[318] Arthur Schnitzler
Die Nächste
Der fürchterliche Winter war vorbei. Als er das erste Mal wieder in seinem Zimmer das Fenster offen lassen konnte, die ersten Lüfte des Frühlings hereindrangen, der dumpfe Lärm der Straße herauftönte, begann er zu fühlen, daß das Leben für ihn noch nicht zu Ende war. Von jetzt an verbrachte er nachmittags, wenn er aus dem Büro nach Hause kam, ganze Stunden am offenen Fenster. Er rückte sich einen Sessel hin, nahm ein Buch zur Hand und versuchte zu lesen. Aber immer ließ er das Buch bald auf den Schoß sinken und sah ins Freie. Seine Wohnung lag im höchsten Stockwerk; wenn er so saß, war nur der blasse Himmel ihm gegenüber. In diesen letzten Märztagen wehte oft ein leiser Wind, der ihm vom Stadtpark den kühlen Duft der ersten Blüten herauftrug.
Am letzten Oktobertag des vergangenen Jahrs war seine Frau gestorben. Seitdem hatte er hingelebt wie ein Betäubter. Daß seine Frau jung dahingehen, daß sie ihn als noch jungen Mann allein auf der Erde zurücklassen könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen. In den ersten Wochen nach ihrem Tod war ihr Vater noch manchmal aus der Vorstadt, wo er ein kleines Geschäft besaß, zu ihm hereingefahren, aber die Beziehungen zwischen ihm und dem alten Mann, die immer ganz lose gewesen, hörten bald ganz auf. Seine eigenen Eltern waren früh gestorben. Sie hatten in einem kleinen Ort fern der Hauptstadt gewohnt, den er noch als Knabe verlassen, um das Gymnasium in Wien zu besuchen. So kam es, daß er beinah seine ganze Jugend unter fremden Leuten verbringen mußte. Nach dem Tode seines Vaters, der Notar gewesen war, gab Gustav seine Gymnasialstudien auf, die er mit Fleiß, aber ohne Begabung bis zu seinem siebzehnten Jahre betrieben hatte. Er trat in ein Eisenbahnamt ein, das ihm von Anbeginn ein bescheideneres Einkommen und die Hoffnung auf ein langsames, aber sicheres Fortschreiten bot. Seine Jünglingszeit ging still dahin. Im Büro tat er seine Pflicht, und seine Vergnügungen waren spärlich. Er ging in jedem Monat einmal ins [319] Theater, und jeden Samstag wohnte er einem geselligen Abend im Kreise der Bürokollegen bei. In seinem dreiundzwanzigsten Jahre verwirrte sich die Ruhe seines Lebens auf kurze Zeit. Eine junge Frau, die er auf einem Vergnügungsabend des Gesangvereins kennengelernt, wurde seine Geliebte. Er durchlebte manche Leiden der Eifersucht und einen heftigen Schmerz, als sie mit ihrem Gatten Wien verließ. Bald aber war er froh, daß jene Zeit der Aufregung vorüber war, und aufatmend kehrte er zu seiner früheren Lebensweise zurück.
Nach vier weiteren Jahren lernte er ein Mädchen kennen, das zuweilen die Familie besuchte, bei der er damals wohnte. Er wußte bald, daß er nie einem Wesen begegnen würde, das besser zu seiner Gattin taugte als dieses. Von seinen Hausleuten erfuhr er so viel über sie, als er wissen wollte. Sie war durch ein ganzes Jahr verlobt gewesen, ihr Bräutigam war gestorben, und seither schien eine stille Trauer über ihr ganzes Wesen gebreitet. Sie hatte die schlichte Bildung junger Mädchen aus den mittleren Bürgerkreisen und überdies ein ausgesprochenes musikalisches Talent. Man erzählte ihm, daß sie schöner singe als manche berühmte Sängerin. Es wurde ein Ehrgeiz für Gustav, die Lippen dieses jungen Mädchens wieder lächeln zu machen, und er dachte jetzt gern an jenes Abenteuer aus seiner ersten Jugend, um in dieser Erinnerung zu fühlen, daß er doch auch die Fähigkeit besäße, edlen Frauen etwas zu bedeuten. Er war sehr glücklich, als Therese das erstemal lächelte, während sie zu ihm sprach; an jenem Abend empfand er eine Art von Rausch, der ihn stolz machte, ohne daß er wußte, warum. Wenige Monate darauf wurde sie seine Frau, und ihm war, als begänne erst jetzt das Dasein für ihn. Das Bewußtsein, ein junges Wesen in den Armen zu halten, das noch keinem vor ihm gehört, erfüllte ihn mit Wonne. Anfangs fürchtete er, dieses reine Geschöpf durch die Glut seiner Zärtlichkeiten zu entweihen, aber als sie sich ihm bald mit der gleichen Rückhaltlosigkeit entgegenbrachte, gab er sich seinem Glücke völlig hin. Da ihre Ehe kinderlos blieb, änderten sich die Beziehungen zwischen ihnen durch viele Jahre gar nicht. Sein Haus war für ihn zugleich die Stätte des Friedens und der Freude. Von seinen früheren Bekannten zog er sich zurück. Nur wenige Leute besuchten das junge Paar, und diese nur selten: Theresens Vater und eine ihrer Freundinnen, ein verblühendes Mädchen, das für Gustav nur dadurch eine gewisse Bedeutung hatte, daß sie Therese zuweilen zum Singen begleitete. [320] Häufig aber sang Therese ganz allein, und das war ihm das liebste. In ihrer Stimme erklang ihm ihre ganze aus Reinheit und Leidenschaftlichkeit wunderbar gemischte Seele. Manchmal bat er sie des Nachts, ganz leise ein Schubertsches Lied zu singen. Das tat sie dann, indem sie ihn an sich heranzog, ihre Lippen ganz nah an sein Ohr brachte, und nun war die Dunkelheit des Zimmers von Schauern des Entzückens und der Bewunderung ganz erfüllt.
Therese hatte ein kleines Vermögen in die Ehe gebracht, das eben dazu ausreichte, eine einfache Wohnung behaglich auszustatten; leben mußten sie von dem Gehalt des Mannes. Aber die Wirtschaftlichkeit der jungen Frau ließ nirgends das Gefühl einer Entbehrung aufkommen, ja im Sommer durften sie sich sogar während der Urlaubszeit von drei Wochen einen Aufenthalt in irgendeinem kleinen Walddorf Niederösterreichs gönnen. Die Zukunft stellte sich ihnen bei den als ein ungestörtes Miteinanderleben dar, die Schwermut des Alters lag noch in weiter Ferne, und an ein Ende dachte keines von ihnen. Sie waren nach siebenjähriger Ehe ein Paar von Liebenden.
