Ludwig Rubiner
Fjodor Sollogub

[179] Aus Dostojewskis Dichtwerk stiegen zum erstenmal die runden Türme Rußlands auf, rot von altem Gold und Blut, und eine Luft heiß von Geschrei. Als der »Idiot« erschien, hätte Europa den Atem anhalten müssen: hier setzte die Zeit von neuem ein. Die Kultur Europas war im Werke Dostojewskis zerstört worden; denn sie war durchschaut, und die ererbte Hemmungslosigkeit selbstverständlicher Gesellschaftsformen war aufgelöst. Aber im Roman vom Idioten schlossen alle mitschwingenden Töne, die über dieser buntgefleckten Wut der Auflösung bisher geheim schwebten, zu einem neuen, hellen Lichtstrahl zusammen. Dies war die erste Erkenntnis von der ungeheuren Abenteuerlichkeit in den täglichen Erlebnissen des modernen Menschen. Die erste Schilderung von dem Schlachtlärm seiner Entrückungen auf den verborgenen Wegen seiner maßlosen Vereinsamung. Das Buch zeigte den Weg der neuen Jahrhunderte an. Die furchtbare und in letzten Fernen tobende Entrücktheit Dostojewskis warf wie ein harter, greller Scheinwerfer die geheimen Ahnungen der neuen Zeit als Tatsachen von roher, primitiver Nacktheit mit riesigen Dimensionen in den Raum. Dinge, an denen deutsche Romantiker nur zärtlich versteckt unter den Kostümen ihrer Fabeln zu tasten gewagt hatten. –

Seit dem Tode Dostojewskis war die russische Literatur eine sehr private Angelegenheit Rußlands. Man hat Europa ohne Grund und auch vergeblich für die höchst nationalen Eigentümlichkeiten russischer Dichter zu interessieren versucht. Aber es geschah peinlicherweise, daß Nichtrussen sofort jenen bekannten Ton analysierender Erzählung überall wiederfanden, der (seit seiner ersten ursprünglichen Schwingung in Dostojewskis Werken) heute den fatalen Eindruck macht, als schreibe die russische Literatur sich von selbst weiter.

Jener alte Dichter, der jetzt in Rußland durch die Popularisierung selbstverständlicher Gefühlswandlungen der Zeit [179] als Prophet lebt, wird für Europa zum Dichter nur durch eine grenzenlose Energie in der stärksten Konzentration negativer Eigentümlichkeiten. Tolstois Dichtung gibt nicht das, was er sieht, sondern drängt zusammen, was er nicht sehen will. Und man erinnert sich noch sehr einer trübseligen Beschämung, die in den letzten Jahren der Dichtung Rußlands schnell das jäh erwachte Interesse Europas nahm, als man erkannte, daß einige, in kleinsten Formen feurige Dichter zu Ruhm nur durch eine gewisse, erotisch gelaunte Mode gekommen seien.

Unter den kleinen Feuerwerken physiologischer Amüsements konnte kein Mensch im Westen sehen, daß drüben in Rußland in Wahrheit etwas sehr Wesentliches vorging. Plötzlich war – und nie begreiflich für den Westeuropäer – das uralte Byzanz aus der Erde gewachsen, und heilige Kuppeln stehen auf einmal inmitten einer neuen und rohen Zivilisation. Der traditionelle Humanismus Europas wird wie selbstverständlich abgedrängt – das ist das Testament Dostojewskis. Dort drüben steht heute der Anfang einer Kultur ohne italienische Renaissanceformen, eine Kirche ohne die Traditionen des europäischen Christentums, und das Rudiment einer Philosophie ohne Hellenismus.

Dieses neue Rußland hat heute schon einen Dichter.

Fjodor Sollogub schrieb in keinem seiner Werke nur einen einzigen Satz, in dem mit bewußter Abstraktion von diesen viel verschlungenen Relationen Rußlands die Rede wäre. Aber alle Dichtungen Sollogubs sind, wie die Werke eines großen Musikers, aus allen verborgen dahinlaufenden Kontrapunkten gewebt, die plötzlich in einer überraschenden Stimmung ihre innere Bedeutung und ihren Einklang offenbaren. In einem Gedicht:


»Ich erhebe die schlaflosen Blicke
Und hänge den Mond in den Himmel« – –

Solche Worte hat man aus Rußland noch nicht gehört.

Dieser Mann wagt alles Neue, aus einem mächtigen Gefühl jener wilden, neuen, doch schon so ornamental starrenden Kultur, die ihn zu ihrem Dichter machte. Er wagt ein Drama zu schreiben, in dem an verschiedenen Orten und unter verschiedenen Menschen sich jedesmal dieselbe Handlung abspielt. Noch ist sein Roman »Leichenzauber« nicht [180] übersetzt, in dem eine noch nie gewagte Darstellung von unerhörten Unwirklichkeiten nur durch die Schilderung zu einer offenbar längst gekannten und selbstverständlichen Wirklichkeit zu werden scheint.

