Ludwig Rubiner
Die Änderung der Welt

[78]

Das Geistige

Ein Geburtstagskind bekam eine Torte. »Was für eine Torte hast du da?« fragten seine Freunde. Das Geburtstagskind machte sich so klein, bis sein Auge genau auf dem Niveau der Torte war. »Ich sehe«, sagte es, »ein Ding mit Bergen und Tälern, und gerade so hoch wie ich selber.« »Aber was ist drin?« fragten die Freunde. »Ich will Konditor werden, dann werden wir alle das wissen!« antwortete es. Diese Mitteilungen erregten bei den Freunden durch ihre sachliche Unbeteiligtheit Staunen und Bewunderung. Sie machten sich alle so klein wie das Geburtstagskind, und einige entschlossen sich still zum Konditorberuf. Da kam aus dem Nebenzimmer ein neuer Spielkamerad. Ziemlich taktlos stürzte er sich gleich auf die Torte, schnitt sie schnell an und ass. »Ah, Marzipantorten schmecken doch wunderbar," sagte er; allzuviel hatte er von dem Geschenk nicht übriggelassen. »Was hast du gemacht!« schrien alle entrüstet, »wir wollten doch wissen, was in der Torte drin ist!« »Verzeiht, meine Freunde," versetzte der Täter, »ich glaubte, man erkennt es durch Essen.«

Aller Jammer der Welt rührt daher, dass die Menschen gewohnt sind, sich als blosse Naturwesen anzusehen. Das Naturgeschöpf ist dem Naturgeschehen unterworfen; alles sei im grossen Strom, die Menschen – Naturprodukte strömten mit. Der Naturbetrachter sieht die Welt vom vorhandenen Material aus an, und er bezieht die Fakten auf den Menschen nur als auf ein Anwendungsobjekt. Der Mensch steht für ihn auf derselben Stufe wie sein Material. Diese Naturphilosophie der Gernekleins meint, alles stehe auf demselben Niveau; alles sei gleichgut. Die Absicht dieses Infantilismus ist: Indifferenz. Sollte nicht, am Ende, die relativistische Naturansicht aus [78] dunklem, eingesipptem, noch nicht abgestossenem Bequemlichkeitsgefühl kommen? Aus der Trägheitsvorstellung, man lebe auf dieser Erde als auf einer flachen Scheibe? Eine Vorstellung, die jeder Schüler berichtigen kann. Aber eine Berichtigung, die noch nicht ins Handeln übergegangen ist. Die Naturansicht des Menschenlebens – die Gleichsetzung mit allem, was ist; die schiefe Güte, die alles in Ruhe lassen, nichts ändern will; die falsche Gerechtigkeit, die jedem Ding seine Sondergerechtigkeit zubilligt; der Relativismus; die Standpunktlosigkeit: dieses alles ist eine schlechte, träge, ungewusste, unradikale Geographie.

Der Aufenthalt auf der Erdkugel ist unendlich unbeschränkt; wir fallen nirgends über den Rand. Der Standpunkt steht uns frei. Wir haben also zu wählen. Wählen wir das Allernächstliegende: überhaupt einen Standpunkt. – Aber die Tatsache, dass wir überhaupt einen Standpunkt haben, ist unendlich folgenreich. Die Natur, die wir jetzt ausser ihr ansehen, ist das Notwendige. Das nur Notwendige. Aber die Wahl unseres Standpunktes, die Tatsache eines absoluten, unbedingten Ausganges für unser Zurechtfinden im Leben; die neue Perspektive, das Geistige, dies ist nichts Notwendiges mehr. Das Geistige ist ein Plus. Ein Überfluss, ein unerhörter Luxus der Welt. Es ist wie die Koda in einer Beethovenschen Sonate: alles Notwendige des Musiksatzes ist da, alle Durchführungen sind gemacht, alle Themen sind erklärt, gewendet, und ein Schulmeister würde Schluss machen. Da taucht, einige Takte vor dem Ende, überraschend eine neue Musik auf, neu irgendwoher aus einem Unerschöpflichen geholt, und nun untrennbar vom Werk, doch das Werk steigernd. Ein Plus, ein Unnotwendiges, Unmechanisches, Unselbstverständliches; ein Willenswesen, Aktionswesen, ein unglaublicher Überfluss des Schöpferischen.

