FRIEDRICH.

Man hatte allerdings den Eindruck. Also sag', warum willst du denn fort von mir ... so von heut auf morgen?

GENIA.

Ich will nicht fort von dir. Zu Percy will ich. Und nicht von heut auf morgen, sondern im Herbst. Mit Percy zusammen.

FRIEDRICH.
Ja, sonst wär' es wohl zu auffallend.
GENIA.
Was wäre auffallend?
FRIEDRICH.
Da säh's ja beinahe aus wie eine Flucht.
GENIA.

Flucht? Flucht vor dir! Das hab' ich wohl nicht notwendig. Wir sind ja weit genug voneinander, auch daheim! – Pause.

FRIEDRICH.
Du Genia! – Er ist ja tot und begraben, – der Herr Alexei Korsakow ...
GENIA.
Was willst du denn immer von ihm?
FRIEDRICH.

Ruhig, mein Kind, nur ruhig! ... Ich will damit nur sagen, es kann ihm nicht das geringste mehr ... Es würde ihm natürlich auch nichts geschehn, wenn er noch auf der Welt wäre, so wenig wie dir ... Aber du wirst doch zugestehn, diese Auseinandersetzung zwischen uns bekommt ein eigentümliches Cachet ... nein, das ist nicht das richtige Wort ... also ich will nur sagen, daß dieses Gespräch gerade heute stattfindet, daß gerade heute, an dem Tag, da der Herr Korsakow begraben wurde, deine Stimmung so eigentümlich ... Wenn ich auch ein Ehemann bin, Genia, ich bin ja kein Trottel. Also, daß da irgend etwas nicht stimmt, dafür leg' ich meine Hand ins Feuer. Also – was ist gewesen zwischen euch?

[235]
GENIA.
Ich schau' dich nur an.
FRIEDRICH.

Ja, das merk' ich. Aber du wirst zugeben, eine Antwort ist das nicht. Du solltest mich auch nicht mißverstehn, Genia. Es muß ja nichts Wirkliches vorgefallen sein, zwischen dir und Korsakow. Es war vielleicht nur ein Flirt. Ja. Denn, wenn es etwas andres gewesen wäre, hätte er sich nicht zu erschießen brauchen. Außer Lauernd. es ist doch mehr gewesen – und du hast ihn – – – in Gnaden entlassen. Er spricht immer ganz ruhig, nimmt sie aber jetzt beim Arm.

GENIA
beinahe lächelnd.

Eine Eifersuchtsszene?! – Aber! ... Du solltest wirklich was für deine Nerven tun, Friedrich. Ich weiß nicht ... aber ich kann ja nichts dafür, daß es zwischen dir und Adele Natter zu Ende ist, – und daß noch keine Nachfolgerin da zu sein scheint.

FRIEDRICH.

Ah, du bist ja sehr gut informiert. Na, ich will vorläufig nicht untersuchen, von welcher Seite dir diese Wissenschaft kommt, – übrigens kann ich wirklich nichts dafür, daß du mich nie direkt um was gefragt hast; – ich hätte dir nichts abgeleugnet. Keinesfalls hätte ich dir erwidert, du sollst etwas für deine Nerven tun. Das ist überhaupt ... das sieht dir nicht einmal ähnlich. Ich versteh' dich eigentlich gar nicht. Du solltest mich doch besser kennen. Ich weiß wahrhaftig nicht, warum du dastehst wie eine Bildsäule, statt mir vernünftig zu antworten ... Mir scheint, du traust mir nicht, Genia? ... Du denkst dir, man kann bei ihm nicht wissen? ... Aber ich versichere dich, Genia – halt das nicht für Hinterlist – ich würde es vollkommen begreifen. Du hättest ja schließlich nur Recht gehabt – ob's nun Alexei war oder ... na, über den Geschmack kann man ja nicht streiten. Aber bekanntlich richtet sich in einem solchen Fall die Gattin selten nach dem Geschmack des Gemahls.

GENIA.

Warum verleugnest du ihn plötzlich? Du bist ja doch sein Freund gewesen. Heut beim Begräbnis sollst du ja sogar tief ergriffen gewesen sein.

FRIEDRICH.
Hat dir das auch der Mauer erzählt?
GENIA.

Das zufällig die Erna Wahl. Sie hätte dir nämlich gar nicht zugetraut, daß dir irgend etwas auf der Welt so nahe gehn kann.

FRIEDRICH.

Ah, Erna, die Menschenkennerin. Natürlich war ich ergriffen. Es tut mir so leid um ihn, wie's mir selten um wen leid getan hat. Und es tät' mir nicht weniger leid um ihn, [236] wenn ich mit absoluter Sicherheit wüßte, daß du – seine Geliebte gewesen bist. Du kannst dir nämlich gar nicht vorstellen, wie – unwesentlich und nebensächlich gewisse Dinge für einen werden, wenn man grad vom Friedhof kommt. Das sag' ich nicht, um dich zu beruhigen, sondern weil's wahr ist. – Also gib endlich eine Antwort. Früher geb' ich ja keine Ruh'. Kannst auch lügen, aber antworten mußt du. Ich werd' schon wissen, ob's wahr ist. Also ... ja oder nein? –

GENIA.
Er war nicht mein Geliebter. Er war leider nicht mein Geliebter. Ist dir das genug?
FRIEDRICH.

Ja, das ist mir genug. Denn jetzt weiß ich, daß er's war. Du hast dich nämlich selbst verraten! Merkst nicht? – Leider war er's nicht, hast du gesagt. Und da du ihn geliebt hast, warst du natürlich seine Geliebte. Was hätte dich daran hindern sollen? Und da du jetzt – Schluß gemacht hast, hat er sich eben umgebracht. Sehr einfach. Und warum du Schluß gemacht hast, das ist noch einfacher. Ich werd's dir sagen, warum: Weil solche Dinge eben ein Ende haben müssen. Besonders, wenn es sich um so eine Geschichte handelt mit einem Menschen, der um ein paar Jahre jünger ist – und sich meistens auf Konzertreisen befindet. Und dann, der Percy kommt bald zurück, und da mag dich denn ein gewisses, wie soll ich sagen, Reinlichkeitsgefühl ... Na ... Eigentlich sehr anständig. Somit wäre alles ganz klar, bis auf die Idee mit der englischen Reise. Nein, eigentlich versteh' ich auch das ganz gut. Schließlich, wenn die Sache auch zu Ende war für dich, – dieser Abschluß ... Ja, sogar, wenn du ihn nicht sehr leidenschaftlich geliebt hast – oder hättest ...

GENIA.
Bemüh' dich nicht weiter. Da lies. Sie zieht einen Brief aus ihrem Gürtel.
FRIEDRICH.
Was soll ich ...?
GENIA.
Lies.
FRIEDRICH.

Was ist ... Ein Brief? Von ihm ein Brief? An dich ein Brief von ihm? – Ah, behalt ihn. Ich will ihn nicht. Das säh' ja aus ... Ich danke. Wenn es nicht deine Absicht war, mir diesen Brief zu zeigen, – so behalt ihn dir freundlichst!

GENIA.
Lies!
FRIEDRICH.

Warum soll ich ihn denn lesen? Du kannst mir ja sagen, was drin steht. Ist er nicht vielleicht russisch? Und die kleine Schrift. Da verdirbt man sich ja die Augen.

GENIA.
Lies.
[237]
FRIEDRICH
auf die Veranda.

Er dreht das Licht auf, Wandarm stellt sich darunter setzt den Zwicker auf, beginnt für sich zu lesen.

GENIA
folgt ihm langsam, bleibt auf der untersten Stufe stehn.
FRIEDRICH
lesend.

»Leben Sie wohl, Genia.« Liest für sich weiter. Blickt auf zu ihr, erstaunt. Was? Du hast keine Ahnung gehabt, daß er ... Wann hast du denn den Brief bekommen?

GENIA.
Eine Stunde, bevor du mir die Nachricht gebracht hast, daß er tot ist.
FRIEDRICH.

Du hast's also schon gewußt, wie ich nach Haus gekommen bin? Man ist doch ... Also auf die Gefahr hin, daß du mich für einen Idioten hältst, ich hab' dir nichts angemerkt, nicht das geringste ... Liest weiter für sich, dann schaut er wieder wie überrascht auf, dann liest er halblaut. »Sie hatten ja vielleicht recht, daß Sie sich meinem vermeßnen Wunsch versagten. Wir waren beide nicht geschaffen in Lüge ... Ich vielleicht; Sie nicht ... trotz allem ...« Trotz allem ... Du hast dich wohl sehr beklagt über mich?

GENIA
fragender Blick.
FRIEDRICH
lesend.

»Daß Sie Ihn« – mit großem I, sehr schmeichelhaft – »daß Sie Ihn nicht verlassen wollen, trotz allem, das versteh' ich in dieser Stunde. Sie lieben ihn, Genia, Sie lieben Ihren Gatten noch immer, das ist die Lösung des Geheimnisses. Und vielleicht ist das, was ich mit dem törichten Wort« ... das kann ich absolut nicht lesen ...

GENIA.
»Was ich mit dem törichten Wort Treue bezeichne« ...
FRIEDRICH.

Ah, du kennst ihn ja auswendig. »Was ich mit dem törichten Wort Treue bezeichne, nichts als die Hoffnung, daß er Ihnen doch einmal zurückkehrt.«

GENIA.
Seine Auffassung. Du weißt, daß ich nichts hoffe – und nichts wünsche.
FRIEDRICH
sieht sie an; dann.

»Als ich Sie gestern sprach, war ich schon entschlossen« Gestern? ... War er denn am Sonntag da? Ja, richtig, ihr seid in der Allee hinten auf und ab gegangen miteinander ... ja ... Liest. »Als ich Sie gestern sprach, war ich schon fest entschlossen, alles weitere von Ihrem ja oder nein abhängig zu machen. Ich habe Ihnen ja nichts davon gesagt, denn ich fürchtete, wenn Sie geahnt hätten, daß es mir vollkommen unmöglich ist, ohne Sie weiterzuleben ...« Etwas ausführlich schreibt er, der Herr Alexei Iwanowitsch ... Musik vom Kurpark her, gedämpft. »Ich wollte mein Glück nicht einem Zwang, nicht einer Art von Erpressung verdanken. [238] Darum« ... Hättest du ja gesagt, wenn du gewußt hättest, daß es um Leben und Tod geht?

GENIA.

Wenn ich gewußt hätte ...? Wie kann man sich so was ... Ich hätt's ja nicht geglaubt. Das hätt' ich ja doch nicht geglaubt.

FRIEDRICH.
Ich will dich anders fragen.
PAUL KREINDL
elegant, jung, angestrengt fesch, erscheint am Tor.
Guten Abend! Küss' die Hand, gnädige Frau.
FRIEDRICH.
Wer ist denn? ... Ah, Paul, Sie! Herunter.
PAUL.

Bitte. Er tritt näher. Ich will nicht stören. Ich komme nämlich als Abgesandter aus dem Kurpark; von Frau Wahl und Fräulein Erna und Herrn Fähnrich von Aigner und dem Herrn Oberleutnant Stanzides ...

FRIEDRICH.
Der geht schon aus?
PAUL.
Ob die Herrschaften nicht auch zur Musik kommen möchten?
GENIA.
Wir danken sehr, aber wir haben einen Gast zum Nachtmahl, den Doktor Mauer.
PAUL.
So bringen Sie ihn doch mit, gnä' Frau!
FRIEDRICH.
Sie bleiben ja gewiß alle lang im Park.
PAUL.
Bis ausgelöscht wird.
FRIEDRICH.
Also schön, – vielleicht kommen wir nach ... ohne Verpflichtung.
GENIA.
Wir lassen jedenfalls bestens danken.
PAUL.

O bitte. Man würde allerseits sehr beglückt sein. Küss' die Hand, gnädige Frau, adieu, Herr Hofreiter, bitte tausendmal um Entschuldigung, wenn ich gestört habe. Geht.


Friedrich und Genia im Garten.
Pause.
FRIEDRICH.

Ich will dich anders fragen. Ich meine: Wenn du ihn von den Toten wieder aufwecken könntest, – dadurch, daß du dich bereit erklärtest ... seine Geliebte zu werden.

GENIA.
Ich weiß nicht.
FRIEDRICH.

Du, vergißt, was du früher gesagt hast. »Er war leider nicht mein Geliebter«. Wenn du selbst es bedauerst, daß du's nicht warst, so kann doch nicht so viel dazu gefehlt haben. Und jetzt zweifelst du daran, daß du seine Geliebte würdest, selbst wenn du ihn damit wieder von den Toten ... Warum gibst du's nicht zu? Er hätte nur noch ein paar Tage Geduld [239] haben müssen, dann wärst du doch ... du hast ihn ja geliebt.

GENIA.
Nicht genug, wie du siehst.
FRIEDRICH.
Du sprichst das aus, als wenn du mir einen Vorwurf ... Ich kann ja nichts dafür.
GENIA.
Nur ich. Ich weiß.
FRIEDRICH.
Und jetzt bereust du ... daß du ... ihn in den Tod getrieben hast?
GENIA.

Es tut mir sehr weh, daß er gestorben ist. Aber zu bereuen, zu bereuen hab' ich doch nichts?! Hätt' er mir gesagt, was er vorhat – hätt' er mir ... Oh, ich hätt' ihn schon zur Vernunft gebracht ...

FRIEDRICH.
Wie denn –?
GENIA.
Ich hätt' ihm das Wort abgenommen ...
FRIEDRICH.

Was denn? Aber red' nicht! Du hättest ihm kein Wort abgenommen; – du wärst einfach seine Geliebte geworden ... selbstverständlich.

GENIA.
Ich glaub' nicht.
FRIEDRICH.
Aber ich bitt' dich!
GENIA.
O, nicht deinetwegen. Nicht einmal wegen Percy.
FRIEDRICH.
Ja, warum?
GENIA.
Um meinetwillen!
FRIEDRICH.
Das versteh' ich nicht.
GENIA.
Ich hätt' nicht können. Weiß Gott warum. Ich hätt' nicht können. Pause.
FRIEDRICH.
Da hast deinen Brief, Genia.
GENIA
nimmt ihn.

Mauer kommt.
MAUER.
Guten Abend, meine Herrschaften. Ich hab' euch hoffentlich nicht zu lange warten lassen.
FRIEDRICH
ihm entgegen.

Servus, Mauer. Na, dem Stanzides scheint's ja schon sehr gut zu gehn. Er sitzt im Kurpark bei der Musik.

MAUER.
Ja, ich hab' ihn selber bis hin begleitet.
FRIEDRICH.
Der Paul Kreindl war g'rad da, wir sollen auch nach dem Nachtmahl hinkommen.
GENIA.
Ich will sehen, ob noch nicht ...
FRIEDRICH.

Du, Genia, ich hätt' eine Idee ... Gehn wir doch gleich hinüber in den Park. Weiß der Teufel, ich hab' so eine Lust auf Musik und viel Leut'. Dir ist's doch egal, Mauer, was?

MAUER.
Mir? Es kommt nur auf deine Frau an.
[240]
GENIA.
Ich will euch nicht stören, aber ich für meine Person möcht' lieber zu Haus bleiben.
FRIEDRICH.
Nein, das hat keinen Sinn. Komm nur mit, Genia, es wird dir auch ganz gut tun.
GENIA.
Ich müßt' mich umkleiden ...
FRIEDRICH.
So kleid' dich halt um, wir warten indes da im Garten.
GENIA.
Liegt dir so viel daran?
FRIEDRICH
zu Mauer.
Was sagst du?! Nervös. Also bleiben wir alle schön zu Haus ... Schluß.
GENIA.
Ich komm' gleich ... Ich setz' nur meinen Hut auf. Ab.

Mauer, Friedrich.
FRIEDRICH
nach einer Pause.
Ja, lieber Mauer, ja, ja ...
MAUER.
Ich begreif' dich eigentlich nicht .... Das muß doch einer Hausfrau unangenehm sein.
FRIEDRICH.

Na, im Kurpark kriegst du auch ganz gut zu essen. Pause. Übrigens – daß du heute hineinfahrst, ist vielleicht doch ganz gut. – Die Chancen für Geistererscheinungen in diesem Haus haben sich nämlich beträchtlich gesteigert.

MAUER.
Was?
FRIEDRICH.

Du verdienst eigentlich mein Vertrauen nicht, weil du alles mögliche ausplauschst, sogar was ich dir nicht einmal erzählt hab' ...

MAUER.
Was heißt das?
FRIEDRICH.
Na, daß die Geschichte mit der Adele Natter aus ist, woher weiß die Genia das?
MAUER.
Du solltest froh sein, daß man einmal auch etwas Vernünftiges von dir erzählen kann.
FRIEDRICH.

Na, ob gerade das so besonders vernünftig war ... Ach Gott, Mauer, das Leben ist schon eine komplizierte Einrichtung! ... Aber interessant ... sehr interessant!

MAUER.
Was hast du denn früher gemeint mit den gesteigerten Chancen für Geistererscheinungen?
FRIEDRICH.

Ja so. – Na, was glaubst du, warum sich der Korsakow umgebracht hat? – Na, rat einmal!! – Aus unglücklicher Liebe – zu meiner Frau. Was, da schaust du?! Aus unglücklicher Liebe! ... Das gibt's! ... Einen Brief hat er ihr hinterlassen. Den hat sie mir zum Lesen gegeben ... Einen sehr merkwürdigen Brief ... gar nicht schlecht geschrieben ... für einen Russen!

[241]
GENIA
kommt mit Hut, Man hört jetzt die Musik wieder deutlicher.

Da bin ich. Also, lieber Doktor, jetzt will ich's Ihnen sagen: Nur Ihretwegen lass' ich unser gutes Nachtmahl im Stich. Die Erna ist nämlich im Kurpark ...

FRIEDRICH.

Ah? Die Erna! Zu Mauer. Ja, das wär' was. Na, Mauerl, nimm dich zusammen. Die gönn' ich nicht jedem. Obwohl sie mich, wie es scheint, für einen herzlosen Schuften hält, und mir nicht einmal zutraut, daß der Tod eines Freundes ...


Sie verlassen alle den Garten und treten auf die Straße.
Vorhang.

2. Akt

Zweiter Akt

Villa Hofreiter; entsprechende Partie des Gartens.
Links die hintere Fassade des Hauses. Türe, die direkt in den Garten führt. Rechts und links von der Türe je zwei Fenster, zum Teil offen. Im ersten Stockwerk ein kleiner Balkon. Mitte Rasen. Weiter rechts ein großer Nußbaum, darunter Bank, Tisch, Sessel. Weiter rückwärts Mitte eine Baumgruppe, durch die der im Hintergrund liegende Tennisplatz zum Teil gedeckt wird. Um den Tennisplatz hohes Drahtgitter. Außerhalb des Tennisgitters, sowohl links als rechts, je eine Bank. Zwei kleine Bänke zu seiten der Haustür unter den Parterrefenstern. – Heißer, sonniger Sommertag.

FRAU GENIA
unter dem Nußbaum im weißen Sommerkleid.
Ein Buch in der Hand, nicht lesend.

Auf dem Tennisplatz ist eine Partie im Gang. Links Friedrich Hofreiter und Adele Natter, rechts Erna Wahl und Paul Kreindl. Die weißen Kostüme schimmern her, doch die Gesichter sind kaum zu erkennen. Zuweilen hört man die Rufe: »fifteen, thirty, fourty, out, deuce, second« usw.
Bald nachdem der Vorhang aufgegangen ist, kommt Otto von Aigner, diesmal in Zivil, Tennisanzug, Panamahut, Rakett in der Hand, hinter dem Hause
hervor und will sich auf den Tennisplatz begeben. Er gewahrt Genia, die seine Schritte gehört hat, und geht auf sie zu. Sie begrüßt ihn mit freundlichem Kopfnicken.
[242]
OTTO.
Guten Tag, gnädige Frau – Sie spielen nicht?
GENIA.
Wie Sie sehen, Herr Fähnrich. In der Gesellschaft komm' ich ja doch nicht auf.

Ein Ball fliegt vor Otto hin, er schleudert ihn zurück.
STIMMEN VOM TENNISPLATZ.
Danke!
OTTO.

Auch nicht lauter Meister ... abgesehen vom Herrn Gemahl natürlich. Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich habe Sie in Ihrer Lektüre gestört ... Will zum Tennisplatz.

GENIA.

Sie stören mich gar nicht. Ich hab' wohl zu lesen versucht, aber eigentlich war ich nah' daran einzuschlummern. Diese Luft ...

OTTO.

Ja, warm ist's wohl. Aber dafür sind's auch schöne Tage! Man kann die heimatlichen Wälder so recht genießen!

GENIA.
Sie haben heut' gewiß schon einen größeren Spaziergang hinter sich?
OTTO.
Ja; ich war in aller Früh' bis zur »Waldandacht«, mit meiner Mutter.
GENIA.
Die muß aber glücklich sein, daß sie Sie endlich wieder in ihrer Nähe hat.
OTTO.

Und ich erst ... Umsomehr als es auf lange Zeit hinaus mein letzter Urlaub ist. Ich bin auf ein Schiff kommandiert, das für drei Jahre nach der Südsee geht.

GENIA
konventionell.
Oh!
OTTO.
Unser Schiff ist vom Kriegsministerium aus einer wissenschaftlichen Expedition attachiert.
GENIA.
Sie beschäftigen sich gewiß in Ihren freien Stunden auch mit allerlei Studien, Herr Fähnrich?
OTTO.
Warum glauben Sie das, gnädige Frau?
GENIA.
Ich kann mir nicht recht denken, daß das militärische Leben an sich Sie völlig befriedigen sollte.
OTTO
lächelnd.

Ich darf mir vielleicht die Bemerkung erlauben, daß wir bei der Marine allerlei zu betreiben haben, was man, ohne Überhebung, als Wissenschaft bezeichnen kann.

GENIA.

Natürlich – daran hab' ich nicht gezweifelt. Ich meinte nur, daß Sie auch außerhalb Ihres Berufes noch ernste Interessen haben dürften.

OTTO.

Es bleibt einem nicht allzuviel Zeit dazu. Auf meiner bevorstehenden Reise hoff' ich ja allerdings in ein Gebiet näheren Einblick zu gewinnen, in dem ich mich bisher einigermaßen dilettantisch umgetan habe ... Die Expedition, der wir uns anschließen, ist nämlich für Tiefseeforschung [243] ausgerüstet; und da ich überdies mit einem der Assistenten befreundet bin ... Oh, da kommt Frau von Wahl.

GENIA
sich erhebend.
Davon müssen Sie mir noch mehr erzählen, Herr Fähnrich ... von diesen Tiefseegeschichten.

Frau Wahl aus dem Haus in den Garten.
FRAU WAHL.

Grüß' Sie Gott, liebe Genia, guten Tag, Herr Fähnrich. Lorgnon ans Auge führend. Die Jugend ist ja schon fleißig bei der Arbeit –?

GENIA.
Wenn Sie den Friedrich auch zur Jugend zählen –
FRAU WAHL.

Den ganz besonders. Na überhaupt die Männer! Möchten Sie glauben, Herr Fähnrich, daß wir ungefähr im selben Alter stehen, der Herr Hofreiter und ich? Wahrhaftig, die Natur hat sich gegen uns Frauen jammervoll benommen. Auf ein Lächeln Genias. Na nett keineswegs. Wer ist denn noch bei der Partie? Adele Natter jedenfalls. Ich habe nämlich das Automobil draußen stehen gesehen, das scharlachrote. Hier auf dem Lande im Grünen macht es sich ja nicht übel. Jedenfalls besser als an einer Friedhofmauer ...

GENIA
matt lächelnd.
Den Eindruck können Sie ja gar nicht vergessen, wie es scheint, Frau von Wahl?
FRAU WAHL.
Es ist ja noch nicht so lang her; vierzehn Tage kaum.

Friedrich und Erna vom Tennisplatz mit Raketts in der Hand. Genia, Frau Wahl.
FRIEDRICH
in seiner lachend boshaften Art.
Küss' die Hand, Mama Wahl. Grüß' Sie Gott, Otto! Was ist denn vierzehn Tage her?
FRAU WAHL.
Daß sie den armen Korsakow begraben haben.
FRIEDRICH.
So ... Ist es schon so lang –? Wie kommt man übrigens auf dieses schwarzgeränderte Thema?
GENIA.
Frau von Wahl hat das Nattersche Automobil draußen stehen sehen – das scharlachrote – wie damals ...
FRIEDRICH.
Ah so ...
ERNA.
Wer spräche sonst an einem so schönen Sommertag von einem toten Klavierspieler.
FRAU WAHL.

Haben Sie je ein so tiefsinniges Mädchen gesehen, meine Herrschaften. Das ist wieder eine ihrer Pirouetten auf [244] dem philosophischen Drahtseil, wie ihr seliger Vater zu sagen pflegte.

FRIEDRICH.
Sie muß nur Obacht geben, daß sie nicht einmal abstürzt, die Erna ...

Frau Adele, Paul Kreindl mit Raketts vom Tennisplatz. Genia, Otto, Frau Wahl, Friedrich, Erna. Begrüßung.
ADELE
hübsch, rundlich, weiß gekleidet, roter Gürtel, roter Schlips.
Was ist denn, spielen wir nicht weiter?
PAUL KREINDL
küßt Frau Wahl die Hand.
FRIEDRICH.
Ihr hättet ja indes singeln können.
ADELE.
Aber ich spiel' ihm ja zu schlecht, diesem Menschen da.
PAUL.

Wieso denn, gnä' Frau? Weinerlich. Mir wird ja bald niemand mehr zu schlecht spielen. Ich spiel' ja wirklich schon wie ein Schwein. O Pardon. Aber es ist wirklich wahr. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was das ist mit mir. Rein, wie wenn ich verhext wär'. Oder ist es vielleicht nur, weil ich ein neues Rakett hab' ... Die Herrschaften entschuldigen – ich geh' geschwind nach Haus und hol' mir mein altes. Empfiehlt sich. Die anderen lachen.

FRIEDRICH.

Warum lachts ihr eigentlich? Er nimmt's wenigstens ernst, der Paul. Darauf kommt's an. Ob es nun Tennis ist oder Schlittschuhlaufen oder Malen oder Leut' kurieren. – Ich find', ein guter Tennisspieler ist ein viel edleres Menschenexemplar als ein mittelmäßiger Dichter oder General. Na, hab' ich nicht recht? – Zu Otto.

ADELE
zu Genia.
Also wann kommt denn eigentlich der Percy zurück, Frau Genia?
FRAU GENIA.
In vierzehn Tagen soll er da sein. Und dann müssen Sie auch einmal Ihre Kinder mit bringen, ja?
ADELE.

Wenn Sie erlauben, gern. Aber ob der große Bub' sich überhaupt noch herablassen wird, mit den Fratzen zu spielen –


Doktor Mauer kommt, zugleich mit ihm Stanzides in Uniform.
Begrüßung.
GENIA
zu Stanzides.
Das ist schön, daß wir Sie auch wieder einmal bei uns sehen.
FRIEDRICH.
Wie geht's dem Arm?
STANZIDES.

Danke der Nachfrage. Soeben hat ihn mein hochverehrter [245] Herr Doktor zum letzten Mal massiert ... Legt Mauer den Arm freundschaftlich um die Schulter. Aber mit dem Tennisspielen ist's noch nichts.

MAUER.
Wird auch wieder werden.
STANZIDES
zu Adele.

Sie auch kampfbereit, gnädige Frau? Soeben habe ich das Vergnügen gehabt, im Park dem Herrn Gemahl zu begegnen.

FRIEDRICH.