Sollogubs Roman »Der kleine Dämon«, sein erstes größeres Werk, das deutsch erschien (übersetzt von Reinhold v. Walther. Verlag von Georg Müller, München), leitet erst langsam in diese neue Wirklichkeit der Ornamente des Denkens hinüber. Noch steht die Welt der alten Realität. Hier kämpft das Alte, das Erlernte, Geübte, die Tradition des Ichs noch gegen neue Instinkte. Aber das Schlachtfeld ist das Ich selbst. Ich, der Leser, fühle, wie um mich gefochten wird; aber die Kämpfer kommen aus meinem eigenen Ich, und wer auch siegt, es geht um mich – ich bin verloren!

Ich bin hier der Schulmeister Peredonow. In diesem Buche erkenne ich, der Leser, auf einmal mit großer Furcht, daß ich auch ein Schulmeister bin. Ich weiß alles besser, ich bin voll einer niederträchtigen Pedanterie, spreche in langen Sätzen Dinge aus, die meine Mitmenschen schon längst aus der Privatlektüre ihrer Fibeln kennen, und ich möchte den andern, der mir, Gott weiß, dasselbe sagt, nicht zu Wort kommen lassen. Ich ahne, daß er mich durchschaut, und ich bin mißtrauisch. Ich wittre natürlich Intrige oder Betrug, und darum muß er mich betrügen, wo ich blind bin vor Eitelkeit oder Hoffnung. Ich wende meine ganze Kraft aufs Mißtrauen, und darum habe ich viel Zeit dazu; so bleibt keine Minute mehr zur Besinnung, und man hat nur noch Zeit, die andern ganz mißzuverstehen, ihnen unrecht zu geben, aufzupassen. Am folgenden Tage liegt die Zeit wie ein grauer Schleier da, ich bin darum von Wut voll auf die andern, beobachte scharf die Halluzinationen meines verdorbenen Magens, fühle mich ausspioniert und suche rasch, noch ehe der Tag zu Ende geht, meine Eitelkeit zu stillen. Ich werde ein verzerrter Schöpfer, mein Mißtrauen schafft aus den Menschen geheimnisvoll lauernde Kampfwesen, die feindlich bewegt sind nach den Plänen meines eigenen Gehirns. Aus allen kleinen Dämonen meiner verdorbenen Nerven baue ich mir ein ganzes Leben der Welt. Aber dieses neue und eigene Leben rächt sich für seine Erschaffung, es beginnt wirklich zu sein. Es tritt heraus [181] aus dem Zustande der boshaft Visionären, und die Menschen werden umhüllt von den Trieben, die ich aus ihnen deutete. Jeder hat das, was meine kleine Nebenbei-Schurkenhaftig keit in ihm ahnte. Aber die Schachbrettpläne meines Gehirns werden durchkreuzt von der neuerwachten Aktivität der andern, die ich doch erst weckte. Ich! Wäre die schmerzhafte und betäubende Wut nicht geringer, wenn sie mich nach meinen eigenen Plänen betrögen? – Jetzt, hier reckt sich das fremde Leben, das ich erst schuf, blitzschnell gegen mich. Es geht genauso, wie ich es wußte, doch anders. Ich werde schamlos betrogen – hatte mein Mißtrauen nicht alles Recht? –, aber der Betrug ist schamloser, weil er in unerwarteten Kreisen geht. Ich fürchte natürlich Intrigen, ich suchte vorzubeugen, doch nun kommen die Intrigen, wo ich sie nie voraussah. Meine Schöpfung, das Leben, das meine verstörte Phantasie in die Wirklichkeit hinauswarf und zur Wirklichkeit macht, biegt ab von meinen Plänen. Diese Wirklichkeit lenkt heraus aus den abgefahrenen Schienen meiner Vorstellung. Das Unerwartete der fremden Lebensaktivität ist mein Feind. Diese ungeahnte Ausbiegung der neuen Wirklichkeit bedeutet Angriff. So stehen die notwendig und ruhig ablaufenden Vorgänge der Realität, die von mir erst ihren Weg getrieben wurden, gegen die krampfhaften Ausschleuderungen meines Denkens. Dies ist der Kampf, in dem mein Denken gegen das Vordringen der Wirklichkeit immer mühsamer und absonderlicher werden muß. In diesem Schädel surrt das Treffen spitzklirrender Waffen, das Summen wird ein großes, reines Getöse, und die Welt wird grauer und schwimmend, mein Blick ist gedunsen. Verruchtheit ist eine Gestalt, und auch Schurkerei ist eine Person; mein Denken ist eine wieselkleine, fix hin und her schießende blasse Pflanze. Es läuft unter die Türen, hinter die Tapeten. Durchdringe ich die Dinge, fühle ich sie, bin ich in ihnen? Es ist keine Zeit mehr, der Kampf raste zu Ende. Hier siegte die Wirklichkeit, der Körper ist zerstört, und die kleinen Dämonen eines Nebenlebens, unbeachteter Nebengedanken schufen den großen Dämon eines neuen toten Lebens, den Wahnsinn. –

