[59] [63]I.
Die Maskenbälle, welche im Karneval des Jahres 186* im Theater an der Wien stattfanden, gehörten zu den glänzendsten und besuchtesten der Saison. Ein unternehmender Direktor, der die Leitung der Bühne erst vor kurzem übernommen, hatte sie nach Art der Pariser Opernbälle ins Werk gesetzt und damit den Wienern, welche zu derlei Vergnügungen bis jetzt nur die Redoutensäle und einzelne größere öffentliche Lokale gekannt, etwas ganz neues geboten. Mehr als einmal war ich, in jener Gegend wohnend, des nachts an dem strahlend erleuchteten Portal vorübergeschritten, hatte rasche Wagen anfahren und halbverhüllte Frauengestalten in reizenden Kostümen oder Balltoiletten aussteigen sehen, ohne daß mich die Lust angewandelt hätte, das bunte Treiben, von dem man sich Wunderdinge erzählte, näher in Augenschein zu nehmen. Endlich jedoch, als ich gerade in vorgerückter Nachtstunde aus einer Gesellschaft nach Hause ging und also schon im Frack steckte, faßte ich plötzlich den Entschluß, eine Karte zu lösen.
Den hellen, reich ausgeschmückten Raum betretend, fand ich, daß derselbe keineswegs überfüllt, sondern weit weniger belebt war, als ich erwartet hatte. Die Logenreihen wiesen viele Lücken auf, und die nicht sehr zahlreichen Insassen blickten, wie es schien, etwas gelangweilt auf die Maskenschwärme hinab, die sich unten ziemlich durchsichtig hin und her bewegten. Indessen erkannte ich bald, daß ich während einer längeren Ruhepause gekommen war; ein großer Teil des Publikums mochte den Saal verlassen und die angrenzenden Speise- und Erfrischungsräume [63] aufgesucht haben. Als jetzt das Orchester plötzlich eine rasche Tanzweise erklingen ließ, strömte es auch wirklich von allen Seiten zu, so daß endlich eine dichte Menge in lustigem Walzer durcheinander wogte. Nun zeigten sich auch mehr oder minder interessante Erscheinungen. Stadtbekannte Persönlichkeiten der Aristokratie und der Finanzwelt, hervorragende Mitglieder des Parlaments, Schriftsteller und Künstler. Unter den letzteren ein damals vielgenannter polnischer Maler in Nationaltracht, der seine bezaubernd schöne Schwester in gleicher Kleidung am Arm führte. Sehr zahlreich war die Schauspielkunst vertreten. Neben einer ebenso berühmten wie berüchtigten Lokalsängerin fiel ein neugewonnenes weibliches Mitglied des Burgtheaters durch vornehme Haltung und klassischen Adel des Profils ganz besonders auf. Die Dame ließ sich von einem zur Zeit bühnenbeherrschenden Autor begleiten und zog einen langen Schweif neugieriger Bewunderer nach sich. Dennoch fühlte ich mich gewissermaßen enttäuscht; ich hatte mehr Fülle und Triebkraft im ganzen, mehr lebensfreudige Hingabe im einzelnen erwartet. Es war doch eigentlich nur eine Zurschaustellung, welche trotz allen äußeren Glanzes etwas innerlich Beengtes und Frostiges hatte.
So schritt denn auch ich ohne rechten Anteil in dem Gewoge einher, das sich jetzt, da wieder eine Tanzpause eingetreten war, in weitem Rundgang durch den Saal bewegte. Mit einemmale fühlte ich, wie sich von rückwärts ein Arm unter den meinen schob, und hörte eine künstlich fistelnde Stimme fragen: »Bist du auch da?«
Ich blickte erstaunt und forschend auf die weibliche Maske, die jetzt an meine Seite getreten war und sich sehr zutraulich an mich schmiegte. Eine nicht allzu große, volle Gestalt in einem blaßblauen, mit schwarzen Spitzen verbrämten Domino.
