[124] Beati possidentes

Glücklich seid ihr, ihr Reichen!
Nicht daß des Armen begnügsames Herz
Nach eu'rem Golde verlangt,
Oder daß er thöricht wähnt,
Erlassen sei euch des Leidens Zoll,
Der auferlegt allem Athmenden.
Nein! Er weiß vielmehr,
Daß der Schmerz auch in Palästen wohnt,
Verzweiflung in stolzen Karossen fährt,
Und eu'rer Frau'n Diamantenpracht
Meist nur an erstarrte Thränen mahnt,
Die im Verborg'nen sie weinen –:
Er weiß es und hat für euch
Weit eher den Seufzer des Mitleids,
Als das bittere Wort des Neides.
Eines aber habt ihr voraus –
Und danken sollt ihr dafür
In schöner Demuth den Göttern!
Frei bewahren könnt ihr euch
Von Allem, was den Menschen entweiht.
Denn niemals seid ihr hingestellt
Auf den schmalen Klippenrand der Noth,
[125]
Der lauterstes Wollen
Von unwürdigem Handeln trennt,
Und jene Sorge kennt ihr nicht,
Die mit heimtückischem Rattenzahn
An der Seele frißt,
Erhabenen Sinn an Gemeines kettet
Und ein großes Herz
Niederzwingt in den Sumpf der Duldung,
Bis es nach langem Kampf
An sich selbst verzweifelt,
Schuldig wird – und versinkt.
Euch selber treu bleiben könnt ihr,
Wenn ihr nur wollt
Und nichts verhindert euch,
Edel zu sein und gut.
Glücklich seid ihr, ihr Reichen!

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Gedichte. Gedichte. Zweites Buch. Freie Rhythmen. Beati possidentes. Beati possidentes. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-ADCC-8