[79] Das Geistige ist die Koda der Welt. Einen Standpunkt haben, heisst: Es kommt darauf an, zu wissen, dass man ausserhalb steht. Einzig, unter dem Notwendigkeitsgebundenen dieser Erde, steht der Mensch ausserhalb, überraschend ein Überfluss. Die geistige Betrachtung geht vom einzig dastehenden Menschen aus. Dem mechanischen Geschehen fehlt der archimedische Punkt Ausserhalb, um die Welt aus den Angeln zu heben. Der Mensch hat ihn. Er hebe. Das Wesen des Menschen ist: an der Welt heben. Seine erste Tätigkeit geht auf Änderung der Welt. Sein Hebel, das reinste geistige Werkzeug, ist: der Wert. Der Mensch wertet– er ändert. Einer kam einmal funkelnagelneu geboren in die menschliche Gesellschaft und fragte bescheiden: »Was ist wertvoller, die Venus von Milo oder ein Pfund Fleisch?« Die Gesellschaft bestand aus reinen Naturbetrachtern, Objektfanatikern, schlechten Geographen; Standpunktlosen, und antwortete: Man könne nicht inkommensurable Grössen vergleichen. Aber geistig – menschenwürdig, standpunkthaft hebelartig– ist gerade die Wertung des Inkommensurablen. Man stelle die Frage direkter, beziehungsvoller, lebenrührender: Was ist wichtiger, eine Kathedrale oder ein Menschenleben? Da stehen wir auf einmal ganz scharf ausserhalb unendlich, bloss gegebenen Materials der Natur. Jeder Mensch weiss die Antwort auf die Kathedral-Frage seines Lebens. Es ist wichtiger. Mit dieser Antwort wird die Welt von neuem geändert.

Wie tief in Wahrheit die Anständigkeit, die Kameradschaft, die Menschlichkeit im Menschen sitzt! die Entscheidung zum Werten, der Entschluss zur Rettung der Welt: Wir beantworten wirklich jene Gewissensfrage, und wir alle bejahen in ihr das Menschenleben. Auch in der unausrottbaren Hoffnung, es werde wirklich durch unsere Entschei [80] dung ein Menschenleben erhalten. Und wir geben diese Hoffnung selbst dann nicht auf, wenn wir ahnen, dass der Frager betrügerisch fragt, dass er unsere geistig ehrliche Antwort nur missbrauchen will, und dass er die Menschenleben genau so missachtet wie die Kathedralen.

Aber der Geistige darf nicht vorsichtig sein. Denn schweigen, unter dem Vorwande, das Reden könne missbraucht werden, heisst sich verleugnen, auch für den Moment, da die Stimme des Menschen aus den Leibern seiner Freunde und Kameraden hörbar wird erschallen.

Entscheidet Euch

Die Beurteilung von Werten verschiedener Art ist den Menschen darum peinlich, weil sie alles auf einmal besitzen möchten (die Venus und den Braten). Werte sind zur Wertung da. Wenn Ihr geistige Wesen seid, so seid Ihr Partei. Ihr habt nicht Euch geniesserisch, relativistisch, besitzgierig um die Wertung zu drücken.

Entscheidet Euch!


*


Sieht man aber ein? der Wert kümmert sich nicht um den Besitz. Der Geist hat nichts mit Besitz zu schaffen. Nur der blosse Naturbetrachter findet überall Objekt, Aufzulesendes, Materie, Dinge, die man haben und festhalten kann, Besitz. Besitztum ist das ewige Missverständnis des Naturmenschen; Anhäufung, Addition des nur Notwendigen, in der todbringenden Vorstellung, durch Anhäufen werde man einen Turm errichten, einen höheren Gesichtspunkt gewinnen, der dumpf geahnten Herrlichkeit des Ausserhalb, des Standpunktes, des Wertes, näherkommen. Gradweise, entwicklungsmässig, von selbst. Aber Besitz umschliesst nur immer höher mit den objektiven Mole kül-Mauern der Natur.

