[205] Dem italischen Dichter
Glücklich bist du, hesperischer Sänger!
Ob in Venedigs Gondel du träumst,
Ob in Florenz du weilst oder im ernsten Rom –
Ob du wandelst am Gestad des blauen Tyrrhenermeers:
Überall lebt dir ein Volk,
Das unbefangen noch,
Empfänglich an Herz und Sinn,
Gern deinem Liede lauscht
Und nimmer dir vorwirft,
Daß du die eig'nen Gedanken großgezogen
An Dante's Geist,
Oder getränkt sie
Mit Petrarca's schmelzendem Wehmuthslaut.
Nicht verstellt es dem Nachgebor'nen
Des Ruhmes Pfad mit Standbildern der Vergangenheit,
Und wie stolz es auch ist
Auf der Vorzeit Größen:
Nicht minder stolz und neidlos
Blickt es auf den Sohn der Gegenwart. –
[206]Ach, wie so anders beschieden es die Götter
Dem nordischen Sangesgenossen!
Taub bleibt ihm ein Volk von »Denkern«,
Das Todte feiert,
Um Lebendige einzusargen;
Ein Volk,
Das seit jeher
Am liebsten fremden Klängen gelauscht,
An heimischen tadelnd, was es an jenen preis't,
Und, schulmeisternd, beständig fordert,
Was es, stumpfsinnig,
Am Gebotenen nicht erkennt.
So, mehr und mehr in sich selbst gedrückt,
Verkümmert er,
Freudlos einsam,
Und lebt – wie sein Geist in ungelesenen Büchern –
Ein löschpapierenes Leben.