[205] Arthur Schnitzler
Der letzte Brief eines Literaten

Über dem See draußen liegt die Nacht. Stumm, schwarz und fern ragen die Berge. – Lies nur weiter, mein Freund, es ist trotz alledem ein Brief. Am jenseitigen Ufer längs der Strandpromenade glitzern die Lichter, die ich nicht mehr werde verlöschen sehen. Oder doch –? Würde ich so gelassen, sogar mit einiger Sorgfalt meine Worte aneinanderreihen, wenn ich im Innersten davon überzeugt wäre, daß dieser Brief auch wirklich mein letzter, daß in ein paar Stunden wirklich alles für mich vorbei sein wird? Warum nicht? – Aber es ist immerhin beruhigend, sich nichtverurteilt zu fühlen, sondern nur entschlossen. Daß man etwas nicht muß, macht alles leichter, sogar das Sterben. Du verziehst den Mund, mein Bester, aber du liesest weiter. Daß ich schon tot bin, stimmt dich milder oder doch wenigstens neugierig. Ich aber frage dich – was du dich selbst auch fragen dürftest – warum ich diesen Brief denn gerade an dich richte, dem all das, was ich bisher gesagt habe und noch sagen werde, ebenso widerwärtig als im tiefsten Grunde unverständlich sein dürfte – sein muß? Warum nicht an eine dankbarere, eine würdigere Adresse? An die Nachwelt – oder bescheidener gesprochen – an die Unbekannten, die niemals meine Feinde und niemals meine Freunde waren und daher in jedem Falle von Vorurteilen gegen mich frei sein werden? Sollte es etwa eine Art von Buße sein, die ich mir und meiner Eitelkeit auferlege, indem ich diesen Brief – als Vermächtnis gewissermaßen – gerade dir hinterlasse, mit dem eines Tages, eines sehr fernen Tages wollen wir hoffen, mein Geheimnis, die Geschichte meiner Schuld und Sühne, wie andere dir sympathischere Autoren sich ausdrücken dürften, endgültig begraben sein wird?

Doch wie immer – geschrieben soll es stehen; in Worte soll gefaßt sein, warum ich sterbe, vielmehr warum ich zu sterben entschlossen bin, noch ehe Maria, deren Tod du für morgen oder für übermorgen mit solcher Sicherheit vorhergesagt hast, Zeit gefunden hat, mir voranzugehen.

Sie schläft. Dank deiner wundertätigen Morphiumspritze, mein [206] Freund, schläft sie ruhig und tief, und die Krankenschwester, die du selbst vor drei Tagen aus Mailand mitzubringen die Güte hattest, wacht an ihrem Bette. Die Türe ist nur angelehnt, ich höre den ruhigen Atem der Schlafenden und spüre zugleich die Nähe der andern, der Wachenden, Gesunden, Lebenden, obwohl sie sich nicht regt und ich nicht einmal die Spitzen ihrer kleinen schwarzen Schuhe sehe (die für eine Krankenschwester auffallend elegant sind). Übrigens habe ich seit je die Gabe, die Nähe von Menschen zu fühlen, mit denen sich eine seelische Verbindung angeknüpft hat. Ob ich die Schwester nicht ablösen sollte? Ob es mir nicht ziemte, in dieser Stunde in eigener Person und allein an Marias Lager zu weilen, ihre Hand in der meinen oder meine Hand auf ihrer Stirne. Und ob es nicht den triftigsten Beweis gegen und in einem andern Sinn für mich bedeutet, daß ich statt dessen beim Schein von zwei Kerzen einen Brief – oh, ist's möglich! an dich einen Brief verfasse, dessen Einleitung ich vielleicht nur darum so lang hinausdehne, um für mein Geständnis Zeit zu gewinnen.

Welch ein merkwürdiger Zufall übrigens, der als den Arzt, um den ich nach Mailand sandte, gerade dich an das Krankenbett meiner Geliebten führen mußte. (Wir sind nämlich nicht verheiratet, mein Freund.) Ich hatte nicht einmal nach einem deutschen Arzt verlangt, aber der Apotheker des Orts hier dachte mir offenbar einen Gefallen damit zu erweisen, daß er mich an einen Landsmann wies. Und nun war es gar ein Schulkamerad, ein Jugendfreund! Und man sah sich, nachdem man einander so gut wie vergessen, nach zehn Jahren zum erstenmal wieder. Aber sag' mir doch, mein Freund, warum magst du mich noch immer nicht leiden? – »Ich kann dich leicht fragen, denn ich bin ja schon tot, und du kannst mir noch leichter antworten, denn du bist lebendig. Aber trotzdem hüte dich zu erwidern: es ist einfach Antipathie. Dergleichen feige Umschreibungen haben wir in diesem Augenblick beide nicht mehr nötig. Also, warum noch immer dein Haß? Du hast ja deinen Weg gemacht, hast erreicht, was du erreichen konntest, wolltest – und mehr beinah; du darfst von dir sagen, daß du mit eigener Kraft aus den armseligen Verhältnissen deiner Jugend binnen weniger Jahre zu einer höchst geachteten, gesicherten Stellung emporgestiegen bist; dein Beruf, den du erwählt, den du als heilig empfindest, heiliger als jeden andern, wenn auch vielleicht mit Unrecht, befriedigt, ja erfüllt dich ganz – und verstehe ich deine Haltung richtig zu deuten, die ohne[207] jede Gedrücktheit scheint, dein Gebaren, das alle Schüchternheit abgestreift, so ist dir auch schon geworden, wonach du dich in jungen Jahren am heißesten und ach! so vergeblich sehntest – das Glück, dich an Frauenzärtlichkeit erfreuen zu dürfen, ohne sie bar bezahlen zu müssen. – Also, erkläre mir, wie es kommt, daß auch heute noch, daß schon bei unserer ersten Wiederbegegnung, mitten in der automatisch freudigen Überraschung des Erkennens, jener verräterisch-feindselige Strahl in deinem Auge aufzuckte, der mich als Knaben schon befremdete, als du, selbst beinahe noch ein Knabe, über die Schwelle meines Elternhauses tratest, um dich als neuer Hauslehrer vorzustellen? Und war es nicht derselbe Blick, der mich zehn Jahre später traf, als es sich fügte, daß du auf dem Medizinerkränzchen in einem etwas unglücklich geschnittenen Frack einsam an mir vorüberstreiftest, der eben den Vorzug hatte, mit einem sehr hübschen blonden Fräulein vorbeizutanzen. Und war es nicht wieder derselbe etwas tückische Schimmer in deinem Auge, als du fünf oder sieben Jahre später, schon Sekundararzt im Allgemeinen Krankenhause, an einer Straßenecke mit mir zusammentreffend, nicht umhin konntest, mich zu meinem ersten Theatererfolg zu beglückwünschen, der mich, wie man sich auszudrücken pflegt, über Nacht berühmt gemacht hatte? Nun, es bedurfte keiner besonderen Seelenkunde, um deine Blicke wie deine ganze Grundstimmung mir gegenüber zu erfassen; – zu verwundern ist nur, daß sie auch nach so langer Zeit unvermindert andauert und daß es dir nicht einmal gelingt, in diesen für mich, wie du wohl annehmen mußt, schweren Tagen dich so weit zu beherrschen, um ein freundliches, ja, um nur ein unbefangenes Wort mir gegenüber zu finden. Zum Neid gebe ich dir doch in keiner Weise mehr Anlaß – selbst mein Ruhm, der dir als der eines Dichters wohl nie sonderlich erstrebenswert erschienen sein dürfte, gehört nicht zu der Art, die die Welt mit ihrem Widerhall erfüllt, und ich zweifle so wenig daran als du, daß in etlichen Jahrzehnten kein Hahn mehr nach mir und meinen Werken krähen wird. Warum also, mein Freund, dieser unauslöschliche Haß gegen einen Menschen, dem du doch bisher nichts weiter vorzuwerfen hast, als daß er nicht besser, auch nicht schlechter, nur eben anders ist als du? Habe ich nicht Grund, zu befürchten, daß dich nach meinem voraussichtlich tragischen Ende – wie du es in jedem Falle bezeichnen wirst – eine flüchtige Empfindung des Bedauerns, ja der Reue überkommen – und daß ein halb unbewußtes Schuldgefühl dich eine Viertelstunde lang [208] im Glauben an deine Vortrefflichkeit irre machen könnte? Ja, schreibe ich dir diesen Brief am Ende nur, um mit dem mir eigenen, durch die Nähe der großen Stunde wahrscheinlich gesteigerten Edelmut dir auch die geringfügigste peinliche Erregung zu ersparen – und dir überdies die Genugtuung zu verschaffen, daß du – nicht nach dem, was du bisher lasest, sondern nach dem, was du weiterhin lesen wirst – dein unwillkürliches Grauen vor mir gewissermaßen als eine göttliche Bestätigung deines inneren Ordnungssinnes empfinden darfst?«

