[150] Der Hellene

1.

[151] [155]I.

Ich hatte die Ausstellung der Sezession besucht. Es war noch früh am Vormittage, und so durchschritt ich, von seltsam schönen und seltsam häßlichen Gemälden umgeben, fast allein die stillen, geheimnisvoll ineinander mündenden Räume. In dem größten war Klingers Beethoven ausgestellt. Während ich nun vor dem kunstvoll gearbeiteten Bildwerk, das mich weit mehr an die Gestalt Schopenhauers als an jene des großen Tonmeisters erinnerte, in Betrachtung stand, wurden nebenan Stimmen laut. Bald darauf traten drei junge Männer herein mit einer Dame, die, obgleich sie schon tief in den Dreißigern stehen mochte, von auffallender Schönheit war. Einen etwas zerknitterten grotesken Modehut auf der à la Cleo de Merode gescheitelten fahlblonden Haarfülle, trug sie einen enganliegenden grauen Regenmantel, der sich im Zuschnitt nicht wesentlich von den Frühjahrsulstern der drei Herren unterschied und die geschmeidige Fülle ihres hohen Wuchses sehr deutlich hervortreten ließ. Ihr Antlitz mit der zart geschwungenen Nase wies schon feine Fältchen auf, aber es leuchtete in einem kräftig rosigen Kolorit, und die lichten, langgeschnittenen Augen unter dunklen Brauen gaben diesem Gesicht, das ich schon einmal gesehen haben mußte, einen höchst eigentümlichen Reiz. Als jetzt der Blick der Dame auf mich fiel, schien auch in ihr eine Erinnerung aufzuzucken, denn der Ausdruck des Befremdens glitt über ihre Züge. Aber nur ganz flüchtig. Denn sie hatte sich schon wieder ihren Begleitern [155] zugewendet, die sehr eindringlich auf die Schönheiten der Statue hinwiesen. Das Gespräch, das sich dabei entwickelte, überzeugte mich, daß es Künstler waren, die hier ihre Ansichten mit leidenschaftlichem Eifer zum Ausdruck brachten. Ich empfand das nachgerade als Störung und entfernte mich früher, als ich es sonst würde getan haben.

Draußen in der Vorhalle fragte ich das weibliche Wesen, das in stilisierter Anmut an der Kasse saß, ob es nicht wisse, wer die Leute seien, die eben früher gekommen waren.

»Ach ja,« lautete die Antwort, »das sind zwei Maler und ein Bildhauer.« Von den Namen, die auch gleich genannt wurden, war mir einer nicht unbekannt.

»Und die Dame?« fragte ich weiter.

»Ist, glaub' ich, eine Malerin aus München. Wie sie heißt, weiß ich nicht.«

Ich wußte es auch nicht, oder doch: des Vornamens glaubt' ich mich jetzt zu entsinnen. Und während ich nun in den sonnigen Tag hinaustrat und längs der neuen Anlagen am Ufer der Wien dahinschritt, tauchten vor mir immer deutlicher, immer lebendiger Gestalten und Ereignisse aus vergangenen Jahren auf ....


* * *


Zur Zeit meiner literarischen Anfänge nahm ich oft an einer Tischgesellschaft teil, die sich allabendlich in einem schlichten Gasthause auf der Wieden zu versammeln pflegte und aus Künstlern und solchen, die es werden wollten, bestand. Vorwiegend waren es Maler und Bildhauer, die sich dort nach des Tages Mühen und Sorgen behaglich auslebten. Auch einige gebildete Laien hatten sich dem Kreise angeschlossen, wo bei aller Ungezwungenheit, ja oft Ausgelassenheit des Tones doch über die hohen und höchsten Fragen der Kunst verhandelt wurde.

