[263] Glaube

Wohin flohst du, sel'ger Glaube,
Aus der Menschen Sinn und Muth?
Wurdest schnödem Spott zum Raube,
Ohne Ruhstatt irrt die Taube
Ob der großen Sündenflut.
Du, o Glaub' an reine Liebe,
Die das Herz in Fülle nährt,
Die, wenn keine Jugend bliebe,
Keine Schönheit, inn'ge Triebe
Bis zum letzten Hauch gewährt!
Glaub' an eines Freundes Treue,
Welcher mit uns steht und fällt,
Welcher ohne Scheu und Reue,
Wie auch Leumund ihn bedräue,
Uns bekennt vor aller Welt!
Glaub' an die Gewalt der Ehre,
Alles Thuns Geleit und Hort,
Daß kein Schwur sich je verkehre,
Felsenfest die biedre Lehre
Immer steh': ein Mann, ein Wort!
[264]
Glaub' an unsers Volkes Weise,
An ein heimisch Vaterland,
Wo im schlichten alten Kreise
Jeder still beharrt, und weise
Fremde Lüst' und Sitten bannt!
Glaub' an Kunde von den hohen
Thaten kühner alter Zeit,
An die Würde der Heroen,
Deren Geist der Welt entflohen,
Deren Namen sie entweiht!
Glaub' an hehrer Freiheit Dauer,
Auf Gesetz erbaut und Recht,
Schirmend in der Bundesmauer
König, Ritter, Bürger, Bauer,
All' ein brüderlich Geschlecht!
Glaub' an milder Vorsicht Wache,
Wie es sei um uns bestellt;
Daß Er denk' an unsre Sache,
Dem kein Sperling fällt vom Dache,
Gleichwie er das Ganze hält!
Glaub' an jenes Licht von oben,
Das so glorreich niederstrahlt,
Und am Vorhang, blau gewoben
Vor dem Heiligsten da droben,
Ew'ger Wahrheit Bilder mahlt!
Glaub' an aller Liebe Bronnen,
Der die Gottheit selbst ergoß,
[265]
In des Opfers Glut zerronnen,
Welches, sühnend, Friedenswonnen
Und der Wesen Heil erschloß! –
Was die Händ' und Augen greifen,
Ist ein trüglich eitles Gut.
Wie die klugen Sinn' auch schweifen,
Niemals wird ein Segen reifen,
Strebet höher nicht der Muth.
Vor dem Glauben Berge schwanden,
Glaube macht die Schwachen stark.
Ja, aus Erd' und Todes-Banden
Ist der Gläub'ge schon erstanden:
Glaub' ist unsers Lebens Mark.
Komm denn, himmlisches Vertrauen,
Komm zurück in meine Brust!
Wolle linde mich bethauen,
Wie die winterlichen Auen
Linde Luft und Frühlingsluft.
Scheuche du das trübe Zagen!
Was verschuldet' ich so schwer,
Daß ich nie mich soll entschlagen
Der Gedanken und der Fragen,
Die sich streiten hin und her?
Zwar ich habe mit den Blinden
Falscher Weisheit auch gefröhnt,
Doch gesucht den Weg zu finden
Aus des Irrthums Labyrinthen,
Und das Edle nie gehöhnt.
[266]
Kann Gehorsam dich erwerben,
Giebst du dich der Einfalt kund:
Sieh in Demuth mich ersterben,
Sieh die Wehmuth mich entfärben.
Thu' mir auf der Geister Bund!
O wie hat mich oft erhoben,
Was du halb mir nur enthüllst!
Laß mich deine Kraft erproben,
Jubeln will ich und Gott loben,
Wenn du ganz die Seele füllst.
Ob dann soll der Boden schwanken,
Ob die Hölle scheinbar siegt,
Will als Reb' ich ohne Wanken
Auf am Lebensbaum mich ranken,
Welcher keinem Blitz erliegt.

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TextGrid Repository (2012). Schlegel, August Wilhelm. Gedichte. Lieder und Romanzen. Glaube. Glaube. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D1DC-3