No Mauer, was ist denn mit dir, du laßt dich ja überhaupt nicht mehr anschaun. Ich hab' geglaubt, du bist schon über alle Berge.

MAUER.
Ich komm' heut nur her Abschied nehmen. Morgen reise ich ab.
GENIA.
Wohin denn?
MAUER.
Nach Toblach. Von dort aus begeb' ich mich auf eine Paßwanderung. Falzarego – Pordoi –
FRIEDRICH.
Nimmst mich mit, Mauer?
MAUER.
Ja, kannst du denn und willst du?
FRIEDRICH.
Ja – warum sollt' ich denn nicht ...? Morgen fahrst du?
MAUER.
In der Früh', mit dem Schnellzug.
ERNA
zu Mauer.
Und wann werden wir das Vergnügen haben, Sie am Völser Weiher zu begrüßen?
MAUER.
In acht Tagen ungefähr, wenn's erlaubt ist.
FRIEDRICH
ehrlich entrüstet.
Ah ... da geben sich die Herrschaften Rendezvous ...
ERNA.
Ohne Sie um Erlaubnis zu fragen, Friedrich!
FRAU WAHL.

Wir fahren übermorgen – ganz direkt. Während des folgenden stehen Otto mit Genia und Adele abseits. Der Gustl ist schon dort. Übrigens was er mir schreibt! Wissen Sie, wer der Direktor von dem neuen Hotel ist? Der Doktor von Aigner.

FRIEDRICH.
Ah, der Aigner!
FRAU WAHL.
Und soll dort sämtlichen Damen den Kopf verdrehen, trotz seiner grauen Haare.
FRIEDRICH.
Ja, dem sind die Weiber immer hineingefallen. Also Obacht geben, Mama Wahl.
PAUL
kommt.

So da wär' man wieder! Das Rakett hochhaltend. Das ist wieder mein altes! Man hat doch gleich was rechtes in der Hand.

FRIEDRICH.

Also gehen wir's an? – Zu Paul. Aber jetzt gibt's keine Ausred' mehr! Sonst heißt's eben einen andern Beruf erwählen ... Advokat ... oder Raseur ... Im Abgehen.


[246] Friedrich, Erna, Adele, Otto, Paul zum Tennis. Frau Wahl und Stanzides folgen.
Genia, Mauer.
GENIA.
Wollen wir nicht zuschauen? Das Tennisspielen, das steht der Erna nämlich besonders gut zu Gesicht!
MAUER
stehen bleibend.
Haben Sie nicht den Eindruck, gnädige Frau, daß ich ihr vollkommen wurst bin?
GENIA.
Das ist möglicherweise der beste Anfang für eine glückliche Ehe.
MAUER.

Ja, wenn die Gleichgültigkeit gegenseitig wäre, aber so – Abbrechend. Glauben Sie übrigens, Frau Genia, daß es dem Friedrich ernst ist mit seinen Reiseabsichten?

GENIA.

Ich – ich weiß nicht recht. Ich war selbst ein wenig überrascht. Freilich, er hat die letzten Tage so rasend viel gearbeitet, daß ihm ein paar Tage Erholung wohl zu gönnen wären. Aber dazu müßt' er am Ende nicht – Es war wohl nicht so ernst gemeint. Eigentlich glaub' ich nicht, daß er mit Ihnen fahren wird.

MAUER.
Und wie steht denn die Sache mit Amerika?
GENIA.
Friedrich geht hinüber, das ist sicher.
MAUER.
Und Sie, Frau Genia?
GENIA.
Vielleicht auch. Lächelnd. Ja lieber Freund. Vielleicht!
MAUER.
Sie fahren zusammen? – Na, das ist schön, das freut mich.
GENIA.
Warum denn so feierlich ...?! Viel leicht, hab' ich gesagt! ...
MAUER.

Ah, es wird schon gewiß werden. Es wäre ja auch gar zu dumm, wenn der arme Korsakow ganz umsonst gestorben wäre.

GENIA
befremdet.
Wenn Korsakow –? Wie meinen Sie das? – Wenn Korsakow umsonst gestorben wäre?
MAUER.

Ich habe nämlich die Überzeugung, daß Korsakow von der Vorsehung bestimmt war, gleichsam als Opfer zu fallen.

GENIA
immer befremdeter.
Als Opfer?
MAUER.
Für Sie – und Ihr Glück.
GENIA.
Als Opfer für mein Glück –? Sie glauben an solche Dinge?
MAUER.

Man muß ja nicht gleich im allgemeinen an solche Dinge glauben. Aber hier spüre ich so etwas wie einen geheimnisvollen Zusammenhang. Sollten Ihnen nicht auch schon ähnliche Gedanken gekommen sein?

GENIA.
Mir? Um die Wahrheit zu gestehen, ich denke an diese [247] traurige Geschichte überhaupt sehr wenig.
MAUER.
Das – scheint Ihnen nur so.
GENIA.

Und wenn ich – zuweilen daran denke, so ist das Ganze so merkwürdig blaß und fern ... Ich versichere Sie – ganz fern! Es ist eine milde Trauer – nicht mehr. Ich kann mich nun einmal nicht besser oder gefühlvoller machen als ich bin. Vielleicht wird das später noch anders. Wenn der Herbst kommt, vielleicht. Die Tage sind jetzt wahrscheinlich zu sommerlichhell zum Traurigsein – und überhaupt zum Schwernehmen. Es ist nicht nur damit so. Die meisten Dinge kommen mir viel leichter vor. Ich kann zum Beispiel auch dieser guten Adele absolut nicht böse sein. Vorhin habe ich sie sogar gebeten, nächstens ihre Kinder mitzubringen; ich konnte gar nicht anders. Es schiene mir geradezu lächerlich, ihr oder sonst wem etwas nachzutragen. Sie hat eher was Rührendes für mich. Wie ein Wesen kommt sie mir vor, das längst gestorben ist und es gar nicht weiß. –

MAUER
sie lang anschauend.

Na ja. Pause. Und Friedrich wird ja nun hoffentlich endgültig zur Vernunft gekommen sein. Was am Ende nicht schwer sein sollte, wenn die Vernunft dem Glück so zum Verwechseln ähnlich sieht, wie in diesem Falle. – Aber wenn er es jetzt nicht festzuhalten versteht, dann –

GENIA
rasch.

Es gibt vorläufig nichts festzuhalten. Sie haben mich früher offenbar mißverstanden, Doktor. Es hat sich nicht das geringste zwischen uns verändert – bisher.

MAUER.

Aber es wird sich verändern. Auf die Dauer kann man ihm ja nicht böse sein, dem Friedrich! Mir geht's ja geradeso mit ihm. Ich mag mich über ihn noch so rasend geärgert haben, – sobald er seine Charmeurkünste spielen läßt, bin ich ihm doch wieder ausgeliefert auf Gnade und Ungnade.

GENIA.
Das bin ich nicht, Doktor! Um mich muß man werben, lange werben.

Vom Tennisplatz her Otto, Friedrich, Adele, Stanzides, Frau Wahl, Paul, Genia, Mauer.
PAUL
während sie sich nähern, zu Erna.
Wirklich, Fräulein, alles was wahr ist! Ihr Service – first class.
FRIEDRICH.
Na – und der Schlag? – Dafür hat sie aber auch bei mir gelernt! –
ERNA.
Was manchmal – entschuldigen schon, Herr Lehrer – ein zweifelhaftes Vergnügen gewesen ist!
FRIEDRICH.
... Oh ...?! –
[248]
ERNA
zu den andern, insbesondere Paul.

Sekiert hat er einen nämlich – bis aufs Blut! – Wenn man nur einmal ein bißl nachgelassen hat – sofort ist man behandelt worden wie eine vollkommen hoffnungslose Erscheinung – wie eine ganz miserable Person überhaupt –

FRIEDRICH
beiläufig.
– Ja – die Sachen hängen auch sehr mit dem Charakter zusammen – meiner Ansicht nach –
GENIA
die indes vom Stubenmädchen eine Meldung erhielt.

Wenn ich bitten darf, meine Herrschaften ... der Tee! Auch Eis ist vorhanden. Zwang wird keiner ausgeübt ... Bitte.


Frau Wahl mit Stanzides, Genia mit Otto, Paul, Erna, Mauer im Haus. Es bleiben als letzte zurück Friedrich und Adele.
Friedrich, Adele.
FRIEDRICH
zu Adele, wie sie eben im Haus hineingehen will.

Ich habe leider heute noch gar keine Gelegenheit gehabt, mich nach dero geschätztem Befinden zu erkundigen. Wie geht's dir denn eigentlich?

ADELE.
Mir geht's famos. Und Ihnen?
FRIEDRICH.

Nicht schlecht. Viel zu tun halt. Wir bauen wieder. Im nächsten Jahr haben wir sechshundert Arbeiter. Und im Herbst fahr' ich hinüber nach Amerika.

ADELE.
So.
FRIEDRICH.
Besonders zu interessieren scheint dich das nicht.
ADELE.

Hat mir ja schon alles mein Mann erzählt. Und dann möcht' ich dir vorschlagen, daß wir uns endgültig »Sie« sagen. Aus ist aus. Ich bin für klare Verhältnisse.

FRIEDRICH.
Daß sie auch klar sein müssen, hab' ich gar nicht gewußt.
ADELE.

Ich bitte dich! Mach' jetzt keine Witze ... Sein wir lieber froh, daß es so gut ausgegangen ist. Die Zeit der Jugendtorheiten ist vorbei. Für uns beide, denk' ich. Meine Kinder wachsen heran. Und Ihr Bub' auch.

FRIEDRICH.
Ja, das ist schon nicht anders.
ADELE.
Und wenn Sie mir erlauben wollen, Ihnen einen guten Rat zu geben ...
FRIEDRICH.
Ich höre.
ADELE
anderer Ton.

Also im Ernst, – ich finde, daß du mit dieser kleinen Wahl in einer geradezu unverschämten Weise kokettierst. Halt das um Gottes willen nicht für Eifersucht! Ich [249] denke da wirklich nicht an dich ... Sondern vielmehr an deine Frau –

FRIEDRICH
belustigt.
Ah!!
ADELE.

– Die wirklich das entzückendste, rührendste Geschöpf ist, das mir jemals vorgekommen ist. Wie sie mich früher gebeten hat, nächstens die Kinder mitzubringen – hast du's gehört? ... ich bin in die Erde gesunken!

FRIEDRICH.
Das hab' ich gar nicht bemerkt.
ADELE.
Hätt' ich sie früher so gut gekannt – na –! Wahrhaftig, du verdienst sie nicht.
FRIEDRICH.
Da kann ich dir nicht einmal unrecht geben. Aber wenn es auf Erden nach Verdienst ginge ...
ADELE.

Und was Erna anbelangt – so nimm dich in acht. Ein Bruder ist was anderes wie ein Gatte. Ein Bruder merkt zuweilen was.

FRIEDRICH.

Der Gustl! Ich bitt' dich – dem wäre das doch ganz egal! ... Das ist ein Philosoph ... Und ich weiß überhaupt nicht, was dir da durch den Kopf fährt. Du bringst einen wirklich erst auf Ideen. Ein Mädel, das ich auf den Knien geschaukelt hab'.

ADELE.
Das beweist nichts. Solche Mädeln gibt's wahrscheinlich in den verschiedensten Altersklassen.
FRIEDRICH.

Ja, ja, Adele ... ohne gerade an die freundlichst von dir vorgeschlagene Erna zu denken ... es wär' schon schön!

ADELE.
Was wär' schön? –
FRIEDRICH.
Noch einmal jung zu sein!
ADELE.
Du bist es lang genug gewesen.
FRIEDRICH.

Ja, aber ich war's zu früh ... Jetzt verstünd' ich's ja erst jung zu sein! ... Es ist überhaupt dumm eingerichtet auf der Welt. Mit vierzig Jahren sollt? man jung werden, da hätte man erst was davon. Soll ich dir was sagen, Adele? Mir ist eigentlich doch, als wäre alles Bisherige nur Vorstudium gewesen. Und das Leben und die Liebe fing' erst jetzt an.

ADELE.
Ich versteh' dich wirklich nicht. Es gibt doch noch was anderes auf der Welt als – uns.
FRIEDRICH.

Ja, – die Pausen zwischen der einen und der andern. Die sind ja auch nicht uninteressant. Wenn man Zeit hat, und in der Laune ist, baut man Fabriken, erobert Länder, schreibt Symphonien, wird Millionär ... aber glaube mir, das ist doch alles nur Nebensache. Die Hauptsache – seid ihr! – ihr – ihr! ...

[250]
ADELE
kopfschüttelnd.
Wenn man denkt, daß es Leute gibt, die dich für einen ernsten Menschen halten!
FRIEDRICH.
Ah, hältst du das für so besonders lustig, was ich dir da mitgeteilt habe?
HERR NATTER
kommt.

Ein großer, etwas starker Herr in sehr elegantem Sommeranzug, Bartkoteletts, Monokel. Guten Tag, Adele! Grüß' Sie Gott, lieber Hofreiter.

FRIEDRICH
ihm die Hand reichend.
Warum so spät?
ADELE
sehr freundlich.
Wo treibst du dich denn herum?
NATTER.

Ich bitte um Verzeihung, mein Kind. Ich bin im Kurpark gesessen und hab' gelesen, sonst komm' ich ja gar nicht dazu. Sagen Sie, Hofreiter, gibt's was Schöneres als so im Freien unter einem Baum sitzen und lesen?

FRIEDRICH.
Kommt darauf an ... Was war's denn?
NATTER.
Sie werden lachen. Ein neuer Sherlock Holmes! Aber wirklich großartig! In einer Weise spannend! –

Mauer und Erna kommen aus dem Harne. – Begrüßung.
ERNA
zu Friedrich.
Wird noch weiter gespielt?
FRIEDRICH.
Selbstverständlich. Zu Natter. Nehmen Sie mit uns einen Tee? Wir wollten eben ...
NATTER.
Gern ... Ist übrigens der Oberleutnant Stanzides noch hier?
FRIEDRICH.
Ja, natürlich.
NATTER.

Ich will ihn nämlich einladen mit uns ins Theater zu gehn. Zu Adele. Wenn du nichts dagegen hast. Ich hab' eine Loge genommen für heut in die Arena. Mauer und Erna nach rechts.

FRIEDRICH.
Macht Ihnen das denn Spaß, sich so eine Schmierenvorstellung anzusehn?
NATTER.
Warum denn nicht?
ADELE.

Es gibt nichts auf der Welt, was ihm nicht Spaß macht. Es gibt kein dankbareres Publikum als meinen Mann! –

NATTER.

Ja, das ist wahr. Ich finde das Leben höchst amüsant. Ich unterhalte mich königlich. Immer. Bei jeder Gelegenheit!


Friedrich, Adele, Natter im Haus.
Mauer, Erna, die schon im Gespräch waren.
ERNA.
Und wie ist das Unglück damals geschehn?
MAUER.

Offenbar dadurch, daß sich unter seinen Füßen ein Stein losgelöst hatte ... Es war beim Abstieg vom Aignerturm. [251] Friedrich war voran. Da hört er das gewisse unheimliche Gepolter über sich. Gleich darauf sausen mächtige Blöcke an ihm vorbei und nach ihnen, knapp neben Friedrich, der arme Bernhaupt selbst. Friedrich spricht nicht gern davon. Wenn er nämlich auch tut, als wenn er über alles erhaben wäre, die Sache hat damals doch einen furchtbaren Eindruck auf ihn gemacht.

ERNA.
Sie glauben?
MAUER.
Der beste Beweis ist doch, daß er seither keine Bergtouren mehr unternommen hat.
ERNA.
Also – der Aignerturm wird heuer gemacht.
MAUER.
Das werden Sie sich wohl überlegen, Fräulein Erna.
ERNA.
Überlegt ist es schon. Das kommt bei mir nämlich immer vor dem Reden.
MAUER.
Ich werd' Ihrem Bruder schreiben.
ERNA.

Aber, lieber Doktor! Sie glauben doch nicht, daß das hilft, wenn ich mir einmal was in den Kopf gesetzt hab'! Höchstens kann ich Ihnen versprechen zu warten, bis Sie auch bei uns am Völser Weiher sind.

MAUER.
Soll ich denn hinkommen?
ERNA.
Gewiß sollen Sie. Ich engagiere Sie als Führer, gegen die übliche Taxe natürlich.
MAUER.
Ich hab' mir nie eingebildet, daß ich auf mehr Anspruch erheben dürfte.
ERNA.
Hat das wehmütig sein sollen, Doktor Mauer, oder nur geistreich?
MAUER.
Soll ich an den Völser Weiher kommen, Fräulein Erna, ja oder nein?
ERNA.
Ich seh' keinesfalls einen Grund, daß Sie Ihren ursprünglichen Reiseplan ändern.
MAUER.
Ist es Ihnen wirklich unmöglich, Fräulein Erna, mir geradeaus zu antworten?
ERNA.

Nicht leicht, Doktor. Sie sitzt unter dem Nußbaum. Sie wissen, daß Sie mir sehr sympathisch sind. Hinkommen sollten Sie jedenfalls. Es wäre die beste Gelegenheit, einander besser kennen zu lernen. Aber verpflichtet dürfen Sie sich so wenig fühlen als ich, selbstverständlich.

MAUER.
Das ist sehr klug, Fräulein Erna.
ERNA.

Es kommt noch klüger. Hören Sie mich nur an. Sie haben doch gewiß so irgend etwas wie eine Liebste oder einen Schatz – wie alle unverheirateten Herren. Also übereilen Sie [252] sich nicht. Ich meine: Bilden Sie sich nicht am Ende ein, daß Sie mir nach unserm heutigen Gespräch schon Treue schuldig geworden sind.

MAUER.

Diese freundliche Mahnung kommt leider zu spät. – Ich kann natürlich nicht leugnen, daß ich wie alle Männer und so weiter ... Aber ich habe ... Schluß gemacht. Ich bin nämlich kein Freund von Herzensschlampereien. Da würd' ich mir zuwider werden.

ERNA.

Sie sind wirklich ein anständiger Mensch, Doktor Mauer! Man hat so das Gefühl, wenn man Ihnen einmal sein Schicksal anvertraut ... da ist man dann im Hafen. Da kann einem nichts mehr geschehn.

MAUER.
Hoffentlich ...
ERNA.

Nur weiß ich nicht recht, ob dieses Gefühl der Sicherheit etwas so besonders Wünschenswertes bedeutet. Wenigstens für mich. Wenn ich ganz aufrichtig sein soll, Doktor Mauer, mir ist manchmal, als hätt' ich vom Dasein auch noch andres zu erwarten oder zu fordern als Sicherheit – und Frieden. Besseres oder Schlimmeres – ich weiß nicht recht.

MAUER.

Halten Sie mich für keinen Tropf, Fräulein Erna, wenn ich mir einbilde, daß Ihnen – nicht gerade das Beste, das es auf Erden gibt, aber doch manches Gute auch an meiner Seite beschieden sein könnte. Das Leben besteht ja noch aus allerlei anderm als aus Abenteuern einer gewissen Art.

ERNA.
Hab' ich denn –?
MAUER.

Sie haben es nicht gesagt, Fräulein Erna, aber es ist Ihre Empfindung. Kein Wunder, – in dieser Atmosphäre! da rings um uns! Aber ich versichere Sie, es gibt eine kräftigere, reinere – und ich traue mir zu, Sie auch dort ein frisches und freies Atmen zu lehren.

ERNA.

Sie haben Courage, Doktor. Sie gefallen mir überhaupt ganz besonders. Kommen Sie an den Völser Weiher. Man wird ja sehen.


Aus dem Hause: Adele, Natter, Stanzides, ihnen folgen allmählich Genia, Otto, Paul, Friedrich, Frau Wahl, Mauer, Erna.
STANZIDES.

In früherer Zeit hab' ich mir die Vorstellungen manchmal gar nicht vom Zuschauerraum aus angesehn, sondern von oben – aus der Vogelperspektive, von dem Hügerl aus hinter der Arena.

ADELE.
Das muß lustig sein.
WANZIDES.

Lustig – weiß ich nicht. Sonderbar ist es. Man sieht [253] natürlich nur ein kleines Stück von der Dekoration. Ein Eck von einem Felsen oder eine Ofenfigur oder so was. Und von den Schauspielern sieht man natürlich so gut wie gar nichts, nur gelegentlich hört man ein abgerissenes Wort ... Aber das eigentümlichste ist, wenn dann plötzlich unter all diesen Stimmen eine heraufklingt, die man kennt, – zum Beispiel von einer bekannten Dame, die da unten mitspielt. Da kann man plötzlich auch die Worte verstehn. Von dem, was die andern reden, nichts – und nur, was die Bekannte redet, versteht man ganz genau.

ADELE
lachend.
Die Bekannte!
FRIEDRICH.

Statt Geliebte sollte man nicht Bekannte sagen Stanzides – sondern Unbekannte ... Stimmt eher, Stanzides! –

ADELE.
Oder Freundin, wenn man diskret sein will.
FRIEDRICH.
Oder Feindin.
ERNA.
Wenn man indiskret ist.
FRAU WAHL.
Erna! – – –
NATTER.

Es wird spät, wir müssen uns empfehlen, wenn wir überhaupt noch was von der Vorstellung sehn wollen. Bitte sehr, sich nicht stören zu lassen.


Natter, Adele und Stanzides gehen.
PAUL
zu Otto.

Im vorigen Jahr hab' ich einmal hintereinander neun Stunden gespielt, mit dem Doktor Herz. Zuerst vier Stunden, dann haben wir eine Eierspeis' gegessen, und dann ...


Spricht weiter mit Otto.
MAUER
sich empfehlend.
Auch meine Stunde hat geschlagen. Zu Genia. Gnädige Frau ...
FRIEDRICH.

Na, was hast du's denn so eilig? Wenn du dich eine Viertelstunde geduldest, so fahr' ich gleich mit dir hinein.

MAUER.
Wie – es ist also dein Ernst?
FRIEDRICH.
Natürlich ... Also wartest du?
GENIA.
Du willst mit dem Doktor – du willst noch heute in die Stadt hinein –?? –
FRIEDRICH.

Ja, es ist doch das gescheiteste. Meine Sachen hab' ich alle drin, die ich fürs Gebirge brauch', packen kann mir der Josef in einer Stund'; und da fahr' ich gleich morgen in der Früh' mit dem Mauer weg.

MAUER.
Das wär' ja famos.
FRIEDRICH.
Also du wartest auf mich? Eine Viertelstunde!
MAUER.
Ja, ich warte.
[254]
FRIEDRICH
rasch ins Haus.

Erna, Paul, Otto, Frau Wahl stehen zusammen.
ERNA
hat manchmal hingehört.
GENIA
sieht Friedrich nach.
MAUER.
Er ist der Mann rascher Entschlüsse.
GENIA
antwortet nicht.
PAUL.
Also benützen wir die letzten Strahlen der Abendsonne ...

Erna, Otto, Paul, Frau Wahl gegen den Tennisplatz.
MAUER
folgt nach kurzem Besinnen.
GENIA
steht noch immer regungslos, plötzlich will sie ins Haus hinein, da tritt ihr Frau Meinhold entgegen.

Frau Meinhold, Genia.
FRAU MEINHOLD
etwa vierundvierzig, nicht jünger aussehend, Züge etwas verlebt, Gestalt noch jugendlich.
Guten Abend.
GENIA.

Oh, Frau Meinhold, so spät? Ich fürchtete schon, Sie kämen heute gar nicht mehr. Nun freue ich mich doppelt, daß Sie da sind. Kommen Sie doch, liebe Frau Meinhold. Vielleicht dorthin Zum Nußbaum weisend. es ist doch Ihr Lieblingsplatz.

FRAU MEINHOLD
Genias Zerstreutheit merkend.
Danke, danke.
GENIA.

Oder wollen wir zum Tennisplatz? Es wird noch fleißig gespielt, und Sie sehen ja ganz gerne zu, nicht wahr?

FRAU MEINHOLD
lächelnd.

Ich komme ja zu Ihnen, liebe Frau Genia. Mit ihr zum Nußbaum. Aber habe ich Sie nicht gestört, Sie scheinen mir ein wenig – wollten Sie nicht eben ins Haus?

GENIA.

Nein, durchaus nicht. Es ist nur – mein Mann fährt dann in die Stadt hinein mit Doktor Mauer. Morgen reist er nämlich mit ihm ab. Sie machen zusammen eine Fußtour. Denken Sie, vor einer Stunde wußte er selbst noch nichts davon. Der Doktor kam uns Adieu sagen, sprach natürlich von seinen Reiseplänen – und Friedrich war sofort hingerissen von der Idee, wieder einmal über die Berge zu wandern wie in früherer Zeit. Und nun fährt er auch schon davon. Blickt zum Balkon.

FRAU MEINHOLD.

Da komme ich Ihnen doch wohl ungelegen. Sie werden gewiß noch mit Ihrem Gatten zu sprechen haben, da er so plötzlich abreist.

GENIA.
Ach nein, es ist ja nur auf kurze Zeit. Und sentimental sind wir nicht, nein, wahrhaftig. –
FRAU MEINHOLD.
Und nun haben Sie auch Ihren Percy bald wieder da.
[255]
GENIA.
Oh, da wird mein Mann wohl noch früher zurück sein. Percy kommt erst in vierzehn Tagen.
FRAU MEINHOLD.
Sie sehnen sich schon sehr nach ihm, wie?
GENIA.

Das können Sie sich denken, Frau Meinhold. Nun hab' ich ihn seit Weihnachten nicht gesehen. Kein leichtes Los, seinen Einzigen so in der Fremde haben. Aber Sie wissen ja auch was davon zu erzählen, Frau Meinhold.

FRAU MEINHOLD.
Einiges, ja.
GENIA.
Nun verläßt Sie Ihr Herr Sohn gar auf mehrere Jahre?
FRAU MEINHOLD.
Ja, drei Jahre sollen es werden. Und weit, weit.
GENIA.

In die Südsee, er hat mir früher davon erzählt. Ja, das ist freilich – Und doch kommt mir vor, als wären Sie besser dran als ich, Frau Meinhold. Sie haben einen Beruf, einen so schönen! Einen, der Sie so ganz erfüllt! Das hilft gewiß über viel hinweg.

FRAU MEINHOLD.
Über manches.
GENIA.

Nicht wahr? Wenn Frauen nur Mütter sind, das ist doch wohl nicht das Richtige, scheint mir manchmal. Sie hätten es gewiß nicht zugegeben, daß Ihr Otto zur Marine ging, wenn Sie nichts anderes gewesen wären als Mutter.

FRAU MEINHOLD
einfach.
Und wenn ich's nicht zugegeben hätte ...?
GENIA.

So wär' er bei Ihnen geblieben. O, davon bin ich ganz überzeugt. Wenn Sie es gewünscht, wenn Sie es verlangt hätten?! Er liebt Sie ja so sehr. Er hätte ja auch was anderes werden können. Ich kann mir ihn sehr gut als Gutsbesitzer vorstellen ... oder – oh ja ... auch als Gelehrten.

FRAU MEINHOLD.

Es ist nur die Frage, liebe Frau Genia, ob ich ihn dann mehr hätte als jetzt, da er aufs Meer hinaussegelt.

GENIA.
Oh ...!
FRAU MEINHOLD.

Ich glaub' nicht. Nicht schwer. Nämlich von diesem Wahn, Frau Genia, kann man sich nicht früh genug freimachen, daß wir unsere Kinder jemals besitzen könnten. Besonders Söhne! Sie haben uns, aber wir haben sie nicht. Ich glaube sogar, das müßte einem noch schmerzlicher zum Bewußtsein kommen, wenn man mit ihnen immer unter einem Dache wohnte. Solang sie klein sind, verkaufen sie uns um ein Spielzeug, und später ... später um noch weniger.