Unter den Malern, die man dort antraf, befand sich auch einer, der von seinen Kollegen gemeinhin der »Hellene« genannt wurde. Er war einer der späteren Schüler Rahls gewesen und [156] setzte nach dessen Tode das Werk des Meisters insofern fort, als er seine Vorwürfe ausschließlich dem Mythos des griechischen Altertums entnahm. Da zu jener Zeit der Formalismus noch sehr in Ansehen stand, so fanden seine korrekten, trotz einer gewissen Trockenheit nicht ungefälligen Bilder bei den Ausstellungen des alten Kunstvereins Beifall und Käufer. Er erhielt sogar Aufträge zu Wandgemälden und Friesen für Prunkräume mehrerer damals eben neuerbauter Palais, die er denn auch ziemlich gleichmäßig mit Darstellungen aus der Odyssee oder dem trojanischen Kriege versah. Infolgedessen kam er auch mit der vornehmen Welt in Berührung. Er wurde häufig zu ihren Gesellschaften geladen, wodurch er selbst, mehr unwillkürlich als absichtlich, vornehme Allüren annahm. So unterschied er sich schon äußerlich von dem Kreise, in dem er sich meistens erst spät, von einem Diner oder einer Soiree kommend, einfand. Da saß er nun gar oft im Frack oder schwarzen Leibrock bei den ziemlich nachlässig gekleideten Tischgenossen, in deren Mitte er sich ausnahm wie sein steifer funkelnder Zylinder zwischen den vielfach zerquetschten Schlapphüten, die an der Wand hingen. Daß er in der Regel den Gerstensaft, der um ihn her reichlich genossen wurde, verschmähte und sich aus dem nächsten Kaffeehause eine Tasse Tee herüberholen ließ, machte ihn zu keinem sehr gemütlichen Gesellschafter, wie er denn überhaupt bei den meisten Anwesenden nicht sonderlich beliebt war. Sehr von sich eingenommen und überzeugt von der Vollkommenheit seiner Arbeiten, war er ein scharfer, unerbittlicher Kritiker fremder Leistungen, so daß es, wenn man ihn reden hörte, eigentlich keinen anderen Maler gab als ihn selbst. Er sprach beständig von der »großen« Kunst und ließ deutlich durchfließen, daß alles übrige nicht sehr hoch anzuschlagen sei. Dadurch fühlten sich begreiflicherweise diejenigen getroffen, die sich dem Genre und der Landschaft gewidmet hatten, und so kam es oft zu weitläufigen Debatten, wobei er, empfindlich und reizbar, wie er war, sehr heftig werden konnte. Einen gefährlichen Gegner [157] hatte er an einem Bildhauer, dem man den Beinamen »Wasserspeier« gegeben hatte, weil er in immer neuen und wechselvollen Hervorbringungen solch fratzenhafter Gebilde unerschöpflich war. Sein Talent neigte überhaupt zur Karikatur, daher die Porträtbüsten, mit denen er sich zur Geltung bringen wollte, in ihrem übertriebenen Realismus mehr abstießen als anzogen. Er erhielt keine Aufträge und war gezwungen, um nur sein Leben zu fristen, sich beim Bau der Votivkirche zu verdingen, an deren Ornamentik er vom frühen Morgen bis zum späten Abend mitarbeitete. Möglich, daß er den Hellenen um seine materiellen Erfolge beneidete; aber die beiden waren eben die entschiedensten Gegensätze. Schon im Äußeren. Während der eine, hoch und schlank gewachsen, immer nach der Mode gekleidet war, ging der andere, klein, gedrungen und kurzhalsig, in einer abgeschabten Samtbluse einher, auf deren Kragen das straffe, weißblonde Haar lang hinabfiel. Ost erschien er auch gleich im Arbeitskittel und brachte den Hellenen, der immer nur feine Zigarren rauchte, schon da durch in Verzweiflung, daß er ihm den Qualm ordinären Knasters aus einer kurzen Holzpfeife unter die Nase blies. Aber der Zwiespalt lag tiefer. Der eine war eine pathetische, der andere eine zynische Natur, deren schlagfertiger Witz bei entbranntem Meinungsstreite stets die Lacher auf der Seite hatte.

Inzwischen aber hatte sich außerhalb des kleinen Kreises im Laufe der Zeit ein bedeutsamer Wandel vollzogen. Das »Künstlerhaus« war fertig geworden – und damit war auch eine neue Ära in der Wiener Kunstwelt angebrochen. Schon bei den ersten Ausstellungen tauchte ganz plötzlich eine glänzende Erscheinung auf: Hans Makart. Seine »Modernen Amoretten« und bald darauf »Die Pest in Florenz« erregten sensationelles Aufsehen und riefen die sich widerstreitendsten Urteile hervor. Natürlich am meisten bei den Künstlern. Während die alten und älteren entrüstet oder bedenklich die Köpfe schüttelten, waren die jungen und jüngsten in begeisterter Anerkennung Feuer und [158] Flamme. Daß der Hellene zu den heftigsten Tadlern gehören würde, war vorauszusehen, und er verabsäumte nicht, bei erster Gelegenheit sein Mißfallen vor der versammelten Tischgesellschaft in den stärksten Ausdrücken kundzugeben. »Das ist gemalte Unzucht!« schrie er.