Der Schulmeister Peredonow, der in Wahnsinn an sich selbst endet, das ist Ich, der Leser. So groß ist die Dichtkraft [182] Sollogubs, daß man, in diesem Falle scheinbar klinischer Besonderheiten, nur sich findet. Man erkennt, ohne es zu ahnen, entsetzt die Allgemeingültigkeit dieses Lebens der kleinen Dämonen. Man sieht zum ersten Male, wie aus Trieben, die versteckt und mißgeachtet ein geheimes Schnörkelwesen lebten, sich allmählich eine besondere und mächtig wirkende Figur des Lebens formt.

Das ist eine ganz russische Form des Fühlens. Rußland erscheint uns wie eine Erinnerung an unglaubwürdige, phantasmagorische Träume. Man blickt auf eine Bühne der Verwandlungen, erlebt, ehe man noch daran glauben kann, ein Land, in dem die nervösen Schmerzzuckungen der Wirklichkeit in einen schattenhaften Urwald trübflatternder Nebel verhuschen; wo die Abenteuer der Phantasie zu einer erstaunlich selbstverständlichen Realität werden. Hier hat alles ein zweites, verborgenes Leben. Mitten im Rußland der Wirklichkeit herrscht – wer glaubt es? – das scheinbar unwirkliche Reich der Dichter. Die Dichter sind in diesem abenteuerlichen Lande, in dem die Duma als ein spukhaftes Theorem erscheint, Volksführer von fast utopischer Macht. Sie sprechen, und Sekten bilden sich nach ihrem Wort, verborgene Leidenschaften schießen zu Weltanschauungen herauf, vergessene Neigungen werden organisiert. Das geht so telegraphisch schnell über riesenweite Flächen hin, als ob in diesem Lande alle Leute lesen könnten und das Unterrichten von hundertdreißig Millionen Menschen nicht Privatsache wäre! –

Nur Dostojewski hatte diese Gefühlsform Rußlands erfaßt, diese Zwieform des Nebeneinanders von den Leben der Realität und der Phantasie. Bei ihm tauchte die russische Gefühlsform hinab unter die wilden und mächtigen Folterwerkzeuge der Analyse, so daß auf dem Urgrunde aller Auflösung jede Besonderheit eines rein nationalen Lebens schwand und nur das Allgemeingültige des Psychischen blieb.

Aber niemand ist der Tradition Dostojewskis gefolgt. Seit dem Tode Turgenjews haben die russischen Dichter nie mehr jene sonderbare Melodie internationaler Effekte vergessen können, die der Einigung von französischer Form und russischem Stimmungsinstinkt kadenzierte. Das bedeutendste Organ der modernen russischen Literatur, die [183] Monatsschrift »Wjessy«, könnte auch von einem Kreise russophiler Pariser geschrieben sein.

Nun steht Sollogub in der Tradition Dostojewskis. Aber er ist, wie jeder große Erbe in den Künsten, ganz unabhängig vom Vorbilde. Dostojewski ist gar nicht das Vorbild, sondern Sollogub hat plötzlich diese vergessene Form des russischen Fühlens wiedergefunden und erkannt. Es ist alles ganz anders bei Sollogub. Brachte furchtbarer Enthusiasmus in der Entdeckung von unsichtbaren Scheiterhaufen des Psychischen Dostojewski zu den »Dämonen«, so wird bei Sollogub die Abpendelung des Gehirns zum »kleinen Dämon«. Bei Sollogub steht alles in einer sehr kleinen Welt, kommt von kleinen Motiven und geht zu Folgen, die an sich für die Welt wenig bedeuten.

Aber hier tauchte – wie immer ein ewiger Dualismus – die ungeheure Dichtkraft Sollogubs hervor, und diese Dinge, die so wenig für die Welt bedeuten, werden zu bedeutsamen Ereignissen der erschreckten Hirnlichkeit, die Erlebnisse des Körpers werden zu Phantomen der Phantasie, das Russische wird zum Abenteuer des Menschlichen. Dieses Buch legt man am Schlusse der Lektüre als gleichgültige Spukhaftigkeit weg, aber nach Wochen steigt unerwartet der dröhnend schwingende Widerklang eines großen Dichtwerkes auf.

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TextGrid Repository (2012). Rubiner, Ludwig. Schriften. Fjodor Sollogub. Fjodor Sollogub. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9F02-3