Im September, kurz nachdem sie von dem Landaufenthalt heimgekehrt, wurde Therese krank. Der Arzt gab von Anfang an keine Hoffnung, aber Gustav glaubte ihm nicht. Es schien ihm vollkommen unmöglich, daß Therese sterben könnte. Sie klagte wenig, sie schwand dahin. Er begriff es gar nicht recht. Erst in den letzten Tagen begann er es zu verstehen, was ihm bevorstand; da blieb er zu Hause und rührte sich von ihrem Bett nicht mehr weg. Eine ungeheure Angst kam über ihn. Er ließ zwei berühmte Professoren rufen; sie konnten nichts tun, als ihn vorbereiten, daß es bald zu Ende sein werde. Erst in der letzten Nacht fühlte Therese selbst, daß sie verloren sei, und nahm Abschied von ihm. Diese Nacht verging, dann kam noch ein endloser Tag, an dem es regnete. Gustav saß an Theresens Bett und sah sie sterben. Es war um die Stunde, da die Nacht hereinbrach.
Dann war der fürchterliche Winter gekommen, der ihm jetzt beim Wehen der ersten Frühlings winde erschien wie eine lange schwere, dumpfe Nacht. Auch seine Berufspflichten hatte er wie in einem Halbschlaf erfüllt, aus dem er nun allmählich erwachte. Aber mit jedem dieser Frühlingstage schien er sich selbst mehr zur Besinnung zu kommen. Sein Schmerz, der ihn wie ein grimmiger Feind umfangen gehalten, ließ ihn allmählich los. Gustav atmete auf; er fühlte, daß er wieder am Leben war. Abends ging [321] er spazieren. Er machte lange Wege, wie er sie vor Jahren gern zurückzulegen pflegte, anfangs nur in den Straßen der Stadt, dann, als die Tage länger wurden, weiter hinaus ins Freie, zu den Wiesen, Wäldern und Hügeln. Er liebte es, sich müde zu gehen. Vor dem Nachhausekommen hatte er eine gewisse Angst: nachts umgaben ihn die Wände seiner Wohnung mit quälender Enge, und wenn er aufwachte, weinte er nicht nur aus Schmerz, sondern auch aus Furcht. Er nahm den Verkehr mit seinen alten Bekannten wieder auf und kam abends zuweilen in das Gasthaus, wo einige Bürokollegen zu nachtmahlen pflegten. Als er einmal erzählte, daß er schlecht schliefe, riet man ihm, etwas mehr Wein als gewöhnlich zu trinken. Wie er diesem Rate folgte, bemerkte er verwundert, daß er an den Gesprächen lebhaft Anteil nahm und sich beinah froh erregt fühlte. Nachher, als er allein nach Hause ging, kam ihm vor, als hätten ihn seine Freunde in einer sonderbaren, gewissermaßen mißbilligenden Art betrachtet, und er schämte sich ein wenig.
Die Tage wurden wärmer, und die Abende waren sehr lind. Seine Sehnsucht nach der Toten wurde wieder heftiger, und es gab Stunden, da jenes entsetzliche Bewußtsein des unwiderruflich Verlorenen mit der ganzen Kraft eines neuen Unglücks über ihn hereinbrach. Als er einmal an einem Sonntagnachmittag allein im Dornbacher Park spazierenging – der Frühling war in seiner ganzen Pracht über ihm, die Bäume waren gründicht belaubt, die Wiesen glänzten in hellen Farben, alle Wege waren von Spaziergängern belebt, Kinder spielten und liefen, junge Leute lagerten am Waldesrand –, da verstand er das erste Mal ganz, wie einsam er war, und wußte nicht, wie er sein Leid weiter tragen sollte. Er hatte das Bedürfnis, laut aufzuschreien, fühlte selbst, wie er mit weitaufgerissenen Augen und einem absonderlich raschen Gang unter allen den Menschen seinen Weg fortsetzte, und merkte auch, daß ihn manche mit Verwunderung betrachteten. Er wollte den Leuten entfliehen, suchte stillere Wege auf, stieg zwischen den hohen Birken und Tannen die Sofienalpe hinan und kam oben an, als die Sonne unterging. Er sah die Täler und Hügel in rötlich-weißem Glänze liegen, und als er sich umwandte, sah er die Stadt wie in blaß-silbernen Dunst versinken. Er stand lange da und wurde ruhiger. Über der Landstraße, die er bis tief ins Tal hinunter verfolgen konnte, flogen leichte, niedere Staubwölkchen hin, dumpf hörte er das Rollen von Wagen, und laute Menschenstimmen, helles Lachen klang herauf. Langsam [322] schlug er den Rückweg ein, nicht durch den Wald, wie er gekommen, sondern auf der breiten Fahrstraße. Er blieb manchmal stehen und atmete auf, als wäre ihm von irgendwoher ein Trost gekommen. Die Dämmerung brach rasch herein. An hübschen Landhäusern vorbei, vom Strom der Leute mitgerissen, kam er bald zu einem großen Wirtsgarten, der sehr besucht war. Die Gartenlaternen waren angezündet, an einem Tisch in der Tiefe des Gartens saßen Musikanten, die auf Ziehharmonika, Geige und Flöte Wiener Lieder spielten, während einer mit einer hohen und süßlichen Stimme dazu sang. Ziemlich weit von diesen, gleich neben dem Eingang, nahm Gustav Platz. Er betrachtete die Leute in seiner Nähe; am Tisch neben ihm saßen zwei junge Mädchen, die ihm sehr hübsch erschienen, die er sehr lange ansah. Er erinnerte sich seiner Junggesellenzeit, denn seitdem hatte er Frauen nie wieder mit solchem Blick betrachtet. Frauengestalten kamen ihm ins Gedächtnis, die er im Laufe der letzten Zeit auf seinen regelmäßigen Wegen vom Hause ins Büro begegnet, die ihm aber nichts bedeutet hatten. Heute, diesen blonden jungen Mädeln gegenüber, fühlte er zum ersten Male wieder, daß er noch ein junger Mann war. Jetzt fiel ihm auch ein, wie ihn manchmal die Frauen zuweilen auf der Straße anschauten, und mit Schrecken und Freude zugleich wurde ihm bewußt, daß das Leben doch noch nicht für ihn vorbei sein konnte und daß es schöne Frauen oder Mädchen gab, die er vielleicht umarmen würde. Wie ein Schauer ging es ihm über Hals und Lippen, wenn er an die Küsse dachte, die ihm noch bestimmt waren. Ein eigentümlicher Drang ergriff ihn, sich eines der Mädchen gegenüber am Tische in seinen Armen vorzustellen, und er schloß die Augen. Aber kaum waren ihm die Lider gesunken, so hatte er das Antlitz seiner toten Frau vor sich und sah ihren Mund langsam, mit einer leisen zuckenden Bewegung, die ihr eigen gewesen, sich dem seinen nähern. Entsetzt riß er die Augen wieder auf. Dieses Mädchen war nichts mehr für ihn. Er fühlte, daß keine Frau der Welt je mehr etwas für ihn bedeuten könnte. Mit der gleichen Gewalt wie heute während des Spazierganges brach sein Schmerz wieder hervor, und er wußte, daß er für die Welt und ihre Freuden verloren war. Er schämte sich der vorausgegangenen Augenblicke, und der Gedanke, je wieder ein Weib in seinem Arm zu halten, erfüllte ihn mit Ekel und Scham. Ganz vernichtet machte er sich auf den Heimweg. Es war ihm, als müßte er sich kasteien; er ging den langen Weg bis in seine Wohnung zu Fuß [323] und kam in einer so tiefen Müdigkeit an, wie er sie nie verspürt zu haben glaubte, Leib und Seele schienen ihm wie zerschlagen; ein unruhiger, schwerer Schlaf kam über ihn, und er wachte mit der dunklen Ahnung auf, als stünde ihm etwas Gräßliches bevor.