[81] Die Mythologie des Besitzes hat Nuancen. In der »Offenbarung Johannis« empfängt Johannes eine Buchrolle, die er essen muss; dadurch wird er in den Stand gesetzt, neue Weissagungen zu empfangen und zu geben. Eine grosse Naivität der Besitzesideologie; das sich Einverleiben. Aber es gibt auch die Umkehrung dessen, ein invertiertes Einverleiben: die Einfühlung.

Oder die animistische Umkleidung des Besitzes: Macht. Machtglaube ist ein Attribut von atavistischem Zauberglauben. Der Magiegläubige meint, die Erreichung von Macht ändere sein ganzes Wesen. Aber Besitz ändert nichts. Aberglaube von Toren ist die Vorstellung, amerikanische Milliardäre seien in ihrer ganzen Lebensfähigkeit anders als andere Menschen. »Die Kaiserin«, sagt der Schmied in einem Märchen von Gogol, »sass auf goldenem Thron und ass goldene Knödel.«

Die Schätzung des Interessanten oder des Originellen ist eine Form von Besitzglauben (dagegen rein geistig, über alles herrlich und wertvoll ist das Originäre, das Ursprüngliche, das aus erster Hand Kommende). Nicht originell, nicht interessant ist das Schöpferische. Die Erfindung, das von Grund aus Neue, die Schöpfung steht ausserhalb des Besitzes. Das Schöpferische ändert die WeIt und zersprengt immer gleich wieder sich selbst. Es ist da, um unablässig wieder ganz von vorn anzufangen. Eine schreckliche, hoffnungraubende Idee für alle Machtgläubigen. Aber Hoffnung ist selbst nur ein Trick, ein Marschsignal (gegenüber der Gewissheit).

Eine Verwechslung: die Menschen setzen gern Schöpfung und blosse Sichtbarkeit gleich. Aber die Entdeckung, die blosse Aufdeckung des noch nie Gesehenen ändert die Welt nicht. Hochschätzung des Visionären, des Geschauten, des Augensinns, der Entdeckung: ist Besitzaberglaube.

Ihm gegenüber steht die Zeugung, das Geschaffene, die Erfindung.

[82] Für den Geistigen hat Besitz gar keinen Sinn. Er wertet. Er ändert unablässig. Wie sollte er auf die Idee kommen, etwas festhalten zu wollen? Sein Hebeldruck zur Änderung der Welt ist nicht Besitz, sondern die höchste Immaterialität, das stärkste nur Innensein: die Intensität. Alle Änderung der Welt ist Projektion des Geistes auf die Welt. Wir, Geistesmenschen, stehen vor der Urforderung dieses Lebens: Verwirklichung. Der Weg, den wir der Intensität aus uns heraus geben, ist der Weg der Verwirklichung. Unser erster Gedanke bei unserer Geburt ist: verwirklichen wir. –

Verwirklichen Wir!


Schöpfung beginnt.


Feuerbachs Einwand, Gott sei vom Menschen selbst gemacht, ist einer der dümmsten Einwände. Denn im Gegenteil. Ist es so, dann gäb es kein strahlenderes Stück von Projektivität des Geistes, von Produktivität des Menschen. Aus uns einen Schöpfer schaffen – Gipfel der Verwirklichung.

Geistige Herkunft

Wir sind allgegenwärtig geboren. Im Moment unserer Geburt kommen wir zu allen Menschenleben der Erde in Beziehung. Noch in diesem Moment hätten wir die ungeheuer vielfache Möglichkeit gehabt, an irgend jedem andern Punkt der Erdkugel geboren zu sein. Also eine Möglichkeit, alles zu sehen, alles zu wissen.