»Immer noch besser, als gemalte Langeweile!« schrie ihm der Wasserspeier entgegen.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der andere, indem er ihn herausfordernd ansah.

»Daß Sie jetzt mit Ihren altbackenen Griechen einpacken können. Makart wird Epoche machen und den Leuten ganz andere Wandbilder malen als Sie.«

»Ja, in Bordellen! Dorthin gehören seine Bilder. Aber auch davon abgesehen sind sie künstlerisch ganz schlecht. Der Mann kann nicht zeichnen. Er drängt seine Figuren in einen Raum zusammen, darin sie nicht Platz finden. Sie haben keinen Boden unter den Füßen. Daher quirlet auch alles molluskenhaft durcheinander. Es ist keine Perspektive darin.«

»Aber die Farben!« wendete man von allen Seiten ein. »Welch reizvolle Abtönung! Welch zauberhafte Leuchtkraft!«

»Ach was, Farben!« rief der Hellene. »Farben allein geben kein Gemälde, höchstens Farbenflecke. Man brauchte ja sonst nur ganz einfach die Palette gegen die Leinwand zu werfen.«

»Schade, daß Sie das nicht tun!« höhnte der Wasserspeier. »Da würde doch etwas Saft in Ihre dürren Götter und Helden kommen.«

Der Hellene bebte vor Wut. »Reden Sie nicht! Was verstehen Sie von Malerei! Sie sind nichts weiter als ein Steinmetz!«

»Und Sie nichts anderes als der höhere Schildermaler!«

Der Hellene erhob sich mit halbem Leibe. Er war bis in die Lippen hinein bleich geworden, und einen Augenblick schien es, als wollte er sich an dem kurzhalsigen Gegner vergreifen. Aber er faßte sich, stand auf und langte nach Oberrock und Zylinder. [159] Fast alle Anwesenden erhoben sich, um ihn mit begütigenden Worten zurückzuhalten. Er aber widerstand. »Meine Herren,« sagte er stolz, »Sie begreifen, daß ich nicht länger in Ihrer Mitte verweilen kann. Nicht etwa wegen jenes Menschen dort. Er ist nicht imstande, mich zu beleidigen; ich würde ihn von heute ab vollständig als Luft behandeln. Aber ich habe erkannt, daß meine künstlerischen Anschauungen den Ihrigen vollständig entgegengesetzt sind – und somit bin ich auch hier überflüssig.« Sprach's und ging. Draußen in der allgemeinen Gaststube rief er nach dem Kellner, um seine Zeche zu bezahlen.

Mit sehr gemischten Empfindungen setzte man sich wieder. Was da vorgefallen, tat eigentlich keinem so recht leid. Dennoch mißbilligte man die rücksichtslosen Äußerungen des Bildhauers und machte ihm Vorwürfe, daß er so weit gegangen war.

»Ach was!« rief dieser, mit starken Schlägen seine Pfeife ausklopfend, »dem eingebildeten Narren mußte einmal die Wahrheit gesagt werden!«

Der Hellene erschien also nicht wieder in der Gesellschaft, die sich übrigens allmählich auflöste. Denn mit dem neuen Künstlerhause waren größere und bedeutendere Vereinigungen ins Leben gerufen worden, welchen beizutreten, im Interesse der Einzelnen lag. So fand man sich immer seltener in dem engen, verräucherten Lokal zusammen, das schließlich selbst zu den gewesenen gehörte, da das alte, baufällige Haus, in dem es sich seit einer langen Reihe von Jahren befunden hatte, niedergerissen wurde.

2.

II.