Eben geht die Schwester, die schöne blonde, die du uns oder vielmehr meiner Frau aus Mailand mitgebracht hast, durch mein Zimmer. Warum? Warum eben durch dieses, da doch Marias Zimmer einen zweiten Ausgang hat? Ihr Blick hat mich gestreift, ich fühle es, ohne den meinen vom Schreibtisch zu erheben. Lautlos hat sie die Türe hinter sich geschlossen, leise ist sie die Stiege hinabgegangen, und jetzt höre ich ihre Schritte unten im Garten auf dem Kies. Sie atmet die linde Nachtluft, und ihre Schritte entfernen sich dem Ufer zu. Statt diesen vielleicht überflüssigen Brief weiterzuschreiben, könnte ich ihr folgen; vielleicht erwartet sie etwas dergleichen. Aber was kümmert's mich? Zu all dem ist es zu spät. Ich habe anderes zu tun. Ich habe meinen Brief abzufassen, eine Beichte abzulegen, vielleicht auch nur eine letzte Komödie zu spielen, was weiß ich. Irgend etwas klingt zum offenen Fenster herauf, so leise, daß ich nicht unterscheiden kann, ob es Stimmen sind draußen vom See her oder verhallende Geigentöne vom Ufer gegenüber. Oder flüstert im Garten unten die blonde Schwester, das Schicksal versuchend, meinen Namen vor sich hin, in Sehnsucht und Angst zugleich, daß ich ihn vernehme? Nun aber will ich nach Maria sehen.

Das Morphium wirkt wundervoll weiter. Maria schläft tief, ihr Atem geht ruhig wie vorher. Über ihren nackten Arm, der auf der Decke lag, fiel ein silberblauer Strahl, und von ihrer Stirn ging ein blasser, wie unirdischer Schimmer aus; sonst war alles dunkel im Raum. Und nun schreibe ich weiter und will dir endlich erzählen, warum ich entschlossen bin, nach eigenem Ratschluß zu sterben, und noch vor Maria, die nach einem unerforschlichen dahingeht. Oder sollte das am Ende auf das Gleiche hinauslaufen –?

Aber wo beginne ich? Als wäre es so leicht zu sagen, wo eine Geschichte anfängt. Bei unserer Geburt –? Bei unseren Eltern –? Unseren Großeltern –? Bei Ahnen, von denen wir nichts wissen –? [209] Urahnen, die im fernsten Dunkel der Vergangenheit verschwinden? Es hätte seine Schwierigkeit, so weit auszuholen, als man eigentlich müßte – besonders, wenn einem die Zeit so karg bemessen ist wie mir. Daher sei nach der Art gewiegter Novellisten bei der Stunde der Anfang gemacht, in der wir beide einander begegneten, Maria und ich; vielmehr bei der, da wir einander Schicksal wurden, im Gewirr dahinschwebender Paare unter Flöten- und Geigenklang. Doch war es trotz alledem keine sehr fröhliche Stunde; wenigstens ließ sie sich nicht so an; denn vorerst wandelte an meinem Arm noch Fräulein Syringe, ein Name, den du mit Recht etwas heidnisch und sonderbar finden wirst – aber kann man sich anders nennen, wenn man berufen ist, auf dem Theater schwermütige und interessante Frauen darzustellen, bei der Taufe den Namen Josefine erhalten hat und demzufolge durchs bürgerliche Leben als ein Fräulein Pepi wandelt? Trotzdem wir einander zärtlich liebten, schon ein Vierteljahr lang, nämlich seit den Proben zu meiner letzten Komödie, in der Syringe die dämonischeste Pepi 'oder Pepi die dämonischeste Syringe dargestellt hatte, die sich träumen ließen, blickten wir doch beide auf diesem Balle nach anderen, neuen Gesichtern und wohl auch, unbewußt natürlich, nach einem neuen, echteren Glücke aus. So war mein Auge schon manchen – blauen, braunen, bekannten, unbekannten – in flüchtigem, fragendem, lockendem Gruß begegnet, als plötzlich ein Blick sich in den meinen senkte, so dunkel leuchtend und ernst, daß ich ihn noch immer in Aug' und Sinn unverlöscht weitertrug, als schon die ganze Länge des Saals sich zwischen uns dehnte und tausend Menschen – nein, Schatten waren es – zwischen uns einherschwebten. Wo war Syringe? Meinem Arm entglitten, ohne daß ich es nur gemerkt hätte. Irgendwer hatte sie mir entführt, da tanzte sie schon mit ihm an mir vorüber und lachte mich spöttisch-vergnügt an; aber ihr Mund blieb halb offen, und sie sah kostbar dumm-erschrocken aus, als ich ihr das Lächeln nicht einmal zurückgab, sondern an ihr vorbei, vielmehr durch sie hindurch sah wie durch ein Gespenst. Sie schüttelte sich ein wenig, streckte ihren rechten Arm in einer widersinnigen Weise mit ausgespreizten Fingern von sich ab, ließ ihn dann sinken, mein Blick blieb unergründlich, und wir kannten uns nicht mehr. So war Syringe endgültig abgetan, noch ehe ich ein Wort mit Maria gewechselt, ja ehe sich nach jenem ersten entscheidenden unsere Blicke noch einmal getroffen hatten. Ich suchte sie nicht im Saal und wartete nur ohne eigentliche [210] Ungeduld auf das Unausbleibliche. Ruhig stand ich auf der obersten der drei Stufen, die rings um den Saal liefen, als ich Maria am Arm eines Herrn sich langsam mir nähern sah. Unsere Augen grüßten sich, ohne daß unsere Mienen sich bewegten. Da wir uns in Gesellschaft schon etliche Male begegnet waren, durfte ich ohne weiteres an sie herantreten, um sie zu einem Tanz aufzufordern. Sie nickte, verließ mit schweigendem Gruß ihren Begleiter, und im nächsten Augenblick schwebte sie mit mir dahin. Mir war, als hielte ich eine Träumende, wenn nicht eine traumlos Schlafende im Arm. Denn ihre Augen waren geschlossen, und ihre Züge blieben ohne Regung. Wir berührten einander kaum, auch ruhten unsere Hände nur ganz lose ineinander, und doch wußten wir beide, schon in diesem Augenblick, daß unser Schicksal sich für alle Zeiten entschieden hatte. Plötzlich sah ich, wie ihre Augen sich weit öffneten, ich spürte, wie ihr Körper, der bisher gleichsam gewichtlos gewesen war, schwer und immer schwerer in meinem Arm lastete, so daß ich alle Mühe aufwenden mußte, ihn vor dem Hinsinken zu bewahren; in einer mir selbst unbegreiflichen Weise gelang es mir, sie unter dem Anschein des Weitertanzens mit mir fortzuziehen, bis ich sie an den Rand des Saales gebracht hatte, wo mir nichts übrig blieb, als sie auf die Stufen niederzulassen und vorerst ihren Kopf zu stützen, indem ich meine Hand unter ihren Nacken legte. Sie war totenblaß, die Lider geschlossen, sie schien völlig ohne Bewußtsein. Etliche Paare in unserer Nähe hielten im Tanzen inne, ein paar Herren und Damen im Logen gang erhoben sich, einer brachte ein Glas Wasser herbei, das er der Ohnmächtigen vergeblich an die Lippen führte, Rufe nach einem Arzt wurden hörbar, aber ehe noch einer zur Stelle war, hatte sich durchs Gewühl in fliegender Eile eine Dame herangedrängt, in der ich Marias Mutter erkannte. Ohne mich zu beachten, faßte sie mit beiden Händen nach dem Kopf ihrer Tochter, der immer noch auf meinem Arm ruhte, und flüsterte, wie um sich selbst zu beruhigen, aber doch im Kreise ringsum blickend: »Es hat nichts zu bedeuten.« In dieser Sekunde schlug Maria die Augen wieder auf. Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, sie sah um sich, und es bedurfte nur mehr einer wie bittenden Gebärde von Seite der Mutter, um die Umstehenden zu allmählicher Entfernung zu veranlassen. Maria saß nun ganz aufrecht, löste sanft die Hand der Mutter von ihren Wangen, lächelte zu ihr auf, sagte: »Mir ist wieder ganz wohl, Mutter«, und dann, vollkommen beherrscht, ihren dunklen Blick [211] auf mich heftend, richtete sie die Worte, die ersten, seit wir einander zugehörten, an mich: »Habe ich Sie erschreckt?« Ich versicherte, daß das nicht der Fall gewesen sei, und durfte es mit bestem Gewissen, denn tatsächlich war ich während des ganzen Vorfalls nicht nur vollkommen ruhig geblieben, sondern vielmehr mir einer gewissen, nicht unangenehmen Spannung bewußt geworden. Ich küßte der Mutter zu verspäteter Begrüßung die Hand und bat um die Erlaubnis, die Damen an einen Tisch geleiten und ihnen Gesellschaft leisten zu dürfen, bis das Fräulein sich völlig erholt hätte und zu einem nächsten Tanz Lust verspürte. »Ich denke«, sagte die Mutter, »vom Tanzen wird Maria wohl für heute genug haben«, und wie neuerdings zur Erkenntnis einer überstandenen Gefahr erwachend, rief sie aus: »Was ist dir nur eingefallen, Maria? Du weißt, wie strenge es dir verboten ist. Hätte ich geahnt, daß mein kluges Kind imstande wäre, so unvorsichtig und ungehorsam zu sein, nie hätte ich die Billetts angenommen.« – Maria lächelte: »Das hätte Eduard zu sehr verletzt.« Und zu mir gewandt, erklärend: »Mein Vetter Eduard ist nämlich Mitglied, ja sogar Vizepräsident des Ballkomitees.« Immer noch saß sie auf den Stufen, mit ihrem kleinen, weißen Fächer spielend, in einer wunderbar freien Haltung, und das Lächeln blieb um ihren Mund. Die Mutter aber sprach erregt zu mir weiter: »Der Arzt, was sage ich, alle Ärzte haben es ihr verboten – sie bekommt nämlich Herzklopfen durch jede rasche Bewegung. Wenn es auch nichts Ernstes zu bedeuten hat – man muß doch vorsichtig sein! Sie ist ja sonst ganz vernünftig. In den letzten Wochen waren wir drei- oder viermal in Gesellschaften, und nie fiel es ihr ein, sich am Tanz zu beteiligen.« – »Es war ja auch heute nur eine einzige Runde, Mutter«, sagte Maria, »und es soll auch die letzte gewesen sein.« Sie erhob sich, streifte mich mit einem raschen, doch ernsten Blick, dann klappte sie ihren Fächer zu, schaute an sich herab und strich ihr Kleid zurecht.