In den nächsten Tagen quälte er sich damit, eine neue Ordnung und einen neuen Inhalt für seine Existenz zu finden. Er sah ein, daß er sich dem wütenden Schmerz nicht weiter hingeben durfte, wenn er nicht zum Weiterleben unfähig werden wollte. Er wunderte sich jetzt im Zurückdenken, wie er eigentlich sein Dasein verbracht, bevor er seine Frau kennengelernt hatte; es schien ihm, als wäre es eine Art von Traumleben gewesen. Abgesehen von Büroarbeiten, die er stets mit einer gewissen Freude an seiner eigenen Verläßlichkeit besorgt hatte, waren seine geistigen Bedürfnisse gering gewesen. Er hatte gern Musik gehört und zuweilen Reisebeschreibungen gelesen, die ihn aber weniger durch einen abenteuerlichen Inhalt als durch Natur Schilderungen zu fesseln pflegten. Und wenn er sich jetzt fragte, was er am liebsten anfangen möchte, so mußte er sich sagen: reisen. Es war ihm aber unmöglich, seinen Beruf aufzugeben, und ein kurzer Urlaub, den er hätte erlangen können, wäre wertlos für ihn gewesen; ja bei näherer Überlegung überfiel ihn sogar eine gewisse Angst davor, in fremden Gegenden allein und ganz seinen Erinnerungen verfallen umherzuirren. So schwand die leichte Beruhigung, die der Anfang des Frühlings gebracht, wieder dahin. Auch die Gesellschaft seiner Kollegen im Wirtshaus wurde ihm unangenehm, er kam seltener und ging früher fort. Einmal geschah es ihm, daß ihm nachts beim Nachhausegehen auf der Stiege sein Licht verlöschte, da überfiel ihn eine solche Furcht, daß er sich auf den Stufen hinsetzte, zusammenkauerte und wimmerte. Er suchte zitternd nach seinen Streichhölzern. Als er eines fand und Licht machte und eine flackernde Helle um ihn sich verbreitete, versuchte er über sich zu lächeln. Absichtlich behielt er das Lächeln auf den Lippen, bis er in seinem Zimmer war. Da erblickte er sich im Spiegel und erkannte sich nicht. Er trat näher hin – so nah, daß sein Hauch den Spiegel trübte. In der einen Hand hielt er den Leuchter mit der Kerze, er stellte ihn auf die Kommode, über der der Spiegel hin, dann wich er zurück, setzte sich aufs Bett und entkleidete sich rasch mit dem Gefühl, daß er sich ins Bett flüchten müßte. Als er ausgestreckt dalag, zog er die Decke übers Gesicht. Da fiel ihm ein, daß das Licht noch brannte, aber er wagte es nicht aufzustehen. Er nahm sich vor, so lang wach zu [324] bleiben, bis die Kerze gänzlich heruntergebrannt war. Langsam entfernte er die Decke von den Augen, da stand das Licht, und im Spiegel sah er es noch einmal. Er starrte hin und war nach wenigen Sekunden eingeschlafen.
Am nächsten Morgen beim Aufwachen fiel ihm aber nicht vor allem seine Angst von gestern Abend ein, sondern jener Spaziergang auf die Sofienalpe vor wenigen Tagen. In der Erinnerung erschien ihm der als ein angenehmes Abenteuer, und wie etwas Erlösendes tauchte der Gedanke in ihm auf, daß er ja jeden Nachmittag aufs Land gehen, sich abends immer in einen Wirtshausgarten setzen und junge Mädchen und Frauen betrachten konnte. Selbst im Büro während der Arbeit konnte er heute an nichts anderes denken als an Wälder und Wiesen, wo junge Weiber, Frauen und Mädchen, in leichten Sommerkleidern und mit hellen Sonnenschirmen herumgingen. Aber als er nachmittags ernstlich daran dachte, aufs Land zu fahren, war er so müde, daß ihm die Ausführung einfach unmöglich vorkam. Er legte sich angekleidet aufsein Bett und hatte das Gefühl eines Menschen, der langsam von schwerer Krankheit genest. Abends ging er sehr langsam über den Ring spazieren und hatte eine Art von stiller Freude, wenn die Blicke vorübergehender Mädchen dem seinen begegneten. Manche sah ihn auch länger an, wandte selbst leicht den Kopf nach ihm um, und ihm schien in allen diesen Blicken eine Wärme, die er lange nicht gefühlt und nach der er eine große Sehnsucht gehabt hatte. Weiter gingen seine Wünsche nicht. Er dachte nicht daran, eine Bekanntschaft anzuknüpfen oder eines dieser Wesen in die Arme zu schließen; er freute sich nur ihres Daseins und ihrer Blicke.
