3. Sausewind.

Unser Herr Jesus wanderte einst mit dem Apostel Petrus wieder einmal auf der Erde herum. Eines Abends kamen sie zu »einer reichen Wirthschaft« und wollten da übernachten. Sie fragten also die Wirthin, ob sie über Nacht bleiben könnten; weil sie aber sehr ärmlich und wie Bettler aussahen, so antwortete ihnen diese sehr kurz, sie herberge keine Bettler, sie müsten in das Haus nebenan gehen. Dieses war ebenfalls ein Wirthshaus, die Besitzer gehörten aber zu den ärmsten Leuten im Orte. Die beiden gingen also in das Nachbarhaus. Die arme Wirthin antwortete auf ihre Frage, ob sie sie herbergen wolle, sogleich sehr freundlich: »ich muß euch wohl behalten, habe aber kein Stroh, worauf ihr liegen, und nichts, was ihr essen könnt.« Jene sagten darauf, daß thue auch nichts, und blieben da. Als sie am anderen Morgen fortgehn wollten, sprach der Heiland zu der Frau, sie möge ihm ihren einzigen Sohn, einen Knaben von zwölf Jahren, mitgeben, es solle sein Schaden nicht sein. Die Mutter aber sagte, das könne nicht geschehen, denn der Junge habe weder Schuhe noch eine Hose. Da die beiden Fremden aber immer mehr in sie drangen, so war sie endlich dazu bereit und wollte ihm nun auch gern wenigstens eine neue Hose mitgeben. Zufällig hatte sie noch einen Rest (stuwe) Leinwand; sie nahm also Elle und Scheere zur Hand, um nachzumessen, ob wohl noch eine Hose daraus zu machen wäre. Als der Heiland das sah, fragte er sie, wohin sie mit der Elle und der Scheere wolle. Sie sagte, sie habe auf der Kammer noch einen Rest Leinwand, den wolle sie messen, um zu sehen, ob es noch zu einer Hose genug wäre. Da sprach der Heiland zu ihr, sie möge nur hingehn und den ganzen Tag messen. Sie ging hin und fing an zu messen, allein die Leinwand wollte gar kein Ende nehmen, und sie maß den ganzen Tag. So machte der Heiland, daß die armen Wirthsleute ganz reich wurden, den Knaben aber nahm er mit sich in die Fremde und brachte ihn zu einem Müller, damit er das Müllerhandwerk [260] lerne. Dann ging er mit Petrus weiter. Nun begab es sich, daß der reiche Wirth einmal eine Reise machte und auch zu der Mühle kam, worin der Sohn seines Nachbars als Lehrling diente. Als dieser den Jungen erblickte, sprach er zu ihm: »Junge, wie in aller Welt kommst du hierher?« Der Junge erzählte nun, wie die beiden armen Reisenden ihn hierher gebracht hätten, und wie er jetzt Müller sei. Da schrieb der reiche Wirth einen Brief und bat den Jungen freundlich, er möge doch den Brief nach seinem Hause bringen und ihn seiner Frau übergeben. In dem Briefe hatte er aber geschrieben, wenn der Junge käme, so solle sie so gleich den Backofen heizen und recht glühend machen, ihn dann hinein werfen und so verbrennen. Der Junge war bereit den Brief dahin zu tragen und ging damit fort. Wie er unterweges war, fand er mit einem Male wieder den Heiland und Petrus am Zaune liegen. Sie fragten ihn, wohin er wolle. Er antwortete, er wolle für seinen ehemaligen Nachbar einen Brief nach dessen Hause bringen. Darauf sagten jene, so möge er nur hingehn. Der reiche Wirth aber hatte nur ein einziges Kind, eine Tochter, die dereinst sein ganzes Vermögen erbte. Als nun der Junge zu dem Wirthshause gekommen war und seinen Brief übergeben hatte, fand die Frau darin geschrieben, sie solle dem Ueberbringer ihre Tochter sogleich zur Frau geben; thäte sie das nicht, so werde er den Backofen glühend machen und sie sammt dem Mädchen hinein stecken. Da schickte die Frau sogleich zum Pastor und ließ ihre Tochter mit dem Jungen trauen. Als nun der Wirth von seiner Reise wieder nach Hause kam, sprach der Junge zu ihm: »Guten Tag, lieber Schwiegervater.