[267] Lob der Thränen

Laue Lüfte,
Blumendüfte,
Alle Lenz- und Jugendlust;
Frischer Lippen
Küße nippen,
Sanft gewiegt an zarter Brust;
Dann der Trauben
Nektar rauben;
Reihentanz und Spiel und Scherz:
Was die Sinnen
Nur gewinnen:
Ach! erfüllt es je das Herz?
Wenn die feuchten
Augen leuchten
Von der Wehmuth lindem Thau,
Dann entsiegelt,
Drin gespiegelt
Sich dem Blick die Himmels-Au.
Wie erquicklich
Augenblicklich
Löscht es jede wilde Glut!
Wie vom Regen
Blumen pflegen,
Hebet sich der matte Muth.
[268]
Nicht mit süßen
Wasserflüßen
Zwang Prometheus unsern Leim.
Nein, mit Thränen;
Drum im Sehnen
Und im Schmerz sind wir daheim.
Bitter schwellen
Diese Quellen
Für den erdumfangnen Sinn,
Doch sie drängen
Aus den Engen
In das Meer der Liebe hin.
Ew'ges Sehnen
Floß in Thränen,
Und umgab die starre Welt,
Die in Armen
Sein Erbarmen
Immerdar umflutend hält.
Soll dein Wesen
Denn genesen,
Von dem Erdenstaube los,
Mußt im Weinen
Dich vereinen
Jener Waßer heil'gem Schooß.

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TextGrid Repository (2012). Schlegel, August Wilhelm. Gedichte. Lieder und Romanzen. Lob der Thränen. Lob der Thränen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D2DF-6