Der Geschwindigkeit, mit der eine Gedankenreihe von schicksalsvoller Bedeutung im Hirn abrollt, vermag auch die gedrängteste Sprache niemals zu folgen. Was ich jetzt versuchen will, mein Freund, dir mit kurzen Worten deutlich zu machen, Erleuchtung, Überlegung und Entschluß, all dies, was sich in meiner Seele in den paar Augenblicken abgespielt, während Maria ihren kleinen Fächer zugeklappt und ihr Kleid zurechtgestrichen, beschäftigte mich kaum mehr, als ich mit Maria und ihrer Mutter an einem Tisch im Logengang saß und mit ihnen wie mit [212] oberflächlichen alten Bekannten, die sie ja übrigens waren, von allerlei gleichgültigen Dingen plauderte. Dies aber waren vorher meine Gedanken gewesen:

Maria hat einen Herzfehler (die Kühnheit meiner Diagnose bitte ich dich zwiefach entschuldigt zu halten; einmal damit, daß ich kein Arzt bin, und zweitens damit, daß die Diagnose richtig war). Sie weiß von ihrer Krankheit und von der Gefahr, die jede rasche Bewegung für sie zur Folge haben kann und hat mir trotzdem den erbetenen Tanz nicht verweigert, ja sich in diesem Tanze so völlig hingegeben, wie es nur ein Wesen tun kann, das plötzlich von einer unwiderstehlich heftigen Leidenschaft erfaßt wurde. Sie wird mir auch ihre Hand nicht verweigern, selbst wenn die Mutter und die Ärzte das Heiraten widerraten oder gar untersagen sollten. Wir werden sehr glücklich sein ... ein paar Jahre, vielleicht nur ein Jahr lang oder gar nur ein paar Monate, und dann wird sie von mir scheiden. Ich aber werde zurückbleiben, allein, mit einem großen Schmerz, mit dem ersten wahrhaften Schmerz meines Lebens, den ich mir in dieser Stunde schon in seiner ganzen Furchtbarkeit vorzustellen fähig bin. Und dann erst, wenn ich diesen Schmerz durchfühle, werde ich der geworden sein, zu dem mich Gott geschaffen hat. (Nenne mich nicht einen Gotteslästerer, nie bin ich frommer gewesen als in jenem Augenblick.) Daß ich den Schmerz bisher nicht gekannt habe, das ist die Schwäche meines Wesens, das Grundübel meiner Kunst. Darum fehlt allem, was ich bisher versucht, allem, was mir bisher bis zu einem gewissen Grad gelungen, Leidenschaft und Tiefe. Darum ist alles so kühl, so glatt – so leer, wie meine Feinde sagen. Aber wer sind unsere Feinde? Die recht gegen uns haben, wenn auch meist aus unlauteren Gründen. – Und weil ich, bei aller Leichtigkeit und Begabung, so kühl bleibe, daher entbehrt auch meine Laune, die man mir wohl zugestehen mag, jener Heiterkeit des Herzens, die nur aus dem Leid erblüht. Erst wenn ich mein Schicksal mit dem Marias verbunden haben werde, in unserer Liebe, in ihrem Tod, in meinem Schmerz, wird meine Sendung sich erfüllen können. So und nicht anders dachte ich, während ich neben ihr saß, mit ihrem kleinen weißen Fächer spielte und mit den Blicken an ihren blassen, leise bebenden Lippen hing, wie ich niemals an volleren und glühenderen Lippen mit den meinen gehangen war. Ich liebte sie – sie war das erste Geschöpf, das ich liebte – und dachte an ihren, nein, ich rechnete mit ihrem Tod und liebte sie gerade darum noch tausendmal mehr.

[213] Und nun ist die Schwester wieder bei ihr. Ich weiß es, obwohl ich sie nicht kommen gehört oder gesehen habe. Sie hat vergeblich im Garten gewartet. Welch ein wunderbares Bild. Ich sehe es so deutlich, als wäre ich im Zimmer bei ihnen. Die blonde, schöne, ins Leben blühende Schwester regungslos auf dem Sessel zu Häupten des Betts, in dem die dunkelhaarige, blasse, dahinsterbende Frau ruht. Oh, was für ein Bild, und es ist am Ende noch ein Glück, daß ich nicht zudem noch ein Maler bin!

Zwei Tage nach dem Ball hielt ich es für richtig, mich nach dem Befinden Marias zu erkundigen. Sie wohnte mit ihrer Mutter in einem alten Haus der inneren Stadt, einigermaßen beschränkt, wie leicht zu bemerken war, aber nicht ganz ohne Behaglichkeit, mit alten Möbeln, die auf mäßige Wohlhabenheit und einen erträglichen bürgerlichen Geschmack hindeuteten, wie man beides in einer Familie guten österreichischen Beamtenadels erwarten durfte, wo die Witwe außer der Pension auch noch über eine kleine Rente zu verfügen hat. Die Mutter empfing mich liebenswürdig, ja ein wenig geschmeichelt, und wenn ihr auch nicht nur meine Person, sondern auch mein Name als der eines bekannten Bühnenschriftstellers schon früher nicht fremd gewesen war, schien sie indessen in ihrer Umgebung weitere Erkundigungen über mich eingezogen zu haben, denn sie zeigte sich über meine persönlichen Verhältnisse auffallend gut unterrichtet, wußte, daß ich meine Eltern schon vor vielen Jahren verloren, daß meine Schwester mit einem Fabrikanten in den Rheinlanden verheiratet sei, und daß ich für mich allein ein Häuschen in Hietzing bewohne. Überdies ließ sie den Titel von zweien oder dreien meiner Stücke, die sie gewiß nie gesehen hatte, in die Unterhaltung einfließen.