GENIA
kopfschüttelnd.
Das ist doch ... nein das ... Darf ich was sagen, Frau Meinhold?
FRAU MEINHOLD
lächelnd.
Warum denn nicht? Wir plaudern [256] doch. Jede sagt, was ihr eben durch den Kopf geht.
GENIA.

Ich hab' mich nämlich schon neulich gefragt, als Sie auch so eine – verzeihen Sie – eine so düstere Bemerkung machten – so über die Menschen im allgemeinen – ob das nicht vielleicht irgendwie mit den Rollen zusammenhängt, die Sie spielen, daß Ihnen das Leben manchmal so tragisch erscheint?

FRAU MEINHOLD
lächelnd.
Tragisch ... Finden Sie?
GENIA.

Denn ich habe offenbar eine leichtere Lebensauffassung als Sie, Frau Meinhold. Ich bilde mir zum Beispiel fest ein, daß ich niemals aufhören werde, Percy viel, – unendlich viel zu bedeuten. Und auch Sie, Frau Meinhold, hätten meiner Ansicht nach alles Recht dazu ... ja gerade Ihr Sohn scheint mir ein besonders zärtlicher, ein – ich bin überzeugt, daß er Sie geradezu anbetet.

FRAU MEINHOLD
lächelnd.
Nennen wir's so!
GENIA.

Und wenn er Sie einmal »verkaufen« sollte, wie Sie sagen, so wird es gewiß um nichts Unwürdiges geschehn. Und nur in einem solchen Fall denke ich, könnte sich in den Beziehungen zwischen Mutter und Kind etwas ändern. Nach kurzem Besinnen. Und da eigentlich auch nicht.

FRAU MEINHOLD
nach einer kleinen Pause.

Er ist ein Mann, vergessen Sie das? Wie läßt sich da etwas vorhersehen ... Auch Söhne werden Männer.Mit Bitterkeit. Sie sollten doch auch, denk' ich, eine Ahnung davon haben, was das heißt.

GENIA
schlägt wie betroffen die Augen nieder.
FRIEDRICH
erscheint oben auf dem Balkon, sich eben die Krawatte knüpfend, sieht mit kurzsichtig verkniffenen Augen herab.

Ich höre da eine wohlbekannte, edle Stimme ... Hab' mir's ja gleich gedacht ... Küss' die Hand, Frau Meinhold.

FRAU MEINHOLD.
Guten Abend, Herr Hofreiter.
GENIA.
Brauchst du was, Friedrich?
FRIEDRICH.
O nein, dank' schön, bin gleich fertig. Dann komm' ich herunter. Ich fahr' nämlich weg.
FRAU MEINHOLD.
Ja, Frau Genia sagte mir eben.
FRIEDRICH.
Also auf Wiederschaun. Verläßt den Balkon. Pause.
GENIA.
Darf ich Ihnen etwas erwidern, Frau Meinhold?
FRAU MEINHOLD
lächelnd.
Aber warum bitten Sie mich denn immer um Erlaubnis, Frau Genia –
GENIA.

Sie imponieren mir nämlich so, Frau Meinhold. Was Sie sagen, das klingt immer so bestimmt, so unwidersprechlich. Und man hat die Empfindung, Ihnen bleibt nichts verborgen,[257] nichts ... Und Sie kennen die Menschen, ja ... Aber sind Sie nicht doch ... sind Sie nicht doch ein bißchen ungerecht?

FRAU MEINHOLD.

Mag sein, Frau Genia ... Aber Ungerechtigkeit ist ja schließlich unsere einzige Revanche. Auf einen fragenden Blick Genias. Die einzige Revanche für ein Unrecht ... das irgend einmal an uns begangen wurde.

GENIA.
Aber ewige Ungerechtigkeit gegenüber einem ... verjährten Unrecht – ist das nicht zu viel?
FRAU MEINHOLD
bitter.

Es gibt Dinge, die nicht verjähren. Und es gibt Herzen, in denen nichts verjährt. Pause. Kommt Ihnen das wieder tragisch vor, liebe Frau Genia? Sie denken sich wohl, was erzählt sie mir da für Geschichten, diese alte Komödiantin. Was will sie denn eigentlich? Vor einer Ewigkeit hat sie sich von ihrem Mann getrennt, hat nachher, wie man hört, ihr Leben völlig nach eigenem Belieben eingerichtet ... nachgeweint zu haben scheint sie ihm keinesfalls ... was will sie ...? Nicht wahr, Frau Genia, das denken Sie sich?

GENIA
etwas verlegen.
Kein Mensch wird bestreiten, daß Sie das Recht hatten zu leben, wie es Ihnen gefiel ...
FRAU MEINHOLD.

Natürlich hatt' ich das. Das ist eine Sache für sich. Und ich will auch niemandem einreden, daß ich wegen jener längst vergangenen Geschichte heute noch irgend etwas wie Schmerz empfände. – Oder Groll! – Nur – vergessen hab' ich's eben nicht ... das ist alles. Mehr sag' ich auch nicht. Aber denken Sie nur, wieviel habe ich seither vergessen! Heitres und Trauriges ... vergessen – als wäre es nie gewesen! Und gerade das, was mir vor mehr als zwanzig Jahren mein Mann angetan hat, nicht! ... So muß es doch wohl was bedeutet haben! Ohne Groll, ohne Schmerz denk' ich dran – ich weiß es eben nur – das ist alles! Aber ich weiß es, wie am ersten Tag – gerade so klar, so fest – so unwidersprechlich – das ist es, liebe Frau Genia ...

FRIEDRICH
kommt im grauen Reiseanzug, sehr montiert.
Küßt Frau Meinbold die Hand. Ich freu' mich sehr, Ihnen noch adieu sagen zu können, gnädige Frau.
FRAU MEINHOLD.
Bleiben Sie lange fort?
FRIEDRICH.
Das ist ungewiß. Hängt auch davon ab, ob ich hier dringend benötigt werde. In der Fabrik, mein' ich.

Vom Tennisplatz Otto, Paul, Erna, Frau Wahl, Mauer. Begrüßung.
OTTO.
Guten Abend, Mutter. Küßt ihr die Hand.
FRAU MEINHOLD.
Guten Abend, Otto! –
[258]
FRIEDRICH.
Na, wie ist's gegangen, Paul?
PAUL.
Bitt' schön, nicht fragen. Von morgen an spiel' ich wieder mit dem Trainer.
MAUER.
Also, bist du bereit?
FRIEDRICH.
Selbstverständlich. – Meine Herrschaften ... Allen die Hand reichend. – liebe Genia ...
GENIA.

Entschuldigen Sie, lieber Doktor, auf ein paar Minuten darf ich mir noch meinen Herrn Gemahl von Ihnen ausbitten?

MAUER.
Oh ...

Mauer, Erna, Frau Meinhold, Otto, Frau Wahl, Paul entfernen sich.
FRIEDRICH.
Du hast mir noch was zu sagen, Genia?
GENIA.

Eigentlich nichts, als daß ich mich ein bißchen über deinen Entschluß wundre. Ich hab' nämlich keine Ahnung gehabt, daß du heute fortfahren willst.

FRIEDRICH.
Ich doch auch nicht, mein Kind.
GENIA.
Wirklich, keine Ahnung?
FRIEDRICH.

Daß es gerade heute abend sein wird – absolut nicht. Wenn der Mauer nicht zufällig gekommen wäre ... Aber daß ich Lust hätt', auf ein paar Tage ins Gebirge zu gehen – das war dir ja nicht unbekannt. Ob ich nun heut' fahr', – oder morgen oder übermorgen ... Also zum Wundern ist doch kein Anlaß.

GENIA
sich über die Stirn streichend.
Gewiß, du hast ja recht. Nur weil eben so gar keine Rede davon war.

Bange Pause.
FRIEDRICH.

Also, ich telegraphier' natürlich täglich, sowohl hierher als ins Bureau. Und schreib' auch. Bitte gleichfalls um regelmäßige Berichterstattung. Und wenn von Percy was kommt, so schick' mir's nach ... Auch wenn's nur an die dear mother gerichtet ist ... Ja, mein Kind. Also jetzt heißt's ... der Mauer wird wirklich schon ungeduldig werden.

GENIA.
Warum – warum – fährst du fort?
FRIEDRICH
etwas ungeduldig, aber nicht heftig.
Du, Genia, mir scheint als hätt' ich dir darauf schon geantwortet.
GENIA.
Du weißt sehr gut, daß du mir noch nicht geantwortet hast.
FRIEDRICH.
Jedenfalls ist diese Art zu inquirieren etwas ganz neues – in unserm Haus.
GENIA.

Du bist nicht verpflichtet mir Rede zu stehn, gewiß nicht. Aber ich seh' eigentlich auch keinen Grund, warum du mir die Antwort direkt verweigern solltest.

[259]
FRIEDRICH.

Ja, mein liebes Kind, wenn du wirklich findest, daß es erst ausdrücklich festgestellt werden muß ... also schön: Ich fühle mich seit einiger Zeit nicht besonders wohl. Das wird ja wieder vorübergehn – wahrscheinlich ... gewiß. Aber in den nächsten Tagen brauch' ich eben eine andere Luft, eine andre Umgebung. Sicher ist jedenfalls, daß ich von hier fort muß.

GENIA.
Von hier!? ... Von mir!!
FRIEDRICH.

Von dir – Genia –? Das hab' ich doch nicht – Aber wenn du's absolut hören willst – gut, von dir! Ja, Genia.

GENIA.
Aber warum? Was hab' ich dir denn getan?
FRIEDRICH.
Nichts ... Wer sagt denn, daß du mir was getan hast.
GENIA.

So erklär' dich doch, Friedrich ... Ich bin ja ganz ... Auf alles war ich eher gefaßt, als daß du jetzt ... so plötzlich ... Von einem Tag zum andern – von einer Stunde zur andern hab' ich erwartet, daß wir uns ... aussprechen werden ... daß wir ...

FRIEDRICH.

Ja. Diese Erwartung hab' ich dir schon angemerkt, Genia. Ja. Aber ... ich glaube, dazu ist es noch zu früh, – zum – Aussprechen ... Ich muß mir noch über mancherlei klar werden ...

GENIA.

Klar –? Ja ... wo gibt's denn eine Unklarheit? Du hast doch ... den Brief in der Hand gehabt? Du hast ihn doch gelesen? Wenn du vorher gezweifelt hast ... was ich ja gar nicht glaube ... seit dem Abend – um Himmels willen, Friedrich – seit dem Abend muß dir doch eine Ahnung aufgegangen sein – Friedrich, was – was du mir ... Gott ... ist es denn wirklich notwendig, das erst mit Worten zu sagen! ...

FRIEDRICH.

Nein, gewiß nicht ... Das ist es ja eben. Der Abend. Ja. Mir ist nämlich schon die ganze Zeit her, verzeih – es ist natürlich nicht deine Absicht – aber ich hab' halt den Eindruck, als wenn du diese Affäre ... – Zögert.

GENIA.
Nun – nun –?
FRIEDRICH.

Als wenn du den Selbstmord von Korsakow gegen mich irgendwie ausspieltest ... Innerlich natürlich ... Und das – das macht mich halt ... ein bissel nervös ...

GENIA.
Friedrich! Ja, bist du denn ... Ich spiele den Selbstmord ... Nein – ist es möglich! ... Das! ...
FRIEDRICH.

Ich sag' ja schon, du kannst nichts dafür. Du meinst es nicht so. Du bist gewiß nicht stolz darauf, daß er deinetwegen [260] ... daß du ihn sozusagen in den Tod – du bildest dir gewiß nichts ein, auf deine Standhaftigkeit, das weiß ich ja alles ...

GENIA.
Nun also, wenn du das weißt ...
FRIEDRICH.
Ja, aber daß es überhaupt geschehen ist ...
GENIA.
Was, was?
FRIEDRICH.
Daß er sich hat umbringen müssen ... das ist das Furchtbare ... darüber komm' ich nicht weg.
GENIA.
Was – das ... Greift sich an den Kopf.
FRIEDRICH.

Na, ja, bedenk doch nur, man kann's drehn und wenden, wie man's will ... daß der arme Korsakow jetzt unter der Erde liegt und verwest ... die Ursache davon bist ja doch du! ... Natürlich ... unschuldig – in doppeltem Sinn. – Ein andrer als ich würde vielleicht vor dir auf den Knien liegen, dich anbeten – wie eine Heilige – gerade deswegen! ... Ich bin halt nicht so ... Mir bist du gerade dadurch ... gleichsam fremder geworden.

GENIA.
Friedrich!! ... Fremder – Friedrich! –
FRIEDRICH.

Ja, wenn er dir zuwider gewesen wäre – ja, dann, dann wär' es die natürlichste Sache von der Welt. Aber nein, ich weiß ja, er hat dir sogar sehr gut gefallen ... Man kann schon sagen, du warst ein bissel verliebt in ihn. Oder – wenn ich's ... um dich verdient hätte ... wenn du mir gegenüber zu der sogenannten Treue verpflichtet gewesen wärst ... Aber ich hab' doch wirklich kein Recht gehabt ... na ... davon müssen wir doch nicht erst reden. – Also ich frag' mich halt immer und immer wieder: Warum hat er sterben müssen?

GENIA.
Friedrich!
FRIEDRICH.

Und, verstehst du, dieser Gedanke ... daß irgend etwas, das doch in Wirklichkeit gar nicht ist – ein Schemen, ein Phantom, ein Nichts, wenigstens einem so furchtbaren Ding gegenüber, einem so irreparabeln wie der Tod – daß deine Tugend – einen Menschen in den Tod getrieben hat, das ist mir einfach unheimlich. Ja ... Ich kanns' nicht anders sagen ... Ja ... Es wird ja wohl wieder vergehn ... mit der Zeit ... im Gebirg ... und wenn wir ein paar Wochen nicht beieinander sind ... Aber jetzt ist es nun einmal da – und da kann man nichts machen ... Ja, liebe Genia ... So bin ich einmal ... Andre wären halt anders ...

GENIA
schweigt.
FRIEDRICH.

Ich hoffe, du nimmst mir's nicht übel, daß ich – auf [261] deinen Wunsch hin – alles das so deutlich ausgesprochen habe. So deutlich, daß es schon wieder beinah nicht wahr geworden ist ...

GENIA.
Es ist schon wahr geblieben, Friedrich ...

Die andern kommen allmählich näher.
MAUER
zuerst.

Verzeih, Friedrich, aber es ist die höchste Zeit. Ich hab' nämlich in der Stadt noch was zu tun ... Du kannst ja vielleicht mit einem späteren Zug ...

FRIEDRICH.

Ich bin schon bereit ... Hinaufrufend. Also Kathi – geschwind! Meinen Überzieher und meine kleine, gelbe Tasche, die liegt auf dem Diwan in meinem Zimmer.

FRAU WAHL.
Also glückliche Reise und hoffentlich auf Wiedersehn.
ERNA.
Am Völser Weiher.
FRAU WAHL.
Wissen Sie, was hübsch wär', Frau Genia? Wenn Sie auch hinkämen.
ERNA.
Ja, Frau Genia! –
GENIA.
Geht leider nicht! Der Percy kommt ja –
FRIEDRICH.
Aber doch nicht so bald. Zu Mauer. Wann sind wir denn dort?
MAUER.
So in acht bis zehn Tagen, denk' ich.
FRIEDRICH.
Ja, Genia, das wär' wirklich eine Idee. Du solltest dir's überlegen, Genia. –
GENIA.
Ich ... werd' mir's überlegen.
STUBENMÄDCHEN
kommt mit Überzieher und Tasche.
MAUER.
Also adieu, Frau Genia. Verabschiedet sich auch bei den andern.
FRIEDRICH.
Adieu, meine Herrschaften. Na, was macht ihr denn eigentlich heute noch alle?
PAUL.
Ich hätte eine Idee. Man könnte eine Mondscheinpartie machen nach Heiligenkreuz.
ERNA.
Ich wär' gleich dabei.
FRAU WAHL.
Zu Fuß –?
FRIEDRICH.
Aber das ist ja nicht nötig. Ich schick' euch das Auto von der Bahn zurück.
PAUL.
Hoch der edle Spender!
FRIEDRICH.

Keine Ovationen, wenn ich bitten darf. Also adieu. Gute Unterhaltung allerseits. Adieu, Genia. Nimmt noch einmal Genias Hand, die sie dann schlaff fallen läßt.

FRIEDRICH UND MAUER
durchs Haus ab.
GENIA
steht starr.
PAUL, ERNA, FRAU WAHL stehen nebeneinander.
[262]
OTTO UND FRAU MEINHOLD
haben einen kurzen Blick der Verständigung gewechselt.
OTTO
zu Genia, Abschied nehmend.
Gnädige Frau, wir werden uns auch – –
GENIA
rasch, erregter.

Sie wollen gehen? Und Sie, gnädige Frau? Aber warum denn? Wir haben ja im Auto ganz bequem alle Platz.

ERNA.
Natürlich. Der Herr Kreindl sitzt vorne beim Chauffeur.
PAUL.
Mit Wonne.
OTTO.

Ich möchte mir nur die Bemerkung erlauben, daß es mit der Mondscheinpartie einige Schwierigkeiten haben dürfte, da wir uns unterm Neumond befinden.

ERNA.
Uns genügen zur Not auch die Sterne, Herr Fähnrich.
FRAU MEINHOLD
zum Himmel schauend.
Ich fürchte, Sie werden heute auch auf die verzichten müssen.
ERNA.
So sausen wir kühn ins Dunkel hinein.
GENIA.
Ja, Erna, das ist vielleicht das Allerlustigste.Sie lacht auf.

Vorhang.

3. Akt

Dritter Akt

Halle des Hotels Völser Weiher.
Vorn links Eingang (Glastourniquet.) Rechts dem Eingang gegenüber Lift, daneben beiderseits Treffen, die aufwärts führen. Hintergrund großer, weiter Erker mit hohen Glasfenstern. Blick auf Wald-, Berg- und Felsenlandschaft. Rechts hinten Portiere vor einem Gang, der zum Speisesaal führt. Am Eingang großer, langer Tisch erhöht, mit Prospekten, Fahrplänen usw., dahinter praktikable Holzwand mit kleinen Fächern für Briefe und Zimmerschlüssel. In der Halle, auch im Erker, Tische und Sitzgelegenheiten. – Auf einigen Tischen Zeitungen. – Schaukelstühle. – Mäßige Bewegung in der Halle, die ohne den Fortgang der Handlung zu stören, mit entsprechenden Unterbrechungen, während des Aktes andauert.
Touristen und Sommergäste, die von draußen hereinkommen, Gäste, die sich im Lift fahren lassen, andere, die die Stiege hinauf und hinunter gehn, gelegentlich ein Kellner, Herren und Damen, die an einem der Tische Zeitung lesen oder plaudern. – Am Lift ein Boy. Hinter dem Tisch am Eingang der Portier Rosenstock, rotbäckiger ziemlich junger Mensch, kleiner, schwarzer Schnurrbart, schwarzes Haar, schlaue, gutmütige Augen, [263] zuvorkommend
und überlegen. Er gibt eben einem Boy Zeitungen, der Boy entfernt sich mit diesen und läuft über die Stiege hinauf. Zwei Herren im Gebirgsanzug kommen von draußen, gehn gleich nach hinten dem Speisesaal zu. Rosenstock macht Notizen in ein Geschäftsbuch. – Über die Stiege. Doktor Meyer, kleiner, etwas schüchterner Herr in nachlässigem Sommeranzug, nähert sich dem Portier. Er hat ihn der Hand eine zusammengefaltete Landkarte.

MEYER
nachdem er eine kleine Weile gewartet hat.
Herr Portier ...
ROSENSTOCK
liebenswürdig, aber nicht ohne eine gewisse Überlegenheit.
Bitte, Herr Doktor?
MEYER.

Ich wollte mir nur die Frage erlauben, Herr Portier ... ich habe nämlich die Absicht, morgen eine Tour zu machen, und da wollte ich mir die Frage erlauben, ob man zur Hofbrandhütte einen Führer benötigt.

ROSENSTOCK.
O, gewiß nicht, Herr Doktor. Der Weg ist nicht zu fehlen, gut markiert.
MEYER.
Und wenn ich dann von der Hütte eine Spitze mitnehmen würde? Zum Beispiel den Aignerturm.
ROSENSTOCK
lächelnd.

Aignerturm?! ... Aignerturm ist die schwerste Tour in der ganzen Gegend, wird sehr selten gemacht. Nur von ausdauernden, schwindelfreien Kletterern. Heuer ist er überhaupt noch nicht gemacht worden.

MEYER.

Pardon, ich meinte nicht den Aignerturm.Mit der Karte. Die Rotwand meinte ich. – Die ist doch nicht so schlimm?

ROSENSTOCK.
Gewiß nicht. Da kann jedes Kind hinauf.
MEYER.
Noch nie was geschehn?
ROSENSTOCK.
Ja, gelegentlich sind auch schon von der Rotwand Leute heruntergefallen.
MEYER.
Wie! –
ROSENSTOCK.
Das ist schon nicht anders im Gebirge. Es gibt eben überall Dilettanten ...
MEYER.
Hm. Also ich danke vorläufig bestens, Herr Portier.
ROSENSTOCK.
Bitte sehr.

Doktor Meyer entfernt sich, setzt sich im Erker an einen Tisch und studiert seine Karte, später geht er fort.
Zwei Junge Touristen, Rucksack, Havelock, Bergstöcke, kommen von draußen.
ERSTER TOURIST
sehr forsch.
Guten Morgen. Guten Abend vielmehr.
[264]
ROSENSTOCK.
Habe die Ehre.
ERSTER TOURIST.
Sagen Sie, haben Sie ein Zimmer mit zwei Betten, oder zwei Zimmer mit je einem Bett?
ROSENSTOCK.
Wie ist der werte Name?
ERSTER TOURIST.

So – muß man sich hier vorstellen? Bogenheimer, candidatus juris aus Halle. Gebürtig aus Merseburg, evangelisch ...

ROSENSTOCK
sehr höflich und ganz wenig lächelnd.
Ich wollte nur fragen, ob die Herren bestellt haben.
ERSTER TOURIST.
Ne, bestellt ham ma nich.
ROSEENSTOCK
sehr höflich.
Dann bedaure ich sehr, wir haben leider gar nichts frei.
ERSTER TOURIST.
Gar nichts? Das ist aber böse. Auch kein Strohlager ... an das man sich klammern könnte?
ROSENSTOCK.
Leider, nein.
DER ZWEITE TOURIST
hat hintereinander auf zwei Sesseln Platz genommen, die ihm beide nicht bequem genug zu sein scheinen.
Endlich läßt er sich in einen Schaukelstuhl fallen.
ERSTER TOURIST
zum zweiten.
Was machen ma nu? Zu Rosenstock. Wir haben nämlich vierzehn Stunden Marsch in den Beinen.
ROSENSTOCK
mitfühlend.
Das ist viel.
ZWEITER TOURIST.
Ich rühr' mich nicht vom Fleck.
ERSTER TOURIST.
Haben Sie gehört, Herr Cerberus? Mein Kollege, der rührt sich nicht vom Fleck.
ROSENSTOCK.
Bitte sehr. Raum für alle hat die Halle.
ERSTER TOURIST.
Ah, sind wohl Dichter?
ROSENSTOCK.
Nur in dringenden Fällen.
ERSTER TOURIST.
Also was sollen ma machen? ...
ROSENSTOCK.
Wenn die Herren vielleicht zur Alpenrose schauen wollten ...
ERSTER TOURIST.
Ist das auch ein Hotel?
ROSENSTOCK.
Sozusagen.
ERSTER TOURIST.
Glauben Sie, daß es dort was gibt?
ROSENSTOCK.
Die haben immer was.
ERSTER TOURIST.
Na, versuchen ma die Alpenrose zu pflücken. Zum andern. Auf, mein Sohn.
ZWEITER TOURIST.

Ich rühr' mich nicht. Schicken Sie eine Sänfte um mich, Bogenheimer, wenn Sie was gefunden haben ... Oder einen Maulesel.


Er setzt sich zurecht und schlummert bald ein.
ERSTER TOURIST
zu Rosenstock.

Also passen Sie nur gut auf meinen [265] Kollegen, daß er ja nicht im Schlummer gestört wird. Im Abgehen. Das Wandern ist des Müllers Lust ...


Ab.
EIN EHEPAAR
kommt.
Ein Boy hinter ihnen mit Handgepäck.
ROSENSTOCK
begrüßt sie.
HERR.
Das Zimmer bereit?
ROSENSTOCK.
Selbstverständlich, Herr Hofrat. Numero siebenundfünfzig.

Glocke. Ehepaar mit dem Boy zum Lift, fahren hinauf.
PAUL KREINDL
kommt, eleganter Reiseanzug, weiter Mantel, grüner Hut mit Gemsbart, rote Handschuhe, Rakett mit der Tasche in der Hand.
Boy mit Handgepäck hinter ihm.
PAUL.
Guten Tag.
ROSENSTOCK.
Habe die Ehre, Herr von Kreindl.
PAUL.

Ah, was seh' ich ...! Sie, lieber Rosenstock ...? Sie sind jetzt da? Was wird denn der Semmering ohne Sie anfangen?

ROSENSTOCK.
Man steigt eben immer höher, Herr von Kreindl. Von tausend ... auf eintausendvierhundert ...
PAUL.
Also haben S' was für mich?
ROSENSTOCK.

Selbstverständlich. Leider nur im vierten Stock. Wenn Herr von Kreindl nur um einen Tag früher telegraphiert hätten ...

PAUL.
Meinetwegen im sechsten. Ihr habt's ja Lift.
ROSENSTOCK.

Wenn er nicht grad ruiniert ist ... Ja ... Herr von Kreindl werden zahlreiche Bekannte hier finden. Herr von Hofreiter ist da, die Frau von Wahl mit Herrn Sohn und Fräulein Tochter, Herr Doktor Mauer, der Dichter Rhon, der hier auf seinen Lorbeern ausruht.

PAUL
nach jedem Namen.

Weiß ... weiß ... weiß.Nach Rhon. Ah, der auch ... Zum Boy. Schaffen Sie das Zeug da hinauf. Da der Boy sein Rakett nehmen will. Ah nein, das behalt' ich in der Hand. Ja, richtig, Sie, lieber Rosenstock, nichts sagen dem Herrn Hofreiter, daß ich angekommen bin. Überhaupt niemandem. Ich will die Leut' nämlich überraschen.

ROSENSTOCK.
Herr Hofreiter befindet sich seit gestern auf einer Partie.
PAUL.
Was Großes?
ROSENSTOCK.

O nein. Herr Hofreiter hat ja die großen Touren aufgegeben – bekanntlich – seit dem Unglücksfall vor sieben Jahren auf dem Aignerturm. Auf die Hofbrandhütte sind die Herrschaften gegangen. Sind auch Damen dabei. Die Frau[266] Rhon und das Fräulein von Wahl. Da kommt grad die Frau Mama von dem Fräulein.

FRAU WAHL
die Stiege herunter in etwas zu jugendlichem Sommerkleid.
PAUL
ihr entgegen.
Küss' die Hand, gnä' Frau.
FRAU WAHL.
Ah, grüß' Sie Gott, lieber Paul. Zu Rosenstock. Sind sie denn noch immer nicht zurück?
ROSENSTOCK.
Bisher noch nicht, gnädige Frau.
FRAU WAHL
zu Paul.

