Vier irrung der tugent

In der blüweis Michael Lorenz.


1. januar 1544.

1.
Hört, wie ich in eim buch gemalet fant,
wie zu dem trone
aufwarts ein hohe leiter was,
da die küngin der tugent saß,
welche alle gar herlich krönen wolt,
die zu ir stiegen und erreichten iren sitz.
Mitten auf der leiter ein ritter stant,
geschmücket schone
mit harnisch, ritterlicher zir;
im stunt sein herz, mut und begir,
das in die küngin herlich krönen solt;
das zu ersteigen, brauchet er sin unde witz.
Vier langer strick
sach ich im blick
um sein leib gürtet stark und dick;
[146]
die strick hetten gewaltig in der hand
vier stark persone:
armut, wollust, tot und der schmerz,
zogen den ritter unterwerz,
auf das er nit erreicht die kron und höchsten spitz.
2.
Die leiter des menschen leben bedeut,
alter und jugent,
das zu den eren ist geneigt,
über sich zu der tugent steigt,
ist die küngin, die ir diener bekrönt,
im leben, tot ir nam herlich erhaben wirt;
Aber die vier person am strick zerstreut,
welche abzugent,
die erst person ist die armut,
die den menschen abfüren tut
in vil laster, darmit er sich beschönt:
für tugent in geiz, falsch und der betrug regirt.
Zum andern: schmerz
zeucht auch abwerz
von tugent das menschliche herz,
ist, so der mensch im selber nicht gebeut,
aus lieb der tugent
durch gedult all ding überwint,
sunder in rach und zoren brint,
das neit und haß in ungestümiklich vexirt.
3.
Zum dritten: der wollust abziehen tut,
so gar ersoffen
der mensch ganz viehisch lebt darin,
legt darauf herz, mut unde sin,
in allen lastren sült sich wie ein schwein:
unkeusch, fraß, hoffart und als was senft tut dem leib.
Zum vierten zeucht ab der tot sin und mut
und alles hoffen
und lont der tugentreichen tat;
wo man des todes forchte hat,
da acht man warheit und grechtigkeit klein,
wirt heuchlerisch und kleinmütig gleich einem weib.
[147]
Darum welch mon
der tugent kron
empfahen wil und iren lon,
der sol leben nach art der tugent gut.
wirt er gleich troffen
mit armut, schmerz, wollust und tot,
sol er kempfen durch alle not,
spricht Cicero, das er nur bei der tugent bleib.

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TextGrid Repository (2012). Sachs, Hans. Gedichte. Geistliche und weltliche Lieder. Vier irrung der tugent. Vier irrung der tugent. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B115-E