« Jener erstaunte nicht wenig und fragte seine Frau, was sie denn da gemacht hätte? Diese antwortete, er selbst habe ja alles so befohlen, und sie habe nur seinen Auftrag ausgeführt. Zum Beweise holte sie den Brief hervor, den sie sorgfältig aufbewahrt hatte. Der Mann las den Brief, und fand wirklich alles so darin geschrieben, wie die Frau angegeben hatte. Da wandte er sich zu dem Jungen und sagte: so könne er sein Schwiegersohn nicht sein, er müsse erst ein Stück Gold von der Goldklippe holen, worauf der Goldthurm stehe. Es war das ein Felsen und ein Thurm, welche aus reinem Golde bestanden. Der Junge ging also zum Thore hinaus, um ein Stück Gold von der Goldklippe zu holen, wuste aber nicht, wohin er sich wenden sollte. Er [261] war noch nicht lange gegangen, da begegnete ihm wieder der Heiland in demselben Bettleranzuge, wie früher, und fragte ihn, wohin er wolle. Der Junge erzählte nun, daß er nach der Goldklippe wolle, und doch nicht wisse, wo diese sei. Da sagte der Heiland zu ihm, er möge nur auf dem Wege bleiben, und gab ihm einen Stock, mit dem solle er, wenn er an ein Wasser käme, nur an das Ufer schlagen und dabei sprechen »hol über«, dann würde alsbald ein Steg über das Wasser führen; wenn er aber müde würde, dann solle er sagen, er wolle, daß er ein Pferd habe, und sogleich werde ein Pferd kommen, darauf solle er sich setzen und so lange reiten, bis er an ein Quartier gekommen sei. So kam der Junge richtig zu der Goldklippe und dem Goldthurme. Er fand daselbst eine Frau, die sagte, als sie ihn erblickte: »ach, du frommer Gott, was willst du hier machen?« Der Junge erzählte ihr, er müsse ein Stück Gold von der Goldklippe haben, eher dürfe er nicht wieder nach Hause kommen. Die Frau gebot ihm sich sogleich unter das Bett zu legen und sich da ganz ruhig zu verhalten, denn Sausewind, dem die Goldklippe gehöre, käme bald nach Hause, wenn der ihn röche, so fräße er ihn auf. Als es Abend geworden war, kam Sausewind nach Hause und sprach sogleich: »ich rieche Menschenfleisch!« Doch die Frau beschwichtigte ihn wieder, indem sie sagte, es sei ein Rabe dahin geflogen, der habe einen Knochen »im Halse« gehabt, das möge er wohl riechen. Als sich Sausewind nun ins Bett gelegt hatte, sprach die Frau zu ihm, es sei da ein König, der habe drei Prinzessinnen, die wären verwünscht, ob er wohl nicht wisse, wo die wären. Da fing Sausewind an zu lachen und sagte: »wenn einer ein Schwert nimmt und schlägt dir den Kopf ab, so bist du die eine; dort unten am Wasser steht ein Erlenbusch, wenn davon der rechte Ast (schacht) abgehauen wird, so ist das die zweite; und oben am Wasser steht noch ein Busch, wird davon ebenfalls ein Ast abgehauen, so ist das die dritte; dann sind alle drei wieder beisammen.« Sausewind schlief darauf ein und ging am anderen Morgen wieder hinaus in die Welt. Als er fort war, stieg die Frau auf die Goldklippe und holte dem Jungen von dort ein Stück Gold. Nachdem sie ihm dasselbe gegeben hatte, bat sie ihn flehentlich, er möge ihr doch den Kopf abhauen. Zuerst weigerte sich der Junge, endlich aber that er es, und sogleich stand eine schöne Prinzessin vor ihm. Dann sagte der Junge: [262] »ich wollte daß ich ein Pferd hätte!« und sogleich stand das Pferd da. Die beiden setzten sich darauf und eilten davon. Zuerst ritt der Junge oben an das Wasser und hieb von dem Busche einen Ast (enen arm) ab; der abgehauene Ast ward aber zu einer wunderschönen Prinzessin. Auch diese muste sich mit aufs Pferd setzen. Dann ritt er unten an das Wasser und hieb dem Erlenbusche ebenfalls einen Ast ab, aus dem auch sogleich eine schöne Prinzessin ward, die sich mit auf das Pferd setzte. Nun waren die drei Prinzessinnen, welche verwünscht gewesen waren, wieder beisammen. Mit ihnen ritt nun der Junge zu dem Schlosse ihres Vaters und übergab sie diesem. Der König freute sich sehr und forderte ihn auf sich eine von den drei Prinzessinnen zur Frau zu wählen, doch er dankte und sagte, er sei schon verheirathet. Darauf wollte ihm der König viel Geld und sein halbes Königreich schenken, doch auch das lehnte jener ab, weil er reich genug wäre. Alsdann kehrte er zu seinem Schwiegervater zurück, dem er das Stück Gold von der Goldklippe gab. Dieser war jetzt mit seinem Schwiegersohne wohl zufrieden, der nun noch lange mit seiner Frau auf das glücklichste lebte.

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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. Märchen und Sagen. Niedersächsische Sagen und Märchen. B. Märchen. 3. Sausewind. 3. Sausewind. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BD6A-E