Was wir erreichen müssen, ist immer wieder die Besinnung auf unsere ungeübte Fähigkeit, die durch unser notwendiges Erdenleben erstickte Fähigkeit: allgegenwärtig, allsehend, allwissend zu sein. Nicht die Fähigkeit gilt es zu erlangen – das ist vorbei und unmöglich. Aber die Besinnung wiederzugewinnen, [83] dass diese Fähigkeit hätte dasein können. Die Besinnung, das heisst: die Neuschaffung eines Ersten Tages unseres Erdenlebens. Unser Tag der Geburt, wieder gezeugt zu einer Zeit, wo wir schon längst in die schmachtenden, isolierenden Beschränkungen eines Privatlebens gezwungen sind. Aber gerade das enge Bett unserer Gewohnheitsbeschränkung, in das nun die Welt unseres Neu-Adam-Seins strömt, verhilft uns zu dem herrlichsten und tiefsten Stigma des Geistes: Wir sind nicht mehr allgegenwärtig, allwissend, allsehend; doch am Tage unserer Besinnung werden wir allwollend.

Damit hat jeder von uns die Verantwortung für jeden Menschen der ganzen Mit-Erde auf sich genommen. Jeder von uns die Verantwortung für jeden andern!

Und hier wird eine alte Schiefheit zurechtgerückt, das Missverständnis von der Gleichheit aller Menschen. (Auch die treuesten Anhänger werden verlegen.)

»Gleichheit aller Menschen«, das würde ja nichts Wesentliches vom Menschen mitteilen. Die Annahme einer Gleichheit würde sofort hinter die Geburt der Menschen einen ewigen Ruhepunkt setzen. Da wäre also nicht die Aussage einer Wissenschaft (Wissenschaft wird heute nur noch von der Blüte der Schwachköpfe abgelehnt), sondern höchstens eine Klassifikation aus einer primitiven »Histoire naturelle«. Dieses Moment des ewigen, befriedigenden Stillstandes nach der Geburt – die Folge seiner Gleichheit aller Wesen –, der wäre eben in ungeheuerlicher Weise eine Angelegenheit der reinen, faktischen Natur. Und nicht im mindesten eine Angelegenheit des Geistes.

Siehe da, die Bemerkung hier ist nicht etwa eine geistreiche Spekulation, sondern eine Beobachtung: Denn bei allem Lebenden auf dieser Erde – mit Ausnahme des Menschen – besteht jene natürliche Gleichheit der Wesen, und darnach ihre [84] ewige, befriedigte Ruhe und Stille. Die werden geboren, fressen, schlafen, begatten, sterben. Fertig. Wie natürlich! Aber der Mensch, einzig, ist verknotet bis zu Schmerzen der Wut, auch bis zum masslos zustimmenden Glücksgaloppieren des Bluts mit jedem einzelnen, fremden, gleichzeitigen irgendwo dortigen Menschenwesen. Wir alle, Menschen, tragen gegenseitig unsere Verantwortung. Wie geistig! Nicht Gleichheit aller, sondern Verantwortlichkeit aller! Aber ganz anderes als die blosse Feststellung von rohen Naturtatsachen, nur vermischt durch den Gebrauch desselben Worts, ist die Forderung »Gleichheit!« Diese grosse Völkerparole ist in Wahrheit der Ruf nach Menschenähnlichkeit.

Der erste Tag

Alles, was gewesen ist, ist falsch. Jeder Grad bis zu diesem jetzigen, ersten allerersten Moment des Seins ist Anhäufung, Sandsack, Verhau; Hindernis ausserhalb jedes Wertes, Aufenthalt. Trägheitswiderstand gegen die Besinnung auf unsere Existenz aus unserer geistigen, geistigen Herkunft. Wir kommen aus dem Geist und sind in einemmal da. Jeder Tag, den ihr bis heute gelebt habt, war zum tausendsten Male Tod, nutzloser Tod. Nutzlos wie jeder Tod.

Wär das Gewesene nicht Irrtum, Wertlosigkeit, Kasemattentum, so wär es nicht vergangen.

Zerstört das Gewesene!