Ich bin nämlich in Verzweiflung ... Also nicht gerade in Verzweiflung ... aber ernstlich besorgt bin ich ... Die Erna ist seit gestern auf einer Partie. Zum Lunch hätte sie zurück sein sollen, jetzt ist's fünf, grad war ich oben in ihrem Zimmer, sie wohnt nämlich in nächster Nähe des Himmels ... immer hat sie solche Sachen! und sie ist noch nicht da. Ich bin außer mir.

PAUL.
Es ist doch eine große Gesellschaft, wie ich höre.
FRAU WAHL.

Das schon. Der Gustl ist natürlich mit und der Friedrich Hofreiter, und der Doktor Mauer und die Frau Rhon.

PAUL.

Na, da wird schon nichts g'schehn sein. Also bitte, gnädige Frau, niemandem sagen, daß ich da bin. Wenn die Herrschaften vielleicht zurückkommen sollten, während ich mich umzieh'. Ich möcht' nämlich gern als Überraschung wirken. Gekränkt. Bei Ihnen ist mir das ja leider nicht gelungen, gnädige Frau.

FRAU WAHL.

Da müssen Sie mich heute wirklich entschuldigen, lieber Paul, bei der Aufregung. Was gibt's denn übrigens Neues in Baden? Kommt die Genia nicht her?

PAUL.

Frau Hofreiter? Sie hat nichts derartiges geäußert. Und ich hab' sie noch vorgestern gesprochen. Da waren wir nämlich alle zusammen, eine größere Gesellschaft, in der Arena. Also ich werde dann schon so frei sein, ausführlich zu berichten. Vorläufig muß ich meinen äußern Menschen in Ordnung bringen. Wenn man so eine Nacht gefahren ist auf der Eisenbahn und dann noch sechs Stunden im Wagen ... Zu Rosenstock. Überhaupt eine Verbindung!

ROSENSTOCK.

In spätestens drei Jahren haben wir eine Bahn herauf, Herr von Kreindl. Unser Herr Direktor fährt in den nächsten Tagen nach Wien in dieser Angelegenheit zum Minister.

PAUL.
Das ist g'scheit. Meine Sachen sind schon oben, nicht wahr, Rosenstock?
ROSENSTOCK.
Jawohl, Herr von Kreindl.
[267]
PAUL.
Na schön. Also küss' die Hand, gnä' Frau, und nichts sagen. Zum Lift, hinauf.
ROSENSTOCK
zur Frau Wahl.

Gnädige Frau brauchen sich wirklich nicht aufzuregen. Die Herrschaften haben doch sogar einen Führer mitgenommen.

FRAU WAHL.

Einen Führer zur Hofbrandhütte? Davon hab' ich ja gar nichts gewußt. Hören Sie, das kommt mir aber sonderbar vor.

ROSENSTOCK.

Es ist ja nur wegen der Rucksäcke. Man braucht doch wen zum Tragen. Und übrigens ist ja das Fräulein Tochter eine so vorzügliche Touristin ...

FRAU WAHL.
Das war der Bernhaupt auch ...
ROSENSTOCK.
Ja ... rasch tritt der Tod den Menschen an. Es ist ihm keine Frist gegeben ...
FRAU WAHL.
Na – sein S' so gut! ...
ROSENSTOCK.
Oh bitte ... das bezieht sich selbstredend nicht auf Fräulein Tochter.
FRAU WAHL.

Ich hab' übrigens da ein Buch bei Ihnen liegen lassen, lieber Rosenstock, geben Sie mir's her ... in gelbem Einband ... von Rhon ... Ja, das ist es schon ... Ich werd' mich da ein bissel hersetzen und lesen ... Wenn ich nur kann.

ROSENSTOCK.
O, dieses Buch wird gnädige Frau jedenfalls zerstreun. Herr Rhon schreibt ja so gewandt.
FRAU WAHL
setzt sich an einen der Tische.
DOKTOR MEYER
stand in der Nähe mit der entfalteten Karte, wagt sich jetzt hin.

Ich wollte mir nur die Frage erlauben, Herr Portier, ich finde nämlich die Bemerkung im Baedeker, daß die Tour sehr beschwerlich ist, und da wollte ich fragen, ob es sich nicht empfehlen würde, wenn ich zwei Führer ...

ROSENSTOCK.
Bitte, können auch zwei Führer haben, Herr Doktor.
SERKNITZ
kommt von der Stiege herunter.

Groß, stark, Lodenanzug, nachlässig gekleidet, Touristenhemd mit Quasten. Zu Rosenstock, ohne sich um Meyer zu kümmern. Briefe schon da?

ROSENSTOCK.
Noch nicht, Herr von Serknitz. In einer halben Stunde etwa.
SERKNITZ.
Zustände! Die Post ist doch längst heroben.
ROSENSTOCK.
Aber bis sortiert wird, Herr von Serknitz.
SERKNITZ.

Sortiert!! Setzen Sie mich da hinunter, ich sortier' Ihnen den ganzen Einlauf in einer Viertelstunde. Wenn ich in meinem Bureau daheim so lange brauchte, um zu sortieren! – [268] Das ist so die österreichische Schlamperei. Da klagt ihr dann über den schlechten Fremdenverkehr.

ROSENSTOCK.
Wir klagen nicht, Herr von Serknitz. Wir sind überfüllt.
SERKNITZ.
Ihr verdient die Gegend nicht, sag' ich.
ROSENSTOCK.
Aber wir haben Sie, Herr von Serknitz.
SERKNITZ.

Ich erlasse Ihnen den Adel, Herr Portier. Ich fall' Ihnen ja auf diesen Schwindel doch nicht hinein. Übrigens komm' ich gar nicht wegen der Post. Ich komme wegen der Wäsche.

ROSENSTOCK.
Bitte, Herr Serknitz, damit hab' ich nichts ...
SERKNITZ.

Sie oder wer andrer. Das Mädchen oben weist mich ans Bureau, seit drei Tagen wart' ich auf meine Wäsche.

ROSENSTOCK.
Ich bedaure wirklich sehr. Übrigens kommt hier der Herr Direktor.
SERKNITZ.
Nicht allein – wie gewöhnlich.
DOKTOR VON AIGNER
kommt eben von draußen mit einer sehr schönen Spanierin, von der er sich jetzt empfiehlt.
DIE SPANIERIN
zum Lift, fährt hinauf.

Doktor von Aigner, ein Mann von über fünfzig Jahren, noch sehr gut aussehend. Eleganter Gebirgsanzug mit Stutzen, schwarz-grau meliertes Haar, Knebelbart, Monokel, liebenswürdig, nicht ohne Affektation. Kein Hut.
SERKNITZ.
Herr Direktor ...
AIGNER
bezwingend höflich.

Sofort ... Zu Rosenstock. Lieber Rosenstock. Exzellenz Wondra trifft schon morgen ein, statt am Donnerstag und braucht, wie Sie wissen, vier Zimmer.

ROSENSTOCK.

Vier Zimmer, Herr Direktor, für morgen ... Wie soll ich denn das machen? Da müßt' ich ja die Leute ... Verzeihn, Herr Direktor, da müßt' ich ja die Leute umbringen.

AIGNER.

Gut, lieber Rosenstock, aber möglichst ohne Aufsehn. Zu Serknitz, stellt sich vor. Doktor von Aigner ... Womit kann ich dienen?

SERKNITZ
nicht ohne Verlegenheit, die er hinter gespielter Sicherheit zu verbergen sucht.

Serknitz ... Ich habe eben ... ich muß meine Entrüstung oder mindestens meine Mißbilligung ausdrücken, – Losbrechend. Kurz und gut, es ist eine fürchterliche Wirtschaft in Ihrem Hotel.

AIGNER.
Das täte mir leid. Worüber haben Sie sich zu beklagen, Herr Serknitz?
[269]
SERKNITZ.

Ich kann nämlich meine Wäsche nicht bekommen. Seit drei Tagen urgiere ich. Ich befinde mich bereits in der größten Verlegenheit.

AIGNER.
Das seh' ich. Aber wollen Sie sich nicht an das Zimmermädchen ...
SERKNITZ.

Sie sind der Direktor! An Sie wend' ich mich. Es ist immer meine Art gewesen, an die höchste Instanz zu appellieren. Es macht mir wahrhaftig nicht viel Spaß, in diesem Aufzug unter Ihren Gräfinnen und Dollarprinzessinnen zu erscheinen.

AIGNER.
Verzeihn Sie, Herr Serknitz, es herrscht bei uns keinerlei Zwang, was die Kleidung anbelangt.
SERKNITZ.
Keinerlei Zwang! ... Meinen Sie, man merkt nicht, wie verschieden die Gäste hier behandelt werden?
AIGNER.
Oh ...
SERKNITZ.

Ich sag' es Ihnen auf den Kopf zu, Herr Direktor, wenn hier, statt eines einfachen Herrn Serknitz aus Breslau, ein Lord Chamberlain oder eine Exzellenz Bülow stünde, Sie würden einen andern Ton anschlagen. Jawohl, Herr Direktor. Und es wäre sehr angezeigt, wenn Sie draußen vor dem Tore ein Plakat anheften ließen: In diesem Hotel fängt der Mensch erst beim Baron oder beim Bankdirektor oder beim Amerikaner an.

AIGNER.
Das würde der Wahrheit nicht entsprechen, Herr Serknitz.
SERKNITZ.

Meinen Sie, weil ich nicht im Auto hier vorgefahren bin, hab' ich nicht den Anspruch auf die gleiche Rücksicht wie irgend ein Trustmagnat oder ein Minister? Der Mann ist noch nicht geboren, der es sich erlauben dürfte, mich von oben herab zu behandeln. Ob er nun ein Monokel trägt oder keins.

AIGNER
immer ruhig.

Wenn Sie, Herr Serknitz, etwas an meiner Haltung persönlich kränken sollte, so steh' ich selbstverständlich in jeder Weise zur Verfügung.

SERKNITZ.

Haha! Ich soll mich wohl mit Ihnen duellieren? Das ist das Allerneueste. Das müssen Sie sich patentieren lassen. Man beklagt sich, daß einem die Hemden und – sonstiges nicht geliefert wird, und dafür soll man noch totgeschossen werden. Hören Sie, Herr Direktor, wenn Sie glauben, daß Sie damit den Zuspruch Ihres Hotels besonders fordern werden, so befinden Sie sich in einem gewaltigen Irrtum. Auf der Stelle [270] würde ich dieses lächerliche Lokal, dieses Eldorado von Snobs, Hochstaplern und Börsenjuden mit Extrapost verlassen, wenn ich Lust hätte, Ihnen meine Wäsche zum Geschenk zu machen. Vorläufig sehe ich einmal nach, ob sie indes gekommen ist. Ich habe die Ehre, Herr Direktor.

AIGNER.

Guten Tag, Herr Serknitz. Zu Frau Wahl hin, die er schon einmal während des Gesprächs durch ein Kopfnicken gegrüßt hat. Guten Tag, gnädige Frau.

FRAU WAHL.
Ich bewundere Ihre Geduld, Herr Direktor.
AIGNER.
Das lernt sich.
FRAU WAHL.
Ich wollte, ich hätte etwas von Ihrer Selbstbeherrschung.
AIGNER.
Was gibt's denn?
FRAU WAHL.
Ich bin in einer grenzenlosen Aufregung. Unsere Kompagnie ist noch immer nicht zurück.
AIGNER.

Aber ich bitte Sie, gnädige Frau ... Von der Hofbrandhütte ist noch jeder zurückgekommen. Das ist ja ein Spaziergang ... Erlauben Sie? Er setzt sich.

FRAU WAHL.

Ob ich erlaube? Man muß es immer dankbar annehmen, wenn Sie einmal nicht anderweitig beschäftigt sind ... exotisch ... erotisch ...

AIGNER.

Exotisch ... erotisch ...? Das ist nicht von Ihnen, gnädige Frau. So boshaft sind Sie nicht, schöne Frau.

FRAU WAHL.
Nein ... es ist von Rhon.
AIGNER.

Ja ... ich dacht' es ... Ein Dichter, der Herr Rhon ... ja ... Was Sie da wieder für eine reizende Brosche haben, gnädige Frau! Bauernbarock. Wirklich famos.

FRAU WAHL.

Ja, ganz hübsch, nicht wahr? Und gar nicht teuer. Na, billig ist sie grad auch nicht. Der Swatek in Salzburg hebt mir immer die Sachen auf. Er kennt schon meinen Geschmack.

ALBERT RHON
mittelgroßer, dicker Herr, mit schwarzem, graumeliertem, etwas ungeordnetem Haar, bequemer Sommeranzug, die Treppe herunter.

Grüß' Sie Gott, gnädige Frau. Guten Abend, Direktor. Na, sind unsere Hochtouristen noch nicht zurück?

FRAU WAHL.
Was sagen Sie!? Nein!
RHON.

Sie werden schon kommen ... werden vielleicht etwas solenn gefrühstückt haben ... Meine Gattin jedenfalls.

EINE SEHR SCHÖNE ENGLÄNDERIN
tritt in die Nähe, zu Aigner, mit englischem Akzent.
Herr Direktor, darf ich bitten, auf ein Wort.
[271]
AIGNER.
Bitte ... Zu ihr, mit ihr nach rückwärts.
RHON
zur Frau Wahl.
Wissen Sie, wer das ist? Seine neueste Eroberung.
FRAU WAHL.
Die? Gestern haben Sie mir ja eine andre gezeigt.
RHON.

Gestern war's auch eine andre. Ja, das ist ein Mensch! Haben Sie denn eine Ahnung, wie der in der Gegend hier gehaust hat? Sagen Sie, gnädige Frau, ist Ihnen zum Beispiel noch nicht die Ähnlichkeit unseres Oberkellners mit Aigner aufgefallen?

FRAU WAHL.
Sie glauben? Sie halten diesen Oberkellner für seinen Sohn?
RHON.
Mindestens für seinen Neffen. Ja, das ist so ein Wüstling, – daß ihm auch die Neffen ähnlich sehn.
FRAU WAHL.

Daß Sie überhaupt in der Laune sind, Späße zu machen! Zum Lunch wollten sie da sein. Jetzt ist es halb sechs. Ich mache mir wirklich Vorwürfe, daß ich nicht mitgegangen bin.

RHON.

Da tun Sie unrecht, gnädige Frau. Was hätten Sie zur Rettung beitragen können? Wir hätten nur ein Opfer mehr zu beweinen.

FRAU WAHL.

Schauderhaft find' ich Ihre Witze. Sie scheinen zu vergessen, daß Ihre Frau auch dabei ist. Wie kann man seine Frau überhaupt auf so lange fortlassen?

RHON.

Sie wissen, Frau von Wahl, daß mir das Bergsteigen kein Vergnügen macht. Mir fehlt überhaupt das Talent – für das Manuelle sozusagen. Und ferner schreib' ich eine Tragödie.

AIGNER
ist wieder hervorgetreten.
RHON.

Jetzt sollten sie ja allerdings schon zurück sein. Wenigstens meine Frau. Ich bin gewohnt von ihr, beim Wiedereintritt ins Alltagsleben empfangen zu werden. Wir verbringen die Zwischenakte miteinander.

AIGNER.
Meistens beim Büfett.
RHON
ihm auf die Schulter klopfend, gutmütig.

Ja, ja, Direktor. Sagen Sie übrigens, ist das wirklich eine so ungefährliche Sache, diese Hofbrandhütte?

AIGNER.
Ich sagt' es eben früher: Ein Spaziergang. Die Hofbrandhütte trau' ich mir sogar noch zu.
FRAU WAHL.
Warum sind Sie nicht mitgegangen, Direktor? Es wäre doch eine Beruhigung.
AIGNER.

Ja, ich habe hier leider einiges zu tun, wie Sie ja früher bemerkt haben, gnädige Frau. Und dann, da ich eben nicht [272] viel weiter könnte – als bis zur Hofbrandhütte, zieh' ich es vor, – nicht einmal bis dahin zu gehn.

RHON.

Das ist ganz fein. Aber hören Sie, Direktor, da fällt mir eben ein, ist von der Hütte aus nicht der Anstieg zu Ihrem Turm? Zum Aignerturm, mein' ich?

AIGNER.
Ja, es war einmal meiner! Jetzt gehört er mir nicht mehr ... Andern freilich auch nicht.
RHON.

Das muß doch ein recht eigentümliches Gefühl sein, so zu Füßen eines Turmes zu sitzen, den man als erster bestiegen hat und selbst nicht mehr in der Lage zu sein ... Man könnte hier einen Vergleich wagen ... den ich aber lieber unterlassen will. Nebstbei bin ich überzeugt, Sie bilden sich nur ein, daß Sie nicht mehr hinauf können, Direktor. Ich habe so meine Gedanken über Sie. Ich halte Sie nämlich für einen Hypochonder.

AIGNER.
Wollen wir dieses Thema nicht lieber fallen lassen, Herr Rhon?
FRAU WAHL
stößt einen leichten Schrei aus.
RHON.
Was haben Sie denn, gnädige Frau?
FRAU WAHL.
Am Ende sind sie auf dem Aignerturm.
RHON
auch etwas erschrocken.
Was fällt Ihnen ein?
FRAU WAHL.

Selbstverständlich. Sonst müßten sie ja schon zurück sein. Sie haben auch einen Führer mit. Kein Zweifel. Herr Direktor, Sie sind mit im Komplott, gestehn Sie's lieber gleich ein.

AIGNER.
Ich kann es beschwören, daß mit keinem Wort ...
RHON.
Dort steht ein Führer.
FRAU WAHL.
Wo? Das ist ja der Penn. Vielleicht war's der ...
DER FÜHRER PENN
steht beim Portier.
RHON UND FRAU WAHL
rasch zu ihm hin.
FRAU WAHL.
Waren Sie mit der Hofreiter-Partie, Penn? ...
PENN.
Freili.
Sehr schnell.
FRAU WAHL.
Wo ist meine Tochter?
RHON.
Wo ist meine Frau?
FRAU WAHL.
So reden Sie doch.
RHON.
Wann sind Sie denn überhaupt zurückgekommen?
FRAU WAHL.
Wo sind denn die andern? Wieso sind Sie allein? Was ist geschehn ...?
PENN
lächelnd.
Gnädig' Frau, mir sein schon alle wieder da. Brav hat sich das gnädig' Fräulein gehalten.
FRAU WAHL.
Was heißt das?
[273]
RHON.
Wo waren Sie denn?
PENN.
Auf dem Aignerturm sind wir g'wesen.
FRAU WAHL
mit leichtem Schrei.
Also doch! Also doch! Es ist furchtbar.
AIGNER.
Aber, gnädige Frau, da sie doch alle glücklich wieder zurück sind ...
RHON.
Auch meine Frau war auf dem Aignerturm? Das ist doch nicht möglich?
PENN.

Nein, die kleine Dicke ist nicht mit oben g'wesen. Nur das Fräul'n Erna und der Hofreiter und der Doktor Mauer.

RHON.
Und meine Frau?
FRAU WAHL.
Und mein Sohn?
PENN.
Die haben g'wartet auf uns in der Hütten, bis wir wieder zurück waren.
FRAU WAHL.
Aber wo sind sie denn?
PENN.
Die Herrschaften sind alle durch die Schwemm 'einagangen, damit s' kein Aufsehn machen.
FRAU WAHL.

Ich muß hinauf, ich muß Erna sehn.Zu Aigner. O, Sie ... – Zum Lift hin; da er eben oben ist, klingelt sie verzweifelt. Zu Aigner. Warum sich Ihr Lift meistens im vierten Stock oben aufhält! Das ist auch so eine geheimnisvolle Eigentümlichkeit Ihres Hotels. Zu Rhon. Fahren Sie nicht mit?

RHON.
Ich kann warten.

Der Lift herunter mit dem Boy.
RHON
zieht Frau Wahl beiseite.
Sehn Sie sich einmal den Boy an.
Sonderbare Ähnlichkeit –!
FRAU WAHL.
Mit wem?
RHON.
Na ... Weist auf Aigner.
FRAU WAHL.
Auch ein Sohn von ihm ...?
RHON.
Wohl schon ein Enkel.
FRAU WAHL.
Ach Gott, Sie ... Fährt mit dem Lift hinauf.
AIGNER
zu Penn.
Also ihr wart richtig auf dem Turm?
PENN.
Ja, Herr Direktor. Leicht ist's nicht gewesen.
AIGNER.
Das kann ich mir denken.
PENN.

Wissen S', Herr Direktor, ich hab' mir schon denkt, daß das Unwetter vor acht Tagen wird was ang'stellt haben. Ein paarmal haben wir uns fein ducken müssen. Und dann die letzten hundert Meter, weiß der Teufel ... was da g'schehn ist seit dem vorigen Jahr. Da hat man doch noch einen Tritt g'habt und g'wußt, wo man das Seil sichern kann, diesmal ham mir schier fliegen müssen ...

[274]
AIGNER.
Aber oben war's schön.
PENN.
Sell wissen ja der Herr Direktor. Oben is immer schön. Und gar auf dem Aignerturm.
DOKTOR MEYER
mit der gänzlich entfalteten Landkarte, schüchtern zum Portier hin.
ROSENSTOCK.
Da war' grad ein Führer, Herr Doktor.
MEYER.
Danke bestens. Zu Penn hin. Wenn ich mir erlauben dürfte ...
GUSTL WAHL
kommt in einem eleganten Sommeranzug, spricht mit einer gewissen affektierten Schläfrigkeit, zuweilen wieder absichtlich bedeutungsvoll.

Immer mit Humor. Grüß' Gott, Direktor. Guten Abend, Meister Rhon. Beglückwünsche Sie zu Ihrer Gattin. Sie spielt großartig Domino.

RHON.

Sie haben Domino mit ihr gespielt? Warum sind Sie denn nicht oben auf dem Aignerturm gewesen? Sie sind doch ein so großer Tourist. Im vorigen Jahr waren Sie doch auf dem Himalaja oder ...

GUSTL.

Das Klettern habe ich längst aufgegeben, jetzt bin ich nur mehr ein Hüttenwanderer. Auch nicht schlecht.

RHON.

Und die ganze Zeit haben Sie Domino gespielt? Während die andern in Lebensgefahr geschwebt haben? Von meiner Frau wundert's mich nicht. Frauen haben keine Phantasie. Aber Sie ...

GUSTL.

Die ganze Zeit haben wir nicht gespielt. Zuerst hab' ich versucht, mit Ihrer Frau Gemahlin ein Gespräch zu führen.

RHON.
Über buddhistische Philosophie wahrscheinlich.
GUSTL.
Größtenteils.
RHON.
Meine Frau interessiert sich nicht für Buddha.
GUSTL.

Ja, den Eindruck hab' ich auch gehabt. Und darum hab' ich dann lieber mit ihr Domino gespielt. Im Freien bitte! Auf einer herrlichen, mit den seltensten Alpenpflanzen übersäten Wiese!

AIGNER.
Seit wann haben denn die da oben ein Dominospiel?
GUSTL.

Das findet sich immer. Diesmal war's in meinem Rucksack. Ich entferne mich nie auf längere Zeit ohne ein Dominospiel von Hause.

AIGNER.
Sonderbarer Geschmack.
GUSTL.

Es ist das schwerste Spiel, das es gibt. Schwerer als Schach. Wissen Sie, wie viel Kombinationen es in dem Spiel gibt?

RHON.
Woher soll ich das wissen?
GUSTL.
Ich aber weiß es ... Ich habe mich jahrelang mit der Philosophie der Spiele beschäftigt.
[275]
RHON.
Und Sie haben nicht gezittert?
GUSTL.
Warum denn? Mir liegt nichts am Verlieren.
RHON.
Während Ihre Schwester zwischen Himmel und Erde ...
GUSTL.
Aber, bitt' Sie, meiner Schwester g'schieht doch nichts, die wird vierundachtzig Jahre alt.
RHON.
Das wissen Sie ganz bestimmt?
GUSTL.

Ich hab' ihr das Horoskop gestellt. Sie ist unter dem Skorpion geboren ... die darf noch mit dreiundachtzig Jahren eine Gletscherwanderung wagen, wenn's ihr Spaß macht.

RHON.
Sie werden mir doch nicht einreden, daß Sie an solche Sachen glauben?
GUSTL.

Warum nicht? – Ich erkenn' sogar den meisten Leuten auf den ersten Blick an – unter welchem Sternbild sie geboren sind.

FRAU ROHN
kommt.
Kleine, hübsche, ziemlich dicke Frau, stürzt ihrem Gatten an den Hals. Da bin ich wieder.
GUSTL
zu Aigner.
Schaun Sie sich zum Beispiel die Frau Rhon an ...
AIGNER.
Nun –?
GUSTL.
Ausgesprochener Steinbock! ...
RHON.
Na, laß nur, wir sind ja nicht allein.
AIGNER.
Bitte, genieren Sie sich gar nicht.
RHON
kühl.
Na, ist's schön gewesen, Kind?
FRAU RHON.
Aber prachtvoll.
RHON.
Ich höre, ihr habt Domino gespielt.
FRAU RHON.
Du bist bös'? Ich hab' gewonnen.
RHON.
Ist mir jedenfalls lieber, als wenn du auch versucht hättest herumzuklettern.
FRAU RHON.

Du, einen Moment hab' ich wirklich daran gedacht. Sie haben mich nur durchaus nicht mitnehmen wollen.

RHON.

Na, höre, das fehlte mir noch, daß du auf solche Ideen kommst. Ich habe keine Lust, mir durch die Sorge um dich die Wonne des Alleinseins verderben zu lassen. Wenn du nicht bei mir bist, will ich überhaupt nicht an dich denken müssen.

GUSTL.

Dafür hat sie auch nicht an Sie gedacht, Meister Rhon, das versichere ich Sie. Es wird Ihnen schon einmal schlimm ergehn. Ich war nur zufällig nicht das Genre von Ihrer Frau.

RHON.
Sagen Sie, Gustl, warum sind Sie denn so taktlos?
GUSTL.

Wissen Sie nicht, daß ich darauf reise? Und überhaupt – was ist Takt! Eine Tugend dritten Ranges. Das Wort sogar ist ziemlich neu. Findet sich weder bei den Römern, noch bei [276] den Griechen, noch – höchst charakteristisch – im Sanskrit.

FRAU RHON
zu Rhon.
Na, und du, was hast du denn gemacht indes? Bist du weiter gekommen?
RHON.
Schluß des dritten Aktes, das Publikum stürmt tief ergriffen ins Restaurant ...
FRAU RHON.
Da bin ich also grad recht zurückgekommen.
RHON.

Ja, nur dauert der Zwischenakt diesmal nicht lang. Von morgen früh an sperr' ich mich wieder ein und bleibe unsichtbar. Werde sogar, wenn du nichts dagegen hast, nicht an der Table d'hôte essen, sondern in der Schwemm', damit ich durch den unerwünschten Anblick blöder Gesichter nicht aus der Stimmung gerissen werde. Du kannst dann wieder Domino spielen.

GUSTL.

Gnädige Frau, lassen Sie sich scheiden von ihm. Wie kann man überhaupt einen Dichter heiraten? Das sind Unmenschen. Früher war's viel besser, wo man sich einen Dichter gehalten hat, wie einen Sklaven oder einen Friseur. Übrigens bestehn jetzt noch ähnliche Zustände auf den Azoren. Aber Dichter frei herumrennen lassen, das ist ja ein Blödsinn.

FRIEDRICH
kommt in einem eleganten Touristenanzug.

Guten Abend, meine Herrschaften, küss' die Hand, schöne Dichtersfrau. Wie, auch schon umgekleidet? Das ist aber g'schwind gegangen.

AIGNER
der eben beim Portier steht.
Grüß' Sie Gott, Hofreiter.
FRIEDRICH.