Noch mehrere Tage vergingen in dieser beinah traumhaften Weise, daß er vormittags im Büro von Wäldern und Wiesen und hübschen Frauen träumte, nachmittags halb schlummernd auf seinem Bett lag, abends spazierenging und ziemlich früh in einem Wirtshaus, meist im Freien, an einem Tisch hinter dem Staket zu Abend aß.
Als er wieder einmal von seinem Nachmittagsschlummer erwachte und mitten im Zimmer stand, erschien mit einem Mal das ganze Leben dieser letzten Tage unverständlich. Am seltsamsten von allem erschien ihm, daß er nun ganze Tage seiner Frau nicht mehr gedacht, gewiß nicht mit wahrem Schmerz sich ihrer erinnert, und er bekam plötzlich eine große Sehnsucht zu weinen, als könnte er damit sein Unrecht wieder gutmachen. [325] Aber er hatte keine Tränen. Dann auf der Straße, als der Zug der Frauen an ihm vorüberschwebte, flossen ihm langsam, als schämten sie sich ihrer Spärlichkeit und ihrer Verspätung, die Tränen über die Wangen. Gleich nachher war es ihm, als hätte er eine Schuld getilgt; er ging rascher und spürte etwas von Fröhlichkeit, da er so dahinschritt. Mit einer plötzlichen Klarheit wußte er heute, daß er wieder glücklich sein wollte und daß er es sein durfte. Ja, es überfloß ihn mit einer leisen Wonne, daß ihm so viel zur Verfügung stehe; er dachte an die Hunderte von schönen Weibern, die sich ihm nicht verweigern würden, wenn er wollte; jedes Lächeln, das ihm zu gelten schien, jede zufällige Berührung trieb ihm fliegende Schauer durch den ganzen Leib. Er freute sich auf irgend etwas, das ihm in der nächsten Zeit bevorstand, das er haben konnte, wenn er wollte – in einer Woche, oder morgen, oder heut, in einer Viertelstunde, wenn es ihm beliebte, und das Ungewisse innerhalb dieser Gewißheit war ein Reiz mehr. Er setzte sich auf eine Bank in der Nähe des Volksgartens. Aus dem Garten tönte Musik, und in ihrem Klang schienen die Leute, die an Gustav vorübergingen, sich zu wiegen. Er nahm den Hut ab, legte ihn auf die Knie, und ihm war, als wenn er damit einen schweren Eisenring von seiner Stirn entfernt hätte. Jetzt schien ihm, als dürfte er darangehen, Pläne zu fassen. Er hatte die Empfindung, als wäre heut nachmittag um sechs Uhr seine Trauerzeit zu Ende gewesen, und er hatte nun auch andere Pflichten, andere Rechte als ein paar Stunden vorher. Dabei war er ganz ruhig, er hatte kaum einen Wunsch, nur das Gefühl der Beruhigung, daß sein Wunsch kein Verbrechen mehr und die Erfüllung leicht sei.
Er saß schon lange Zeit auf der Bank, als er ein junges Paar neben sich erblickte, das eben erst gekommen sein mußte. Die beiden sprachen leise, aber er konnte doch mancherlei verstehen; es schien sich um ein Wiedersehen für den nächsten Tag zu handeln.
Jetzt besann er sich, daß es auch notwendig sein werde, an das Wesen, dem er sich nähern wollte, Worte zu richten, und das schien ihm in diesem Augenblick so schwer, daß ihm eine Röte der Angst ins Gesicht stieg. Er überlegte, wie er mit irgendeiner Frau ein Gespräch beginnen sollte, und dachte sich aus, was er zu jeder einzelnen sagen würde. Es kam ein junges Mädchen vorbei mit einem kleinen Jungen. Da würde er sagen: »Guten Abend, Fräulein. Das ist aber ein reizender Bub! Gewiß der Herr Bruder?«[326] Dabei mußte er selbst lachen, denn das war zweifellos ein guter Witz, einen kleinen Buben den »Herrn Bruder« zu nennen, und das junge Mädchen hätte sicher auch gelacht. Da war sie ja noch – zehn Schritt weit; aber er wagte es doch nicht. Jetzt kam eine ziemlich dicke Frau, die Noten in der Hand hielt. Die hätte er fragen können, ob er die Noten tragen dürfte. Dann kamen zwei ganz jungen Dinger, die eine hatte eine Schachtel in der Hand, die andere mit einem Sonnenschirm redete sehr geschwind und wichtig. Der hätte er sagen können: »Erzählen Sie mir doch auch etwas, Fräulein!« Aber das war doch zu frech. Nun kam eine junge Person, die sehr langsam ging und den Kopf hin und her wiegte, ganz für sich, als interessiere sie die übrige Welt nicht im geringsten. Wie sie an Gustav vorüberging, schaute sie ihn an und lächelte, als käme er ihr bekannt vor. Er stand auf, aber nicht, weil sie gelächelt – sondern weil sie in der Gestalt und insbesondere jetzt, wie er sie von rückwärts sah, eine so außerordentliche Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau hatte, daß er beinahe erschrocken war. Ja, selbst die Frisur war die gleiche – auch solch einen Hut mußte seine Frau irgendeinmal getragen haben. Und je weiter sie sich von ihm entfernte, um so eher hätte er sich einbilden können, daß es die Gestorbene war. Er fürchtete sich davor, daß sie sich wieder umwenden könnte, denn die Züge selbst hatten keine Spur von Ähnlichkeit; nur der Gang, die Gestalt, die Haartracht, der Hut.
