[205] [238]Der Genius

»Glaub ich«, sprichst du, »dem Wort, das der Weisheit Meister mich lehren,
Das der Lehrlinge Schar sicher und fertig beschwört?
Kann die Wissenschaft nur zum wahren Frieden mich führen,
Nur des Systemes Gebälk stützen das Glück und das Recht?
Muß ich dem Trieb mißtraun, der leise mich warnt, dem Gesetze,
Das du selber, Natur, mir in den Busen geprägt,
Bis auf die ewige Schrift die Schul ihr Siegel gedrücket
Und der Formel Gefäß bindet den flüchtigen Geist? Sage du mirs, du bist in diese Tiefen gestiegen,
Aus dem modrigten Grab kamst du erhalten zurück,
Dir ist bekannt, was die Gruft der dunklen Wörter bewahret,
Ob der Lebenden Trost dort bei den Mumien wohnt.
Muß ich ihn wandeln, den nächtlichen Weg? Mir graut, ich bekenn es!
Wandeln will ich ihn doch, führt er zu Wahrheit und Recht.«
Freund, du kennst doch die Goldene Zeit, es haben die Dichter
Manche Sage von ihr rührend und kindlich erzählt,
Jene Zeit, da das Heilige noch im Leben gewandelt,
Da jungfräulich und keusch noch das Gefühl sich bewahrt,
Da noch das große Gesetz, das oben im Sonnenlauf waltet
Und verborgen im Ei reget den hüpfenden Punkt,
Noch der Notwendigkeit stilles Gesetz, das stetige, gleiche,
Auch der menschlichen Brust freiere Wellen bewegt,
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Da nicht irrend der Sinn und treu, wie der Zeiger am Uhrwerk,
Auf das Wahrhaftige nur, nur auf das Ewige wies?
Da war kein Profaner, kein Eingeweihter zu sehen,
Was man lebendig empfand, ward nicht bei Toten gesucht,
Gleich verständlich für jegliches Herz war die ewige Regel,

Gleich verborgen der Quell, dem sie belebend entfloß. Aber die glückliche Zeit ist dahin! Vermessene Willkür

Hat der getreuen Natur göttlichen Frieden gestört.
Das entweihte Gefühl ist nicht mehr Stimme der Götter,
Und das Orakel verstummt in der entadelten Brust.
Nur in dem stilleren Selbst vernimmt es der horchende Geist noch,
Und den heiligen Sinn hütet das mystische Wort.
Hier beschwört es der Forscher, der reines Herzens hinabsteigt,
Und die verlorne Natur gibt ihm die Weisheit zurück.
Hast du, Glücklicher, nie den schützenden Engel verloren,
Nie des frommen Instinkts liebende Warnung verwirkt,
Malt in dem keuschen Auge noch treu und rein sich die Wahrheit,
Tönt ihr Rufen dir noch hell in der kindlichen Brust,
Schweigt noch in dem zufriednen Gemüt des Zweifels Empörung,
Wird sie, weißt dus gewiß, schweigen auf ewig wie heut,
Wird der Empfindungen Streit nie eines Richters bedürfen,
Nie den hellen Verstand trüben das tückische Herz –
O dann gehe du hin in deiner köstlichen Unschuld,
Dich kann die Wissenschaft nichts lehren. Sie lerne von dir!
Jenes Gesetz, das mit ehrnem Stab den Sträubenden lenket,
Dir nicht gilts. Was du tust, was dir gefällt, ist Gesetz,
Und an alle Geschlechter ergeht ein göttliches Machtwort,
Was du mit heiliger Hand bildest, mit heiligem Mund
Redest, wird den erstaunten Sinn allmächtig bewegen,
Du nur merkst nicht den Gott, der dir im Busen gebeut,
Nicht des Siegels Gewalt, das alle Geister dir beuget,
Einfach gehst du und still durch die eroberte Welt.

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TextGrid Repository (2012). Schiller, Friedrich. Gedichte. Gedichte (1789-1805). Der Genius. Der Genius. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-CAF9-9