Die Vorhersagung des Wasserspeiers war eingetroffen: Makart hatte Epoche gemacht. Der mächtige Einfluß seiner Kunst erstreckte sich nach allen Richtungen hin. Die Pracht der Renaissance leuchtete durch ihn wieder blendend auf in Neubauten, Interieurs und in der Tracht der Frauen. Überall [160] wurde man an den tonangebenden Geschmack des Meisters erinnert, dessen Atelier, dessen verschwenderisch ausgestattete Wohnräume der Sammelplatz der vornehmsten Welt geworden waren. Und neben Makart tauchten in Österreich andere bedeutende Künstler auf: die Maler Gabriel Max, Defregger, Leopold Müller, Rudolf Huber, Passini und der Bildhauer Tilgner. Alles früher Dagewesene trat zurück oder kam mehr und minder in Vergessenheit. Nicht zum wenigsten der Hellene, dessen Bilder immer seltener zu erblicken waren, bis sie endlich sogar von den dürftigen Ausstellungen im alten Schönbrunnerhause verschwanden.

Ihn selbst hatte ich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich lebte zu jener Zeit des Glanzes und Farbenrausches, der sich auch in der Literatur geltend machte, still und unbeachtet in Döbling, Erscheinungen und Mächte des Lebens, die außerhalb der allgemeinen Strömung lagen, in dichterischen Gebilden fest haltend. Nunmehr aber wurde ich durch allerlei Umstände bestimmt, Wien für längere Zeit, vielleicht für immer zu verlassen. So führten mich Angelegenheiten, die geordnet, Besuche, die abgestattet werden mußten, öfter als sonst nach der Stadt.

Eines Tages hatte ich mich aufgemacht, um Verwandten Lebewohl zu sagen, die am Rennweg in einem ehemaligen Herrschaftshause wohnten, das schon längst nur mehr Mietparteien beherbergte. Ein nicht ungeräumiger Garten befand sich dabei, der sich in seiner Verwilderung ganz malerisch ausnahm. Auch dort hausten Leute in einem niederen Erdgeschoß, woselbst sich einst gräfliche Dienerschaft befunden haben mochte.

Als mein Besuch abgetan war, stieß ich in der Einfahrt mit einem Herrn zusammen, der sich eben in das Haus begeben wollte. Wir blickten einander zweifelhaft an, eh' die gegenseitige Erkennung vor sich ging. Es war der Hellene. Er sah gealtert aus, und seine Kleidung, wenn auch noch immer sehr sorgfältig gehalten, erschien etwas abgetragen und fadenscheinig. Er zeigte sich bei der Begrüßung nicht sonderlich [161] erfreut. »Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte er mit säuerlicher Miene.

»Ja, es ist eine Zeit her«, erwiderte ich. »Wie geht es Ihnen?«

»O ganz vortrefflich. Ich male fleißig, wenn ich auch nicht mehr ausstelle. Man hat mir einmal ein Bild zurückgewiesen, und ich bin nicht der Mann, der ein zweites Mal kommt. Hab' es auch Gott sei Dank nicht notwendig. Es gibt noch immer Leute, die meine Bilder kaufen, ohne daß sie früher im Künstlerhause zu sehen waren. Wollen Sie einen Augenblick in mein Atelier treten?«

»In Ihr Atelier?«

»Ich habe hier die Gartenwohnung gemietet und das angrenzende Treibhaus, das seit Jahren unbenutzt gestanden, zum Atelier herrichten lassen. Vielleicht interessiert es Sie, meine neuesten Arbeiten kennen zu lernen.«

»Gewiß«, sagte ich, obgleich mich die Einladung nicht sonderlich verlockte.

»Nun, dann kommen Sie!« Er schritt mir über den Hof voran und öffnete die Gittertür des Gartens. Es war gerade die erste Frühlingszeit. Der vernachlässigte Rasen schimmerte in frischem Grün und aus den schwellenden Knospen der Sträucher drängten sich zarte Blättchen. Ein alter knorriger Birnbaum stand über und über in weißen Blüten. Das kleine Wohngebäude nahm sich mit seinen grauen, von der Feuchtigkeit beschlagenen Außenwänden in der hellen Lenzpracht recht düster aus. Wir gingen daran vorbei und traten in das Atelier, dessen Tür er aufschloß. Die südliche Glaswand war mit dickem Papier verklebt, nach Norden hin war ein hohes und breites Fenster ausgebrochen worden. In dem nicht allzu großen Raume standen in der Nähe eines Blechöfchens zwei Staffeleien, eine größere und einer kleinere, mit angefangenen Bildern. Einige fertige Gemälde hingen und lehnten an den Wänden.