O wie namenlos noch nicht dagewesen ist alles, was ist. Wie unglaublich oft noch nicht dagewesen ist diese Welt. O Glück, da die Menschen tausendmal ihren ersten Tag haben.

Weiss man auch, dass die Erde barst! Inseln schwollen aus dem Meer, feurige Schwerter schweiften: an dem Tage, da Euklid fand, dass das reine Denken des Menschen und die Wirklichkeit – unerhört – sich decken können; bewiesenermassen! [85] O erster Tag der geometrischen – Prädestinationslehre. Erster Tag des Euklidismus. Erster Tag des ersten Beweises. Erster Tag des Belauerns, wie eine Denkfolge zur Wirklichkeit schleicht. Wie phantastisch vorzustellen die Erschütterungen der Erde vor Adam Euklides. Erster Tag. Schöpfung.

Dagegen: die blosse Deskriptionsrolle Kants, der versteht und beschreibt, dass jene angebliche Wirklichkeit im Denken enthalten ist. Der Unterschied etwa wie zwischen dem Apostel Paulus und Exzellenz Piefkes »Wesen des Christentums«.

Bitte nicht rückwärts missverstehen! Die Euklidwelt ist tot. Da heut die ganze euklidische Geometrie von jedem Schüler schnell gelernt werden kann, steht Piefke unserer Zustimmung näher als die Apostel.

Ihr Herzen, wahre aufrichtige Herzen, meine Herzen, zu allererst müsst ihr flache Rationalisten sein, flache Rationalisten! Sonst existiert ihr nicht lebend, zeugungsfähig, gegenwärtig. Sonst steckt ihr an modrig Gewestem, seid Rezipienten, Reproduzenten, Kostümstücke, mysteriöse Historiker. Nur gewöhnlich, unoriginell, ohne Tiefe und Geheimnis begreifend, dass ihr günstigerweise gerade jetzt den Moment zum Leben erwischt habt, nur so flach rationalistisch – so brutal zeitgemäss allein – könnt ihr schöpferisch sein. Ganz Anfang. Ganz ersttägig. Ganz Adam.

Seid Adam!

Erlebnis

Erfahrung? Begriff der Erfahrung: trauriges Kapitalistentum der Ahnungslosen – zu glauben, durch langes Leben könne man Gewissheit kaufen.

Man soll auch dies nicht verschweigen: die Ideen unserer Zeit vom Erlebnis sind Besitzaberglaube.

[86] Besitzglaube ist Furchtsymptom. Erwartung des Verlierenkönnens. Stärkste Neigung zur Einmaligkeit. (Einmaligkeit=Originalität). Es kommt aber nicht an auf Einmaligkeit, es kommt an auf Erstmaligkeit.

Seid zum erstenmal!

Ein sehr grosses Erlebnis

Im Jahre l882 flog durch vulkanische Eruption die Südseeinsel Krakatao in die Luft. Viele hunderttausend Menschen wurden von der Flutwelle getötet. Eine Riesenwolke feinen Staubes blieb in der Luft, umkreiste mehrmals die Erde und brachte die tiefen farbigen Dämmerungserscheinungen hervor, die von jener Zeit bis Mitte der neunziger Jahre in der ganzen Welt sichtbar waren. –

Es ist mir immer klar gewesen, dass die Farbenwolken des Krakatao in innigster Beziehung stehen zu den neuen Malerfarben, den bunten Worten, den Neobildern, den Nuancen dieser Jahre.

Das ist ein Erlebnis, ein tellurisches. Objektiv, real, nicht abzustreiten. Ist das nun gross genug? Und alles, damit einige Malerateliers mehr gebaut werden? Ja? Alles, damit unser Sicherheitsgefühl in Europa steigt, einige Bilder mehr an den Wänden hängen, einige Bücher mehr erscheinen, Loie Füller unter Beifall Farben-Variété macht, die Fabriken bunte Blusenstoffe in die Welt setzen, Geniesser vom »Farbenfleck« reden?

Darum? Diese flach teleologischen Fragen sind notwendig, solange wir noch an das Erlebnis glauben.