»Wie du siehst, bin ich da,« erwiderte ich endlich. »Ich kann dir jedoch deine geistreiche Frage nicht zurückgeben; denn ich vermag schlechterdings nicht zu erraten – –«
[64] »Das glaub' ich,« versetzte sie. »Aber betrachte meine Hand; vielleicht bringt sie dich auf die Spur.«
Ich blickte auf die entblößte Hand nieder, die auf meinem Arm ruhte. Es war eine sehr schöne Hand; etwas fleischig zwar, aber doch lang und edel gestreckt, die Fingerspitzen leicht nach aufwärts gebogen. Keine Überladung mit Ringen; ein einziger flacher Goldreif, an welchem eine feine, nicht allzu kostbare Perle schimmerte, hob sich geschmackvoll von der elfenbeinartigen Blässe der Haut ab.
»Nun?« fuhr die Maske fort. »Kannst du nichts herausbringen? Du rühmtest dich doch stets, einen sehr scharfen Blick für Hände zu haben, und auch nur einmal gesehene nie wieder zu vergessen. Und die meine hast du sehr oft gesehen – ja du hast sie sogar besungen.«
»Besungen? Das muß eine Zeit her sein. Denn mit derlei geb' ich mich schon lange nicht mehr ab.«
»Es ist auch schon lange – so an die zehn Jahre. Meine Augen hatten dich übrigens gleichfalls poetisch begeistert, und du glaubtest damals etwas ganz neues zu sagen, indem du sie Veilchenaugen nanntest.«
»Noch immer besser, als wenn ich sie mit Vergißmeinnichten verglichen hätte,« erwiderte ich, indem ich mich umsonst bemühte, aus den ziemlich farblosen Augenflächen, die durch die Schlitze der schwarzen Samtlarve blinkten, eine Vorstellung zu gewinnen; »ich wäre nun erst recht Lügen gestraft.«
»Na, ich will nicht schuld sein, daß du dir dein bißchen Gehirn überanstrengst. Ich werde mich demaskieren; mir ist ohnehin schon fürchterlich heiß unter diesem Schwitzvisir.« Dabei machte sie die Larve los und wandte mir ein breites, weißes Antlitz zu, in dessen schlaffen, gleichsam plattgequetschten Zügen ich mich nicht sofort zurechtfinden konnte.
Endlich hatte ich ein volles Bild gewonnen. »Nina!« rief ich aus.
»Ja, Nina«, entgegnete sie, plötzlich in den niedrigsten Wiener [65] Dialekt verfallend und mit einer Stimme, deren Klang ein Heer von Erinnerungen in mir wach rief. »Nina – oder besser g'sagt: Krawall-Ninerl! Das hätt'st dir net verhofft, mich wieder z'finden – und gar auf an Elitball. Net wahr? Hast g'wiß g'laubt, i wär' schon längst in an Spital' z' Grund gangen – oder gar wo anders, wo's no schlimmer is. – Es war auch nicht weit davon«, fuhr sie, da ich nichts erwiderte, im früheren Hochdeutsch fort; »aber da siehst du, daß nicht bloß die Tugend besteht. Mach' doch nicht ein gar so dummes Gesicht! Schauen wir lieber, daß wir aus dieser Tretmühle hinauskommen; die Tanzerei wird ohnehin gleich wieder losgehen – und darüber sind wir beide erhaben. Wir wollen irgend einen stillen Winkel aufsuchen, wo wir eine Zigarette rauchen und von alten Zeiten plaudern können. Auch ist mir, offen gestanden, einigermaßen flau im Magen und ich möchte etwas zu mir nehmen. Erschrick nicht! Ich denke an kein Souper mit obligatem Champagner. Das Saufen hab' ich mir abgewöhnt; – bin überhaupt solid geworden. Eine Tasse Tee mit einigem kalten Aufschnitt genügt vollkommen.«
Sie hatte mich bei diesen Worten nach dem Seitengange gezogen, der in ein geräumiges Büffetzimmer führte. In der Mitte dieses schmalen Korridors war ein großer, von zwei Gasflammen beleuchteter Spiegel angebracht. Davor hielt sie mich zurück, so daß wir nun beide unser Bild vor Augen hatten.
»Nun, wir nehmen uns noch ganz erträglich aus«, sagte sie. »Könnten Mann und Frau sein. Bedankst dich – was? Du hast übrigens im Laufe der Jahre gewonnen. Siehst ganz stattlich aus. Ich aber bin leider sehr stark geworden und muß mich abscheulich schnüren. Und was sagst du zu meinem Gesicht?« Sie ließ die Kapuze des Dominos ganz in den Nacken fallen, so daß ihr Haupt mit dem dichten, trockenen, fahlroten Haar frei zum Vorschein kam. Es war in der Tat ein merkwürdiger Kopf, der trotz der verquollenen Gesichtszüge einen fesselnden Eindruck machte. Infolge eines eigentümlich schmerzhaften [66] Zuges, der sonderbarerweise seit jeher um diese blaugrauen Augen, um diesen herben, fast leblos blassen Mund gelegen hatte, mahnte er an die berühmte tête de cire im Museum zu Lille.