An der Wand hing das nachgedunkelte Porträtbildnis des Ministerialrates, ihres früh verstorbenen Mannes, ein jünglingshaftes, schmales, bartloses Gesicht, das mich irgendwie an die Züge eines Offiziers aus den Freiheitskriegen erinnerte. Die überschatteten Augen, die schmalen Lippen, das scharfgeschnittene Kinn, ganz besonders aber die wunderbar freie Haltung, in der sich eine unbedenkliche Leichtigkeit des Gebens und zugleich eine stolze Bereitschaft des Empfangens ausdrückte, hatte er der Tochter vererbt, die mir, während ich mit der Mutter plauderte, in einem dunkelblauen Samtfauteuil, ohne Hände oder Arme aufzustützen, zuerst ganz schweigsam gegenübersaß. Erst später beteiligte sie sich am Gespräch, und ihre erste Frage, da eben [214] von meinem kleinen Besitztum die Rede war, lautete, ob ich selbst mich mit Gartenarbeiten beschäftige. Als ich bemerkte, daß ich es bisher nicht weiter gebracht als bis zum Blumenpflücken und Obstschütteln, ging sie auf den schwachen Scherz nicht ein, vielmehr erzählte sie von ihrer Sommerwohnung in der Brühl, die sie alljährlich schon im Mai mit der Mutter beziehe, und bald erfuhr ich, daß sie, abgesehen von kleinen Ausflügen und von einem im vorigen Herbst auf einem niederösterreichischen Landsitz bei Freunden verbrachten Aufenthalt, sich in der weiten Welt kaum noch umgetan hatte. Als ich Miene machte, sie deswegen zu bedauern, wollte sie das durchaus nicht gelten lassen, Unzufriedenheit und Sehnsucht lag ihrem Wesen fern; immer entschiedener gab sich mir eine noch nicht erwachte, ja kaum zum Bewußtsein ihrer selbst gelangte Seele kund, und auch unsere Begegnung, die ich, jedem Aberglauben abgeneigt wie möglich, doch wie etwas Vorbestimmtes empfand, nahm sie ohne Verwunderung und ohne jede Andacht hin – sie hatte gewiß schon in manchem Buch von jener geheimnisvollen Liebe auf den ersten Blick gelesen, an die ich selbst bisher nie geglaubt hatte – die Sache schien ihr keineswegs merkwürdiger, weil sie sie an sich selbst erfuhr.

Sie wunderte sich auch nicht, als ich schon am Tag darauf meinen Besuch wiederholte; und daß in der ersten Minute eines zufälligen Alleinseins unsere Lippen sich zu einem langen Kusse fanden, ergab sich ohne Vorsatz, ohne eigentliche Leidenschaft, ja mit einem gleichsam besiegelnden Ernst als die reinste und natürlichste Angelegenheit von der Welt. Von der Mutter erbat ich mir die Erlaubnis, die Damen am nächsten Tag abholen zu dürfen, um ihnen die paar Bilder und Kunstgegenstände zu zeigen, die mir, zum Teil als Erbstück von meinen Eltern her, zum andern als von mir selbst gesammelt, einen nicht sehr anspruchsvollen Schmuck meiner Villa bedeuteten. Es war ein kühler Vorfrühlingstag, als ich Mutter und Tochter in meinem kleinen Gärtchen herumführte, die Rosenstöcke waren in Stroh gehüllt, auf dem Rasen zerfloß der Schnee, unter einem kahlen Jasminstrauch zeigten sich ein paar frühe Veilchen. Später, nachdem ich meine bescheidenen Kostbarkeiten hatte bewundern lassen, saßen wir eine Weile im Arbeitszimmer am Kamin, in dem übrigens die Asche eines Werks verglimmte, das ich erst vor ein paar Wochen begonnen und an diesem Morgen, da es mir in seiner frechen und kalten Lustigkeit mit einem Male fremd, ja meines inneren Zustandes im eigentlichen Sinne unwürdig erschienen [215] war, ins Feuer geworfen hatte. Maria schien mir heute wunderbar verändert. Ihre dunkle, wie von Schwermut umwitterte Erscheinung hatte sich aufgehellt, sie war gesprächig, von einer heiteren Bewegtheit, und gern ließ sie sich mit ihrer Mutter zum Abschluß des Besuchs durch alle Räume meines kleinen Hauses geleiten, in das sie, woran weder sie noch ich mehr zweifeln konnte, bald als meine Gattin einziehen sollte. Im übrigen gelangte ich an diesem Tag zur Überzeugung, daß Marias Herzleiden nicht so gefährlich war, als ich neulich unter dem Eindruck ihres Ohnmachtsanfalles mir eingebildet und, man kann es wohl nicht anders sagen, gehofft hatte. Doch vermochte ich nicht, mir die Gedankenfolge, die jener Unfall in mir ausgelöst, so ungeheuerlich sie dir und vielen anderen erscheinen dürfte, im Grunde übelzunehmen: Wie oft in meinem Leben hatte ich böse, verbrecherische, teuflische Einfalle und nicht minder edle und opfervolle nach Dichter-und Narrenart ungehindert ihre Bahn laufen lassen; es waren Spiele der Gedanken, für die ich mich, weder im Bösen noch im Guten, als verantwortlich empfinden konnte.

Wir betrachteten uns als verlobt, aber einigten uns dahin, daß jede Mitteilung an Freunde und Verwandte zu unterbleiben habe. Doch brachte ich bei der Mutter, der wir unseren Entschluß weder verschweigen konnten noch wollten, in aller Form meine Werbung an. Diese aber erklärte mir unter vier Augen, daß sie sich außerstande sehe, ohne vorherige Rücksprache mit dem Hausarzt ihre Einwilligung zu erteilen. Zwar war ihr leicht anzumerken, daß sie einen so vorteilhaften Antrag, wie ihr der meine zu sein schien, lieber ohne weiteres angenommen und sich durch meine in aller Aufrichtigkeit vorgebrachte Meinung gern hätte überreden lassen, Marias Zustand würde durch eine glückliche Ehe gewiß nur günstig beeinflußt werden, doch trug ihre mütterliche Gewissenhaftigkeit am Ende den Sieg davon. Schon tags darauf empfing ich den Besuch eines älteren Herrn, der sich mir als Arzt der Familie vorstellte und nach einigen höflich-verlegenen Einleitungsworten mir nahelegte, von meiner Bewerbung um Maria abzustehen. Er habe zwar weder der Mutter, die ihn gestern zu sich berufen, noch weniger Maria selbst, die er bei dieser Gelegenheit wieder einmal aufs genaueste untersucht, die ganze Wahrheit offenbart; um so sicherer glaube er meinem Takt und meiner Einsicht, ja gerade meiner Neigung für die Kranke die wohl peinliche, aber leider unerläßliche Lösung des Verlöbnisses anheimstellen zu dürfen. Unerläßlich, wiederholte er streng, denn [216] Marias Zustand bedürfe der größten Schonung, wenn, die sie liebten, sich noch ein paar Jahre an ihrer Gegenwart freuen wollten. Den Erregungen einer Ehe, insbesondere, wie er mit emporgezogenen Brauen bemerkte, einer Liebesehe, sei ihr krankes Herz durchaus nicht gewachsen, und wer in Kenntnis dieses Umstandes sie dennoch zur Frau nehme, den könne man von schwerster Gewissensschuld nicht freisprechen. Ich hörte ihn ruhig an und dankte ihm sehr höflich für seine Ratschläge, da ich aber seinen wiederholten Mahnungen gegenüber meine kühle Haltung beibehielt, empfahl er sich rascher, als er offenbar beabsichtigt hatte, und in einiger Verlegenheit. In mir aber war während der kurzen Unterredung, in der ich fast nur Zuhörer geblieben war, der Plan, den ich an jenem Ballabend gefaßt und seither nicht etwa als einen unsinnigen oder niederträchtigen, sondern vielmehr als einen nach Lage der Dinge glücklicherweise unanwendbaren verworfen hatte, von neuem aufgeleuchtet, und nun, da ich allein gelassen in meinem Zimmer auf und ab ging, ergriff er unwiderstehlich Besitz von meiner Seele. Mit Beschämung fast ward ich nun inne, daß ich in den vorhergegangenen Tagen nichts anderes gewesen war als ein verliebter junger Mensch und meiner wahren Berufung aufs kläglichste vergessen hatte. Dieser aber ward ich mir jetzt in einem bisher von mir nicht gekannten, kaum geahnten Maße neu bewußt und zugleich mit ihr und mit der gleichen Macht, als wären diese beiden Seelenkräfte untrennbar vereint, meiner Liebe zu Maria. Daß es mir bestimmt war, vom ersten Augenblick des Besitzes an für sie zu zittern, auferlegt, sie durch eigene Schuld zu verlieren, und daß ich mir zugleich zutraute, ja, die Verpflichtung auf mich nahm, durch ein Werk, das vor Gott höher anzuschlagen war als ein Menschenleben, dieser Schuld wieder ledig zu werden, das mußte meine Leidenschaft so sehr ins Ungeheure steigern, daß sie fähig war, innerhalb einer karg zugemessenen Frist das geliebte Geschöpf reicher zu beglücken, als es eine behaglich-unbekümmerte Zärtlichkeit imstande war, die, ohne ein Ende vor sich zu sehen, allmählich in sich selbst verlischt. Und entschlossen, keinem Verbot oder auch nur einer verzögernden Einrede auf das weitere Geschehen Einfluß zu gestatten, besprach ich mit Maria, zu der der Arzt nur andeutungsweise, vorsichtig einen Aufschub der Hochzeit bis zum Herbst als wünschenswert bezeichnet hatte, noch am selben Abend eine fluchtartige Abreise, nach deren Gelingen die Mutter vor eine fertige Tatsache gestellt, ihre Einwilligung [217] nicht länger würde verweigern können. Ohne Bedenken, ja voll Entzücken erklärte sich Maria einverstanden. Sie machte kein Hehl aus ihrer völligen Gleichgültigkeit gegenüber dem priesterlichen Segen. Mit mir unlöslich verbunden, allen Menschen fern, je eher je lieber in die Welt hinauszureisen, war ihre einzige Sehnsucht, gegenüber der alle Rücksichten, auch die auf ihre zärtlich geliebte Mutter, schweigen mußten. Diese, so wenig wie irgend jemand anderer, hätte ihr in den wenigen Tagen, die ich zu den Reisevorbereitungen benötigte, nur die geringste Unruhe anmerken können, und ich selbst, in Verstellungskünsten gewiß nicht ganz ungeübt, mußte staunen, wie harmlos-fröhlich sie die Mutter noch an dem Morgen des Tages zu umarmen vermochte, da sie das Heim ihrer Kinderjahre, als wäre es zu einem Spaziergang, in Wirklichkeit für gar lange Zeit, wenn nicht für immer, verlassen sollte.