Und als die Malerfarben wieder blasser wurden, die Gedichte schilderungsfreier, da: ein europäischer Krieg, um das Erlebnis zu erneuern? Kameraden, ewiger Weltboykott diesen Teleologen! (Meyerbeer mietete sich ein Hausorchester, weil [87] er sich Klangkombinationen nicht denken konnte, sondern sie praktisch erleben musste. Wer aber hat sich den Weltkrieg gemietet? Wir, zum Teufel, wir leben nicht für Schilderungen der Komponisten, Maler, Lyriker oder Romanciers!)

Nieder das Erlebnis

1. (Kostspieliges Erlebnis)
[88] I
(Kostspieliges Erlebnis)

»Wie finden Sie die Gedichte von Agnes de Blumenau?«

»Höchst begabt!«

»Wissen Sie, das Mädchen ist so entsetzlich arm, dass sie Prostituierte wurde mit dem jämmerlichsten Strassendienst.«

»Aber ist denn nicht der Schriftsteller Robespierre mit ihr sehr befreundet?«

»Ja, aber er hilft ihr nicht.«

»Warum nicht?«

»Er hat einmal gehört, auch zur Prostitution müsse man talentiert sein. Nun meint er, zum Talent müsse man auch prostituiert sein.«

2. (Noch kostspieliger)
II
(Noch kostspieliger)
Es gab Dummköpfe, die die Frechheit hatten, den Krieg als Erlebnis zu empfehlen.

Kunst

Es ist bezeichnend für die verräterisch böswillige Dummheit unserer Zeitgenossen, dass sie, anstatt die einfachen wirklichen Absichten einer Mitteilung zu beurteilen, zu werten und mit oder gegen zu wirken: Dass sie statt dessen die Mitteilung viel lieber »verstehen« wollen. Standpunktlosigkeit, billige Konvertitenart, Schöne-Psychologie-Treiben um jeden Preis. Ein Beispiel. Liberale Schriftsteller vermitteln uns, aus lauter Verständnis, den Dichter Kleist. Aber Kleist ist die letzte Rettung des Adels aus seiner Agonie; der Nachtschweiss zusammenkrachender Junkerschlösser zeugt ihn. Der Literat rettet den Adel. Wäre nun etwa Kleist in seinem geschauten, [89] und also doch gewünschten junkerlichen Feudalstaat heute Staatsmann, so wären jene liberalen Schriftsteller längst mit einem gelben Stern auf dem Rücken ins Ghetto gesteckt. (Freilich – für rankende Dichter, gottselige Bestrahler von beglaubigten Weltkonjunkturen, für die gäb es kleine Gnadenstellen.)

Die übliche Ausrede gutwilliger Psychologen ist, man müsse solche »Tendenzen« unberücksichtigt lassen. Es handle sich allein um das Dichtertum eines Dichters. Tiefes Missverständnis! Dichter sein kann ja kein Ziel sein, sondern nur allererste Voraussetzung. Dichter sein bedeutet nur das Notwendigste: dass der Mann imstande ist, seine Ziele glaubhaft genau darzulegen. Sonst würde man sie ja gar nicht erkennen. Wenn jemand spricht, so kommt's darauf an, was überhaupt er zu sagen hat.

Nicht blindlings haben wir den Tanz des Derwisches zu billigen!

Ein Schamane tanzte vor seinem Stamm mit schäumendem Mund.

»Seht, wie bedeutend er schäumt!« sagte der Psychologe.

Philosophie der Diebe

Jede Kunstbetrachtung aus der Kunst heraus nimmt als ganz selbstverständlich Besitz von bereits Vorhandenem, Festgelegtem. Künstlertheorien sind Methoden, eine Erbschaft anzutreten. Der Diebstahl als Genussmittel.