»Du sagst ja gar nichts. Schön bin ich freilich nie gewesen –«
»Aber bezaubernd. Jeder, der etwas tiefer in dein weißes Gesicht geblickt hatte, war auch in dich verliebt.«
»Mit Ausnahme deiner Wenigkeit«, sagte sie wegwerfend.
»Ich war eben vorsichtig.«
»Ja, du gingst mir aus dem Wege – und machtest nur hinterrücks schlechte Verse auf mich. Konnte mir auch ganz recht fein; denn du warst damals – offen gestanden – ein ausnehmend fader Jüngling. Übrigens«, fuhr sie fort, indem sie ganz dicht an den Spiegel trat und sich wohlgefällig betrachtete, »hast du nur die Wahrheit gesagt. Es waren alle wie toll in mich verliebt. Ich weiß eigentlich selbst nicht warum –«
»Weil du stets im Innersten kalt bliebst.«
»Kalt? Nun ja. Wenn ich da überall hätte glühen sollen, wäre gar bald nur mehr ein Häuflein Asche von mir geblieben. Wenn ich so zurückdenke in die Zeit, wo du noch ein junger Leutnant warst, ist mir's, als wär' ich schon hundert Jahre alt. Mein Gott, der arme Rudi!«
»Ja, der arme Rudi,« wiederholte ich still. Der Schatten des einstigen Kameraden war schon längst vor mir aufgestiegen.
»Und weißt du, daß ich damals, als er sich erschoß, auch nicht so viel –« sie schnippte mit den Fingern – »dabei empfunden hatte! Eigentlich hat er's ja auch nur seiner Schulden wegen getan.«
»Die er für dich gemacht.«
»Ah pah! Für mich – oder für eine andere, das blieb sich gleich. Es lag ihm so im Blute.«
»Mag sein. Aber er war auch eifersüchtig –«
»Dumm genug. Es war ihm doch bekannt, daß ich von einer Hand in die andere ging. Das wußte jeder und mußte sich's [67] gefallen lassen – er aber wollte der einzig Geliebte sein. Gerade so wie auch damals der junge Maler, dem ich Modell stand zu einer Laïs oder Phryne. Ein letzter hoffnungsvoller Rahlschüler, der sich mittlerweile aufs Porträt geworfen hat, weil es mit den griechischen Schwarten nicht mehr ging. Er wollte mich um jeden Preis heiraten, und bald wär's zum Duell gekommen zwischen ihm und einem seiner Kollegen, der dasselbe wollte. Das war nun wieder ein Nazarener aus der Schule Führichs, malte mich als Madonna – und hat mich bei den Sitzungen mit verdrehten Augen angebetet wie eine wirkliche. Lächerlich!«
»Nun, es hat mancherlei in dir gesteckt«, sagte ich nachdenklich. »Es quirlte nur alles so durcheinander.«
Sie blickte schweigend vor sich hin. »Ja, ich war eine Canaille«, sagte sie dann mit einer Art von teuflischer Genugtuung. »Aber komm, gehen wir zum Tee.«
Wir begaben uns also in das Büffetzimmer, wo es in diesem Augenblick ganz still und menschenleer war, und ließen uns an einem Ecktischchen nieder. Während der Aufwärter den gewünschten Imbiß brachte, und Nina behaglich träg zulangte, dachte ich an Vergangenes .....