Er wies darauf hin. »Hier haben Sie meine Arbeiten aus jüngster Zeit.«

[162] Ich betrachtete sie. Der Hellene war seiner Richtung treu geblieben. Aber es fiel mir auf, daß er das Nackte jetzt weit mehr hervortreten ließ und Vorwürfe wählte, die nach der erotischen Seite hin lagen. Ich sah ein Urteil des Paris, eine Leda und eine Psyche, die den schlafenden Eros mit der Lampe beleuchtet. Aber gerade hierin zeigte sich auch weit mehr als früher die Reizlosigkeit seiner Darstellung. Alles Menschlichkörperliche erschien hart und kreidig, das Beiwerk dumpf und unbestimmt in der Farbe.

»Nun, was sagen Sie?« fragte er nach einer Weile.

Was konnt' ich anderes, als mich lobend äußern?

»Nicht wahr?« rief er aus, »das sind ganz andere Gestalten als die hohlen Makartschen Farbenschemen! Und ganz ohne Modelle gemacht! Ich bin eben kein Abmaler, sondern ein Maler. Mag jener Herr im Gußhause immerhin pikante Frauen aus der Wiener Gesellschaft in sein Atelier laden, um sie auf unsinnigen Kompositionen – wie jener Einzug Karls des Fünften – in ganz unmöglichen Körperverrenkungen anzubringen; ich trage meine Bilder in mir. Übrigens wird sein Ruhm sich bald verdunkelt haben, wie die Farben auf seinen ersten Bildern, die sich heute schon wie verkohlt ausnehmen. Das habe ich erst kürzlich gesehen, als ich einen einstigen Gönner besuchte, der mir untreu geworden war und sich sein Arbeitszimmer von Makart mit Plafond- und einem Seitengemälde hat versehen lassen. Scheußlich, sage ich Ihnen! Alles nachgedunkelt; kaum daß man noch gelb und rot darauf erkennt. Und die Figuren leblos, die Bäuche wie mit Stroh ausgestopft. Meine Bilder werden noch in hundert Jahren so aussehen wie jetzt, denn ich schwindle nicht mit künstlich zubereiteten Farben. Und dann werden auch meine Arbeiten mit Gold aufgewogen werden. Sehen Sie nur dort an der Staffelei meine letzte: eine Nausikaa!«

Ich wandte mich nach dem Bilde, das im ganzen erst untermalt war. Nur die Figur der phäakischen Königstochter trat [163] schon ziemlich ausgeführt hervor. Und nun war ich aufs höchste überrascht: eine so liebliche Schöpfung hatte ich dem Hellenen nicht zugetraut. Besonders schön war das Antlitz der jugendlichen Gestalt, die sich am Meeresstrand höchst anmutig von denen der sie umgebenden Mägde abhob.

Er stand mit leuchtenden Augen in Erwartung da.

»Das wird sehr schön«, sagte ich.

»Nicht wahr? Da durft' ich mich einmal an die Natur halten. Diese Nausikaa ist eigentlich ein Porträt. Nicht etwa, daß man mir dazu gestanden oder gesessen hätte, keineswegs. Aber ich habe das Original seit einem Jahre täglich vor Augen, und so brauchte ich eigentlich gar nicht darauf hinzusehen und konnte die Figur aus meinem Innern herausmalen.«

»Und wer ist denn das Original?« erlaubte ich mir zu fragen.

»Meine Schülerin. Die Tochter einer armen Frau, der Witwe eines Försters, die im Vorderhause eine kleine Wohnung inne hat. Die Mutter brachte mir eines Tages zeichnerische Versuche des noch halben Kindes. Ich fand Talent in den Umrissen und begann Unterricht zu geben. Ich hatte mich nicht getäuscht. Das junge Geschöpf machte erstaunliche Fortschritte – und jetzt kopiert es schon Bilder von mir. Ganz vortrefflich, wie Sie sehen.« Er wies nach dem Gemälde an der kleineren Staffelei. Es stellte irgend einen trojanischen Helden vor und war frischer und lebendiger gemalt als das Original, das dicht dabei an einen Stuhl gelehnt stand. Die Kopie war entschieden vorzuziehen.

»Wirklich sehr gut«, sagte ich.