Guten Abend, Direktor. Zu Rosenstock. Nichts da für mich? Kein Telegramm? Kein Brief? Merkwürdig. Zu Aigner. Also ich kann Ihnen mitteilen, daß sich da oben nicht das geringste geändert hat, auf der Spitze wenigstens. Die Wegverhältnisse sind allerdings wieder ein bißchen schlimmer geworden. Oder ist man nur älter? Jetzt ist es Lebensgefahr, hinaufzuklettern, – aber wenn das mit dem Abbröckeln so weiter geht, ist es der sichere Selbstmord.

AIGNER.
Ja, der Penn hat mir berichtet.
FRIEDRICH.
Wissen Sie, Aigner, wenn man in diese Rinne kommt, ungefähr dreihundert Meter unterm Gipfel ...
AIGNER
unterbricht ihn.
Bitte, erzählen Sie mir nichts. Abgetan ist abgetan. Wie hat sich denn die Kleine gehalten?
FRIEDRICH.
Erna? Einfach prachtvoll.
AIGNER.
Daß Sie sie da mirgenommen haben ... ich muß sagen ...
FRIEDRICH.

Sie hat uns mitgenommen. Ich hatte überhaupt nicht die Absicht, den Turm noch einmal in meinem Leben zu [277] machen. Wo ist denn übrigens der Mauer?

AIGNER.
Ich hab' ihn noch nicht gesehn.
RHON.

Sagen Sie, Herr Hofreiter, wie war's Ihnen eigentlich zumute, als Sie an der gewissen Stelle vorbeikamen?

FRIEDRICH.

An der gewissen Stelle? Mein Gott, sieben Jahre sind eine lange Zeit. Ich habe Dinge beinahe vergessen, die viel kürzere Zeit zurückliegen. Ich vergesse sehr rasch ... wenn ich will.

RHON.

Nun ja ... man kommt wahrscheinlich öfters an Stellen wieder vorüber, wo jemand neben uns hinabgestürzt ist, nur erkennt man sie manchmal nicht wieder. Glauben Sie nicht –?

FRIEDRICH.
Wenn Sie eine Ahnung hätten, wie wenig ich zum Philosophieren aufgelegt bin, Meister Rhon ...
PAUL KREINDL
kommt rasch die Treffe herunter.
Habe die Ehre, Herr Hofreiter.
FRIEDRICH
ziemlich gleichgültig.
Ah – Paulchen? Grüß' Sie Gott.
PAUL.

Guten Tag, Herr Rhon. Ich hatte schon einmal das Vergnügen ... Also vor allem habe ich eine Menge Grüße zu überbringen. Zuerst von Frau Gemahlin, ferner vom Oberleutnant Stanzides, dann vom Natternpaar, dann von Frau Meinhold-Aigner, dann vom jungen Herrn von Aigner ...

FRIEDRICH.
Erlauben Sie, daß ich vorstelle ... Herr Paul Kreindl – Herr Direktor von Aigner.
PAUL.

Ah ... sehr angenehm ... Er schweigt betroffen, dann zu Aigner, gefaßt. Ich habe nämlich das Vergnügen, Ihren Herrn Sohn zu kennen.

AIGNER
ruhig.
Ich leider nicht.
FRIEDRICH.
Also was gibt's Neues in Baden?Ruhig. Wissen S'nicht – kommt meine Frau vielleicht her?
PAUL.
Bedaure, mir hat die gnädige Frau nichts gesagt.
FRIEDRICH.
Amüsiert man sich gut?
PAUL.

Glänzend! Neulich waren wir alle zusammen in der Arena. Die Frau Gemahlin wird Ihnen ja geschrieben haben.

FRIEDRICH.
Ja, natürlich.
PAUL.

Und vorher waren wir auf der Hauswiese, wo so eine Art Volksfest stattgefunden hat. Wir haben uns auch unter das Volk gemischt. Haben sogar getanzt.

FRIEDRICH.
Meine Frau auch?
PAUL.

Ja, natürlich, mit dem Herrn Fähnrich ... Und in der Arena, da war eine große Sensation, wie nämlich die Schauspieler von der Bühne plötzlich die berühmte Frau Meinhold [278] in einer Loge entdeckt haben. Sie haben dann eigentlich nur mehr für uns gespielt.

RHON.
Was ist denn gegeben worden?
PAUL.
Entschuldigen, darauf hab' ich nämlich gar nicht aufgepaßt.
RHON.
Für diese Menschen vergießt man sein Herzblut.
PAUL
zu Rhon.

Ah, ist da nicht Ihre Frau Gemahlin? Die Herren entschuldigen. Zu Frau Rhon und Gustl, die an einem Tisch sitzen.

RHON
folgt ihnen.

Friedrich, Aigner.
FRIEDRICH
zündet sich eine Zigarette an und setzt sich.
AIGNER.
Ich wußte gar nicht, daß meine einstige Familie so viel in Ihrem Hause verkehrt?
FRIEDRICH.

Ja, man sieht sich zuweilen. Insbesondere hat sich Ihre einstige Gattin sehr mit meiner Frau angefreundet. Und mit Otto spiel' ich manchmal Tennis. Er spielt famos. Überhaupt – zu Ihrem Sohn kann man Ihnen gratulieren. Man prophezeit ihm eine große Zukunft. Er soll sehr beliebt sein bei seinen Vorgesetzten. Vielleicht ist er der künftige Admiral von Österreich.

AIGNER.
Sie erzählen mir Geschichten von einem fremden jungen Mann.
FRIEDRICH.
Sagen Sie, Aigner, Sie haben wirklich nicht die geringste Sehnsucht, ihn wiederzusehn?
AIGNER.

Wiederzusehn? Sie könnten höchstens sagen, ihn kennen zu lernen. Denn der Fähnrich von heute hat wohl mit dem jungen Herrn, dem ich vor ungefähr zwanzig Jahren den letzten Vaterkuß auf die Stirne drückte, weder äußerlich noch innerlich mehr die geringste Ähnlichkeit.

FRIEDRICH.

Also nicht Sehnsucht, ihn wiederzusehn – aber Interesse, ihn kennen zu lernen –? Es wäre jetzt eine famose Gelegenheit. Sie haben nächstens in Wien zu tun –?

AIGNER.

Ja, ich muß zum Minister. Wir wollen hier eine Bahn bauen, wie Ihnen bekannt ist. Über Atzwang Völs direkt hier herauf. Sie werden zugeben, daß hier noch drei Hotels stehen könnten.

FRIEDRICH.

Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Aigner. Steigen Sie bei uns in Baden ab. In unserer Villa ist Platz genug. Wir haben ein schönes Fremdenzimmer. Ja. Ein sehr gemütliches. In dem nur manchmal die Geister von verstorbenen Freunden[279] erscheinen, die früher dort übernachtet haben. Das geniert Sie doch nicht?

AIGNER.

Gegen Geister von Verstorbenen habe ich nichts einzuwenden, nein. Aber lebendige Gespenster sind mir unsympathisch.

FRIEDRICH.

Es würde mir wirklich verdammt viel Spaß machen, Aigner, Sie mit Ihrem Sohn bekannt zu machen. Man könnte das so hübsch arrangieren – in unserm Garten, wir spielen Tennis, Sie erscheinen plötzlich ... als vornehmer Fremder ...

AIGNER.

Danke schön, mein guter Hofreiter. – Ich sag' ja nicht, daß ich einen Zufall dieser Art vermeiden würde, aber – eine arrangierte Begegnung, – das hätte einen fatalen Beigeschmack von Sentimentalität.

FRIEDRICH
beiläufig.
Warum denn ...?
AIGNER.

Auch vergessen Sie, daß ich bei dieser Gelegenheit doch auch wieder meiner verflossenen Gemahlin begegnen müßte – und das möchte ich lieber vermeiden.

FRIEDRICH.
Wie Sie glauben.

Pause.
AIGNER.
Es gibt übrigens wirklich sonderbare Zufälle ...
FRIEDRICH.
Wie meinen Sie das?
AIGNER.

Daß Sie mir gerade heute ... von meinem Sohn zu sprechen anfangen ... bei Ihrer Rückkehr von dort oben ...

FRIEDRICH.
Es fügte sich so ... Wenn nicht Paul Kreindl begonnen hätte ...
AIGNER.

Wissen Sie, wann ich die Erstbesteigung dieses Turmes unternahm, von dem Sie eben herunterkommen? – Es war sehr bald, nachdem ich mich von ... meiner Frau getrennt hatte.

FRIEDRICH.
Wollen Sie damit sagen, daß da – ein Zusammenhang bestand?
AIGNER.

Gewissermaßen ... Ich will ja nicht eben behaupten, daß ich den Tod gesucht habe – der wäre einfacher zu haben gewesen – aber viel am Leben lag mir damals nicht. Vielleicht auch, daß ich eine Art Gottesurteil herausfordern wollte.

FRIEDRICH.

Hören Sie, wenn alle Ehemänner in einem solchen Fall auf Felsen klettern wollten ... die Dolomiten würden einen possierlichen Anblick bieten. Sie haben doch schließlich nichts Schlimmeres getan als mancher andere auch.

AIGNER.

Es kommt immer nur darauf an, wie so etwas von dem andern Teil empfunden wird ... Meine Gattin hatte mich sehr geliebt.

[280]
FRIEDRICH.
Das hätte ein Grund mehr für sie sein sollen, nicht unversöhnlich zu bleiben.
AIGNER.

Möglich. Aber auch ich hatte sie sehr geliebt. Hier liegt das Problem! – Unendlich ... Wie keine früher und keine ... na, lassen wir das. Sonst wär' es ja zu reparieren gewesen. Aber gerade, daß ich sie so sehr liebte – und trotzdem fähig war, sie zu betrügen ... sehen Sie, mein lieber Hofreiter, das machte sie irre an mir und an der ganzen Welt. Nun gab es überhaupt keine Sicherheit mehr auf Erden ... keine Möglichkeit des Vertrauens, verstehen Sie mich, Hofreiter –? – Nicht, daß es geschehn, nein, daß es überhaupt möglich gewesen war, das war's, was sie von mir forttrieb. Und ich mußte es begreifen. Ich hätte es sogar vorhersehen können.

FRIEDRICH.
Ja, da muß ich allerdings fragen, warum ...
AIGNER.

Warum ich sie betrogen habe –? ... Sie fragen mich? Sollt' es Ihnen noch nicht aufgefallen sein, was für komplizierte Subjekte wir Menschen im Grunde sind? So vieles hat zugleich Raum in uns –! Liebe und Trug ... Treue und Treulosigkeit ... Anbetung für die eine und Verlangen nach einer andern oder nach mehreren. Wir versuchen wohl Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches ... Das Natürliche ... ist das Chaos. Ja – mein guter Hofreiter, die Seele ... ist ein weites Land, wie ein Dichter es einmal ausdrückte ... Es kann übrigens auch ein Hoteldirektor gewesen sein.

FRIEDRICH.

Der Hoteldirektor hat nicht so unrecht ... ja. Pause. Das Malheur war im Grunde nur, daß Ihre Gattin Ihnen draufgekommen ist. Sonst wären Sie vielleicht heute noch die glücklichsten Eheleute.

AIGNER.
Ein Malheur – ja ...! –
FRIEDRICH.
Wie hat sie's denn eigentlich erfahren?
AIGNER.
... Wie? Auf die einfachste Art von der Welt ... Ich hab' es ihr gestanden ...
FRIEDRICH.
Wie –? Sie haben ihr –?
AIGNER.

Ja. Das war ich ihr schuldig – gerade weil ich sie anbetete. Ihr und mir. Ich wäre mir recht feig vorgekommen, wenn ich's ihr verschwiegen hätte. So leicht darf man sich die Dinge doch eigentlich nicht machen. Finden Sie nicht ...?

FRIEDRICH.

Das war ziemlich großartig gedacht – wenn es nicht eben nur eine Art Affektation war. Oder Raffinement ... Oder Bequemlichkeit ...

[281]
AIGNER.
Oder alles zugleich, was auch möglich wäre. Denn die Seele – und so weiter.
FRIEDRICH.

Und trotz dieser fabelhaften Aufrichtigkeit – und trotz aller Liebe hat Ihre Frau sich nicht entschließen können, Ihnen zu –

AIGNER.

Sagen Sie um Gottes willen nicht »verzeihn«. Worte dieser Art passen hier durchaus nicht her. Es gab auch niemals eine Szene zwischen uns oder dergleichen. Es war nur zu Ende, mein guter Hofreiter, zu Ende, unwiderruflich zu Ende. Sofort ... Das fühlten wir beide. Es mußte zu Ende sein ...

FRIEDRICH.
Es mußte –?
AIGNER.

Mußte. Ja. Nun, lassen wir – die Lebenden ruhn. Die Toten besorgen das im allgemeinen auch ohne unser Zutun.

FRAU WAHL
kommt von oben.
Ah, da ist er ja –!
FRIEDRICH.
Küss' die Hand, Mama Wahl.
FRAU WAHL.

Mit ihnen, Friedrich, red' ich über haupt niemals ein Wort mehr. Und wenn sie abgestürzt wäre? Wie ständen Sie da? Könnten Sie mir je wieder unter die Augen treten? Auch mit dem Doktor Mauer bin ich fertig. Wo ist er denn? Es ist ja ungeheuerlich. Ich könnte euch beiden ...

FRIEDRICH.
Aber, Mama Wahl, die Erna wär' auch ohne uns hinaufgeklettert.
FRAU WAHL.
Ihr hättet sie anbinden müssen.
FRIEDRICH.
Das war sie, Mama Wahl. Das waren wir alle. An einem und demselben Seil.
FRAU WAHL.
Ein Narrenseil gehört für euch.
ERNA
kommt im weißen Sommerkleid.
Guten Abend.
AIGNER.

Gott grüße Sie, Erna. Gott grüße Sie. Er nimmt sie bei den Händen und küßt sie auf die Stirn. Sie erlauben.

FRIEDRICH.
Wie der alte Liszt die jungen Klavierspielerinnen.
ERNA
küßt Aigner die Hand.
Und wie eine ganz junge Klavierspielerin dem noch nicht besonders alten Liszt.
AIGNER.
Aber Erna ...
FRAU WAHL.
Das auch noch.
ERNA.
Es war die schönste Stunde, Herr von Aigner, die ich je erlebt habe.
AIGNER.
Ja, dort oben! ... Und doch hoff' ich, Sie werden noch schönere erleben, Erna.
ERNA.

Das halt' ich für schwer möglich. Daß das Leben einem wieder einmal geradeso schön vorkommt, das könnte sich ja vielleicht [282] ereignen. Aber daß einem der Tod zu gleicher Zeit so vollkommen gleichgültig ist, das passiert einem gewiß nur bei solchen Gelegenheiten. Und das ... das ist das Wundervolle! ...


Indes ist die Pott angelangt. Rosenstock ordnet Briefe Hotelgäste kommen, empfangen ihre Korrespondenz usw.
PAUL.
Fräulein Erna, gestatten Sie auch mir, Ihnen meine Bewunderung zu Füßen zu legen.
ERNA.
Grüß' Sie Gott, Paul, wie geht es Ihnen?
PAUL.
Ja, zum Teufel, pardon ... wundert sich denn niemand, daß ich da bin?
FRIEDRICH
der sitzt.
Hören Sie, Paul, es ist ein viel größeres Wunder, daß wir da sind.
AIGNER
steht mit einer schönen Französin etwas abseits.
RHON
zu Frau Wahl.
Sehen Sie doch, gnädige Frau, das ist die morgige. Er sammelt Vorräte ...
ERNA
zu Frau Wahl die sich von Rosenstock ihre Briefe hat geben lassen.
Na, Mama ...?
FRAU WAHL.
Von Haus. Ah, da ist eine Karte von Ihrer Frau. Zu Friedrich. Sie läßt Sie schön grüßen, Friedrich.
FRIEDRICH.
Daß sie kommt – schreibt sie Ihnen nicht?
ROSENSTOCK.
Da sind auch Briefe für Sie, Herr Hofreiter.
FRIEDRICH
steht auf.
So? Ah, da ist ja auch einer von Genia.
GUSTL
legt sich Briefe auf die Stirne.
FRAU RHON
zu Gustl.
Was machen Sie denn da?
GUSTL.

Ich lese nämlich Briefe schon lange nicht mehr. Ich leg' sie mir einfach auf die Stirne und weiß, was drin steht.

FRAU WAHL
zu Friedrich.
Also kommt sie vielleicht doch?
FRIEDRICH.

Nein. Sie schreibt, daß Percy seine Ankunft verschoben hat, er ist zu Freunden nach Richmond geladen, bleibt acht Tage dort. So ein Lausbub', – und hat schon Freunde in Richmond.

RHON
sitzt und liest seine Korrespondenz.
Ha ...
FRAU RHON.
Was ist denn?
RHON.

Es ist unglaublich. Diese Rundfragen! – Man muß sagen, die Leute werden immer neugieriger. Früher haben sie sich begnügt zu fragen, ob man Makkaroni oder Pfirsichkompott lieber ißt, ob Wagner gekürzt oder ungekürzt aufgeführt werden soll. Aber was sie jetzt schon von einem wissen wollen ... Hören Sie sich das einmal an, Hofreiter.

FRIEDRICH
sitzt am Nachbartisch und schaut seine Briefe durch.
RHON.

Da fragt eine Frauenzeitschrift: a) in welchem Alter man [283] zuerst das Glück der Liebe genossen, b) ob man jemals perverse Neigungen verspürt habe.

AIGNER
zu Hofreiter.
Eben erhalte ich eine Anfrage, ob man in unserm Weiher auch baden kann.
RHON.
Bei fünf Grad ... brr! –
AIGNER.
Ja, wenn sich das noch machen ließe – da wäre die Schweiz einfach tot ...
RHON.

Hören Sie, ich habe eine Idee. Sie müssen mich natürlich am Gewinn beteiligen. Sie haben doch da ungeheure Wasserkräfte, die Fälle, die von den Bergen herabstürzen ... wie wär's, wenn Sie Ihren See elektrisch durchwärmen ließen?

AIGNER
lacht.
RHON.

Sie lachen ... Natürlich! Aber wenn ich nur was vom Technischen verstünde – ich würde euch die ganze Anlage selber baun ... so deutlich seh' ich's innerlich vor mir! Nur das Manuelle fehlt mir. Wenn ich auch das hätte, ich glaube, ich hätte nie eine Feder angerührt.

FRIEDRICH.

Ich denk' mir überhaupt manchmal, ob die Dichter nicht meistens nur aus gewissen innern Mängeln ... Dichter werden –?

RHON.
Wie meinen Sie das –?
FRIEDRICH.

Ich stell' mir vor, viele Dichter sind geborene Verbrecher – nur ohne die nötige Courage – oder Wüstlinge, die sich aber nicht gern in Unkosten stürzen ...

RHON.

Und wissen Sie, was Fabrikanten von Glühlichtern gewöhnlich sind, Herr Hofreiter? ... Glühlichterfabrikanten – sonst nichts.

FRIEDRICH.
Wär' gut, wenn's wahr wär' ...
EIN BOY
bringt Friedrich einen Brief.
FRIEDRICH
macht ihn auf, lächelt und beißt sich in die Lippen.
ERNA
hat et gesehn.
FRAU WAHL.
Adieu, ich muß mich noch umkleiden, adieu, kleine Dichtersfrau, adieu, großer Dichter.
GUSTL
öffnet eben einen seiner Briefe.
FRAU RHON.
Sie machen ihn ja doch auf.
GUSTL.
Das ist nur zur Kontrolle. Die Leut' schreiben einem ja manchmal das Unrichtige.

Frau Rhon und Gustl nach rückwärts, dann ab. Aigner zu Rosenstock, dann ab. Rhon entfernt sich gleichfalls. Es wird beinahe ganz leer in der Halle.
ERNA
über Friedrichs Schulter schauend.
Liebesbrief?
[284]
FRIEDRICH.
Raten Sie von wem? Von Mauer ...
ERNA.
Oh ...
FRIEDRICH.

Er hat soeben ein dringendes Telegramm aus Wien erhalten. Mußte sofort abreisen ... Ist schon fort ... Ich möchte ihn allseits bestens empfehlen.

ERNA.
Ich dachte mir so was.
FRIEDRICH.

Ich auch. Schon diese Lustigkeit gestern abend, beim Nachtmahl in der Hütte! Und dann seine Stimmung heute beim Anstieg. Beim Zurückgehn hat er überhaupt kein Wort mehr gesprochen ... Ja, Erna, auf einer freiliegenden Wiese, fünfzig Schritte von einer Hütte mit zwanzig Fenstern, sollte man sich eben nicht um den Hals fallen.

ERNA.
Sie glauben, daß er das gesehn hat?
FRIEDRICH.
Wahrscheinlich.
ERNA.

Und glauben Sie, wenn das auf der Wiese nicht passiert wäre, er wäre nicht abgereist? Da sind Sie im Irrtum. Wir hätten einander gar nicht ansehn müssen und er hätte es bemerkt, geradeso wie die andern es merken ...

FRIEDRICH.
Was sollen denn die andern merken?
ERNA.
Wie es mit uns zweien steht.
FRIEDRICH.
Aber Erna, wie sollen denn diese Leute ...
ERNA.
Wir haben vielleicht so eine Art Schein um den Kopf.
FRIEDRICH
lacht.
ERNA.

Ja, so etwas Ähnliches muß es sein. Das hab' ich mir schon manchmal gedacht. Wieso wissen denn gleich alle Leute so was ...

FRIEDRICH.
Ich hätte abreisen sollen, Erna.
ERNA.
Das wäre aber gescheit gewesen!!
FRIEDRICH.
Sie sollten nicht kokett sein, Erna.
ERNA.
Das bin ich wirklich nicht.
FRIEDRICH.
Also was sind Sie denn?
ERNA.
Ich bin, wie ich eben bin.
FRIEDRICH.

Das ist Ihr Vorteil mir gegenüber. Ich bin nämlich nicht mehr, der ich war. Ich bin toll seit dem Kuß gestern, toll. Kommen Sie doch näher, Erna. Faßt ihre Hand. Setzen Sie sich hier mir gegenüber.

ERNA.
Was sind Sie denn so grob ...!
FRIEDRICH.
Erna, ich hab' kein Auge zugetan diese Nacht.
ERNA.
Das tut mir leid. Ich hab' wundervoll geschlafen.
FRIEDRICH.
In dieser dumpfen Hüttenluft geht's mir übrigens meistens so.
[285]
ERNA.

Sie hätten's machen sollen wie ich. Ich hab' mir meinen Plaid auf die Wiese hinausgeholt – auf unsere Wiese und hab' mich im Freien hingelegt.

FRIEDRICH.
Haben Sie nicht gefroren?
ERNA.
Nein. Ich hab' mir aus der Wirtsstube Ihren Mantel geholt und mit dem hab' ich mich zugedeckt.
FRIEDRICH.
Also Hexenkünste auch noch? Es ging auch ohne die, Erna!
ERNA.

So hab' ich von zehn bis drei herrlich geschlafen, unter den Sternen, und dann bin ich erst zurück ins Zimmer zur guten dicken Frau Rhon.

FRIEDRICH.

Erna, Erna! Ich wär' imstande, eine rasende Dummheit zu begehn. Plötzlich versteh' ich allen Unsinn, über den ich mich früher lustig gemacht habe. Ich verstehe Fensterpromenaden, Serenaden. Geste. Ich versteh', daß man mit gezücktem Messer auf einen Rivalen losgehn, aus unglücklicher Liebe in einen Abgrund springen kann.

ERNA.
Warum Sie von unglücklicher Liebe reden?
FRIEDRICH
ernst.

Wozu sich täuschen, Erna! Das gestern abend ... überhaupt diese ganze Partie, der Augenblick auf dem Gipfel oben, der Händedruck, dieser Wahn des Zusammengehörens, dieses ungeheure Glücksgefühl, es war wohl alles nur eine Art von Rausch, von – Bergrausch. Wenigstens für Sie. Hängt mit den dreitausend Meter Höhe zusammen, mit der dünnen Luft, mit der Gefahr. Aber ich persönlich habe wohl die geringste Rolle gespielt in Ihrer Stimmung.

ERNA.

Warum sagen Sie das? Ich liebe Sie ja schon seit meinem siebenten Jahr. Allerdings mit Unterbrechungen. Aber in der letzten Zeit ist es wieder sehr schlimm geworden. Ich mache keinen Spaß. Und gar gestern und heut' – und da oben – und jetzt! ... Ach Gott, Friedrich, ich möcht' Ihnen so gern in die Haare fahren und sie verstruweln.

FRIEDRICH.
Geben Sie doch acht. Es ist ja nicht notwendig. Hören Sie, Erna, – ich will Sie was fragen.
ERNA.
Also fragen Sie.
FRIEDRICH.

Also – Wie dächten Sie darüber ... Hören Sie mich gut an! – Ich bin nämlich jetzt wieder ganz vernünftig. Also Erna, Sie wissen ja – meine Ehe, darüber muß ich Ihnen ja nichts weiter erzählen. Die Schuld lag ja größtenteils an mir. Immerhin – wir passen doch nicht so recht zusammen, Genia und ich. Und besonders seit der sonderbaren Geschichte mit [286] Korsakow, die ich Ihnen ja erzählt habe ... Ach Gott, warum mach' ich soviel Worte. Ich möcht' mich von Genia scheiden lassen ... und Sie heiraten, Erna.

ERNA
lacht.
FRIEDRICH.
Na ...?
ERNA.
Weil Sie früher gesagt haben, Sie wären imstande, eine rasende Dummheit zu begehen.
FRIEDRICH.

Es wäre vielleicht keine, wenn man's gleich nähme, wie es zu nehmen ist. Ich weiß, Erna, Sie werden mich nicht ewig lieben.

ERNA.
Aber Sie mich!!!
FRIEDRICH.

Eher ... Übrigens, Ewigkeit! Man steigt im nächsten Jahr wieder auf so ein Türmchen hinauf, und es ist aus mit der Ewigkeit. Oder sie fängt erst recht an. Also was das anbelangt! Ich weiß nur, das weiß ich mit absoluter Sicherheit, daß ich ohne Sie nicht existieren kann. Ich vergehe vor Sehnsucht nach Ihnen, ich werde nichts mehr denken können, nichts mehr arbeiten, überhaupt mich mit nichts mehr Vernünftigem beschäftigen, eh' Sie ... eh' ich Sie in den Armen halte, Erna.

ERNA.
Warum haben Sie nicht Ihren Mantel geholt, heut nacht? ...
FRIEDRICH.

Ich bitte Sie dringend, spielen Sie nicht mit mir, Erna. Ich bin doch ehrlich genug mit Ihnen. Sagen Sie einfach nein und die Sache ist erledigt. Mauer wird noch einzuholen sein. Zum lächerlich werden hab' ich keine Anlage. Wollen Sie meine Frau werden?

ERNA.
Frau? – Nein.
FRIEDRICH.
Na, gut.
ERNA.
Vielleicht später einmal.
FRIEDRICH.
Später –?
ERNA.
Lesen Sie Ihre Briefe weiter.
FRIEDRICH.

Wozu? Die Fabrik kann von mir aus in die Luft gehn. Alles kann in die Luft gehn. Was heißt das: später! Das Leben ist nicht gar so lang. Frist gewähr' ich keine. Ein Kuß wie der von gestern verpflichtet. Entweder zu sofortigem Abschied oder zu einem bedingungslosen Ja. Warten kann ich nicht. Werd' ich nicht. Sagen Sie nein, und ich fahre noch heute ab.