Ja, das Weib, das jetzt, in zunehmender Fülle verblühend, vor mir saß – ich hatte es schon in seiner ersten Jugend gekannt. Als ein ganz verlorenes, verkommenes Ding, mit einem zerschlissenen Fähnchen auf dem Leibe, mit defektem Schuhwerk und zerknittertem Hütlein. Aber sie hatte den Wuchs einer Hebe, und ihr lichtes, von zerzausten rötlichen Haaren umschimmertes Gesicht übte eine wundersame Anziehungskraft aus. Die Züge waren schon damals so, als hätten sie in ihrer ursprünglich reinen Bildung einen leichten, entstellenden Druck erhalten. Und doch – welch ein Reiz lag in dem etwas schief stehenden Näschen, in dem weichen und doch energischen Kinn – in dem eigentümlichen Schnitt und Blick der Augen. Es waren wirklich Veilchenaugen, wenn sie freundlich oder zärtlich blickten, aber stahlgrau [68] und stahlhart in Stunden oder Tagen des Schmollens und Grollens. Und solche Stunden und Tage waren bei Nina nichts seltenes. Wie ein Aal wußte sich dann das schlanke Geschöpf jeder verlangenden Umarmung zu entwinden und die rosigen Nägel der zarten Finger zur Abwehr zu gebrauchen. Dafür aber gab sie sich, wenn man es am wenigsten erwartete, ganz plötzlich, wie dem Antrieb einer Laune folgend, hin, und oft erschien sie ganz unvermutet in irgend einer Offizierswohnung, um dort die Nacht zuzubringen. Manchmal kam sie recht ungelegen; sie kümmerte sich aber nicht darum, sondern warf sich, müd und abgehetzt, wie sie war, aufs Sofa oder ins Bett und schlief sofort ein. Denn sie hatte, wie man wußte, keinen eigentlichen »Unterstand« und verbrachte die Tage in den Straßen der Stadt und der Vorstädte, in Ateliers von Malern und Bildhauern, denen sie als Modell diente – oder sonst wo. Bei aller Unbildung – sie konnte kaum lesen und schreiben – besaß sie Geist, Urteilskraft und stets schlagfertigen, sarkastischen Witz; sie konnte oft Aussprüche tun, über die man erstaunte. Habgierig und eigennützig war sie in der Regel nicht, vielmehr mit allem zufrieden, was man ihr anbot; sie wurde selten unwillig, wenn man ihr nicht einmal ein bescheidenes Souper vorsetzen konnte. Sie aß überhaupt fast nichts, mochte nicht einmal Süßigkeiten; aber für Alkohol zeigte sie eine entschiedene Vorliebe. Sie trank alles Trinkbare – sogar Rum, davon sie einmal bei einer Orgie soviel auf einen Zug zu sich nahm, daß sie zum allgemeinen Entsetzen wie tot hinfiel. Sich zu berauschen, gewährte ihr offenbar das höchste Vergnügen, obgleich sie dabei in eine finstere, zornige Stimmung verfiel. Sie begann dann mit heiserer Stimme vom Jahre 1848 zu sprechen und er zählte, wie sie als halbwüchsiges Mädchen zuerst mit den Studenten, später mit den Brüdern »Arbeitern« ausgezogen war und sich, an Straßentumulten teilnehmend, zum ersten Male auf der Höhe einer Barrikade preisgegeben habe. Dabei wurde sie ganz wild, schalt uns Offiziere feile Knechte der Tyrannei, und begann derart zu toben, daß [69] sie Gläser und Teller nach unseren Köpfen warf und mit Gewalt zur Ruhe gebracht werden mußte. Infolgedessen wurde sie auch »Krawall-Ninerl« genannt. Zuweilen aber konnte sie ganz weichmütig und sentimental werden, erzählte von ihrem armen Vater, der ein zugrunde gegangener Tischlermeister gewesen – und von ihrer unglücklichen Neigung zu dem schönen Peppi. Dieser schöne Peppi war damals Heldenspieler an einem Vorstadttheater, ein arger Schreier und Kulissenreißer; aber er entzückte sein Publikum als Karl Moor, als Graf Wetter von Strahl und in ähnlichen Rollen; die Frauen vom »Grund« waren alle vernarrt in ihn. Aber der stolze Histrione fand das verwahrloste Mädchen unter seiner Würde und ließ es unerhört vor seiner Türe schmachten und winseln. So wenigstens berichtete Nina mit stammelnden Lippen und schluchzte und heulte dabei wie ein Kind. Wir anderen lachten darüber; aber dem armen Rudi, der sie leidenschaftlich liebte und sie durch allerlei Opfer eine Zeitlang an sich gefesselt hatte, zerfleischten solche Erzählungen das Herz, in welches er sich zuletzt die todbringende Kugel gejagt hatte .....