Ich hatte Sorge getragen, daß uns in den ersten Tagen keine Nachricht vom Hause erreichen konnte. Marias Briefe aber, die daheim erst eintrafen, wenn wir unseren Aufenthalt schon gewechselt hatten, waren von Anbeginn so unbefangen und bestimmt gehalten, daß die Mutter schon in dem ersten Antwortschreiben trotz des Versuchs, Groll und Gekränktheit merken zu lassen, ihre Befriedigung über das offenbare Wohlbefinden und die ungetrübte Stimmung ihrer Tochter nicht zu verhehlen vermochte; und ihre wohlgemeinte, etwas schüchterne Anregung, ob wir unsere Reise nicht zum Zwecke einer baldigen, standesgemäßen Trauung abkürzen oder doch unterbrechen wollten, machte uns beide nur lächeln. Je weiter wir uns von der Heimat entfernten, um so mehr schwand unser beider Unrast, die sich allerdings erst von mir aus ihr mitgeteilt hatte. Fast ohne Ruhepause waren wir nach Neapel gelangt, hier nahmen wir einen ersten kürzeren Aufenthalt, dann erst ging es nordwärts nach Rom und endlich nach Florenz, wo wir länger zu verweilen gedachten. Wunderbar war es mir nun mitzuerleben, wie Maria, anfangs in all ihrem Glück doch noch völlig ungelöst und in dem ihr eigentümlichen Ernst befangen, sich immer freier und heiterer zeigte, wie sich ihre Seele in jeder Weise hingab, dem Himmel, der Landschaft, den Bildern, die wir sahen, den unbekannten Menschen, die uns begegneten – wie sie fähig wurde, vielerlei zu empfinden, wogegen sie sich früher verschlossen hatte, wahrzunehmen, woran sie früher achtlos vorbeigegangen war. Aber auch meiner eigenen Wandlung wohnte ich mit einer Art von Neugier [218] bei. Die düster-großartig? Stimmung, in der ich, ein Liebender und Mörder zugleich, die Reise angetreten, verschwebte mehr und mehr, und was sich von Scham oder Reue schüchtern in meiner Seele melden wollte, verblaßte gegenüber der beglückenden Einbildung, daß gerade die Leidenschaftlichkeit unserer Beziehungen Marias Herzleiden aufs günstigste zu beeinflussen schien, und zwar in so auffälliger Weise, daß ich mich manchmal fragen mußte, ob der Doktor, den die Mutter mir ins Haus geschickt, ein Ignorant, ein boshafter Narr oder gar ein Eifersüchtiger gewesen sei. Ich selbst aber fühlte mich besser und reiner werden. Aller Ehrgeiz meines Berufs, ja alle Eitelkeit des Menschentums schien damals von mir abzufallen. Da zu sein, zu lieben, geliebt zu werden, die Welt zu genießen, ohne den lächerlichen Wahn, sie nachbilden zu müssen, mich an dem zu freuen, was Größere geschaffen, ohne den neidvollen Gram, den wir Ehrgeiz nennen, war mir genug, mehr als genug, ward mir Seligkeit an sich. In jenen Tagen, so glaube ich heute, hätte ich irgendeine gute und opfervolle Tat begehen, mein Vermögen einem Bettler schenken, mein Leben für einen Unbekannten aufs Spiel setzen können, doch war es vielleicht gut, wie du dir wohl denken magst, daß das Schicksal darauf verzichtet hat, mich auf die Probe zu stellen.

Es war mir kaum aufgefallen, daß Maria über meine dichterischen Bestrebungen und Erfolge bisher noch kaum ein Wort geäußert hatte. Leicht zu merken war freilich, daß meine Stücke, ohne daß sie es geradezu aussprach, ihr alle ziemlich widerwärtig gewesen waren. Und es überraschte sie kaum, als sie mich von dieser Erkenntnis, aus der ich ja kein Hehl machte, nicht nur nicht verletzt, sondern sogar belustigt sah. Aber seltsam und freudig berührte es mich, als sie mir nun eingestand, daß sie auch in jenen ihr peinlichen Produkten zuweilen einen anderen und besseren Menschen geahnt als den, der sich darin kundgegeben; ob auch eine höhere Art von Dichter, als die Menge bisher in mir erkannt, darüber maßte sie sich freilich kein Urteil an. Doch keineswegs war sie zufrieden, als ich sie meinen Entschluß vernehmen ließ, die Schriftstellerei vollkommen aufzugeben, denn, so fern es ihrem wahrhaft reinen Herzen lag, für ihren Geliebten äußere Ehren und Ruhm zu erstreben, es war noch weniger nach ihrem Sinn, sich ihn für die Dauer ohne eine nach einem bestimmten Ziel gerichtete Tätigkeit vorzustellen, und daß eine fruchtbare Tätigkeit für jeden Menschen doch nur innerhalb eines ihm [219] von seiner Begabung angewiesenen Kreises denkbar war, fühlte sie und sprach es mit aller Klarheit aus. Aber von all dem war doch nur nebenher die Rede. Denn was ist Zukunft für ein leeres Wort in einer Gegenwart, die unerschöpflich und darum auch unaufhörbar scheint.

Der Sommer kam heran mit heißen Tagen und schwülen Nächten. Maria hatte leichte Anwandlungen von Mattigkeit, denen ich um so weniger Bedeutung beilegte, als sie selbst sie gar nicht zu beachten schien, bis sie eines Tages vor Sonnenuntergang, während wir beide auf dem kleinen Balkon unserer Wohnung am Arno saßen, ganz unvermutet in eine völlige Bewußtlosigkeit sank. Ich hätte sie für eine Schlafende halten können, hätten ihre Züge nicht jene furchtbare Blässe angenommen, die mir noch von dem Ballabend her in mahnender Erinnerung war. Als sie auf mein wiederholtes Anrufen die Augen aufschlug, behauptete sie, daß es nichts gewesen sei und sie sich schon wieder ganz wohl fühle. Am selben Abend noch war sie imstande, mit mir einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, der sie nicht im geringsten ermüdete. Trotzdem wiederholte sich der Anfall am nächsten Tag zur gleichen Stunde. Sie blieb eine Minute bewußtlos, ihr Puls war kaum zu fühlen, nach dem Erwachen kehrte ihre Farbe nicht gleich zurück, auch das erwartete Lächeln blieb aus, und in ihren Augen war ein Ausdruck der Verlorenheit, der mir völlig neu war. Sie bat mich dringend, keinen Arzt zu Rate zu ziehen, denn da solche Anfälle sie in früherer Zeit nicht selten überkommen hätten, ohne üble Folgen nach sich zu ziehen, zweifelte sie nicht, daß auch diese spurlos gleich jenen anderen vergehen würden. Ich gab ihrer Bitte vorerst nach, ohne mir Rechenschaft zu geben, warum; denn bis zu einem gewissen Grad war es stets in meinem Belieben gestanden, Gedanken, die mir aus irgendeinem Grunde unbequem waren, keine Macht über mich gewinnen zu lassen. Heute aber weiß ich, was ich damals noch nicht wissen wollte, daß ich mir keineswegs Marias Auffassung zu eigen machte, sondern daß mir die Entwicklung der Dinge, wie sie sich in den Anfällen Marias neuerdings ankündigte, in einem tieferen Sinne erwünscht sein mußte.