ERNA.
Ich spiele nicht mit Ihnen. Ich weiß, wozu mich unser Kuß verpflichtet.
FRIEDRICH.
Erna ...
[287]
ERNA.
Haben Sie es denn nicht immer gewußt, daß ich Ihnen gehöre?
FRIEDRICH.
Erna ... Erna!

Tamtam ertönt.
Der Tourist, der zu Beginn des Aktes eingeschlafen ist, wacht aus einem Traum auf, erhebt sich, schreit auf, heult geradezu und stürzt über die ganze Bühne, endlich hinaus.
FRAU WAHL
kommt herunter.
AIGNER
trifft mit ihr zusammen.
Ah, das ist ja eine Schnalle, die ich noch gar nicht kenne! Entzückend ...
FRIEDRICH.
O, da haben wir uns nett verplaudert. Ich hab' nicht einmal mehr Zeit, mich umzukleiden.
FRAU WAHL.
Sie sind auch so schön genug. Wo ist denn übrigens der Doktor Mauer?
FRIEDRICH.

Ja, richtig, er läßt sich bestens empfehlen, er hat ein Telegramm bekommen, er mußte plötzlich abreisen.

FRAU WAHL.

Ein Telegramm, Doktor Mauer? Das ist doch ... Kinder, man verschweigt mir was. Er ist abgestürzt! ... Er ist ... tot!

FRIEDRICH.
Na, hören Sie, Mama Wahl, glauben Sie, da könnten wir hier so gemütlich ...
FRAU WAHL.
Na, bei euch kann man das nicht wissen.
FRIEDRICH.
Ich hätte wenigstens schwarze Handschuhe genommen.
SERKNITZ
kommt in Frack, weißer Krawatte, zu Aigner hin.

Ich habe die Ehre mich gehorsamst zu melden, Herr Direktor. Die Wäsche ist angelangt, und ich war so frei, mich sofort in eine den Ansprüchen Ihres Hotels entsprechende Toilette zu werfen.

AIGNER.
Sie sehn geradezu verführerisch aus, Herr von Serknitz.
SERKNITZ
in den Speisesaal.
FRAU WAHL UND AIGNER
gleichfalls.

Frau Rhon und Gustl, Rhon, Meyer, verschiedene andere, die von der Treppe herunterkommen, in den Speisesaal.
ERNA UND FRIEDRICH
zusammen.
FRIEDRICH
laut.
Kommen Sie, Erna. Leise. Weißt du noch, was du früher gesagt hast?
ERNA.
Ja.
FRIEDRICH.
Da drin wird also heute unser Hochzeitsdiner serviert
ERNA.
Und es wird, Gottseidank, keiner einen Toast halten.
FRIEDRICH.
Und du gehörst mir.
[288]
ERNA.
Ja.
FRIEDRICH.

Erna, überleg' dir gut, was du sagst. Wenn heute nacht deine Tür versperrt sein sollte, so schlag' ich sie ein und es ist um uns beide geschehn.

ERNA.
Es wird nicht um uns geschehn sein.
FRIEDRICH.
Erna ...!
ERNA.
Und ich ahne, es gibt noch schönre Stunden, als die dort oben war auf dem Aignerturm.
FRIEDRICH.
Erna ...
ERNA
erst jetzt mit dem vollen Ton der Wahrheit.
Ich liebe dich! –

Sie gehn in den Speisesaal.
Vorhang.

4. Akt

Vierter Akt

Dekoration des zweiten Aktes. – Sommernachmittag.
Unter dem Nußbaum die zwei Kinder der Frau Natter, ein neunjähriges Mädel und ein siebenjähriger Bub' mit ihrer Miß, die ihnen die Bilder in einem Buche zeigt.
Aus dem Hause kommen nach und nach Genia, Natter, Frau Wahl, Demeter Stanzides, Gustl, Paul, Erna, Otto, Frau Adele Natter.

NATTER.

Das Diner zu Ehren der Rückkehr unseres geschätzten Hausherrn war vorzüglich. Nur schade, daß er selbst nicht dabei war.

GENIA.
Jedenfalls ist er in der Fabrik aufgehalten worden.
NATTER.
Kein Wunder nach einer dreiwöchentlichen Abwesenheit.
FRAU WAHL.
Haben Sie ins Bureau hineintelephoniert, Genia?
GENIA.

Dazu war doch kein Anlaß, ich hatte ihn sicher für Mittag erwartet, nach dem gestrigen Telegramm aus Innsbruck. Sie ist jetzt drüben bei den Kindern. Gefallen euch die Bilder, ja? ...

KINDER.
Oh ja.
GENIA.

Ihr müßt eure Mama bitten, daß sie euch am nächsten Sonntag wieder mit herausbringt, da ist dann der Percy sicher schon da. Also was wollt ihr denn jetzt machen?

GUSTL.

Kinder, ich werd' euch ein wunderschönes Spiel zeigen, [289] das die braven Hindukinder spielen an den Ufern des Ganges. Paßt nur gut auf. Bitt' schön, Fräulein, geben Sie mir Ihren Sonnenschirm. Danke sehr. Also da zeichne ich drei konzentrische Kreise in den Sand, der eine hat einen Durchmesser von einem Meter, der mittlere von dreiviertel, der innere einen halben. Zu den andern, die nahestehen, lachen, zu Frau Wahl, Paul, Adele, Genia. Also bitte, das treffen die Hindukinder mit mathematischer Genauigkeit auf einen Millimeter. Jetzt paßt gut auf. Dann wird eine Tangente gezogen, längs des äußern Kreises, eine zweite senkrecht darauf, längs des mittleren. Eine dritte, wieder parallel zur ersten, längs des innern. Dadurch entstehn selbstverständlich Segmente. Jetzt setzt man in das äußerste Segment östlich – Er nimmt aus seiner Westentasche einen kleinen Kompaß, zu den andern, die wieder lachen. Hab' ich immer bei mir. Ich begreif' überhaupt nicht, wie ein anständiger Mensch ohne Kompaß herumgehn kann. Also dort ist Osten. In das äußerste Segment kommt eine kleine Schildkröte ... in das westliche ein Skorpion, dem man natürlich schon den Stachel ausgezogen hat ... Also was werden wir da in Europa nehmen statt dem Skorpion? Der siebenjährige Bub' fängt an zu weinen.

ADELE.

Jetzt hören Sie aber auf, Gustl! Miß ... will you – ah was! ... Sie gibt das Englisch auf. Bitt' Sie Miß, gehn S' mit den Kindern da hinten auf die Wiese, da ist Platz zum Spielen ... Zu den Kindern. Und da erzählt euch niemand so grausliche Geschichten von Skorpionen und Tangenten.


Das Fräulein mit den Kindern ab.
Demeter Stanzides hat sich auf die kleine Bank neben dem Eingang gesetzt und eine Zeitung in die Hand genommen, die dort lag. Stellung von links nach rechts: Stanzides links auf der Bank. In seiner Nähe Frau Wahl und Otto. Dann Paul, Erna. Ganz rechts Gustl, Adele, Genia.
STANZIDES.

Hört, hört! Er liest. »Wie uns vom Hotel Völser Weiher berichtet wird, hat dort vor wenigen Tagen eine junge Dame aus Wien, Fräulein Erna Wahl, in Begleitung zweier Wiener Touristen, des Fabrikanten Hofreiter und des bekannten Arztes Doktor Mauer den Aignerturm bestiegen, eine durch ihre Gefährlichkeit ...«

ERNA.
Kommen Sie, Paul, gehn wir Tennis spielen.
PAUL.
Sehr einverstanden. Zu Adele. Gnädige Frau? Herr Fähnrich?
ADELE.
Ich spiel' nicht gleich nach dem Essen.
[290]
OTTO.
Mir gestatten Sie wohl auch noch meine Zigarette zu rauchen.
PAUL.

Gut. Wir werden heute überhaupt lauter Singles spielen. Ein Singletournier. Hoffentlich kommt der Herr Hofreiter noch zurecht, damit er sich daran beteiligen kann. Heute muß das Verhältnis nämlich endgültig klar gestellt werden ...! Ab mit Erna.

FRAU WAHL.
Wie heißt's denn weiter?
STANZIDES
liest weiter.

»Eine durch ihre Gefährlichkeit berüchtigte Felsenspitze in den südwestlichen Dolomiten. Dieselbe wo vor sieben Jahren ein junger Arzt, Doktor Bernhaupt, durch Absturz ...«

FRAU WAHL.

Ja, Frau Genia, auf solche Berge haben sie die Erna hinaufgeschleppt. So bös' bin ich in meinem ganzen Leben nicht gewesen, wie auf den Doktor Mauer und auf Ihren Gatten.

GUSTL.
Aus lauter Angst vor der Mama sind die beiden Herren sofort abgefahren.
GENIA
mit Blick auf Erna, lächelnd.

Ja, es scheint, den Friedrich hat das böse Gewissen ganz ruhelos gemacht. Jeden Tag hab' ich von anderswoher eine Karte bekommen, aus Caprile, Pordoi und Gott weiß noch woher.

FRAU WAHL
hat die Zeitung in die Hand genommen und blättert.
Was ist denn das eigentlich für eine Zeitung?
NATTER.
Jetzt sind gnädige Frau doch stolz auf den Ruhm von Fräulein Erna ...
FRAU WAHL.
Stolz – ich?
GENIA
ist hinübergekommen, ungefähr bis zur Mitte, wo Frau Wahl steht.
Was ist das für ein Blatt? Ich kenn's gar nicht ... wie kommt das her?
FRAU WAHL.
Da ist ja was rot angestrichen.
STANZIDES.
Was rot angestrichen ist in so einem Blatt, das soll man lieber nicht lesen.
FRAU WAHL.
Das ist aber merkwürdig.
ADELE, GUSTL UND GENIA. Was denn?
FRAU WAHL
liest.

»Seit einigen Tagen tritt mit immer größerer Bestimmtheit in Wiener Gesellschaftskreisen ein sonderbares Gerücht auf, das wir hier – selbstverständlich mit der gebotenen Reserve – wiedergeben. Es handelt sich um den Selbstmord [291] eines weltberühmten Virtuosen, der zu Beginn dieses Sommers großes Aufsehn erregt hat und in ein Dunkel gehüllt war, das auch durch die beliebte Phrase von der plötzlichen Sinnesverwirrung eine genügende Aufklärung nicht erhalten hat. Das oben erwähnte Gerücht will nun wissen, daß die Ursache jenes Selbstmords ein amerikanisches Duell gewesen, daß aber die Entscheidung in diesem Duell nicht etwa, wie sonst, durch eine weiße und eine schwarze, sondern durch zwei weiße und eine rote Kugel herbeigeführt worden sei.« – Zwei weiße und eine rote, – was heißt denn das?


Bange Pause.
GENIA
ruhig.

Die Billardpartie, auf die hier angespielt wird, gegen Korsakow, hat mein Mann verloren. Wenn es also ... ein amerikanisches Duell gewesen wäre ... so hätte Friedrich sich erschießen müssen – nicht? Pause.

STANZIDES.

Es ist doch unglaublich, daß man gegen solche Infamien so gut wie wehrlos ist. Insbesondere, da kein Name genannt ist.

NATTER.
Die werden sich wohl hüten.
FRAU WAHL
versteht endlich.

Ah, diese Billardpartie ... natürlich, Frau Genia, Sie haben uns ja erzählt. Ihr Mann hat dem Korsakow in der Früh' die Zigarren ins Hotel geschickt ... aber freilich! Da könnte ich Zeugin sein vor Gericht!

GUSTL.
Mama, du brauchst nicht Zeugin zu sein. Kein Mensch kümmert sich um so was.

Adele und Stanzides sind schon auf dem Wege zum Tennisplatz und verschwinden allmählich von der Szene.
FRAU WAHL.

Es ist aber doch ... Wie kommt nur so was in die Zeitung ...? Und weswegen sollt' sich denn der Friedrich mit dem Korsakow ...


Frau Wahl, Gustl, ihnen gleich nach Herr Natter auch gegen den Tennisplatz zu.
Otto und Genia bleiben allein zurück.
Otto, Genia.
GENIA.
Sie glauben es?
OTTO.
Diese unsinnige Duellfabel? Was fällt Ihnen ein!
GENIA.

Aber daß diese Fabel vielleicht nicht ganz ohne Grund entstanden ist –! ... Mit einem Wort, daß ich – auch Korsakows Geliebte war.

[292]
OTTO.
Nein. Ich glaub' es nicht.
GENIA.

Warum sollten Sie's nicht glauben ... Weil ich es leugne? Das ist kein Gegenbeweis. Ich an Ihrer Stelle ... ich würde es glauben. Als wenn sie zum Tennisplatz gehn wollte.

OTTO.

Ich glaub' es nicht, Genia. Ich schwör' Ihnen, daß ich's nicht glaube. Wozu reden wir darüber. Bitte, bleiben Sie! Bitte! – Wer weiß, ob sich noch ein ungestörter Augenblick findet. Morgen in aller Früh' muß ich in die Stadt hineinfahren. Ich habe noch eine Menge drin zu tun ... Abmeldung ... Einkäufe – und mit dem Nachtzug fahr' ich nach Pola.

GENIA
sieht ihn an.
Morgen schon ...
OTTO.
Auf welche Art darf ich Ihnen Nachrichten zukommen lassen?
GENIA.

Sie können mir ruhig schreiben. Meine Briefe werden nicht geöffnet. Und wenn Sie besonders vorsichtig sein wollen, so schreiben Sie mir eben – so wie Sie jetzt zu mir reden – wie einer guten Freundin.

OTTO.
Das ist zu viel verlangt. Das kann ich nicht durchführen.
GENIA.
Es gäbe noch eins. – Nicht schreiben, gar nicht schreiben.
OTTO.
Genia ...
GENIA.
Wär' es nicht das klügste? Man sieht sich ja doch nie wieder.
OTTO.
Genia! In zwei Jahren bin ich wieder da.
GENIA.
In zwei Jahren!
OTTO.

Wenn du mir doch vertrautest, Genia. Auch früher könnt' ich wieder da sein. Viel früher. Es gibt ja andre Möglichkeiten für mich ... Du weißt es ... Ich müßte gar nicht fort, Genia.

GENIA.
Du mußt. Vielmehr du sollst, das ist ein stärkeres Gebot.
OTTO.
Wie soll ich leben – ohne dich!
GENIA.

Du wirst es können. Es war schön. Lassen wir's daran genug sein. Glück auf die Reise, Otto, und Glück fürs weitere Leben.


Pause.
OTTO.
Was wirst du tun, wenn ich fort bin?
GENIA.

Ich weiß es nicht. Heute weiß ich's nicht. Was wußten wir zwei vor wenigen Wochen, vor Tagen! ... Man gleitet. Man gleitet immer weiter, wer weiß wohin.

OTTO.

Wie kannst du ... Oh, ich verstehe dich! Du redest heute so, um mir das Scheiden leichter zu machen. Genia ... Erinnere dich doch, Genia ...

GENIA.
Ich erinnere mich. O ja, ich erinnere mich.Bitter. Aber das [293] Vergessen fängt auch nicht anders an.
OTTO.
Tut es dir sehr wohl, mir Schmerz zu bereiten?
GENIA.

Warum hältst du mich für besser als ich bin? Ich bin nicht besser als andere sind. Merkst du's denn nicht? Ich lüge, ich heuchle. Vor allen Leuten spiel' ich Komödie, – vor Herrn Natter und vor Frau Wahl ... vor deiner Mutter so gut wie vor meinem Stubenmädchen. Ich spiele die anständige Frau – und nachts lass' ich das Fenster offen stehn für meinen Liebhaber. Ich schreibe meinem Sohn, er möge sich länger bei seinen Freunden aufhalten, meinem geliebten Sohn schreib' ich das ... nur damit er mein Abenteuer nicht störe, – und ich schreibe meinem Gatten, daß Percy durchaus noch in Richmond bleiben will, nur damit er selber länger fortbleibt. Und wenn er heute zurückkommt und dir die Hand reichen wird, werde ich daneben stehn, lächeln und mich wahrscheinlich meiner Geschicklichkeit freun. Findest du das alles sehr schön? Denkst du – ich bin eine, der man trauen darf –? Ich bin wie die andern, Otto, glaub' es mir.

OTTO.

Du bist nicht wie die andern. Kein Mensch würde dich anklagen. Du, du warst frei. Du warst ihm keine Treue schuldig. Niemand würde dich geringer achten.

GENIA.
Niemand ...
OTTO.

Niemand – – Ich weiß, was dir durch den Sinn geht. Niemand. Auch meine Mutter nicht, wenn sie's ahnte.

GENIA.
Warum ist sie heute nicht dagewesen?
OTTO.

Weil sie größere Gesellschaften nicht liebt. Das ist der einzige Grund. Sie ahnt nichts. Gestern war sie doch hier. Was sollte sie gerade heute abgehalten haben.

GENIA.

Das will ich dir sagen. Sie dachte, Friedrich werde schon da sein. Und es wäre ihr peinlich gewesen, dich, ihren Sohn ... es wäre ihr unerträglich gewesen, uns drei beisammen zu sehen ... den Mann ... die Frau ... und den Liebhaber – – Davor fürchtete sie sich. Darum kam sie nicht her. O, ich kann sie verstehn. Wie gut kann ich sie verstehn.

FRIEDRICH
erscheint auf dem Balkon, spricht gleich.
Habe die Ehre, meine Herrschaften.

Genia und Otto sind am Schlusse des Gespräches beinahe unter dem Balkon.
GENIA
nicht erschrocken.
Friedrich!
OTTO.
Guten Tag, Herr Hofreiter.
FRIEDRICH.
Grüß' Sie Gott, Otto.
[294]
GENIA
heiter.
Seit wann bist du denn da?
FRIEDRICH.

Vor zehn Minuten gekommen. Er grüßt zum Tennisplatz hinüber, wo man ihn bemerkt hat. Guten Abend, guten Abend – Zu Genia. Ich hab' mich nur gleich umgekleidet. Zu Otto. Es freut mich, daß ich Sie noch antreffe. Ich hab' gefürchtet, daß Sie schon wieder in Pola sind ... oder gar schon draußen im Weltmeer.

OTTO.
Morgen reis' ich, Herr Hofreiter.
FRIEDRICH.
So ... morgen ... –? Na, ich komm gleich herunter.

Verschwindet vom Balkon.
Otto und Genia hinüber. Das nächstfolgende sehr rasch.
OTTO.
Du kannst nicht hier bleiben.
GENIA.
Sei vernünftig, Otto.
OTTO.

Jetzt fühl' ich es. Du bist nicht geschaffen, zu lügen. Du würdest dich verraten. Oder gar freiwillig gestehn!

GENIA.
Das wäre möglich.
OTTO
mit einem plötzlichen Entschluß.
So lass' mich mit ihm reden.
GENIA.
Was fällt dir ein!
OTTO.
Ja! Es ist ja das einzig Mögliche. Du fühlst es selbst, alles andre wäre unwürdig, schmählich –
GENIA.
Ich werd' es ihm sagen, sobald du fort bist. Morgen. Vielleicht noch heute ...
OTTO.
Und was wird geschehn?
GENIA.

Nichts, wahrscheinlich. Und du wirst hierher nicht wiederkommen, nie. Versprich mir ... nie ... auch in zwei Jahren nicht ... nie ...

OTTO
wie erleuchtet.
Du liebst ihn – du liebst ihn wieder! – Dahin, dahin gleitest du.

Es kommen Frau Wahl, Natter, Frau Natter, Stanzides und Gustl vom Tennisplatz. Erna und Paul spielen weiter.
FRIEDRICH
erscheint im Tenniskostüm.

Grüß' dich Gott, Genia. Küßt sie auf die Stirn. Er begrüßt auch die andern. Zu Frau Wahl, die ihm nicht die Hand gibt. Na, Mama Wahl, noch immer bös' auf mich?

FRAU WAHL.
Ich rede kein Wort mit Ihnen. Ich werde auch mit Doktor Mauer kein Wort reden.
FRIEDRICH.
Das wird sich zeigen.
GENIA.
Der hat sich überhaupt noch nicht sehen lassen.
FRIEDRICH.

So? – Heut wird er hoffentlich kommen, ich hab' ihm geschrieben. Na, der Paul und die Erna, die lassen sich natürlich nicht stören.

[295]
GENIA.
Sag' doch, wann bist du denn eigentlich in Wien angekommen?
FRIEDRICH.

Gestern abend. Ja. – Ich wär' sehr gern schon zu Tisch heraußen gewesen, aber es war leider absolut nicht möglich.

GENIA.
Wir hatten ein Empfangsdiner dir zu Ehren.
GUSTL.
Großartig haben wir gegessen.
FRIEDRICH.

So ...? Vielleicht bist du so gut, Genia, und laßt mir wenigstens noch einen schwarzen Kaffee bringen. Er setzt sich unter den Baum und zündet sich eine Zigarette an.

NATTER.
Sie sind länger fortgeblieben, als Sie beabsichtigt hatten, lieber Hofreiter?
FRIEDRICH.
Ja. Fixiert ihn scharf. Ja. Sind das nicht Ihre Kinder, die da draußen auf der Wiese herumhüpfen?
ADELE.

Ich hab' gedacht, der Percy wär' schon da.Stanzides und Frau Wahl sind indes gegen rückwärts gegangen.

FRIEDRICH.
Na, wann kommt er denn endlich. Laßt sich auf englische Schlösser einladen ... der Lump!
GENIA.

Ich glaub', er überrascht uns noch heut oder morgen mit meiner Schwester Mary ... weil schon drei Tage keine Nachricht von ihnen da ist.


Erna und Paul vom Tennisplatz.
PAUL.
Mein Kompliment, Herr Hofreiter.
ERNA.
Guten Abend, Friedrich. Händedruck.
FRIEDRICH.
Na, wie geht's denn?
PAUL.
Ja, das Fräulein Erna hat mich schon wieder geschlagen.
FRIEDRICH.
Na, war's noch schön am Völser Weiher?
ERNA.

Ja, denken Sie sich, sehr schön, auch ohne Sie. Nett war das übrigens wirklich nicht, so plötzlich zu verschwinden. Ja richtig, danke für die Karten ... Sie haben ja noch sehr schöne Partien gemacht.

FRIEDRICH.
Heut' ist ja Ihr Ruhm verkündet in der Zeitung, Erna.
FRAU WAHL.
Wir haben schon gelesen.
FRIEDRICH.

So, Sie haben schon – Ist dieses Blatt auch hierher gelangt? – Eine interessante Zeitung – nicht wahr? Pause. Ihn amüsiert die Verlegenheit der andern. Es war übrigens schön auf dem Aignerturm. Ja, richtig, Otto. Wo ist er denn ...? Otto steht etwas abseits mit Frau Natter. Ihnen hab' ich Grüße zu überbringen, das heißt Grüße sind es wohl nicht. Ich habe nämlich Ihren Vater gesprochen.

OTTO.
Ihre Frau Gemahlin erzählte mir.
[296]
FRIEDRICH.

Schade, daß Sie schon morgen fortfahren. Ihr Vater wollte nämlich in ein paar Tagen nach Wien kommen.

OTTO.

Sie wissen doch, Herr Hofreiter, daß zwischen meinem Vater und mir niemals Beziehungen bestanden haben.

FRIEDRICH.

Könnten sich noch immer entwickeln. Sollten sich sogar. Daß Sie jetzt da ins Weltmeer hinaussegeln auf so lange ... ohne Ihren Vater gesehn zu haben ... es sollt' nicht sein ... glauben Sie nicht?

OTTO.
Ja, Sie mögen vielleicht recht haben – aber nun ist es wohl zu spät.
PAUL
der mit Erna und Frau Wahl stand, tritt her.

Also, Herr Fähnrich, unser Single, wenn's gefällig ist. Zu Friedrich. Wir spielen nämlich heute lauter Singles. Sie dürfen sich nicht ausschließen, Herr Hofreiter, der Herr Fähnrich reist morgen ab, und da muß heute das Verhältnis endgültig festgestellt werden.

FRIEDRICH.

Aber natürlich. Ich stehe zur Verfügung. Bitte sich nicht stören zu lassen. – Ich trink' nur meinen Kaffee aus.


Herr Natter, Stanzides, Genia – nach den ersten Worten Friedrichs an Otto über Aigner – und Gustl sind schon etwas früher weggegangen, jetzt folgen Paul, Adele und Otto.
Erna, Friedrich.
ERNA
ist hinter seinem Sessel stehn geblieben.
FRIEDRICH.
O Erna ... Bleibt sitzen.
ERNA.
Ich bin so froh, daß du wieder da bist.
FRIEDRICH.
Im Ernst? Er küßt ihre Hand über die Lehne. Ich auch.
ERNA.
Und jetzt möcht' ich so geschwind als möglich den wahren Grund wissen, warum du fort bist.
FRIEDRICH.

Du bist aber komisch, Erna. Ich hab' dir's ja gesagt. Du warst doch drauf vorbereitet. Wär' ich dort geblieben, in wenigen Tagen, ach Gott – am selben Tag hätt' es das ganze Hotel gewußt. Das ist schon so. Du weißt ja ... Der Schein um den Kopf. Wir haben ihn uns ja redlich verdient.

ERNA.
Und wenn man ihn gesehn hätte!
FRIEDRICH.

Kind ... So was soll man der Welt nicht verraten. Umsoweniger, je mehr man sie verachtet. Die Welt versteht's ja doch nicht. Oder auf ihre Weise – was noch schlimmer ist! Du kannst mir dankbar sein, daß ich dich nicht »kompromittiert« habe. Später hättest du mir's doch übel genommen.

ERNA.
Später? ... ach so! ... Ich werde nicht heiraten, Friedrich.
[297]
FRIEDRICH.

Nicht von der Zukunft sprechen, Kind. Man soll nichts vorhersagen, für sich nicht und für andre. Nicht für die nächste Minute! Glaub' mir.

ERNA.
Und denkst du, wenn ich wirklich einen lieb hätte nach dir – ich könnt' ihm verschweigen ...
FRIEDRICH.
Gewiß könntest du. Hättest auch recht. Ich versichere dich, wir verdienen nichts andres ...
ERNA.
»Wir« ... Es gibt doch auch – bessre als du.
FRIEDRICH.
Glaubst du? Steht auf.
ERNA.
Was hast du denn? Warum bist du so zerstreut? Was guckst du immer zur Tür hin? Erwartest du wen?
FRIEDRICH.
Ja, den Doktor Mauer.
ERNA.
Den Doktor Mauer? Was willst du von ihm?
FRIEDRICH.
Es handelt sich um geschäftliche Dinge.
ERNA.
Mauer ist doch kein Advokat ...
FRIEDRICH.
Aber ein Freund.
ERNA.
Glaubst du, er ist es noch immer?
FRIEDRICH.

Ja. Solche Dinge hängen nämlich nie von dem ab, was man miteinander ... für Erfahrungen macht. Sonst täten ja Enttäuschungen nicht weh ... wenn damit die innern Beziehungen einfach aus wären. Aber daß man doch immer aneinander hängen bleibt ... das ...! ... Es gibt nur ewige Liebe und ewige Freundschaft. Und der Mauer ist und bleibt mein einziger Freund. Das steht fest ... Auch wenn er mich einmal erschießen sollte, es wird nicht anders.

ERNA.
Was hast du denn so Wichtiges mit ihm zu besprechen?
FRIEDRICH.
Es hängt mit meiner Reise nach Amerika zusammen.
ERNA.
Du fährst also hinüber?
FRIEDRICH.

Ja ... Und da gibt es eben manches zu ordnen – aus früherer Zeit, wozu ich nur den Mauer brauchen kann.

ERNA.
Aus ... früherer Zeit ...?
FRIEDRICH.