»Aber jetzt sag' mir doch«, begann nunmehr Nina, die ihren Appetit mittlerweile gestillt hatte, »sag' mir doch, lieber Alter, wie kommst du denn eigentlich zu dem schwarzen Frack? Ich hatte einige Mühe, dich darin wieder zu erkennen, und auf der Straße wären wir wohl beide fremd aneinander vorübergegangen. Hast du etwa eine Unannehmlichkeit gehabt? Oder warst du vielleicht töricht genug, in Zivildienste zu treten, um irgend ein edles Mädchen, das die Kaution nicht auftreiben konnte, unter die Haube zu bringen?«
»Keines von beiden. Du weißt doch –«
»Nu ja, ich weiß, daß du dich schon damals mit der Idee trugst, Schriftsteller zu werden. Aber Mensch, du wirst doch nicht von der Feder leben? Oder hast du vielleicht eine Erbschaft gemacht?«
»Das letztere keineswegs.«
[70] Sie sah mich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Verachtung und Mitleid an. »Also wirklich! – Aber weißt du was?« setzte sie plötzlich hinzu, »du hattest ja nicht bloß lyrische Gedichte, sondern auch Trauerspiele im Sinn. Schreib' mal 'ne Rolle für mich.«
»Für dich?«
»Nun ja. Auch ich habe mich, wie du mich hier siehst, der Kunst gewidmet und werde demnächst als Schauspielerin auftreten.«
»Du?«
»Was ist dabei zu staunen? Mit dem früheren Leben hält's eben nicht mehr. Du darfst übrigens nicht glauben«, fuhr sie, den Kopf zurückwerfend, fort, »daß es mir späterhin so elend ergangen ist, wie in meiner schönen Jugend. O nein! Auch ich hatte, nachdem ich noch manches Arge und Ärgste überstanden, meinen Grafen, meinen Baron – und schließlich einen Bankier. Aber so alt dieser dicke Jude selbst war, ich erschien ihm im Laufe der Zeit nicht mehr jung genug, und da er überdies fallierte, so stand ich schließlich allein da. Das aber brachte mich zur Erkenntnis, daß ich mir einen neuen Nimbus anschaffen müsse. Und so gehe ich denn zum Theater.«
»Ja – aber wie –?«
»Ja aber wie?« wiederholte sie höhnisch. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, davon sich euere Weisheit nichts träumen läßt – obgleich sie sehr leicht auf die Spur geraten könnte. Erinnert man sich denn gar nicht mehr an meine unglückliche Jugendleidenschaft? An den schönen Peppi?«
»O ja; ich erinnere mich schon. Der Bühnenlöwe aus der Vorstadt –«
»Dieser Löwe hat ausgebrüllt. Das heißt, er ist alt und zahnlos geworden; auch die Mähne hat er verloren. Und da er selbst nicht mehr tragieren kann, so hat er eine Art Schauspielschule errichtet, von der er lebt. Merkst du nun? Und hast du vielleicht eine Ahnung davon, daß sich derzeit der Spieß umgekehrt [71] hat? Der ergraute Löwe – oder eigentlich Esel, der mich einst mit Füßen von sich gestoßen, ist jetzt bis über die Ohren in mich verliebt. Dabei aber hat er herausgefunden, daß das Zeug zu einer großen Tragödin in mir steckt.«
Ich sah sie an. Während der letzten Worte hatte ihr Gesicht einen ganz besonderen Ausdruck angenommen. Es streckte sich gewissermaßen in die Länge, die Augen öffneten sich weit, und der kräftige blasse Mund verzerrte sich zu einer schmerzvollen Grimasse. Der ganze Kopf hatte jetzt wirklich etwas von einer antiken tragischen Maske.