»Ja, die beschreitet meine Bahnen! Und sobald ich wieder zu voller Geltung gelange, wird sie auch meine Erfolge teilen.«

In diesem Augenblick wurde flüchtig an die Tür geklopft, und herein trat ein ganz junges Mädchen in einem abgenützten hellgrauen Kleide, ein weißes gehäkeltes Tuch leicht um die zarten Schultern geschlagen. Bei meinem Anblick prallte sie hocherrötend zurück.

[164] »Nur herein, liebe Steffi,« rief der Hellene, »nur herein! Es ist ein alter Bekannter von mir. Er hat soeben Ihre Kopie bewundert.«

Sie näherte sich, noch immer sehr befangen, die großen hellen Augen unter dunklen Wimpern und Brauen halb zu Boden gesenkt. Wir wurden einander vorgestellt. »Fräulein Stephanie –« den Zunamen überhörte ich.

Sie machte einen reizend linkischen Knix. »Ich wollte malen kommen«, sagte sie mit leiser, aber doch klangvoller Stimme.

»Ja, Sie sind immer fleißig«, sagte der Hellene, indem er mit der Rechten sanft über ihr dichtes matt-blondes Haar strich, das rückwärts in zwei langen Zöpfen hinabhing. »Aber Ihr Fleiß wird sich auch lohnen.«

»Ich will nicht stören«, sagte ich und machte mich zum Gehen bereit. »Auch meine Zeit ist gemessen.«

»Nun, dann leben Sie wohl! Und kommen Sie bald wieder. Vielleicht finden Sie meine Nausikaa schon vollendet.«

»Ich dürfte wohl kaum mehr erscheinen können,« erwiderte ich, »denn ich verreise.«

»So. Wohin denn?«

»Es ist eigentlich keine Reise. Ich ziehe mich aufs Land zurück.«

»Ihr Dichter habt es gut«, sagte der Hellene nachdenklich. »Euch frommt die ländliche Einsamkeit. Ich habe Wien eigentlich auch satt, aber wir Maler brauchen nun einmal die Städte.« Er reichte mir die Hand; das Mädchen knixte wieder ganz lieblich.

Als ich auf den Rennweg hinaus trat, klingelte eben ein Tramwagen heran. Ich stieg ein, und während der Fahrt meinen Gedanken nachhängend, kam ich zur Überzeugung, daß der zwar nicht alte, aber doch alternde Meister die junge Schülerin liebe.

3.

[165] III.

Eine lange Zeit war verstrichen. In der Kunst und in der Literatur hatten sich inzwischen die verschiedenartigsten Wandlungen vollzogen. Manch glänzender Stern war verblichen oder erloschen. Auch der Makarts. Er selbst war nicht lange nach meinem Zusammentreffen mit dem Hellenen gestorben; der Wiener Festzug im Jahre 1879, dessen Gruppen und Kostüme er entworfen, war sein letzter Triumph gewesen. Und seltsam: so überwältigend der Einfluß seiner Kunst während seines Lebens sich erwiesen – er hörte auf, sobald ihm der Pinsel entsunken war. Denn schon war aus Frankreich die Freilichtmalerei herübergekommen; ihr folgte der Verismus, der Impressionismus und wie all die Richtungen hießen, die sich nun mit kaum mehr übersehbaren Gruppen von neuen Künstlern geltend machten. Und nebenher begannen Böcklins lang unbekannt gebliebene Schöpfungen aufzuleuchten. Die Erwartung des Hellenen aber, daß man auf seine Bilder zurückgreifen werde, hatte sich nicht erfüllt: er war und blieb verschollen – für mich wenigstens, der noch immer fern von Wien lebte.

Endlich war ich dorthin zurückgekehrt. Bei einem Gange auf die Wieden, den ich eines Nachmittags unternahm, kam mir in der Nähe des alten Schikanedersteges ein kleiner, gedrungener Mann entgegen, in dem ich beim ersten Anblick den Wasserspeier erkannte. Er sah noch ganz so aus wie früher, es war als trüge er noch denselben abgegriffenen Schlapphut, dieselbe spiegelnde Samtjacke; nur sein straffes Haar hatte sich bis zu völligem Weiß entfärbt. Er achtete nicht auf mich und wollte an mir vorüberhasten. Ich hielt ihn an. Er betrachtete mich forschend. »Was!« rief er endlich aus, »Sie leben auch noch?«