Aber Kind! Eine Gattin könnte nicht neugieriger sein. Sind übrigens lauter sehr langweilige Geschichten.

ERNA.
Die dich doch sehr nervös zu machen scheinen.
FRIEDRICH.
Mach' ich den Eindruck? Keine Spur, ich bin nur etwas übernächtig vielleicht.
ERNA.
Wieso? Du bist doch nicht die Nacht durchgefahren?
FRIEDRICH.
Nein, aber geschlafen hab' ich auch nicht viel. Ich hab' eine Fensterpromenade gemacht.
ERNA.
Heute nacht?
FRIEDRICH.

Ja, heute nacht. Warum wunderst du dich denn? Ich [298] hab' dir ja gesagt, an einem gewissen Abend ... daß ich alle diese Dinge plötzlich begreife – Fensterpromenaden, Serenaden – Totschlag ... Selbstmord – –

ERNA.
Ich versteh' dich nicht. Wem hast du ... eine Fensterpromenade ...
FRIEDRICH.
Na dir, selbstverständlich.
ERNA.
Mir? Was sind das für ...
FRIEDRICH.

Du glaubst mir nicht? Also hör' gut zu! Ich bin nämlich gestern abend noch herausgefahren. Gleich nach meiner Ankunft in Wien. Es war beinah Mitternacht, wie ich unter deinem Fenster war. Du hast noch Licht brennen gehabt. Ich habe deinen Schatten an den Vorhängen vorbeigleiten gesehn. Wenn dein Zimmer ebenerdig läge ... wer weiß.

ERNA.
Du warst vor meinem Fenster?! – Und dann?
FRIEDRICH.

Dann bin ich eben wieder fort. Ich hatte deinen Schatten gesehn, war in deiner Nähe gewesen. Danach hatt' ich mich gesehnt.

ERNA.
Du hast dich ... Friedrich ...! Und wohin bist du dann?
FRIEDRICH.

Nach Wien zurück. Mein Auto hat auf dem Pfarrplatz gewartet. Ich hab' nämlich heute früh um acht Uhr schon im Bureau zu tun gehabt.

ERNA.
Du warst vor meinem Fenster ... Friedrich!
FRIEDRICH.

Warum sollt' ich dir denn so was erzählen, wenn's nicht wahr wär' ... Wobei soll ich dir schwören? Beim heiligen Weiher von Völs?

ERNA.
Du warst vor meinem Fenster! ... Mein Geliebter!
FRIEDRICH.
Still, still. Er geht zur Türe des Hauses.
MAUER
tritt aus dem Haus.
Grüß' dich Gott, Friedrich. Guten Tag, Fräulein Erna.
FRIEDRICH.
Servus, Mauer.
ERNA
ruhig.
Guten Tag, Doktor.
MAUER
ganz unbefangen.
Schon lang zurück, Fräulein Erna?
ERNA.

Erst seit zwei Tagen ... Zu Friedrich. Sie haben mit dem Herrn Doktor zu sprechen. Auf Wiedersehn. Ab zum Tennisplatz.


Mauer, Friedrich.
MAUER.
Du hast mir geschrieben, ich bin da.
FRIEDRICH.

Ich danke dir nochmals, daß du gekommen bist. Hoffentlich hab' ich dich von nichts Wichtigem abgehalten.

[299]
MAUER.
Du schreibst, daß du meines Rats bedarfst. Ich nehme an, du fühlst dich krank.
FRIEDRICH
sieht ihn an.
Ah so! Nein, ich habe nicht den Arzt zu mir gebeten, sondern den Freund.
MAUER.
Den Freund, so ... Nun, ich bin da.
FRIEDRICH.

Es handelt sich nämlich um ein blödsinniges Gerücht, von dem du vielleicht schon gehört oder gelesen hast.

MAUER.
Welches Gerücht?
FRIEDRICH.
Daß Korsakow ...
MAUER.
Nun?
FRIEDRICH.
Daß Korsakow als Opfer eines amerikanischen Duells gefallen ist.
MAUER.
Ah.
FRIEDRICH.
Du hast gelesen?
MAUER.
Gehört, um die Wahrheit zu sagen.
FRIEDRICH.
Also, ich frage dich: Was soll ich tun?
MAUER.
Was du tun sollst? Du hast ja den Gegenbeweis in der Hand. Der Brief Korsakows an deine Frau ...
FRIEDRICH.
Was hilft mir der? Den kann ich doch nicht ... das wäre doch geschmacklos ...
MAUER.

Ja, dann ... kümmere dich einfach nicht darum. Das Gerücht wird verschwinden, wie es gekommen ist. Es ist nicht wahrscheinlich, daß vernünftige Leute so was von dir im Ernst glauben könnten.

FRIEDRICH.

Wenn auch – etwas wird hängen bleiben. Und einer muß diese Infamie als erster ausgesprochen haben. Wenn man sich an den halten könnt'.

MAUER.
Der Mann wird kaum zu eruieren sein.
FRIEDRICH.
Für mich ist er eruiert. Es ist Natter.
MAUER.
Du glaubst?
FRIEDRICH.
Es ist seine Rache ... Er hat nämlich alles ...
MAUER
rasch.
... gewußt?
FRIEDRICH.

Ja. – Es gibt überhaupt weniger betrogene Ehemänner, als die Gattinnen und manchmal sogar die Liebhaber glauben.

MAUER.
Hast du Beweise, daß das Gerücht von ihm ausgeht?
FRIEDRICH.
Beweise, nein.
MAUER.
Da kannst du nichts machen.
FRIEDRICH.
Ihn stellen.
MAUER.
Er wird natürlich leugnen.
FRIEDRICH.
Ihn züchtigen.
[300]
MAUER.
Damit besserst du nichts.
FRIEDRICH.
Vielleicht meine Laune.
MAUER.
Dazu wäre der aufgewandte Apparat doch etwas zu groß.
FRIEDRICH.
Find' ich nicht. Gute Laune ist die Hauptsache auf Erden.
MAUER.

Ich ließe die Angelegenheit auf sich beruhn. Einen andern Rat kann ich dir nicht geben, beim besten Willen nicht. – So, nun will ich deiner Frau guten Abend sagen und dann meiner Wege gehn.

FRIEDRICH.
Mauer ... du bist mir böse?
MAUER.
Ich dir böse? Nein. Aber mein Verlangen, mich hier aufzuhalten, ist gering.
FRIEDRICH.
Du Mauer ... Du weißt doch, daß ich sehr bald nach dir vom Völser Weiher abgereist bin?
MAUER.
»Sehr bald« ist gut.
FRIEDRICH.
Gleich! ... am Tag drauf! ... Weißt du, warum? Ich habe die Flucht ergriffen.
MAUER.
Ah! –
FRIEDRICH.

Ja, vor mir, vor mir selbst. Denn daß ich sehr verliebt war in die Erna, das gesteh' ich dir ohne weiteres zu.

MAUER.
Du hast mir keine Rechenschaft abzulegen.
FRIEDRICH.
Gewiß nicht. Tu' ich auch nicht. Ich seh' nur nicht ein, warum ich deine falschen Vermutungen ...
MAUER.

Was immer ich vermutet habe, ob mit Recht oder mit Unrecht, die Sache ist für mich erledigt. – Darf ich deiner Frau guten Abend sagen?

FRIEDRICH.

Später darfst du. Jetzt wirst du freundlichst hier bleiben. Wir müssen uns aussprechen. Ich versichere dich, daß du dich irrst. – Ich habe sie geküßt, ja. Einmal ... Das leugne ich nicht. So eine Umarmung im Freien, bei schönem Wetter, in zweitausend Meter Höhe hat gar nichts zu bedeuten. Das nenn' ich ... Höhenrausch ...

MAUER.
Na ... wenn du's nur so nennst ... dann ist ja alles gut.
FRIEDRICH.

Glaubst du, es laufen viele ungeküßte Mädeln auf der Welt herum? Auch in der Ebene soll's manchmal passiert sein! Sich deswegen einbilden, daß man zu gut für eine ist ... das ist, mit Verlaub, Größenwahn.

MAUER.
Es macht dir viel Spaß zu lügen, was?
FRIEDRICH.

Manchmal schon. Aber diesmal tu' ich's nicht einmal. Und jetzt werd' ich dir noch was sagen. Selbst wenn mehr [301] vorgefallen wäre ... als dieser Kuß ...

MAUER.

Ich habe dich nicht gefragt. Und ich versichere dich, mir ist es heute im Grunde ziemlich gleichgültig, wie weit es zwischen euch gekommen ist.

FRIEDRICH.
Daran, mein lieber Mauer, tust du unrecht.
MAUER.
Ah ...
FRIEDRICH.

Die Sache stünde vielleicht besser für dich, wenn sie meine Geliebte gewesen wäre. Es wäre eine abgetane Sache ... Da wärst du gewissermaßen sicherer.

MAUER.
Du fängst an, mich zu amüsieren.
FRIEDRICH.

Das freut mich. Das ist doch das Wichtigste bei jeder Unterhaltung. Ob man die Wahrheit zu hören kriegt, weiß man ja doch nie.

MAUER.
Von Erna selbst würde ich sie erfahren.
FRIEDRICH.
Du glaubst?
MAUER.
Lügen, das ist wirklich das einzige, dessen ich sie nicht für fähig halte.
FRIEDRICH.

Da könntest du recht haben. Und darauf kommt es doch am Ende an. Ich halte es überhaupt für sehr einseitig, die Frauen nur aufs Erotische hin zu beurteilen. Wir vergessen immer wieder, daß es im Leben jeder Frau, auch wenn sie Liebhaber hat, eine Menge Stunden gibt, in denen sie an ganz andre Dinge zu denken hat als an die Liebe. Sie liest Bücher, musiziert, sie veranstaltet Wohltätigkeitsakademien, sie kocht, sie erzieht ihre Kinder, – sie kann sogar eine sehr gute Mutter sein, ja manchmal auch eine vortreffliche Gattin. Und hundertmal wertvoller – als eine sogenannte anständige Frau. Denk' nur an Adele Natter.

MAUER.
Du hast mich hoffentlich nicht hergebeten, um mir deine philosophischen Ansichten vorzutragen.
FRIEDRICH.

Nein, das ergibt sich nur so. Aber weil wir schon bei diesem Thema sind, ich möcht' dich doch fragen, ob dir schon etwas von der Affäre zwischen meiner Gattin und dem Herrn Fähnrich zu Ohren gekommen ist?

MAUER
überrascht.

Von deiner Frau und ... Kein Wort ... Woher hätt' ich auch ... ich bin ja seit drei Wochen nicht hier gewesen.

FRIEDRICH.
Also hörst du die Neuigkeit von mir. Na, was sagst du dazu?
MAUER.
Es ist vielleicht nicht wahr. Und wenn es wahr sein sollte ...
[302]
FRIEDRICH.

So gönnst du mir's von Herzen. Ich weiß. Aber ich will dir nur sagen, daß deine Schadenfreude gegenstandslos ist. Denn dazu müßte ich die Sache ja als etwas Schmerzliches oder mindestens als ärgerlich empfinden. Und das ist absolut nicht der Fall. Im Gegenteil. Es ist mir eher wie eine innere Befreiung. Ich gehe nicht mehr als Schuldiger in diesem Hause herum. Ich atme wieder auf. Es ist gewissermaßen, als hätte sie Sühne getan für den Tod Korsakows, und zwar in einer höchst vernünftigen und schmerzlosen Weise. Sie fängt an mir wieder menschlich nah zu sein. Wir leben wieder sozusagen – auf demselben Stern.

MAUER.

Du bist sehr gefaßt. Mein Kompliment. Offenbar glaubst du's nicht. Da man ja so was doch nie mit absoluter Bestimmtheit wissen kann ...

FRIEDRICH.

Ah, manchmal schon. Zum Beispiel, wenn man den Liebhaber nachts, halb zwei aus dem Fenster seiner Frau steigen sieht.

MAUER.
Wie?
FRIEDRICH.

Na, was sagst du dazu? Heute nachts um halb zwei hab' ich Herrn Otto von Aigner, Fähnrich in Sr. Majestät Marine, aus dem Fenster der Fabrikantensgattin Genia Hofreiter steigen gesehen. Gerichtlich zu beeiden!

MAUER.
Heute Nacht, halb zwei?
FRIEDRICH.
Ich war nämlich schon gestern abend heraußen.
MAUER.
So –? Und wo warst du bis halb zwei, wenn man fragen darf.
FRIEDRICH.

Haha, mir scheint, du denkst schon wieder an Erna. Na, also damit ich dich beruhige, ich bin mit dem letzten Zug herausgefahren von Wien; von der Bahn zu Fuß hierherspaziert und bin, wie ich das manchmal tue, durch das kleine Türl von der Wiese aus in den Garten herein. Und da hab' ich zu meiner Überraschung Stimmen gehört. Ich schleiche mich näher und sehe einen Herrn und eine Dame hier unter dem Baum sitzen. Genia und Otto. Um Mitternacht hier im Garten. Was sie gesprochen haben, das hab' ich natürlich nicht verstehen können. Ich bleibe in gemessener Entfernung, nach wenigen Minuten schon erheben sich beide und verschwinden im Haus. Ich verlasse rasch den Garten, wieder durch die Hintertür, gehe rund um die Villa und postiere mich so, daß ich sehn muß, wenn wer aus dem Haustor herauskommt. Es kommt niemand. Eine halbe Stunde lang [303] niemand. Die Lichter im Haus verlöschen. Ich geschwind wieder um das Gitter herum auf die Wiese, wo ich das Fenster von Genias Schlafzimmer im Auge habe. Es war dunkel. Die Nacht war wunderschön, ich lege mich auf die Wiese hin, in den Schatten der Bäume, die am Gitter stehn. Und warte. Bis halb zwei hab' ich gewartet. Um halb zwei öffnet sich das Fenster, ein Herr steigt heraus, verschwindet auf eine Weile für mich im Dunkel des Gartens, ich höre die Gartentüre gehn, und gleich darauf direkt an mir vorüber, schwebt die schlanke Gestalt des Herrn Fähnrich Otto von Aigner.

MAUER.
So. Und was hast du dann getan?
FRIEDRICH.
Ich hab' mich auf die Wiese hingelegt.
MAUER.
Du bist ja schon gelegen.
FRIEDRICH.

Richtig. Aber bequemer als vorher hab' ich mich hingelegt, weil ich ja nicht mehr hab' aufpassen müssen. Und hab' prachtvoll geschlafen, bis sieben Uhr früh. Es ist wirklich herrlich, im Freien zu schlafen in schönen Sommernächten. Erst neulich hat mir wer davon vorgeschwärmt.

MAUER.

Du denkst hoffentlich nicht daran, es Genia oder ihn entgelten zu lassen. Das einzige, was du jetzt tun kannst und darfst, – das ist ein klares Ende machen.

FRIEDRICH.
Wer spricht von Ende?
MAUER.

Selbstverständlich. Es könnte jetzt auch ohne besonderes Aufsehn geschehn. Du brauchst nur etwas früher nach Amerika zu fahren als deine Absicht war.

FRIEDRICH.
Nach Amerika wird Genia mit mir reisen.
MAUER.
So –?
FRIEDRICH.
Ja.
MAUER
achselzuckend.

Du erlaubst mir diese Mitteilung bis auf weiteres als den letzten Beweis deines Vertrauens entgegenzunehmen. Jetzt ...

NATTER
kommt.

O, guten Abend, Doktor Mauer, wie geht's? Lieber Hofreiter, ich wollte Sie nämlich fragen, da wir leider nicht mehr lange bleiben können ...

MAUER.
Du erlaubst also, daß ich deiner Frau guten Abend sage ...
FRIEDRICH.
Sie wird sich sehr freuen.
MAUER
zum Tennisplatz.

[304] Friedrich, Natter.
NATTER.

Ich wollte Sie fragen, lieber Hofreiter, ob ich Sie morgen im Bureau sprechen kann. Ich habe Ihnen viel mitzuteilen. Das bewußte Konsortium hat sich wieder gemeldet. Man bietet ...

FRIEDRICH.
Morgen die Geschäfte, Herr Natter.
NATTER.
Wie Sie wünschen.
FRIEDRICH.
Heute wollen wir plaudern.
NATTER.
Gern.
FRIEDRICH.
Sagen Sie mir, Natter, was halten Sie von Demeter Stanzides?
NATTER.

Stanzides? – Ein ganz sympathischer Mensch. Etwas sentimental für einen Husarenoberleutnant. Aber im ganzen ein netter Kerl.

FRIEDRICH.
Hat er nicht Schulden?
NATTER.
Nicht, daß ich wüßte.
FRIEDRICH.
Mißhandelt er nicht seine Untergebenen?
NATTER.
Mir nichts davon bekannt.
FRIEDRICH.
Ist er nicht etwa Falschspieler?
NATTER.
Glauben Sie das, Hofreiter?
FRIEDRICH.

Nein. Ich will es Ihnen nur erleichtern, etwas über ihn zu erfinden, für später, wenn die Geschichte zwischen ihm und Ihrer Frau Gemahlin zu Ende sein sollte.


Sie stehn Aug' in Aug'.
NATTER.
Es freut mich, daß Sie mich für keinen Dummkopf halten, Hofreiter.
FRIEDRICH.
Nein, für einen ...
NATTER.

Ich warne Sie davor, mich einen Schuften zu heißen. Es würde mir wahrscheinlich nicht konvenieren, die Angelegenheit durch eine Karambolpartie zu erledigen.

FRIEDRICH.
Aber auf andere Art.
NATTER.
Wenn ich dazu Lust gehabt hätte ... vor nicht allzulanger Zeit war bessere Gelegenheit dazu.
FRIEDRICH.

Warum haben Sie's nicht getan? Man wird doch nicht mit einemmal ... Ich weiß doch, daß Sie als junger Mensch um weniger Ihr kostbares Leben in die Schanze geschlagen haben.

NATTER.
Um weniger? Um andres.
FRIEDRICH.
Wenn es Ihnen so nahe ging' – warum bleiben Sie mit Ihrer Frau zusammen?
[305]
NATTER.

Das will ich Ihnen erklären. Weil mir eine Existenz ohne Adele als vollkommener Unsinn er schiene. Ich bin nämlich rettungslos verliebt in sie. Das kommt vor, Hofreiter. Dagegen hilft nichts. Ahnen Sie denn, was ich alles versucht habe, um innerlich von ihr loszukommen –? Vergeblich ... Alles vergeblich ... Ich liebe sie ... trotz allem –! Ungeheuerlich, wie? – Es ist nun einmal nicht anders.

FRIEDRICH.
Und Sie rächen sich an mir, indem Sie eine Ungeheuerlichkeit erfinden?
NATTER.
Vielleicht indem ich die Wahrheit verbreite.
FRIEDRICH.
Mensch, Sie glauben wirklich? ... daß ich ... ein amerikanisches Duell ...
NATTER.
Beweisen Sie mir das Gegenteil.
FRIEDRICH.

Das könnt' ich ... Ich kenne den Grund von Korsakows Selbstmord. Ich weiß, daß ... O, wo gerat' ich hin? Mich vor Ihnen zu rechtfertigen, Sie ... Sie ...

NATTER.
Hüten Sie sich.
FRIEDRICH.
Ich schwöre Ihnen, daß Sie sich irren. Ich schwöre Ihnen ...
NATTER.
Bei der Tugend Ihrer Frau Gemahlin, ja?
FRIEDRICH.
Herr ... Auf ihn zu.
NATTER
packt seinen Arm.
Ruhe, kein Aufsehn. Ich werde mich nicht mit Ihnen schlagen. Aber noch ein Wort und ...
FRIEDRICH.
Gerade gegen Sie sollt' ich wehrlos sein?
NATTER.
Zuweilen ist man's eben.
FRIEDRICH.
Ja ... gegen einen ...
NATTER.
Gegen einen, der das Leben fabelhaft amüsant findet ... lieber Hofreiter – und nur das.
PAUL
vom Tennisplatz.

Bitte sehr um Entschuldigung, wenn ich störe. Herr Hofreiter, – Ihr Single mit dem Herrn Fähnrich wäre an der Reihe.

FRIEDRICH.
Ja ... ja ... bin schon bereit – Das Verhältnis muß endgültig klargestellt werden ... ich weiß ...
NATTER.
O bitte, lassen Sie sich nicht stören. Leise. Etwa auch auf Tod und Leben?
FRIEDRICH.
Vielleicht.
MAUER UND GENIA
kommen eben von rückwärts.
MAUER
will sich verabschieden.
Also lieber Freund.
FRIEDRICH.

Nein, du darfst einfach nicht gehn. Du mußt ihn zurückhalten, Genia – mit allen deinen Verführungskünsten.


Friedrich, Paul, Natter zum Tennisplatz.
[306] Mauer, Genia.
GENIA.
Ich fürchte, daß meine Künste versagen werden.
MAUER.
Ich muß leider fort, gnädige Frau.
GENIA.
Und es ist wohl anzunehmen, daß man Sie in der nächsten Zeit hier nicht sehn wird ...
MAUER.
Es ist anzunehmen, gnädige Frau.
GENIA
sieht ihn an.

Es tut mir leid, daß ich einen Freund verloren habe. Auch ich, die wahrhaftig ohne Schuld ist, wenigstens gegen Sie. Warum antworten Sie mir nicht, Doktor? Ich will mich nicht in Ihr Vertrauen drängen, umsoweniger, als ich mir ja denken kann, was Sie von hier forttreibt.

MAUER.

Es ist diesmal kein Anlaß, Ihnen über Ihren Scharfblick ein Kompliment zu machen. Sie gestatten mir jetzt, gnädige Frau, mich zu entfernen.

GENIA.

Ich habe Ihnen nichts zu gestatten und nichts zu verbiten. Besonders als ... gnädige Frau. Leben Sie wohl, lieber Doktor! – Und – bitte lassen Sie mich Ihnen noch eine Mahnung mit auf den Weg geben! – Nehmen Sie's nicht gar zu schwer. Es wäre doch lächerlich, wenn Sie, ein Mensch, der das Leben von seiner ernstesten Seite kennt, dergleichen Spielerei und Spiel wichtig nähme. Liebessachen sind nichts andres, Doktor, glauben Sie mir. Und wenn man erst drauf gekommen ist, sehr lustig anzusehn – und mitzumachen.

MAUER.
Wenn man drauf gekommen ist ...
GENIA.

Werden Sie auch, lieber Freund. Die dummen schweren Worte, die Ihnen durch den Sinn gehn, die blasen Sie nur gefälligst in die Luft. Und Sie werden sehn, wie leicht sie eigentlich sind. Sie fliegen ... alle ... sie verwehn, diese schweren dummen Worte ...

MAUER.
Es gibt vielleicht wirklich nur ein schweres auf der Welt – und das heißt Lüge.
GENIA.
Lüge? Gibt's denn das in einem Spiel? List oder Spaß heißt es da.
MAUER.

Spiel –?! Ja, wenn es so wäre! ... Ich versichere Sie, Genia, nicht das geringste hätt' ich einzuwenden gegen eine Welt, in der die Liebe wirklich nichts andres wäre als ein köstliches Spiel ... Aber dann ... dann ehrlich, bitte! Ehrlich bis zur Orgie .... Das ließ' ich gelten. Aber dies Ineinander von Zurückhaltung und Frechheit, von feiger Eifersucht und erlogenem Gleichmut – von rasender Leidenschaft [307] und leerer Lust, wie ich es hier sehe – das find' ich trübselig und grauenhaft – ... Der Freiheit, die sich hier brüstet, der fehlt es am Glauben an sich selbst. Darum gelingt ihr die heitre Miene nicht, die sie so gerne annehmen möchte ... darum grinst sie ... wo sie lachen will.

GENIA.

Sie sind ungerecht, Doktor. Wir geben uns ja alle Mühe. So rasch geht das freilich nicht. Aber wir haben die beste Absicht. Merken Sie's nicht? Adele Natter, zum Beispiel, bringt ihre Kinder mit in unser Haus, ich plaudre mit Erna, als wäre der Weiher von Völs das harmloseste Wasser von der Welt, Friedrich spielt seine Tennispartie mit dem Herrn Fähnrich von Aigner ...

MAUER.
Warum sollte er nicht?
GENIA.
O, Doktor! ...
MAUER.
Ja, ich weiß ... auch das ...
GENIA.
Wer hat es Ihnen gesagt?
MAUER.
Wer –? Geben Sie acht, Genia. Friedrich selbst.

Die Tennispartie ist zu Ende. Die Teilnehmer kommen allmählich näher.
GENIA.

Friedrich ...?! Natürlich ahnt er. Ich hab' es gleich in seinem Blick gelesen ... als er uns vom Balkon aus begrüßte .... Aber wozu dies warnende »Geben Sie acht« –? Er wird es mir nicht übel nehmen. – Vielleicht hätte sich Otto auch umgebracht – wie jener andre. Und man darf doch einen jungen Menschen einer solchen Kleinigkeit wegen nicht in den Tod treiben. Friedrich wird zufrieden mit mir sein. Morgen, wenn ... mein Geliebter fort ist ... werd' ich ihm die ganze Geschichte selbst erzählen.

MAUER.

Das dürfte nicht mehr notwendig sein. Er ahnt nicht, er weiß ... Er hat den Herrn Fähnrich heute nacht gesehn ... um halb zwei ...

GENIA
zuckt zusammenfaßt sich rasch.

Paul, Gustl, Erna, Stanzides, Adele, Frau Wahl, Natter, Otto und Friedrich vom Tennisplatz.
GENIA.
Nun, wer war Sieger?
PAUL.
Die alte Garde lebt noch. Herr Hofreiter hat gewonnen. Neun zu acht.
STANZIDES.
Schade, daß Sie nicht zugesehn haben, gnädige Frau. Es war eine schöne Partie.
[308]
FRIEDRICH.
Na, Mauer, du bist ja doch geblieben. Das ist nett von dir!
PAUL.
Jetzt käme noch das Match Fräulein Erna und Herr Hofreiter.
ERNA.

Es ist schon zu dunkel, das verschieben wir auf morgen. Und wir telegraphieren dem Herrn Fähnrich das Endresultat des Tourniers.

OTTO.
Meine Herrschaften, ich muß mich nun leider wirklich empfehlen. Er beginnt sich zu verabschieden.
FRIEDRICH
folgt ihm mit den Blicken.

Schade, daß wir nicht morgen noch eine Partie spielen können, Otto! – Ich hab' heut gar keine rechte Freude an meinem Sieg.

PAUL.
Warum denn? Der Herr Fähnrich hat famos gespielt, und Sie, Herr Hofreiter noch besser.
FRIEDRICH.

Ich weiß nicht. Sie waren nicht recht in Form, Otto. Einen Schlag haben Sie gehabt, wie ich ihn von Ihnen gar nicht gewohnt bin. So einen zerstreuten, so einen undezidierten, so einen ängstlichen Schlag ... Abschiedsstimmung wahrscheinlich.

OTTO.

Vielleicht Befangenheit einem so starken und ausgeruhten Gegner gegenüber. Nun, wenn ich wiederkomme, in drei Jahren, sollen Sie mehr Freude an meinem Gegenspiel haben, Herr Hofreiter.

FRIEDRICH.

Ja, wenn man das so sicher wüßte, daß man sich wiedersieht! ... Ich rede nie von so fernliegenden Dingen ... drei Jahre! ... Denken Sie, was indessen alles passieren kann. Man hat doch nicht alles so in der Hand. Es gibt Ereignisse, denen gegenüber alle Voraussicht versagen kann ... und alle Vorsicht.