Er folgte ihr nach. Was konnte sie sein? Er hatte nicht genug Erfahrung, um das genau abzuschätzen. In ihrem Lächeln war nichts Gemeines gelegen, kaum daß es sehr ermutigend gewesen wäre. Sie war etwa zehn Schritte vor ihm; er hielt sich immer in der gleichen Entfernung. Immer wenn sie an einer Laterne vorüberging, konnte er die Umrisse ihrer Gestalt am deutlichsten wahrnehmen, immer wieder von neuem glaubte er den Gang seiner verstorbenen Frau vor sich hinschweben zu sehen, und wie mit einer Lust am Wahnsinn versuchte er sich zu überreden, daß sie es wirklich wäre. Er sagte sich: Jetzt, in dieser Entfernung, wenn ich diese Gestalt ... diesen Gang ... diese Haartracht sehe – ist sie es. Wenn es Wunder gäbe und ich bekäme irgend etwas von ihr wieder, nur ihre Gestalt, nur ihren Gang – wäre ich da nicht glücklich? ... Sie schien nicht zu ahnen, daß ihr irgendwer folgte, schritt unbekümmert weiter. Der Weg führte sie am Stadtpark vorbei, sie hielt sich ganz nah am Gitter und glitt mit ihren Fingern über die Stäbe hin. Gustav zuckte [327] zusammen. Er erinnerte sich, daß es eine Gewohnheit seiner Frau gewesen war, im Vorübergehen mit den Fingern über Wände, Mauern, Gitter zu gleiten. Es war ihm, als täte das Weib, das zehn Schritte vor ihm ging, mit Absicht dasselbe, und er wußte doch zugleich, daß diese Empfindung vollkommen sinnlos war. Und doch schien ihm von diesem Augenblicke an in jeder Bewegung dieses Weibes etwas Gewolltes, etwas in Beziehung auf ihn Gewolltes zu liegen – ja, ihm war, als dächte diese Person, die da vor ihm einherging: Alles das tu' ich, wie es seine Frau getan. Ein Unwille wachte in seiner Seele auf; er hatte einen Augenblick Lust, umzuwenden und seines Wegs zu gehen, als könnte er diesen Spott sich nicht gefallen lassen. Aber es war, als zöge sie ihn nach sich, und er folgte ihr immer weiter. Sie bog in die Wollzeile ein, dann in eine Seitengasse, deren Namen er nicht wußte; hier verschwand sie in einem der ersten Häuser, ohne sich noch einmal umgewandt zu haben. Er blieb eine Weile vor dem Tor stehen; vielleicht käme sie wieder herunter. Er betrachtete die Fenster. Bald wurde im dritten Stock eines geöffnet. Es war die Frau, der er gefolgt war; er konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen, auch nicht die Richtung ihres Blicks, doch die Bewegung ihres Kopfes verriet ihm, daß sie nach oben schaute; dann stützte sie die Ellbogen auf das Fensterbrett und wandte den Kopf nach unten. Er eilte davon, er wollte nicht von ihr bemerkt sein. Aber wie er sich, durch die Straßen eilend, ihrer erinnerte, war es nicht irgendeine Fremde, die er heut zum ersten Male gesehen – nein, es war seine Frau, seine tote Frau, die in jener Straße, die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt, herunterschaute. Er vermochte es gar nicht, sich dort eine andere zu denken, und wieder war ihm, als wüßte diese Fremde selbst davon, was in ihm vorginge. Er verwandte große Mühe darauf, das alles aus seinen Sinnen zu jagen, aber es war ganz vergeblich. Endlich setzte er sich in ein Wirtshaus, aß und trank. Die Schwüle war außerordentlich. Nachdem Gustav mehr getrunken hatte, verloren jene Vorstellungen ihr Quälendes, ja sie traten beinahe tröstend hervor. Es war plötzlich ein Wesen da, ein ganz bestimmtes Wesen, das für ihn irgend etwas bedeutete – es war eine Frau, es war beinah seine Frau, und sie dachte an ihn, oder ihm war, als dächte sie an ihn.
Er träumte diese Nacht von der Toten. Er sah sich mit ihr in der Waldgegend, wo sie den letzten Sommer verbracht hatten; sie lagen zusammen auf einer sehr weiten, lichtgrünen Wiese, [328] nur ihre Wangen lehnten und glühten aneinander; aber diese leichte Berührung erfüllte ihn mit einem so hohen Glück, wie er es nie in der leidenschaftlichsten Umarmung empfunden. Plötzlich war sie fort, und er sah sie am Ende der Wiese längs des Waldrandes hinlaufen, die Arme in die Luft gestreckt, so wie er in einer illustrierten Zeitung tags vorher ein Ballettmädchen gesehen, das sich vor den Flammen retten wollte. In diesem Augenblick empfand er mit einer Deutlichkeit, wie nur der Traum sie gibt, daß es vollkommen unmöglich für ihn wäre, den Verlust zu überleben, und doch blieb er im Grase liegen und tat nichts, als daß er fürchterlich schrie. Darüber wachte er auf und hörte sich selbst jammern. Durch das offene Fenster klangen die ersten unentwirrbaren Laute der Frühe, deutlich hörte er nur das Gezwitscher der erwachenden Vögel aus dem Stadtpark. Niemals früher hatte ihn seine Einsamkeit mit einem solchen Grauen erfüllt wie heute. Was er für die Frau empfand, die eben im Gras neben ihm geruht und deren lebenswarme Wange er an der seinen ruhen gefühlt, erfüllte ihn mit einer Sehnsucht nach ihr, die so ungeheuer und schmerzensvoll war, daß er lieber daran sterben wollte, als sie weiter erdulden. Er liebte diese Tote, wie man nur Lebendige lieben darf, mit einer verzehrenden Sehnsucht nach ihrem Besitz, er fühlte sich wieder von dem Duft ihres Leibes umhüllt, er bewegte leise seine Lippen, als wäre sie wieder bei ihm und könnte seinen Kuß empfangen. Dann rief er ihren Namen, rief ihn immer lauter, breitete seine Arme aus, erhob sich, stand auf, ließ die Arme sinken, fühlte eine Beschämung in sich aufsteigen, als hätte er sich an einer vergangen, die wie seine Freuden, so auch seine Sehnsucht und seine Träume nicht mehr teilen konnte und die er nur beweinen, aber nicht verlangen durfte.
Er stand sehr früh auf, ging eine Stunde im Park spazieren und arbeitete im Büro so fleißig, als gälte es, durch redliches Betragen eine Sünde wieder gutzumachen. Ein Gedanke kam ihm auch, und es wunderte ihn nur, daß er nicht früher gekommen war: Wenn er sich ganz von der Welt zurückzöge, die ihm wohl noch Versuchungen, aber keine Lust mehr bringen durfte? Er dachte an einen entfernten Verwandten seiner Mutter, der als reifer Mann in ein Kloster gegangen war. Der Gedanke dieser Möglichkeit beruhigte ihn.