»Wie Sie sehen.«

»Und was machen Sie?«

»Nichts«, erwiderte ich gewohnheitsmäßig. »Und Sie?«

»Ich? Ich steinmetze«, versetzte er mit seinem alten giftigen [166] Zynismus. »Freilich nicht mehr an der Votivkirche, sondern wo man mich gerade brauchen kann. Als Künstler bin ich von Tilgner in den Grund gebohrt worden. Er hat getroffen, worauf ich zielte. So geht's, wenn man mit einer Sache zu früh kommt. Und so hat auch der Hellene mir gegenüber recht behalten. Sie erinnern sich doch noch seiner?«

»Gewiß.«

»Aber auch ich habe recht behalten. Denn er ist der höhere. Schildermaler geblieben bis an sein Ende.«

»Ist er gestorben?«

»Ja, vor zwei Jahren. Die Zeitungen haben ihm nicht einmal einen kurzen Nekrolog angedeihen lassen, so sehr war er in Vergessenheit geraten. Er hat einen recht üblen Ausgang genommen.«

»Wieso?«

»Nun sehen Sie. Er hatte immer auf den Niedergang Makarts gewartet, der sollte ihn emporbringen, meinte er. So sagte man mir wenigstens, denn ich verkehrte ja nicht mehr mit ihm. Nun war Makart wirklich tot, er aber wurde dadurch nicht lebendig. Einmal aber schien ihm doch ein Glücksstern leuchten zu wollen. Er hatte ausnahmsweise ein sehr hübsches Bild gemalt, eine Nausikaa oder so was, – ich selbst hab' es mir nicht angesehen. Es wurde im Künstlerhause ausgestellt und gleich von der Wand weg zu einem hohen Preise gekauft, so daß der Hellene schon im siebenten Himmel schwebte. Aber gerade dieses Bild wurde sein Unglück. Denn er hatte dazu seine Schülerin, die er heiraten wollte, als Modell benützt, für das man sich jetzt um so mehr zu interessieren begann, als der Meister die reizende Anfängerin in Künstlerkreisen zu poussieren trachtete. Und da hatte sie ihm auch im Handumdrehen eine junger Freilichtler weggeschnappt. Die schöne Helena war mit dem neuen Paris nach München durchgegangen, wo sie die Klassizität des Meisters aufgegeben und sich aufs Tierfach geworfen hat. Sie soll jetzt ganz vortrefflich Hunde und Katzen malen. [167] Der alte Menelaos aber raufte sich das Haar. Dazu kam noch, daß die Bilder, die er später pinselte, wie seine früheren waren, und so wurden sie wieder ohne Schonung zurückgewiesen. Was wollen Sie? Die Kunsttrödler mußten herhalten, und nach und nach stellten sich auch körperliche Gebrechen ein, die ihm das Arbeiten erschwerten. Schließlich versagten die Augen. Er kam in Gefahr, zu verhungern. Ein plötzlicher Herzschlag hat ihn vor diesem Schicksal bewahrt.«

»Das ist sehr traurig«, sagte ich.

»Ja, sehr traurig«, wiederholte der Wasserspeier. Aber es klang etwas wie Schadenfreude hindurch. »Übrigens«, fuhr er fort, »hat es ja eigentlich keiner von allen denen, die sich einst im ›Goldenen Sieb‹ versammelten, zu etwas Rechtem gebracht. Ein paar sind schon jung gestorben, wie der vielversprechende Schlachtenmaler, der schöne Maly. Und von den anderen hat sich höchstens der Schindler, der jetzt auch schon tot ist, mit seinen Landschaften durchgesetzt. Freilich hat's lang genug gedauert, und kaum eingetreten, waren seine Erfolge auch schon vorüber. Die Herren Sezessionisten sind über ihn hinweggeschritten. Bin neugierig, was nach denen kommen wird. Wir können noch vieles erleben. Denn heutzutage gibt es keine Übergänge mehr, sondern nur Übersprünge. Schließlich kommt man zur Erkenntnis, daß alles Modesache ist. Ich sage Ihnen: die ganze Kunst ist nicht einen Pfifferling wert!«

Damit schritt er, flüchtig an seinen Schlapphut greifend, von dannen.

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 5. Teil. Der Hellene. Der Hellene. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AE1D-A