Verwirklichung in der Kunst ist ja nie wahre Schöpfung, sondern nur das In-Übereinstimmung-Bringen des Ausdrucks mit der Absicht. Und das gilt jenen Kindsköpfen schon als das Höchste im Leben Erreichbare. Dabei anzumerken die rein zeitliche Einseitigkeit, die Kunst auf »Ausdruck« festzulegen. Ausdruck ist ja nur die invertierte Einfühlung. Der »Ausdruck« der Kunst (Expression) ist nichts Geistiges, sondern [90] immer noch an die Besitzvorstellungen gekettet. Eine Besitzentleerung. Zum Besitz für andere. Diese Kunst kommt nicht los vom Umkreis des Besitzes. Sie steht nicht ausserhalb. Sie wertet nicht. Sie ist ungeistig. Sie bestätigt immer nur die Welt. Sie ändert sie nicht.

Die Flucht in die Kunst

In prophetischer Ahnung hat sich alles, was vor dem Tode stand, in die Kunst geflüchtet (wie Künstler vor dem Tode gern in den Katholizismus). Denn die Kunst – dies wird hier ganz besonders deutlich – ist nichts Abgesondertes, sondern eine politische Reaktionsform. Wie tief ging die Ahnung der Franzosen, – sie schufen sich vor dem Kriege verzweifelt in Bildern ganz unvergängliche Paradiese. Ehe ihre Landschaften durchwüstet wurden. Der merkwürdigste Fall ist Spanien, zur völligen politischen Untätigkeit verurteilt. Spaniens Prophet ist der Antikünstler, der Kubist Picasso. Seine Bilder sagen, dass Macht nichts ist, und dass man ohne Macht, ohne Mittel, ohne Realität – allein aus dem Geiste – ungeheure Reiche verwirklichen kann. Die Werke Picassos sind messianische Weissagungen, denen das Volk fehlt. Gesetzgebung, der die Vollstrecker fehlen. Tröstungen über ewig Versunkenes.


*


Bemerkung. Vor dem Krieg schon, unbeeinflusst durch Naturgewalten, ging es, bewusst für den Geist, gegen die Kunst. Seitdem hat, mit entliehenen schnell verstümmelten Begriffen, phlegmatisch alberne Spiesserfrechheit die Gelegenheit zu emsiger Verwechslung benutzt, und gegen irgend unbeliebte Kunstwerke mobilisiert. »Seid Politiker!« heisst aber: Wendet eure Intensität auf Verwirklichung, sonst passiert euch was! (Ist nun auch.) Seid gerade gegen die höchste, beste Kunst. Gegen den erhabenen Vorgang, der euch absorbiert. Der euch [91] zur seligen Urzelle macht: Der euch – fürchterlichster aller grauenvollsten Wertlosigkeitstode – der euch isoliert!


*


Die feudale Behäbigkeit von Jahrhunderten ist schuld, wenn jeder Dümmling einen Malersmann, also einen Tenor, einen Reizling, genial: geistig! nennen darf. Ganz grosse Künstler, Antikünstler schon, sind Politiker mit umgekehrtem Vorzeichen. Warum sind sie nicht lieber Politiker mit direkter Aktion?

Ihre Tätigkeit ist geistige Tätigkeit. Aber das ist an sich zu wenig. Der Weg von der vorstossenden, menschenzüchtenden Tendenz des Politikers bis zu den Ahnungen der Prophetie (dem Bild des Künstlers, dem Gegenbild der Politik) – dieser Weg verschluckt ganz die Intensität. Die Intensität, die allein die Stromleitung unter allen Menschen herstellt. Die Wirksamkeit der Aufforderung. Die Sprengfähigkeit der Handlung.

Geistigkeit allein macht auch nicht glücklich.

Ohne die Verwirklichung seid ihr Schemen.

Wir brauchen keine Messiasse. Seid Politiker.

Seid Handelnde!

Das Was ist

Die unglücklichsten Menschen sind heute die, die in der Welt einen spannenden Roman sehen. Sie haben nie genug zu lesen; sie wollen schliesslich aus Verzweiflung ihren eigenen Roman lesen. Das heisst, sie wollen die Welt mitmachen, statt sie zu machen.