Nachmittags lag er wieder auf dem Bette, abends ging er fort. Er kannte seinen Weg. Er ging an dieselbe Stelle, zu der gleichen [329] Bank, auf der er gestern gesessen. Er wartete, und als er seine Gedanken freiließ und in der Schwüle des Abends in eine Art von Halbschlummer verfallen war, erwachte er mit der Empfindung, daß er seine Frau erwarte. Diese Vorstellung trat so entschieden auf, daß er sie mit Aufgebot seines Willens verscheuchen mußte. Er wartete und hoffte zugleich, daß die Erwartete nicht kommen würde. Er war verwirrt und müde und hatte das Gefühl, irgendwie wehrlos preisgegeben zu sein und einem Schicksal entgegenzugehen, das ihm bestimmt war. Viele Leute kamen vorüber, auch Frauen und Mädchen; sie hatten nicht mehr Bedeutung für ihn als Bilder, die er zufällig im Durchblättern eines Buchs gefunden hätte, während er ein ganz bestimmtes suchte. Plötzlich fiel ihm ein: Wenn sie nicht vorüberkommt? Nun, wenn auch nicht, er wußte ja, wo sie wohnte, könnte vor dem Tore warten, in das Haus treten, die Stiege hinaufgehen ... nein, das würde er keineswegs; wer weiß, ob sie allein wohnte ... Aber keinesfalls kann sie ihm entgehen.
Es wurde spät; die Dunkelheit schritt vor. Plötzlich erblickte er die Erwartete. Aber sie war an ihm vorbeigeschritten, ohne daß er sie erkannt hatte. Wieder war es erst der Gang, durch den sie ihm auffiel. Sein Herz klopfte heftig. Er erhob sich rasch und folgte ihr. Es war ihm, als müßte er sie mit dem Namen seiner toten Gattin anrufen; doch fühlte er gleich, daß er das nicht durfte. Er ging so rasch, daß er ganz unversehens nahe neben sie gekommen war. Sie wandte den Kopf nach ihm und lächelte, als könnte sie sich seiner erinnern; dann aber schritt sie nur schneller vorwärts. Er folgte ihr wie in einem Rausch. Nun gab er sich vollkommen dem Wahn gefangen, daß es die Tote wäre; er kämpfte nicht mehr dagegen an. Seine Augen hafteten gebannt an ihrem Nacken. Er flüsterte den Namen der Toten, flüsterte ihn noch einmal lauter, er sprach ihn aus ... »Therese« ...
Sie blieb stehen. Er war neben ihr, ganz erschrocken. Sie schaute ihm ins Gesicht, schüttelte den Kopf, erstaunt, und schickte sich an weiterzugehen. Mit halberstickter Stimme sagte er: »Ich bitte Sie ... ich bitte Sie ...« Sie antwortete ganz sanft: »Was wollen Sie denn?« Es war eine ganz fremde Stimme. Wenn er sich später dieses Moments erinnerte, sah er sich selbst immer um viele Jahre jünger, bartlos, fast wie ein Kind, denn sie schaute ihn an, wie man Kinder ansieht, die einem gefallen.
Sie sprach weiter: »Woher kennen Sie mich denn? Woher wissen Sie denn, wie ich heiße?«
[330] Es kam ihm gar nicht sonderbar vor, daß sie wirklich so hieß wie die Verstorbene. Er sagte: »Ich habe Sie schon gestern ... gesehen.«
»Ach so.« Sie glaubte offenbar, daß er sich im Hause nach ihrem Namen erkundigt. Er fühlte seinen Mut wachsen.
»Ich hab's aber gespürt«, sagte sie, »gestern abend, daß wer hinter mir geht. Ich dreh' mich ja nie auf der Straßen um, aber man spürt's gleich. Is' 's nicht wahr?«
Sie gingen nebeneinander her, und Gustav fühlte eine plötzliche Aufgeräumtheit, als hätte er ein paar Glas Wein getrunken.
»Aber daß mich einer anred't, das is' mir schon lang net passiert. Freilich, es is' auch eine Seltenheit, daß ich so allein auf der Straße geh', am Abend. Bei Tag freilich, da is' 's was anderes – no, nicht wahr? – bei Tag hat man doch immer was in der Stadt zu tun?«
Er hörte ihr zu. Ein Gefühl des Behagens kam über ihn. Der Klang dieser Frauenstimme tat ihm wohl. Als sie jetzt schwieg und ihn von der Seite lächelnd ansah, als erwartete sie ein Wort von ihm, sagte er: »Jetzt is' 's aber bei Tag so heiß; wenn man nicht muß, sollte man immer erst abends ins Freie. So kühl wie im Zimmer is' es bei Tag doch nirgends.« Er freute sich, daß er so leicht und gewandt reden konnte. Er hatte es gar nicht gehofft.
»Da hab'n Sie schon recht. Und besonders dort, wo ich wohne ... na, Sie wissen ja ...«, sie lächelte dabei freundlich ..., »da kommt nie eine Sonne hin. Wirklich, ich muß schon sag'n: Wenn ich so zu Mittag auf'n Ring hinausgeh', das is' grad, wie wenn man in einen Glutofen käm'.«
Dies gab ihm Anlaß, von der Hitze zu sprechen, die in seinem Büro herrschte, und von seinen Kollegen, die manchmal über der Arbeit einschliefen. Sie lachte darüber, das ermutigte ihn, und mit einer wahren Freude an seinen eigenen Worten und an ihrem Zuhören kam er immer mehr ins Erzählen: wie er seine Tage verbringe, daß er seit einiger Zeit verwitwet sei ... er sprach das Wort aus, als sei es etwas ganz Gewöhnliches, und doch wußte er, daß er es bis heute, auf sich bezüglich, noch nie ausgesprochen. Es tat ihm wohl, daß seine Begleiterin ihn darauf mit einem bedauernden Blicke ansah.
Dann berichtete sie von sich. Er erfuhr, daß sie die Geliebte eines sehr jungen Mannes sei, der jetzt eben mit seinen Eltern für einige Wochen auf dem Lande lebe und erst in drei Wochen zurückkommen sollte.
[331] »Sonst is' er immer um sieben Uhr abends bei mir, und das bin ich schon so gewohnt, daß ich gar nicht weiß, was ich mit der Zeit anfangen soll, wenn er nicht da is'. Sonst is' natürlich er mit mir spazierengegangen, jetzt muß ich allein herumlaufen; er weiß gar nix davon ... oh, er dürft' gar nix davon wissen, er is' ja so eifersüchtig! Aber ich bitt' Sie, kann man denn verlangen, daß ich an den schönen Abenden im Zimmer sitz' – no, nicht wahr? Da red' ich alleweil mit Ihnen ... das sollt' ich doch schon gewiß nicht. Aber schaun S', wenn man so acht Tag' lang mit niemandem ein vernünftiges Wort gesprochen hat, so is' es eine rechte Erholung.«
Sie waren in der Nähe ihrer Wohnung.