Der Zustand aber, in dem ich Maria zwei Tage darauf antraf, als ich von einem meiner einsamen Spaziergänge heimkehrte, auf die ich auch damals nicht verzichten wollte und konnte, der Anblick, den sie, einer Toten ähnlich, auf dem Fußboden hingestreckt, meinem erschreckten Auge bot, wirkte so unmittelbar[220] auf mich ein, daß es ihm gelang, eine natürliche und menschliche Regung in mir auszulösen. Im Innersten erschüttert, hob ich Maria vom Boden auf, trug sie ins Bett und sandte nach dem bekanntesten Florentiner Arzt, den ich mir übrigens schon vor einigen Tagen vorsichtsweise hatte nennen lassen. Er erschien sofort; die milde und doch eindringliche Art seiner Fragestellung veranlaßte Maria zu Eingeständnissen, zu denen ich selbst sie bisher noch niemals vermocht hatte, und ich erfuhr so, daß sie auch in den Pausen zwischen den Ohnmachtsanfällen manchen argen Beschwerden unterworfen war, die sie mir in einem Übermaß von Liebe verborgen und die ich, wie ich mir nun nicht länger verhehlen konnte, nur darum übersehen hatte, weil ich sie hatte übersehen wollen. Der Arzt verordnete das Nötige und richtete an Maria so freundliche, ja ermutigende Worte, daß ich nahe daran war, mich von ihnen täuschen zu lassen. Unter vier Augen aber äußerte er sich mir mit vollkommener Rückhaltlosigkeit. Maria war verloren, ein Ende, ob nun binnen weniger Tage oder erst in Monaten, unausbleiblich, Linderung konnte freilich geboten werden, aber wenn man etwas für sie wünschen, erhoffen, erflehen wollte, so war es nur das eine, daß sie aus einem ihrer Anfälle nicht mehr erwachte.

Da er mir zum Schlüsse dringend geraten, mit Maria kühlere, höher gelegene, waldreiche Gegenden aufzusuchen, so fanden wir uns schon wenige Tage darauf in einem Gebirgsort der Dolomiten, nach welchem mir von einem dort vor Jahren verbrachten Sommer immer eine stille Sehnsucht zurückgeblieben war. Die Landschaft erschien mir diesmal unwirtlicher, ja feindlicher als damals, die Wälder dunkler und die Sonne in all ihrem Glanz wie verhängt. Da Maria keine weiteren Spaziergänge unternehmen durfte, mir aber solche unter allen Umständen unentbehrlich waren, fügte es sich, daß ich oft stundenlang von ihr fern blieb. Wenn sie mich des Morgens mit zärtlichem Abschiedsgruß entließ, glaubte ich in dem gespielt heiteren Ausdruck ihrer Mienen immer zu lesen, daß es auch ein Abschied auf ewig gewesen sein konnte und daß sie es wußte. Denn seit jenen beruhigenden Worten des Florentiner Arztes war sie sich über ihren Zustand völlig klar geworden, was ich untrüglich erkannte, ohne daß ich sie je gefragt oder sie es mir zugestanden hätte. Und jetzt erst wurde es wahr, daß wir einander – wurde es für mein Gefühl zum ersten Male wahr, daß überhaupt zwei menschliche Wesen einander wirklich anzugehören vermochten. Denn auch in den innigsten [221] Verbindungen, bei vollkommener gegenseitiger Treue, waltet in den Tiefen unseres Wesens der Drang von Frau zu Mann und Mann zu Frau unbeirrt nach ewigen Gesetzen weiter; ist auch nach weiteren Liebesmöglichkeiten keine Sehnsucht vorhanden, ja graut es die innig Verbundenen selbst vor dem Spiel mit solchen Möglichkeiten – das Wissen um sie, als von der Natur selbst gewollt, ist nicht fortzudeuten und fortzudenken. Aber auch dieses bescheidenen unbewußten Maßes von Freiheit hatten Maria und ich sich in diesen Tagen begeben. Wir waren etwas Unlösliches, Unteilbares, wir waren wahrhaft eins geworden, einander nicht wie andere in Schuld – nur in Seligkeit verfallen waren wir einander. Und nun erst geschah es, daß der geheimnisvolle, über mich und unsere Liebe hinausweisende Sinn des Schicksals, das uns verbunden hatte, sich mir über die letzten Zweifel hinaus enthüllte. War schon »Liebe« für das, was uns aneinander hielt, ein allzu armseliges Wort, so wollte mir gar das Wort »Schmerz« für das, was mir bestimmt sein mußte, sobald Maria mich auf Erden allein gelassen, lächerlich nichtig, wie aus einer anderen, leer hallenden, fremden Sprache geholt erscheinen. Was ich nach Marias Tode zu erwarten hatte, war etwas durchaus Unvorstellbares, darin die Fülle der Erinnerung, unstillbare Sehnsucht und das Ungeheuerste an menschlicher Einsamkeit sich zu etwas Neuem, noch von niemand Erlebtem vereinen – und aus dessen Unergründlichkeit erst emporsteigen mußte, was ich als meine Sendung auf Erden früher wohl geahnt, nun aber in seiner ganzen Notwendigkeit erkannt hatte: das Werk. So bangte ich denn auch nicht um Maria, denn wenn auch die Menschen im allgemeinen so beschaffen sind, daß sie etwas wünschen und doch zugleich davor zu zittern vermögen – meine Gefaßtheit, mein Wissen um das, was kommen würde, was kommen müßte, ging ebenso weit über das hinaus, was man sonst Hoffnung oder Angst nennen darf, als meine anderen Empfindungen über das hinausgingen, was die Menschen sonst als Liebe und Schmerz zu bezeichnen pflegen. Ebenso töricht wäre es, zu fragen, ob ich mich damals glücklich oder unglücklich fühlte; mit allem, was je in meiner Seele, ja was meinem Vorstellungsvermögen und meinen Erfahrungen nach je in Menschenseelen vorgegangen war, hatte, wie ich heute noch beschwören kann, mein Zustand in jenen Tagen nicht das geringste gemein. Nur durch ein Gesetz sollte ich noch im allgemein Menschlichen verwurzelt bleiben, durch jenes einzige zugleich, dem wir alle unweigerlich unterworfen [222] sind und das die übrigen in einem gewissen Sinne aufhebt, nämlich, daß jedem Seelenzustand nur eine begrenzte Dauer gegönnt ist, über deren Ausmaß unser Wille nicht entscheidet.

So lag ich eines Tages im hellsten Mittagssonnenschein, von herber Bergluft umweht, auf einer Höhen wiese, als mir plötzlich war, wie wenn ich mich notwendig auf irgend etwas höchst Wichtiges besinnen müßte, doch trat diese Empfindung vorerst so unbestimmt auf, daß ich nach alltäglichen Erklärungen suchte, ob ich etwa vergessen hätte, einen Brief zu beantworten oder eine Rechnung zu begleichen; bald aber spürte ich deutlich, daß mein Unbehagen auf tieferen Ursachen beruhen mußte, die nicht ohne weiteres zu beheben waren. Da ich nun am Tag vorher zur selben Stunde bei gleichem Himmelslicht, vom gleichen Luftstrom umflossen, auf der gleichen Wiese gelegen war, vermochte ich mir meinen inneren Zustand von gestern mit vollkommener Klarheit ins Gedächtnis zurückzurufen, der mir nun wie der eines ganz anderen, nicht vielleicht glücklicheren oder unglücklicheren, aber eines höheren, überlegenen, gottnäheren Menschen erschien, als der ich heute war, und erschauernd fühlte ich, daß ich aus einem unermeßlich reichen Mann mit einemmal ein Bettler geworden war. Und als mein Herz im selben Augenblick Rettung erhoffend nach Maria suchte, tauchte zwar sofort ihr Bild, ihre Gestalt in schärfster, fast körperlicher Umrissenheit vor mir auf, doch wie in einem luftleeren Räume schwebend, durch den kein Ruf der Seele zu dringen vermochte. Aus einem begreiflichen, rasch erwachenden Selbsterhaltungtrieb versuchte ich dieses qualvolle innere Versagen, dessen ich mir bewußt wurde, zuerst auf eine vorübergehende Ermattung zurückzuführen, die eben durch die besondere, ebenso körperliche als seelische Leidenschaftlichkeit unserer gegenseitigen Besitzergreifung verschuldet war. Aber gerade diese Erwägung, die mich retten sollte, stürzte mich in die hilfloseste Verzweiflung. Denn traf sie zu, so war ich, so waren wir beide – Menschen wie andere auch, und was uns zusammenknüpfte, wurde ein Band, wie es schon zwischen Millionen von Paaren sich geschlungen, gelockert, gelöst hatte. War aber meine Liebe nicht etwas völlig Neues und Unerhörtes und mußte demzufolge auch der Schmerz, der mir bevorstand, schon von anderen Liebenden gefühlt worden sein, die ein geliebtes Wesen an den Tod verloren – so war auch meine hohe Sendung nichts als ein Spiel meiner Eitelkeit und Einbildung, ja, schlimmer als das, ein ausgeklügeltes Rechenexempel, das nicht mehr stimmen konnte, [223] wenn es zur Probe kam. In dieser Erkenntnis oder in dem Geisteszustand, den ich dafür hielt, erschien ich mir so elend und schmachbedeckt, daß sich mir nur eine mögliche Lösung darbot; und mein Auge richtete sich zu einem Felsgrat empor, von dem ein Absturz in die Tiefe den einzig gerechten Abschluß meines Daseins bedeuten würde. Bin ich damals auch dieser Eingebung nicht gefolgt, so darf ich mich heute doch ihrer erinnern, ohne daß irgend jemand, auch du nicht, mein Freund, es wagen könnte, an ihrer Unmittelbarkeit zu zweifeln. Denn was mich damals abhielt, jener ersten Regung zu folgen, war keineswegs Feigheit, sondern die sich sofort aufdrängende Überlegung, daß Maria sich einem furchtbaren Rätsel gegenüber sehen und daß der Versuch, es zu lösen oder gar die Lösung selbst sie zu einer Pein ohnegleichen verurteilen würde, deren Auferlegung durch mich von allen meinen Verbrechen das unsühnbarste bedeutet hätte. Und mit dieser Einsicht nun war ich wieder ein Mensch wie andere geworden, ein Liebender wie andere auch, dem Ewig-Alltäglichen verfallen; Hoffnungen und Ängste, die ich abgetan gewähnt, regten sich von neuem, die Überlegung, daß Ärzte sich irren und daß auch der Florentiner nicht unfehlbar gewesen war, bot sich vor allem dar; und als ich, von meiner Wanderung zurückkehrend, Maria wie stets um diese Stunde auf einer Wandbank meiner harrend antraf, war ich nur mehr von dem einen Gedanken erfüllt, alles aufzubieten, was in mei ner und in anderer Menschen Macht stünde, daß Maria am Leben erhalten bliebe.