»Vielleicht hat der Löwe von ehedem recht«, sagte ich nachdenklich. »Allerdings ist es ein wenig spät –«
»Spät? Wie alt bin ich denn? Fünfundzwanzig Jahre – du kannst ja nachrechnen. Der neue Stern des Burgtheaters, den ganz in der Nähe leuchten zu sehen, ich eigentlich hierher gekommen, ist keineswegs jünger – und gleichfalls aus dem Nichts aufgegangen. Wir können noch Rivalinnen werden. Schon am nächsten Sonntage trete ich im Pasqualatti-Theater auf.«
»Dort?«
»Du weißt, eine Versuchsbühne. Und als erstes Debut werde ich die Maria Stuart spielen.«
»Die Maria Stuart –«
»Eigentlich lächerlich, was? Denke dir nur: wenn die einstige Krawall-Ninerl so heraustritt« – sie beugte sich vor und breitete die Arme aus –: ›Eilende Wolken, Segler der Lüfte!‹ Und daß ich besser sei, als mein Ruf, könnte ich auch nicht behaupten. Aber was willst du? Meinem alten Löwen steckt nun einmal der Jambus im Leibe – und er will mir ihn mit Gewalt einimpfen. Da er mir nun auch ein Engagement zu verschaffen gedenkt, muß ich mich fürs erste fügen. Später werde ich schon mit anderem hervortreten – etwa mit der Cameliendame. Das ist zwar auch eine abgespielte, weinerliche Komödie. Ich würde etwas ganz Neues brauchen, etwas [72] Unerhörtes – noch nie Dagewesenes. Aber der Mann, der das schriebe, müßte erst geboren werden. Ihr deutschen Dichter habt schon gar nicht das Zeug dazu und kommt aus euerer langweiligen Rührseligkeit nicht heraus. – »Aber«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, indem sie mit weit aufgerissenem Munde laut gähnte, »ich bin nachgerade müde und schläfrig geworden und möchte nach Hause. Geh', hol' einen Wagen.«
Sie hatte mich bei dieser Aufforderung leicht mit der Fußspitze angestoßen, und da mir selbst eine Verlängerung dieses Beisammenseins keineswegs erwünscht war, so beglich ich die Rechnung und zögerte nicht, dem Wunsche nachzukommen.
Ein Fiaker war bald zur Stelle. Ich öffnete den Wagenschlag und ließ Nina, die bereits, in einen grell karrierten Mantel gehüllt, unter dem Portal stand, einsteigen. »Wohin soll dich der Kutscher bringen?« fragte ich.
»Du wirst mich doch nicht allein fahren lassen?« rief sie mit einem bösen Blicke. »Das muß ich mir ausbitten!«
Ich stieg also zu ihr ins Coupé. Sie wohnte irgendwo »Unter den Weißgerbern«, und der Wagen rollte rasch über das feuchte, leicht beschneite Pflaster dahin.
»Schau«, begann Nina nach einer Weile schweigenden Nebeneinandersitzens, »schau, da wären wir wieder einmal ganz traulich beisammen. Wir könnten uns sogar küssen. Aber ich bin ja jetzt solid«, fügte sie wie abwehrend bei, da sie meinerseits keinerlei Anstalten zu näherer Anschmiegung wahrnahm. »Wo wohnst du denn?« Und da ich keine zureichende Antwort gab, drückte sie sich in die Ecke und sagte mit unverhehltem Ärger: »Du brauchst nicht so geheimnisvoll zu tun, ich werde dich nicht überfallen; davor bist du sicher. Aber mein Debut mußt du mit ansehen. Darauf besteh' ich. Ich werde dir gleich eine Karte geben, die dir den Eintritt verschafft; denn die Vorstellung ist sozusagen eine geschlossene.« Sie kramte in ihrem Geldtäschchen und zog aus mehreren Visitenkarten eine hervor, die ich zu mir steckte.
[73] Nun war auch der Wagen bald vor dem Hause angelangt, das Nina beherbergte. Ich half ihr beim Aussteigen und zog rasch die Torklingel; denn ein kalter Schneeregen schlug uns ins Gesicht. Zum Glück ließ der Hausmeister nicht lange auf sich warten. Nina reichte mir rasch die Hand. »Also nächsten Sonntag. Vergiß nicht!« Sie verschwand unter dem Tor, das dröhnend ins Schloß fiel.
Ich schickte jetzt den Wagen fort; denn trotz des bösen Wetters fühlte ich das Bedürfnis, zu Fuß nach Hause zu gehen. Die reine Luft tat mir wohl, wie ich so durch die stillen dunklen Gassen schritt. Schon ließ sich der anbrechende Morgen spüren; hinter manchem Fenster und in früh geöffneten Läden schimmerte Licht. Die Begegnung hatte niederdrückend auf mich gewirkt. Mahnte sie doch eindringlich an eine Vergangenheit, welche völlig zu überwinden und abzutun ich damals bestrebt war.