»Wollen Sie schon nach Haus gehen, Fräulein?« sagte er. »Setzen wir uns doch noch ein bißl in den Stadtpark und plauschen weiter.«
Sie kehrten um, gingen die paar Schritte zum Stadtpark, und in einer recht dunklen Allee setzten sie sich auf eine Bank. Sie saß ganz nahe bei ihm, er schloß halb die Augen, und da sie schwieg, hatte er wieder ganz die Empfindung, als säße seine Frau neben ihm. Doch als sie wieder zu reden anfing, zuckte er zusammen. Es war ihm, als hätte diese Frau neben ihm, gerade während sie schwieg und ihn ihre Nähe und Wärme fühlen ließ, wie mit Absicht die Tote nachzuäffen versucht. Und wieder fuhr ihm die Idee durch den Kopf, sie wüßte, was in ihm vorging. Ein leichter Ärger regte sich in ihm. Er fühlte, daß hier eine gewisse Macht über ihn ausgeübt wurde, zu der es kein Recht gab und von der er sich befreien muß. Wer war denn diese Person? Eine Frau wie viele andere, die ihn gar nichts anging; die Geliebte eines jungen Mannes, der jetzt mit seinen Eltern auf dem Land war, und vorher wohl die Geliebte von zehn oder hundert andern. Und doch – es half nichts, durch ihr Kleid strömte dieselbe Wärme zu ihm herüber wie von seiner gestorbenen Frau. Sie hatte den gleichen Gang, den gleichen Nacken und ein sonderbares Zucken um die Lippen, ganz wie sie. Er drängte sich näher an sie. Von ihren Haaren kam ein Duft, den er begierig einatmete. Es verlangte ihn, ihren Hals zu küssen, er tat es, sie ließ es geschehen. Jetzt sagte sie irgend etwas, so leise, daß er es nicht verstand. Er fragte, die Lippen noch an ihrem Hals: »Was, Therese?«
»Ich muß nach Hause gehen, es wird spät.«
»Was haben Sie denn zu tun?«
[332] »Ah, nicht deswegen«, antwortete sie und stand plötzlich auf. Jetzt war sie wieder vollkommen eine andere. Er bekam eine wahre Lust, ihr zu drohen wie jemandem, der sich etwas anmaßt, das ihm nicht zukommt. Es war ihm, als hätte er eine zu verteidigen, die selbst nicht mehr dazu imstande wäre. Er stand auf, griff nach ihrer Hand, drückte ihr Handgelenk, wollte ihr weh tun. Aber da schwand sein Zorn wieder, sein Druck wurde leiser, zärtlicher, und nah, beinah aneinandergeschmiegt, verließen sie den Garten.
Sie sprachen auf dem Heimweg nichts. Beim Haustor blieb sie stehen. »Ich danke schön für die Begleitung«, sagte sie.
»Darf ich nicht mit Ihnen ...?«
»Oh!« sagte sie, »was fallt Ihnen ein! Wenn der Hausmeister was merkt – gleich wüßt's das ganze Haus. Na, und dann ...«
Gustavs Augen glühten. Sie sah ihn beinah mitleidig, aber sehr angenehm berührt an.
»Wissen Sie was«, sagte sie dann ganz leise, »morgen Nachmittag um vier – da is' 's nicht auffallend. Da kommen Sie noch bei Tag aus 'm Haus.«
Er nickte wie befreit.
»Also adieu, jetzt müssen S' gehen.« Sie entzog ihm ihre Hand, die er noch in der seinen hatte, und eilte die Treppen hinauf.
Gustav tat in dieser Nacht kein Auge zu. Im dumpfen Halbschlummer dachte er an die Tote, und es war ihm, als müßte er sie an der Lebenden rächen, die ebenso duftete, die gleiche Wärme von sich strömte und dieselben Begierden entfesselte wie jene, die nun im Grabe ruhte. Er dachte auch daran, daß es noch hundert, noch tausend Weiber gäbe wie die, mit der er heut nacht im Stadtpark gesessen und die nichts viel Besseres war als eine Dirne. Er fühlte mit einer Deutlichkeit wie nie zuvor die ungeheure Ungerechtigkeit, die an der Toten geschehen war, und ahnte einen lächerlichen Betrug, der an ihm verübt werden sollte. Und wenn er an den kommenden Nachmittag dachte, war es ihm unmöglich, sich eine andere in seinen Armen vorzustellen als seine Frau. Er fühlte sich wehrlos, und das erfüllte ihn mit Zorn.
Vormittags im Büro kam für eine kurze Zeit Ruhe über ihn. Einen Moment dachte er daran, jene Person gar nicht zu besuchen. Dieser Einfall machte ihn geradezu leichter atmen. Dann tauchte ein anderer Gedanke auf: wohl zu ihr zu gehen, sich aber nach einer letzten Wonnestunde von ihr und zugleich von allen[333] Freuden der Welt zu verabschieden und so, wie er sich neulich vorgenommen, in ein Kloster zu treten.
Er saß lang bei Tisch, trank einen besseren Wein als gewöhnlich und ging dann zu ihr. Es war ein sehr heißer Nachmittag, und das Pflaster war ganz weiß von Sonne. Als er in die Wollzeile kam, wehte ihm eine kühlere Luft entgegen. Die Straße, in der ihr Haus stand, lag im tiefsten Schatten und war menschenleer. Das Fenster, aus dem er sie vor zwei Tagen hatte blicken sehen, war geöffnet, doch waren die Vorhänge heruntergelassen und bewegten sich leicht im Luftzug.
Er trat durch das Haustor, schritt die Stiege hinauf. Währenddem erinnerte er sich jenes Abenteuers aus der Jugendzeit. Auch damals pflegte er um diese Stunde zu seiner Geliebten zu gehen. Die Türe oben war angelehnt, er öffnete sie, Therese stand vor ihm, doch nahm er ihre Züge in dem dunklen Vorzimmer nicht deutlich wahr. Sie schloß die Türe rasch und öffnete die Türe zum nächsten Zimmer so schnell, daß der Fenstervorhang durch den Luftzug in die Höhe flog und Gustav einen Augenblick den Dachfirst des Hauses gegenüber sehen konnte. Die Türe zum anstoßenden Zimmer stand offen. Gustav legte den Hut auf den Tisch, setzte sich, sie neben ihn.