Daß ihre Leiden im Laufe der letzten Woche besondere Fortschritte gemacht hätten, war nicht anzunehmen und jedenfalls nicht zu bemerken; es sei denn, daß wir beide uns an gewisse Mahnungen gewöhnt hatten, die öfters wiederkehrten und bei aller Bedrohlichkeit doch immer wieder einem scheinbar vollkommenen Wohlbefinden wichen. Maria nahm Mittel ein, die ihr der Florentiner Arzt verordnet hatte, sprach auch mit mir zuweilen leichthin über ihre Krankheitserscheinungen, deren Bedeutung sie nun doch wieder nicht zu ahnen schien, so wie auch ich mich anstellte, als würde ich ihnen keinerlei Wichtigkeit beilegen. Nun aber konnte ich nicht anders als mit mehr Beflissenheit auf ihren Zustand achtzuhaben und es durch gelegentliche Fragen zu verraten. Daraufhin begann sie selbst, was früher nicht ihre Art gewesen, sich mit größerer Sorgfalt zu beobachten, und eines Tages fragte sie mich gerade heraus, ob sie nicht doch gefährlicher krank sei, als man es ihr bisher zugestanden habe. Ich [224] leugnete es natürlich mit Entschiedenheit, doch schlug ich vor, nicht etwa zu meiner, sondern zu ihrer Beruhigung den Rat eines Nauheimer Arztes einzuholen, der durch seine Behandlungsmethoden einen Weltruf erworben hatte. Sie war einverstanden, ich traf Vorbereitungen zur Abreise und wollte eben eine Depesche an jenen Arzt absenden, um mich zu vergewissern, ob er an seinem gewöhnlichen Wohnort anzutreffen sei, als der Portier, dem ich mein Telegramm zur Beförderung übergab, mir erklärte, ein Arzt dieses Namens habe für morgen seine Ankunft angekündigt, um hier Erholungsurlaub zu nehmen. Diese Fügung schien mir so glücklich, als wollte das Schicksal selbst mich seines Einverständnisses, seines Wohlwollens, seiner Gnade versichern, und auch Maria sah der Ankunft des Arztes mit freudiger Hoffnung entgegen. Am nächsten Morgen stand ich am Tor, als er mit Frau und Kindern angefahren kam, und schon die Fröhlichkeit seines Erscheinens stärkte meine Zuversicht. Da ihm mein Name bekannt war, nahm er mein Ansuchen, obwohl er solche auf dem Lande sonst abzulehnen gewohnt war, entgegenkommend auf, und noch am gleichen Vormittag durfte ich seinen Besuch erwarten. Doch schon der erste Blick, mit dem er eintretend Maria ins Auge faßte, die auf den Diwan hingestreckt lag, drückte für mich wenigstens ein so untrügliches und erschütterndes Erkennen ihres Zustandes aus, daß alles, was ich nach erfolgter Untersuchung aus seinem Munde vernahm, mir keine Überraschung bereiten konnte. Zwar versuchte er auch mir gegenüber zuerst mit der Wahrheit zurückzuhalten und riet nur, wie beiläufig, vor Eintritt der herbstlichen Witterung heimzureisen, da ja Leidende zu Hause immer am besten aufgehoben seien; aber meine Mitteilungen über die Äußerungen früherer Ärzte, meine Fragestellung, meine ganze Haltung veranlaßte ihn bald, sich ohne alle Umschweife zu äußern. Immerhin versuchte er es noch mit dem matten Trost, daß es gerade bei dieser Art von Leiden absolute Gewißheiten nicht gebe und erklärte, daß er selbst, so wenig das eigentlich mit dem Wesen seines Berufs übereinstimme, von Jahr zu Jahr mehr an Wunder zu glauben gelernt habe. So töricht es erscheinen mag, an diese Bemerkung klammerte ich mich nicht wie an Trost, sondern fast wie an ein Versprechen. Und da in der Tat einige ruhige Tage folgten und Maria sich in dem geschwisterlichen Zusammenleben, zu dem ich mich nach einer leisen Mahnung des Professors hatte verstehen müssen, sichtlich erholte, glaubt ich mich mehr und mehr [225] berechtigt, das Wunder einer völligen Heilung zu erwarten. Ein Übriges tat noch der ermutigende Blick des Professors, der warme Händedruck, mit dem er sich von mir verabschiedete, als ich mit Maria schon in dem Wagen saß, der uns ins Tal, dem Süden zu, bringen sollte. Und während im Hinunterfahren Maria an meiner Brust schlummerte und ich die Hand auf ihrer Stirn ruhen ließ, konnte ich die gleichnishafte Empfindung nicht abwehren, daß ich aus einer Höhenluft, für deren überirdische Reinheit ich nicht geschaffen war, talabwärts, einem holden und bescheidenen Alltagsglück entgegen reiste.

Es sind noch keine drei Wochen, wie du weißt, daß wir hier unseren Aufenthalt nahmen, an dem wunderbaren See, über den jetzt die ersten Morgendünste hinschweben. Bis es ganz helle ist, wird es wohl noch eine Stunde dauern, und so lange habe ich Zeit. Eben war ich ein paar Sekunden im Zimmer nebenan. Die schöne Schwester ist auf ihrem Sessel eingeschlummert, sie hat mich nicht gehört. Und Maria schläft tief, sehr tief. Du hast gut getan, mein Freund, aber du hättest mir auch sagen dürfen, daß sie diesmal nicht mehr erwachen wird. Ich weiß es, und ich bin ruhig, denn ich bin entschlossen.

Vor drei Wochen also bezogen wir die herrliche Villa des Conte Bardi. (Trotzdem bin ich nicht so reich, wie du daraus schließen könntest.) Es lag wohl an dem außerordentlichen Luftunterschied und an der sommerlichen Schwüle und Schwere jener ersten Septembertage, daß ich in ein Hindämmern geriet, in dem ich mir keine Rechenschaft über mich und Menschen und Dinge außer mir zu geben versuchte. Vielleicht täuscht mich die Erinnerung, aber mir ist, als hätten Maria und ich in jenen ersten Tagen unseres Aufenthaltes kaum je das Wort aneinander gerichtet. Wohl merkte ich, daß sie ohne weitere beängstigende Erscheinungen immer schwächer wurde, gewissermaßen dahinschwand. Aber meine Gleichgültigkeit nicht nur gegen sie, auch gegen mich, war eine vollkommene. Zuweilen ließen wir uns beide im Kahn übers Wasser treiben, ohne daß ich ein Ruder rührte, oder wir lagen in der kleinen Bucht des Parks unter dunkelnden Eichenschatten, hielten einander in der Art von Liebenden bei den Händen gefaßt, doch war es nur mehr die Gebärde der Liebe und fast die einzige, die noch übrig geblieben war. Einander anzulächeln, schon dazu waren wir beide zu müd. Allmählich erst kam mir die klarere Erkenntnis wieder, doch ohne jede Gefühlsbetonung, daß Maria eine zum Tode Bestimmte sei; [226] nun ja, sie würde sterben, hier im Ort begraben werden, vielleicht gar im Park, und dann würde ich eben abreisen, vielleicht in meine Heimat, vielleicht anderswohin; nach einer gewissen Zeit würde ich auch wieder zu arbeiten anfangen, wie ich es auch nach anderen Trauerfällen, nach dem Tod meiner Mutter, einer Jugendgeliebten getan – würde eine Komödie schreiben, kühl, glatt und frech, wie man sie von mir gewohnt war; ja, es würde sich wohl die Notwendigkeit ergeben, etwas dergleichen zu tun, denn, daß du es nur weißt, mein Freund, ich bin nicht reich, nicht einmal wohlhabend bin ich; ich habe sehr über meine Verhältnisse gelebt, und hätte ich die Absicht, weiter zu leben wie bisher, ja nur überhaupt weiter zu existieren, so bliebe mir gar nichts anderes übrig, als mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Am Ende könnte man auch noch eine reiche Heirat machen, denkst du dir. Ich will nicht leugnen, daß mir auch das durch den Kopf ging in jenen Dämmertagen. Solch ein Mensch war ich damals. Kein Schurke, das wäre ein viel zu großes Wort; nein, einfach ein Wicht – leer, ausgelöscht, seelenlos. Mein Gott, was machen wir alles durch in unserem kurzen Dasein. Es ist verwunderlich, glaube mir, dieser nur in der Erinnerung unheimliche Zustand, denn in seinem Wesen lag es ja, daß es mir selbst gar keinen Eindruck machte, dauerte so lange, drei oder acht oder zehn Tage – bis wir eines Abends am Seeufer uns wie durch Zufall wieder einmal ansahen, ich sie, sie mich, und jeder an des andern Blick mit Staunen und Ergriffenheit zum Dasein wieder erwachte. Es war derselbe Blick, ganz derselbe, den wir einer in des andern Auge gesenkt an jenem Ballabend, da wir plötzlich gewußt hatten, daß wir einander angehörten, und mehr als das, daß wir einander verfallen waren. Wie zu einem ersten Kuß sanken wir einander in die Arme – und jetzt erst war das Glück.

