[372] An den Genius

Sei du mir treu, bis ich von hinnen muß,
Der durch die Welt du mich bisher geleitet!
Wie für die Wonnen, die du mir bereitet,
Soll ich dir danken, hoher Genius?
Arm wär' ich ohne das, was du gegeben,
Und, flöhest du, was gölte mir dies Leben?
Als Knabe schon, wenn ich von den Genossen,
Den lärmenden, zur Einsamkeit entfloh,
In meiner Seele, allen sonst verschlossen,
Empfand ich deinen Odem stolz und froh,
Und leicht ward in der Jugend goldner Frühe
Durch dich mir jede Pein und jede Mühe.
Tief der Natur ins heil'ge Auge schauen,
Ihr in des Herzens Allgeheimstes spähn
Mich lehrtest du, und im Gewittergrauen
Des Donners ernste Rede zu verstehn,
Und in der Bergschlucht, wo die Wasser rauschen,
Der großen Mutter Worte zu belauschen.
Mit Wesen, die sich selber mein Gedanke
Erschuf, den luft'gen Kindern meines Traums,
War mein ein hohes Leben sonder Schranke
In einer Welt jenseits des Raums,
Und fort und fort mich nährtest du mit hehren
Traumbildern und der alten Weisheit Lehren.
Die durst'gen Lippen labte mir der Quell,
Der nie versiegende, von Kunst und Dichtung,
Und an den Geistern, welche aus Vernichtung
Und Trümmern ihrer Welt zu uns noch hell
Herüberstrahlen durch der Zeiten Nacht,
Hab' ich des eignen Geistes Licht entfacht.
[373]
Mit Indiens Weisen in den Siedelein,
Wo Ganga rauscht an Wasserlilienbeeten,
Mit Zoroaster bei des Feuers Schein,
Des heiligen, zu dem die Parsen beten,
Wie mit Arabiens kühnen Wüstensöhnen
Sprach ich vertraut in ihrer Sprache Tönen.
Und gleich dem Geist, nicht haftend an der Scholle,
Schritt pilgernd auch mein Fuß von Land zu Land;
Die Erde breitete wie eine Rolle
Ihr Schönstes vor mir aus; bald hoch vom Rand
Des Schiffs, bald von der Alpen steilstem Pik
In ihren Wundern schwelgte mir der Blick.
Für alles, was erhaben ist und groß,
Ließ mir Italien die Seele flammen,
An ihrer Brust erzogen, hehre Ammen,
Sie die Sibyllen Michel Angelos,
Und in des Tabor himmlischem Gesicht
Trug Raffael sie auf zum ew'gen Licht.
Ich sah beim Grab Achills am Meeressaum
Die Welt Homers sich aus der Flut erheben,
Und träumte mit dem hundertthor'gen Theben,
An eine Sphinx gelehnt, den Urwelttraum,
Bis übern Nil daher geheimnisvoll
Der Morgengruß von Memnons Lippen quoll.
Durchs Leben zog ich so, der Wolke gleich,
Die sonnengolddurchglüht am Himmel gleitet;
Selbst wenn sich Leidensnacht um mich gebreitet,
Fühlt' ich mich stark durch dich und froh und reich;
Du hast, erhabner Geist, ein Licht von oben
In meine trübsten Stunden selbst gewoben.
[374]
Und sei's! Führst du dereinst, o Genius,
Die letzte mir herauf der Erdensonnen,
Zum großen Gange gieb durch deinen Kuß
Die Weihe mir! Unsterblich sind die Wonnen,
Ich fühl' es, die mir deine Huld verlieh;
Ins Jenseits auch hinüber nehm' ich sie.

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TextGrid Repository (2012). Schack, Adolf Friedrich von. Gedichte. Gedichte. 4. Vermischte Gedichte. An den Genius. An den Genius. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B7E1-3