»Haben Sie einen weiten Weg her gehabt?« fragte sie.
Er blickte durch die offene Tür. Er sah ein schlechtes Ölbild, die Madonna mit dem Jesukinde vorstellend, das über dem Bette hing.
»Nein, ganz nah«, sagte er.
Sie hatte einen dunkelroten Schlafrock an, mit sehr weiten Ärmeln, der den Hals frei ließ. Ihr Blick schien ihm frech, ihre Züge minder jung als gestern abend. Er glaubte jetzt, daß er weggehen werde, ohne auch nur ihre Fingerspitzen berührt zu haben.
»Hier wohn' ich«, sagte sie, »aber noch nicht gar lang.« Sie fing wieder zu plaudern an, erzählte von ihrer früheren Wohnung, die »ihm« nicht gefallen hätte, weshalb er ihr diese hier gemietet; dann redete sie von einer Schwester, die in Prag verheiratet sei, dann von ihrem »Ersten«, einem Hausbesitzersohn, der sie hatte sitzen lassen, dann von einer Reise nach Venedig, die sie mit einem »Ausländer« unternommen. Gustav saß regungslos da und ließ sie reden ... Wo war er da hingeraten! Er, der noch vor wenigen Monaten der Gatte einer tugendhaften Frau gewesen war, die ihm allein gehört und keinem vor ihm ... Was wollte [334] er da? Was hatte er mit der zu tun? ... Wo war sein Verlangen, wo seine Wünsche? ... Er stand auf, als wollte er sich entfernen. Da erhob auch sie sich, breitete die Arme um seinen Hals und zog ihn an sich. Er war ihr so nah, daß er nur das Leuchten ihrer Augen sehen konnte. Wieder stieg der Duft von ihrem Hals empor zu ihm, zugleich fühlte er ihre Lippen heiß auf den seinen ... Wahrhaftig, es war kein anderer Kuß, als er ihn noch im vorigen Herbst empfangen. Es lag in ihm dieselbe Weichheit, dieselbe Wärme, dieselbe Nähe, dieselbe Lust ...
Er wachte jäh auf. Er hatte die Arme unter seinem Kopf gekreuzt wie oft des Nachts, aber er sah eine andere Decke über sich. Und hier, über ihm, die Madonna mit dem Jesukind, und neben ihm lag eine fremde Frau mit schwergeschlossenen Augen und einem Lächeln um den Mund, und vor wenigen Minuten hatte er Therese in den Armen gehalten, seine verstorbene Frau. Er hatte jetzt nur einen Wunsch: Die da möge ruhig liegenbleiben, die Augen nicht öffnen, die Lippen nicht bewegen, bis er aufgestanden war und sich entfernt hätte. Er wußte, wenn sie von neuem begänne, so zu blicken, so zu lächeln, so zu seufzen und insbesondere so mit den Lippen zu zucken wie die, welche jetzt tot war – er konnte es nicht ertragen, er durfte es nicht dulden. Es war zu infam, was dieses Weib gewagt hatte. Er betrachtete sie mit einem wütenden Blick. War es nur möglich, daß dieses erbärmliche Weib, das hundert Liebhaber gehabt, mit jeder Miene, mit jeder Bewegung, während sie ihm die höchste Wonne gab, die arme Tote, die jetzt verweste, geradezu nachgeäfft? Und er lag da neben ihr ... Er schüttelte sich. Er erhob sich rasch, aber geräuschlos. Sie regte sich nicht. Er kleidete sich eilig an. Dann stand er vor ihr, neben dem Bett. Sein Blick verfolgte die Linien ihres Halses. Es war ihm jetzt, als hätte dieses Weib einen fürchterlichen Diebstahl verübt und als wäre seine tote Therese eine Beraubte und Betrogene ... Nein, das dürfte nicht sein, daß sie tot im Sarge läge und das Fleisch von ihren Knochen fiele, während die andern weiterleben und lachen und ihm sein dürfen, was ihm Jene war, ihm gewähren, was Jene ihm früher gewährt! Er schämte sich, daß nicht alles Glück der Erde zugleich mit ihr begraben war.
Jetzt regte sie sich wieder, geradeso wie Therese sich im Schlummer gestreckt und gedehnt. Sie öffnete die Augen ... ja, wie sie. Es zuckte um ihre Lippen – ja, ganz so ... Ah, und jetzt auch noch das? ... Sie öffnete die Arme, als wollte sie ihn [335] an sich ziehen ... »Sprich!« rief er. Er wollte die Stimme hören. Das hätte ihm die entweichende Besinnung wiedergegeben. Aber sie sprach nicht. »Sprich!« rief er noch einmal mit halberstickter Stimme. Aber sie sah ihn an, ohne zu verstehen, und streckte wieder die Arme aus. Er sah um sich, suchte irgend etwas, das ihn befreien konnte. Hier auf der Kommode, dem Bett gegenüber, lag der Hut, noch steckte die Nadel drin; er zog sie heraus, und indem er sie in die linke Faust nahm, stach er sie dem Weibe durchs Hemd in die Brust ... Er hatte gut getroffen. Sie hob sich krampfhaft in die Höhe, stieß einen Schrei aus, fuhr mit den Armen hin und her, packte die Nadel, hatte die Kraft nicht, sie aus der Wunde zu ziehen, und sank zurück.
Gustav stand neben ihr, sah sie zucken, die Augen verdrehen, nochmals den Kopf heben, wieder zurücksinken ... sterben ... Dann erst zog er die Nadel aus der Wunde ... es war gar kein Blut daran. Er verstand eigentlich gar nicht, was geschehen war. Plötzlich aber wußte er es. Er lief zum Fenster ins Nebenzimmer, hielt den Vorhang hoch, steckte den Kopf hinaus und schrie hinunter, so laut er konnte: »Mörder! Mörder!« Er sah noch, wie die Leute zusammenliefen, sah, wie man heraufdeutete, dann entfernte er sich vom Fenster, setzte sich ruhig auf den Sessel und wartete. Ihm war, als wäre das sehr gut, was er getan. Er dachte an seine Frau, die schon lang im Sarge lag und der die Würmer in die Augenhöhlen kröchen, und zum ersten Mal seit ihrem Tod fühlte er irgend etwas wie Frieden in seiner Seele.
Jetzt wurde heftig geklingelt, Gustav stand rasch auf und öffnete. – – –