Sie wußte, daß sie verloren war, und ich konnte nicht daran zweifeln, daß sie es wußte. Aber nie sprachen wir davon, und sie erwartete, sie sehnte sich danach, ich las es in ihrem heischenden Blick, an meinem Herzen ihr Leben auszuhauchen. Ich wußte da mals, also vor drei Tagen wüßt' ich noch, daß Marias Tod auch der meine sein würde. Mein Entschluß war, gleich nach ihrem letzten Atemzug mit mir ein Ende zu machen. Und das bedeutete gar nicht viel, zu sterben nach ihr; es war eine Form, nicht mehr.

So stand es mit uns beiden, als vor drei Tagen mit einemmal wieder die äußere Welt in unseren Kreis trat. Denn es war nötig geworden, ärztlichen Rat einzuholen, da manche notwendigen [227] Erleichterungen, deren sie bedurfte, auf andere Weise nicht zu beschaffen waren. Ich weiß nicht, ob gerade deine Person an dem neuen Entschluß, dem letzten, dem unumstößlichen, den ich faßte, irgendwie beteiligt ist. Unmöglich scheint es mir nicht, denn gerade von dem Augenblick an, da du zum ersten Male hier gewesen warst, mißtraute ich meinem Vorsatz, meinem Leben nach Marias Hinscheiden ein Ende zu machen. Wenn wir uns alles vorzustellen vermögen – daß einer, der da ist, nicht mehr da sein wird, das zu fassen, wird uns immer versagt sein. Alles übrige ist nur Gradunterschied, nicht Gegensatz: sogar Jugend und Alter, Gesundheit und Krankheit sind nur Gradunterschiede, Wesensunterschied gibt es nur einen einzigen – den zwischen Leben und Tod. Und so konnte und kann ich auch nicht voraussehen, wie ihr Tod auf mich wirken, was er am Ende aus mir machen würde. Es wäre nicht undenkbar, ja, fast wage ich £U behaupten, wahrscheinlich, daß am Ende doch geschähe, was vom Schicksal gewollt schien, als es mich und Maria einander begegnen ließ. Ja, ich weiß es jetzt, und in diesem Augenblick gibt es keinen Irrtum, das Ungeheure würde, so wie ich es einst erwartet, wie ich es gewünscht, wie ich bereit gewesen, es auf mich zu nehmen, dieses Ungeheure würde mich zum Dichter machen und ich bliebe auf Erden, um meine Sendung zu erfüllen. Und das Werk ohnegleichen, das, mit dem ich gerechtfertigt wäre vor Gott, vor mir selbst und vor der Welt – ich würde es schaffen. Und das soll nicht sein. Das darf nicht sein. Maria ist ein Totenopfer wert, wie es noch keinem sterblichen Wesen dargebracht wurde. Ich lösche mich aus, eh' ich mich vollende. Darum habe ich mich entschlossen – – –


Hier bricht der Brief ab. Der deutsche, in Mailand praktizierende Arzt, in dessen Nachlaß er gefunden wurde, hat einige Zeilen beigefügt, die seiner Absicht nach gewiß zugleich mit dem Manuskript der Veröffentlichung übergeben werden sollten. Hier sind sie:

Den beigeschlossenen Brief fand der Unterzeichnete am Morgen des elften Oktober achtzehnhundertsiebenundachtzig unbeendet auf dem Schreibtisch des Dichters liegen, der ihn verfaßt hat und dessen Namen zu verschweigen ich für angemessen halte. Er hat in der Tat – was man nach dem Inhalt und mehr noch nach dem Ton des Brieffragments wirklich nicht ohne weiteres schließen könnte, seinem Leben durch einen wohlgezielten [228] Schuß in die Schläfe ein Ende gemacht. Er wurde in seinem Schreibtischsessel tot gefunden, die Pistole noch krampfhaft in der Hand. Daß er den Brief nicht abgeschlossen, ist jedenfalls so zu erklären, daß er plötzlich von der Schwester ins Nebenzimmer gerufen wurde, wo er seine Geliebte bewußtlos, in den letzten Zügen fand. Er wartete, wie mir die Schwester damals selbst erzählt hat, nicht so lange, bis der übrigens völlig schmerzlose Todeskampf beendet war, sondern begab sich in sein Zimmer zurück, wo er es für geraten hielt, sich möglichst rasch ins Jenseits zu befördern, um nicht doch am Ende genötigt zu sein, das versprochene Wunderwerk zu schaffen – wozu er übrigens, wie nach der Lektüre des Briefes wohl niemand zweifeln wird, völlig unfähig gewesen wäre. Denn ohne wahre Sittlichkeit, man mag sagen was man wolle, gibt es kein Genie, und daß es an jener dem nicht unbegabten Poeten durchaus gemangelt, liest man aus jeder Zeile seines Abschiedsbriefes mit aller wünschenswerten Deutlichkeit heraus. So dürfte man alles Weitere auf sich beruhen lassen, wenn nicht einzelne Partien des Briefes dringend einer Richtigstellung bedürften. Die Verdächtigung, daß ich der Kranken eine zu starke Injektion verabreicht und so ihr Leben leichtfertig verkürzt hätte, verdient freilich keine Erwiderung. Die versteckten Anwürfe gegen mich als einen neidischen Philister (ich setze die Worte, die der Briefschreiber mit Mühe unterdrückt, ohne weiteres her) erledigen sich gleichfalls von selbst. Eine gewisse Antipathie gegen den Schreiber zu leugnen, fällt mir um so weniger ein, als sie den Lesern seines Briefes nicht ganz ungerechtfertigt erscheinen dürfte. Der Vollständigkeit halber führe ich ferner an, daß ich ein ziemlich reichlich bemessenes Honorar, das der Selbstmörder in einem versiegelten Kuvert für mich hinterlassen, einem wohltätigen Zwecke zugeführt habe. Gewisse Bemerkungen über die Krankenschwester zu Anfang seines Briefes werden zur Genüge dadurch charakterisiert erscheinen, daß die junge Dame, aus einer guten Brescianer Familie, schon damals im stillen mit mir verlobt war, daß sie nun tatsächlich seit acht Jahren meine Gattin ist und mir drei Kinder geboren hat. Es entbehrt nicht des tragischen Humors, wenn ich noch aufzeichne, daß wir auf unserer Hochzeitsreise, die uns für einige Wochen nach meiner Vaterstadt Wien führte, Gelegenheit fanden, eines der von ihrem Verfasser selbst gar nicht übel gekennzeichneten Theaterstücke zu sehen. Es dauerte lange, bis ich und besonders meine Frau sich von dem peinlichen Eindruck dieses [229] Abends erholen konnten. Soviel ich das von hier aus verfolgen kann, hat sich keine der Komödien auf den Bühnen zu erhalten vermocht. Es ist heute gerade zehn Jahre her, daß er sich erschossen hat. Die Unsterblichkeit dauert manchmal nicht so lange, als man sich bei Lebzeiten einbildet. Er ruhe in Frieden.


Mailand, den 11. Oktober 1897.

Doktor med. Anton Vollbringer

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