NATTER.
Und gerade diese dürfte nicht eine Haupteigenschaft des Herrn Fähnrich sein.
OTTO.
Das furcht' ich selbst, Herr Natter.
FRIEDRICH.

Das können Sie selber gar nicht wissen, Otto, ob Sie von Natur aus vorsichtig sind oder nicht ... In einem Beruf, der so ganz auf Haltung und Disziplin gestellt ist, wie der Ihre, hat man sozusagen keine Gelegenheit, sich selbst kennen zu lernen. Glauben Sie nicht?

MAUER.

Genug Psychologie für die späte Abendstunde, denk' ich. Zu Otto. Wir gehn vielleicht gleich zusammen.

FRIEDRICH
kümmert sich gar nicht darum.

Ich zweifle natürlich nicht, daß Sie jederzeit bereit wären, für Kaiser und Vaterland und auch für viel geringere Dinge Ihr Leben hinzugeben, aber [309] da spielt doch der äußere Zwang eine gewisse Rolle. In der Tiefe Ihrer Seele, ganz in der Tiefe, Otto, sind Sie feig. Große Pause.

OTTO.
Ich habe nicht recht verstanden, nicht wahr?
FRIEDRICH.
Ich weiß nicht, was Sie verstanden haben. Ich werde es auf alle Fälle wiederholen: feig.
OTTO
einen Schritt auf ihn zu.
FRIEDRICH
ihm rasch entgegen.
OTTO.
Sie werden von mir hören.
FRIEDRICH.
Hoff' ich, Leise. und bald. In einer Stunde, im Park ...
OTTO
ab.
PAUL
sagt leise etwas zu Gustl, folgt mit ihm dem Otto.
ERNA
steht regungslos.
GENIA
regungslos.
FRAU WAHL
sieht sich ratlos um, wendet sich an Adele.
NATTER.
Wir wollen nun nicht weiter stören.
FRIEDRICH.
O nein, das tun Sie nicht – im Gegenteil. Zu Mauer abseits. Auf dich hoff' ich zählen zu können.
MAUER.
Nein. Dabei tu' ich nicht mit.
FRIEDRICH.
Als Arzt, Mauer. Das darfst du mir nicht verweigern, das ist deine Pflicht.
MAUER
zuckt die Achseln.
Bitte.
FRIEDRICH.
Danke. Lieber Stanzides.
STANZIDES.
Ich bitte über mich zu verfügen.
FRIEDRICH.
Ich danke Ihnen. Natter, darf ich Sie bitten?
NATTER.
Lieber Hofreiter ...
FRIEDRICH
zieht Natter nach vorn.
Ich denke, wir sind einig in unserer Ansicht über das Leben, nicht wahr? Zum Totlachen.
NATTER.
Ich hab' es immer gesagt.
FRIEDRICH.
Der neueste Spaß hätte eine Würze mehr für mich, – wenn Sie mein Sekundant sein wollten.
NATTER.
Gern. Der Herr Fähnrich schießt gewiß nicht schlecht.
GENIA
mit einem plötzlichen Entschluß zu Friedrich hin.
Friedrich ...
FRIEDRICH.
Später.
GENIA.
Jetzt.
FRIEDRICH
zu den andern.
Sie entschuldigen. Mit ihr nach vorn.
FRAU WAHL
zu Erna hin, will sie zum Fortgehen veranlassen.
ERNA
weist sie ab, steht an der Mauer des Hauses.
FRAU WAHL
wendet sich zu Adele, die unter dem Nußbaum sitzt und ihrem Gatten nachsieht.
NATTER UND STANZIDES
gehn nach rückwärts.
[310]
MAUER
steht allein.
FRIEDRICH
zu Genia.
Nun?
GENIA.
Was ist dir denn eingefallen? Wie durftest du ...
FRIEDRICH.
Na, fürcht' dich nicht. Ich werd' ihm nicht viel tun, wahrscheinlich gar nichts.
GENIA.

Warum also? Wenn dir an mir noch das geringste läge ... wenn es Haß wäre ... Wut ... Eifersucht ... Liebe ...

FRIEDRICH.

Na ja, von all dem verspür' ich allerdings verdammt wenig. Aber man will doch nicht der Hopf sein. Wendet sich von ihr ab, folgt Natter und Stanzides.

GENIA
steht vorn regungslos.
ERNA
steht an der Mauer des Hauses.

Die Blicke der beiden Frauen begegnen sich.
Vorhang.

5. Akt

Fünfter Akt

Zimmer in der Villa, das an die aus dem ersten Akt bekannte Veranda stößt. Licht und freundlich. Eine große Glastüre, die auf die Veranda führt, steht offen. Rechts und links von der Glastür Schränke. In der Mitte ein großer Tisch, Decke darauf, Zeitschriften, Bücher. – Sessel. An der linken Wand ein Kamin, davor ein kleines Tischchen, Stühle usw. Bilder an den Wänden, rechts eine zweite Türe. Standuhr links vorn. Etagère rechts vom Kamin mit Büchern.

GENIA
kommt von rechts im Morgenkleid.

Sehr blaß und erregt. Zur Verandatür, tritt auf die Veranda hinaus, wieder zurück, setzt sich an den großen Tisch, nimmt eine der dort liegenden Zeitschriften, starrt hinein, dann wieder vor sich hin.

ERNA
ohne Hut, im Sommerkleid, sehr rasch von der Veranda herein.
GENIA
auf, rasch gefaßt.
Erna? ... Was gibt's?
ERNA.
Sie sind noch nicht zurück? Ist noch keine Nachricht da?
GENIA.

Wie sollte denn eine Nachricht da sein? Kommen Sie doch zu sich, Erna. Vor heute nachmittag – kann's ja gar nicht sein. Wahrscheinlich erst morgen früh. In dieser Stunde finden wohl die Vorbesprechungen statt.

ERNA
sieht sie an.

Ja, natürlich. Verzeihn Sie, daß ich weiterfrage. Ich weiß, daß ich kein Recht habe, aber die seltsamen Umstände ...

[311]
GENIA.
Sie haben so gut ein Recht, um jemanden zu zittern, wie ich es hätte.
ERNA.

Ich zittre nicht, Frau Genia. Das ist nicht meine Art. Ich wollte nur fragen, ob Sie Ihren Herrn Gemahl heute schon gesehn haben?

GENIA.

Mein »Herr Gemahl« ist schon gestern abend in die Stadt gefahren. Allerlei bei seinem Advokaten zu ordnen jedenfalls. Das ist ja nun einmal üblich, auch wenn es ganz überflüssig ist. Er wird Verfügungen treffen. Vielleicht sogar irgendwelche Briefe und Papiere verbrennen. Kurz sich geradeso benehmen, als wenn es eine ungeheuer ernste Sache wäre, obwohl es nichts ist als eine lächerliche Eitelkeits- und Ehrenkomödie, wie wir ja alle wissen.

ERNA.
Ich bin davon nicht überzeugt, Frau Genia.
GENIA.

Ich bin es. Kommen Sie, Erna, wir wollen in den Garten gehn, der Tag ist so schön. Wir wollen plaudern. Sie haben mir ja noch gar nichts von Ihrer Reise erzählt. Sie haben interessante Dinge erlebt ... am Völser Weiher ...

ERNA.
Ist es möglich, daß Sie in dieser Stunde spotten können, Genia?
GENIA.

Ich spotte nicht. Ah, ich bin fern davon ... Sie lieben ihn wohl sehr ... meinen »Herrn Gemahl«, nicht wahr –?! Nun ja, es ist kein Wunder. Der erste – das ist doch immerhin ein Erlebnis. Oder bedeutet das auch nichts mehr? Sie müssen mir darüber Aufschluß geben, Erna. Ja! – Ich finde mich nämlich nicht mehr zurecht. Das Leben ist um so viel leichter geworden in der letzten Zeit. Als ich so jung war wie Sie, nahm man gewisse Dinge noch furchtbar ernst. Es sind nicht viel mehr als zehn Jahre seither vergangen, aber mir scheint, die Welt hat sich seitdem sehr verändert.

STUBENMÄDCHEN
mit einem Telegramm von rechts.
Geht gleich wieder.
GENIA
öffnet es rasch.

Von meiner Schwester Mary. Sie kommt heute mittag mit Percy an. Hier. Sie gibt Erna das Telegramm. Es wird ein lustiges Wiedersehen werden. Aber wollen wir nicht doch in den Garten, Erna? Oder machen wir eine kleine Spazierfahrt. Ja? Der Tag ist so schön. Die Luft wird Ihnen wohltun. Sie sind blaß ... Sie haben vielleicht nicht sehr gut geschlafen.

ERNA.

Nein. Ich habe gewacht. Und um fünf Uhr früh hab' ich meinen Bruder fortgehn sehn. In jedem Augenblick können wir erfahren, wie es ausgegangen ist. Denn während wir hier reden, ist alles längst vorüber.

[312]
GENIA.

Erna – ich sagte Ihnen doch, Friedrich ist in die Stadt gefahren, zu seinem Advokaten ... wahrscheinlich.

ERNA.

Er ist nicht zum Advokaten gefahren. Ich weiß es. Ich habe meinen Bruder gesprochen heut früh, als er fortging. Gestern abend noch ist alles abgemacht worden. Heut morgen um acht hat das Duell stattgefunden. Ich nehme an – nicht gar weit von hier. Im Heiligenkreuzerwald wahrscheinlich. Und jetzt ist alles ... vorbei.

GENIA.

Nun, so ist es eben vorbei ... Jetzt ist nichts mehr zu ändern, nicht wahr? Im Heiligenkreuzerwald, glauben Sie? – So sitzen sie jetzt alle zusammen im Stiftsgarten, unter dem schattigen Laub und feiern die Versöhnung ... Das Frühstück war schon vorher bestellt von den Herren Sekundanten. Und versöhnt ist man ja schnell, wenn man einander nie wirklich böse war. Was denken Sie, Erna, trinken sie auf unser Wohl? Warum nicht. Das Leben ist ja so lustig. Vielleicht erscheinen sie zusammen hier, Arm in Arm. Ja ... Wir sollten ihnen entgegengehn.

ERNA.
Ich will nach Hause ... Vielleicht ist mein Bruder schon zurück ....
GENIA.
Gut – gehn Sie nach Hause, Erna ... Ich warte hier ...
ERNA
scheint nach draußen zu lauschen.
GENIA.
Was haben Sie? – Ja, es sind Schritte.
ERNA
zur Verandatür.
Es ist Frau Meinhold.
GENIA
zuckt zusammen.
Wie ...?
ERNA.
Sie kommt ganz ruhig heran. Sie weiß nichts.
GENIA.
Was will sie so früh ...
ERNA.

Sie weiß sicher nichts. Sie geht langsam. Ihre Züge scheinen mir ganz unbewegt. Wenn sie nur die leiseste Ahnung hätte, sähe sie anders aus. Woher sollte sie auch. Fassen Sie sich, Frau Genia!

FRAU MEINHOLD
kommt.
Guten Morgen.
ERNA.
Guten Morgen, gnädige Frau.
GENIA.
Sie sind es, Frau Meinhold? Ah ... Sie steht auf.
ERNA.
Auf Wiedersehen!
FRAU MEINHOLD.
Sie gehn schon? Hoffentlich bin ich es nicht, die Sie davontreibt?
ERNA.
Durchaus nicht, gnädige Frau. Ich hatte mich gerade empfohlen. Adieu, Frau Genia. Ab.

[313] Genia, Frau Meinhold.
GENIA
mit ungeheurer Selbstbeherrschung.

Ich freue mich sehr. Sie wiederzusehn, Frau Meinhold. Es hat mir sehr leid getan, daß Sie gestern gefehlt haben.

FRAU MEINHOLD.

Sie hatten ja größere Gesellschaft, da tu' ich nicht gern mit. Heute bin ich um so früher da, wie Sie sehn, Frau Genia.

GENIA.

Es ist gar nicht so früh. Auf die Standuhr sehend. Richtig, erst zehn Uhr! Ich dachte, es müßte bald Mittag sein. Friedrich ist schon längst in die Stadt gefahren. Sie wissen ja, Frau Meinhold, er ist gestern angekommen.

FRAU MEINHOLD.
Natürlich weiß ich das. Lächelnd. Otto hat mir ja abends seine Grüße überbracht.
GENIA.
So. – Ihr Herr Sohn verläßt Sie schon heute ...?
FRAU MEINHOLD.

Mein Herr Sohn ist sogar schon fort. Noch gestern mit dem letzten Zug ist er hineingefahren. Und heute abend fährt er nach Pola.

GENIA.
Heute abend schon? Ah!
FRAU MEINHOLD.
Sollten Sie das wirklich erst von mir erfahren?
GENIA.
O, das wußt' ich wohl. Ich dachte mir aber, den heutigen Tag wollte er ganz seiner Mutter widmen.
FRAU MEINHOLD.

Er hat heute in der Stadt noch eine Menge zu tun, so haben wir uns schon gestern abend adieu gesagt ... Es ist besser so.

GENIA.
Gewiß ist das besser.
FRAU MEINHOLD.

Können Sie sich denken, Frau Genia, wie mir das heute morgen war, als ich nun wieder so ganz allein in meiner Laube beim Frühstück saß. Nun ist mein kleines Haus mit einem Mal so leer ... wie ich's lange nicht gewohnt war. Ich bin nun eine Zeitlang doch recht verwöhnt gewesen – trotz allem. Und der Gedanke, daß er diesmal auf so lange fort ist und so weit, das macht das Haus noch leerer und trauriger. Drum bin ich lieber fortgegangen ...

GENIA.
Ich versteh's.
FRAU MEINHOLD.

Nicht mit der Absicht, Sie so früh zu stören, Frau Genia, das muß ich Ihnen gestehn. Durchaus nicht. Ich wollte einen Spaziergang machen ... einen einsamen Waldspaziergang. Und nun bin ich doch da. Weiß Gott, wie das kommt. Es muß mich wohl irgend was hergetrieben haben. Sieht sie lange an.

[314]
GENIA
erwidert ihren Blick.
Ich danke Ihnen.
FRAU MEINHOLD.

Danken Sie mir nicht. Ich hatte nur die Wahl, Ihnen sehr böse – oder sehr gut zu sein. Und als ich meine Wohnung verließ, war es noch lange nicht entschieden. Denn in diesen letzten Tagen, jetzt, da er fort ist, darf ich's Ihnen wohl sagen, Genia – ist mir manchmal recht bang gewesen ...

GENIA.
Bang –?
FRAU MEINHOLD.

Ich kenne ja meinen Sohn ... Und ich hab's ihm angesehn, wieviel er gelitten hat in dieser letzten Zeit. Er ist so gar nicht geschaffen ... in unwahren Beziehungen zu leben ... Ich hatte ... Angst um ihn ... Sie haben ihm so viel bedeutet, Genia! Mehr als sein Beruf, als seine Zukunft, als ich, als sein Leben. O Gott, was hab' ich alles gefürchtet. Und habe geschwiegen. Mußte schweigen. Und sogar begreifen mußt' ich's. Ich hab' es ja kommen gesehn, vom ersten Tag an, da Otto Ihr Haus betrat. In all meinem Groll, meiner Angst, meiner Eifersucht, mußte ich es doch begreifen. Sie waren ja so allein, Genia, und so schwer gekränkt ... durch lange Jahre! Auch wenn am Ende ein Schlechterer gekommen wäre als Otto – ich hätte es Ihnen nicht übelnehmen können. Und nun – da er fort ist, ist all mein Groll und meine Eifersucht dahin und ich frage mich nur: Wie wird sie es tragen? Sie – die ihn doch geliebt hat!

GENIA.

Frau Meinhold, ich bin wahrhaftig so viel Teilnahme gar nicht wert. – Ich werde versuchen, ihn zu vergessen. Und es wird mir gelingen. Das ist gewiß, – so gewiß, als es ihm gelingen wird. Ich habe den festen Willen, ihn zu vergessen. Wie sehn Sie mich denn an, Frau Meinhold? Glauben Sie mir denn nicht? Sie müssen keine Angst haben. Es ist nichts verabredet zwischen uns. Ich schwör' es Ihnen ... Wir werden uns nicht einmal schreiben. Das steht fest.

FRAU MEINHOLD.
Sie sind sehr gut, Genia.
GENIA.

Ich bin nur – klug, Frau Meinhold. Nur klug ... Plötzlich bricht sie in ein heftiges Schluchzen aus. Sinkt mit dem Kopf auf den Tisch.

FRAU MEINHOLD.

Genia, Genia. Sie streicht ihr über die Haare. Weinen Sie nicht. Genia! Es ist freilich ein geringer Trost, – aber wir werden es gemeinsam tragen, daß er fort ist ... Sie sehen ja doch, daß meine Wahl getroffen ist, und daß ich mich entschlossen habe, Sie ... nicht zu hassen. Kind, Kind, – beruhigen Sie sich doch. Wir wollen Freundinnen sein, Genia. [315] Es geht ja wohl nicht anders. Genia ... Genia!

GENIA.
Frau Meinhold ... Sie faßt ihre Hand, als wollte sie sie küssen.
FRAU MEINHOLD.
Finden Sie wirklich keinen andern Namen für mich? Ich bin seine Mutter.
GENIA
schüttelt wild den Kopf.
Nein, nein, nein, ich kann nicht mehr ...
FRAU MEINHOLD
sieht sie lange an.

Ich will Sie nun doch lieber allein lassen ... Leben Sie wohl. Aber wenn Sie des Alleinseins müde sind, – so kommen Sie zu mir. Sie finden mich immer bereit Sie zu empfangen. Adieu, Genia. –

FRIEDRICH
von der Terrasse aus herein.
Dunkler Paletot über dem schwarzen Gehrock. Schließt rasch den Paletot, spannt seine Züge.
GENIA
starrt ihn wie fragend an.
FRIEDRICH
lächelt starr ohne zu nicken.

Zu Frau Meinhold in seiner lachend boshaften Art, die nun wie eine Maske wirkt. Küss' die Hand, gnädige Frau. Er nimmt ihre dargebotene Hand mit einem kaum bemerklichen Zögern. Wie geht's?

FRAU MEINHOLD.
Danke. Schon so früh aus der Stadt zurück?
FRIEDRICH.

Aus der Stadt? Nein. Ich fahre jetzt erst hinein. Ich hab' nur meinen Morgenspaziergang gemacht. Ein ... herrlicher Tag ...

FRAU MEINHOLD.
Sie haben eine schöne Reise gehabt.
FRIEDRICH.

Ja, sehr schön. Sehr schön. Ich bin höchst befriedigt. Gutes Wetter, interessante Menschen, was will man mehr.

FRAU MEINHOLD.
Ja richtig, ich habe Ihnen einen Gruß zu bestellen.
FRIEDRICH.
Einen Gruß? Mir?
FRAU MEINHOLD.
Sie werden sich ein wenig wundern. Einen Gruß von Herrn von Aigner.
GENIA.
Von Ihrem Gatten?
FRAU MEINHOLD.

Ja, heute früh. Eh' ich von Hause fort ging, ist nämlich ein Brief von ihm gekommen, nach vielen, sehr vielen Jahren der erste. Und in wenig Tagen kommt er selbst. Eine Konferenz mit dem Minister, wie er schreibt.

FRIEDRICH.

Ja, natürlich, wegen der neuen Bahn. Wird großartig werden, die neue Bahn. Übrigens wird er auch noch einmal Minister werden, Ihr Herr Gemahl. Überhaupt ein merkwürdiger Mensch, ein höchst merkwürdiger Mensch. Er hat noch eine große Zukunft.

FRAU MEINHOLD.
Glauben Sie das wirklich?
FRIEDRICH.
Warum denn nicht?
[316]
FRAU MEINHOLD.
Er spricht nämlich in dem Brief auch von seiner schwachen Gesundheit ...
FRIEDRICH.

Schwache Gesundheit! ... Auf Felsen klettern kann er allerdings nicht mehr, aber Minister werden, das strengt ja weniger an. Und der Absturz ist weniger gefährlich. Er ist übrigens gar nicht krank. Er ist das Leben selbst. Der überlebt uns alle. Pardon, ich kann natürlich nur von mir sprechen, wir können ja alle immer nur von uns sprechen ... Lacht. Ein sehr interessanter Mensch ... wir haben viel miteinander geredt ... in den paar Tagen ... Ich hab' ihn gern.

FRAU MEINHOLD.

Er scheint Sie auch sehr ins Herz geschlossen zu haben. Ja, es ist ein sonderbarer Brief. Rührend beinah. Und ein bißchen affektiert. Das wird er sich wohl nicht mehr abgewöhnen.

FRIEDRICH.
Nein, das kaum mehr ...
FRAU MEINHOLD.
Also auf Wiedersehn.
FRIEDRICH.

Auf Wiedersehn, gnädige Frau. Und wenn Ihr Herr Gemahl hierher kommt, unser Haus ist natürlich ... Les amis de nos amis ... und so weiter ... Adieu, gnädige Frau.

GENIA
begleitet sie ein paar Schritte.
FRAU MEINHOLD.
Bleiben Sie doch, bleiben Sie doch, liebe Frau Genia. Auf Wiedersehn. Ab.
GENIA
rasch zurück.

Genia, Friedrich.
FRIEDRICH
stand regungslos.
GENIA.
Nun? ... Alles ... gut –?
FRIEDRICH
sieht sie an.
Na ...! –
GENIA.
Er ist verwundet?! Friedrich! ...
FRIEDRICH.
Tot ist er!
GENIA.
Friedrich, treib es nicht zu weit! Hier hört der Hohn auf.
FRIEDRICH.
Er ist tot. Ich kann's nicht anders sagen.
GENIA.

Friedrich, Friedrich ... Auf ihn zu, packt ihn bei den Schultern. Du hast ihn umgebracht, Friedrich ... Und – seiner Mutter die Hand gedrückt.

FRIEDRICH
zuckt die Achseln.
Ich habe nicht gewußt, daß sie da ... bei dir ist. Was hätt ich tun sollen?
GENIA.
Tot ... tot! ... Plötzlich auf ihn zu. Mörder!
FRIEDRICH.
Es war ein ehrlicher Kampf, ich bin kein Mörder.
GENIA.
Warum, warum ...
[317]
FRIEDRICH.
Warum –? Offenbar ... hat's mir so beliebt.
GENIA.

Es ist ja nicht wahr! Mach' dich nicht fürchterlicher als du bist. Du hast nicht wollen. Ein entsetzlicher Zufall war's! ... Du hast nicht wollen ... es ist nicht wahr ...

FRIEDRICH.
In dem Augenblick, da er mir gegenübergestanden ist, da ist es wahr gewesen.
GENIA.

Grauenhafter Mensch! Und hast seiner Mutter die Hand gedrückt. Hast ihn nicht einmal gehaßt und ihn doch umgebracht. Bösewicht, eitler, grauenhafter Bösewicht.

FRIEDRICH.

So einfach ist das nicht. Hineinschaun in mich kannst du doch nicht. Kann keiner. Die arme Frau Meinhold tut mir leid. Auch mein guter, alter Herr von Aigner. Aber ich kann ihnen nicht helfen. Nein. Auch dir nicht. Und ihm nicht. Und mir. Es hat sein müssen.

GENIA.
Müssen? –
FRIEDRICH.

Wie er mir gegenübergestanden ist mit seinem frechen, jungen Blick, da hab' ich's gewußt ... er oder ich.

GENIA.
Du lügst, er hätte dich nicht ... er nicht ...
FRIEDRICH.

Du irrst dich. Es war auf Leben und Tod. Er wollte es so gut wie ich. Ich hab's in seinem Aug' gesehn, wie er in meinem. Er ... oder ich ...

ERNA UND MAUER
aus dem Garten.
ERNA
bleibt an der Tür stehen.
MAUER
rasch zu Genia, drückt ihr die Hand.
FRIEDRICH.
Ah, Mauer, du, schon da?
MAUER.
Ich habe nichts weiter zu tun gehabt.
GENIA.
Wo ist seine Leiche?
MAUER.
Auf dem Weg.
GENIA.
Wohin?
MAUER.
In das Haus seiner Mutter.
GENIA.
Weiß sie ... wer wird ihr ...?
MAUER.
Es hat's noch keiner gewagt.
GENIA.
Ich will es ihr sagen. Es ist meine Pflicht. Ich geh' zu ihr.
FRIEDRICH.

Genia ... Einen Augenblick. Wenn du zurückkommst, bin ich kaum mehr da. Ich kann nicht von dir verlangen, daß du mir die Hand reichst, aber – wir sagen uns halt adieu.

GENIA
sich erinnernd.
Percy kommt. Noch in dieser Stunde.
FRIEDRICH.
Percy? Den erwart' ich noch ... Dann ... die übrigen ... na ...
GENIA.
Was hast du vor?
[318]
FRIEDRICH.

In die Stadt hinein. Das beste wird wohl sein, ich stell' mich selbst. Geschehn wird mir ja nichts. Ich hab' ja nur meine Ehre gerettet. Vielleicht daß sie mich gegen Kaution ... allerdings Fluchtverdacht ist vorhanden.

GENIA.
Daran denkst du! Und der andere liegt erschossen –!
FRIEDRICH.

Ja, der hat's freilich leichter als ich. Für den ist alles erledigt. Aber ich – ich bin auf der Welt. Und ich gedenke weiter zu leben ... Man muß sich entscheiden. Entweder – oder.

GENIA
starrt ihn an.
Aus ... Will gehen.
MAUER.
Frau Genia ... Sie dürfen diesen Weg nicht allein gehn. Erlauben Sie mir, Sie zu begleiten.
GENIA
nickt.
Ich danke Ihnen. Kommen Sie.

Mauer und Genia ab.
Erna, Friedrich.
FRIEDRICH
steht noch starr wie früher.
ERNA
an der Türe, bewegungslos.
Was wirst du tun?
FRIEDRICH.

Wie immer es ausfällt, Verurteilung oder Freisprechung, selbstverständlich fort aus der Gegend ... aus dem Weltteil.

ERNA.
Und – wo immer du hingehn willst, Friedrich, – ich folge dir.
FRIEDRICH.
Danke. Wird nicht angenommen.
ERNA.
Ich fühl' es stärker als je, Friedrich, wir gehören zusammen.
FRIEDRICH.

Irrtum. Du stehst jetzt unter dem Eindruck dieser Sache. Wahrscheinlich imponiert's dir sogar, daß ich ... aber das ist Täuschung. Alles ist Täuschung. Nächstens schnapp' ich doch zusammen. Aus Erna, auch zwischen uns. Du bist zwanzig, du gehörst nicht zu mir.

ERNA
immer auf demselben Platz.
Du bist jünger als alle.
FRIEDRICH.

Still! Ich weiß, was Jugend ist. Es ist noch keine Stunde her, da hab' ich sie glänzen gesehn und lachen in einem frechen, kalten Aug'. Ich weiß, was Jugend ist. – Und man kann doch nicht jeden ... Bleib, wo du bist, amüsier' dich gut und ...

ERNA
lauscht.
Ein Wagen.
FRIEDRICH
bleibt starr.
Percy.
ERNA
jetzt etwas näher zu ihm.
Glaube mir, Friedrich, ich liebe dich, ich gehöre dir.
[319]
FRIEDRICH.
Ich niemandem auf der Welt. Niemandem. Will auch nicht ...
KINDERSTIMME IM GARTEN.
Mutter! Vater!
FRIEDRICH.

Percy. Er wimmert einmal leise auf. Ja, Percy, ich komm' schon. Da bin ich. Rasch hinaus auf die Veranda.

ERNA
bleibt stehen.

Vorhang.

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TextGrid Repository (2012). Schnitzler, Arthur. Dramen. Das weite Land. Das weite Land. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D9C8-B