Man müsste gerade diese Menschen immer wieder aufklären, einfach über ihre groben Irrtümer aufklären. Denn wenn gerade sie öffentlich werden, dann sind sie allem Wertvollen gefährlich. Sie sind ja stets unsicher, ob sie sich zum [92] revoltierenden Dichter entschliessen sollen oder zum freiwilligen agent provocateur (aus lauter Verständnis für den fremden Typ). Von hier drohen Schmuckstücke des Aufruhrs, Rebellions-Krawattennadeln oder Gedichte, dekorative Revolutionen; Reifenspiel ästhetischer Streiks. (Bunter Krawall statt politischer Ziele. Oder: Spectator schreibt ein Aufruhrdrama.) Eine verbrecherische Künstleransicht vom Leben: Menschen sollen verhungern, Menschen sollen niedergeschossen werden, um – unbeteiligt – noch im Sterben lebende Bilder zu stellen!

Man sieht, wie sehr es auf das blosse »Was« ankommt. Mildere Töne: Skepsis ist fruchtbar. Aber Verzicht auf das »Was« ist zur Vornehmheit verdammt. Man kann sich eine Gewissheit nicht dadurch verschaffen, dass man eine fremde annimmt. Menschen, die für frühchristliche Mosaiken, Exotenplastik oder gregorianische Kirchenmusik himmeln, unterscheiden sich nicht von Humpen-Sammlern. Wenn einmal irgendeine Ferne ursprünglich war – der Amateur der Ferne ist es nie. Der Nur-Methoden-Mann; der Bloss-Bedeutungs–. Rechereur; der feierliche Form-Erläuterer: dieses albernste, weil tatenloseste aller Geschöpfe, Primitivus Symbolicke ist ein Schwindler!

Die Geschichte einer Wirkung: Calvin sagt, das Abendmahl bedeutet nur den Leib Christi; er war vornehm, symbolisch, von der Skepsis des bilderreichen Künstlers. Die Härte, Klarheit, Ethik seiner Reformation viel stärker als die Luthers. Gegen Luther Calvins Erfolg gering. Der Riesenerfolg des Protestantismus bei dem dicken, groben Luther (wenngleich schauerlichem Kompromiss- und Demutsmacher), der mit schweissiger Mönchsfaust das Pult schreiend schlägt: »das Abendmahl ist der Leib, ist, ist; nichts von Bedeutung; es ist wirklich der Leib!« Der sich den groben Inhalt wahrt. Die [93] Wirkung ist beim Inhalt. Man nennt das: an etwas glauben. Es kommt aber auf das Was an.

Symbolische Handlungen

Symbolische Handlungen sind nichts wert. Eine Handlung, die Versprechungen macht, ist keine. Sollen wir etwa den Riesenreif des Ungetanen, das Vakuum des Nichtausgeführten aus unseren Einzelwünschen ergänzen? Theorie des Fresko. Der Schwindel der Geste. Es bleibt das Vakuum. Das Nichtgetane, die blosse schöne Geste des Tuns, enthält nicht etwa irgendeine geheime, in ihm ruhende Energie zu Taten! Keine Immanenz. Allein in der vollen, beschränkten, getanen Handlung ruht die Energie-Immanenz zu Neuem.

Die symbolische Handlung, die Geste, bleibt die Intensität des Tuns schuldig. In der Geste liegt nicht die Intensität des Sprengenden, sondern die Zufriedenheit des Schauenden. Der Schauende schliesst ab und ist zufrieden. Das weltberühmte Wort jenes Franzosen, der im Café von einem Bombensplitter getroffen wurde, »q'importe, si le geste est beau«, dieser Leitsatz der Symbol-Politik ist infantile Verschleuderung des Wichtigsten an Kunstausstellungsgefühle. Der Atavist meint zu besitzen, was zu schauen ist; was von Allen zu schauen ist, meint er, sei Aller Besitz. Er glaubt, der Besitz Aller sei Aller Glück. Und denkt, der Ruhepunkt des Glücks ändere die Welt. Denn nicht anders als wir alle will auch er ändern. Aber wie niggerhaft fetischistisch, wie ahnungslos, wie atelierfreundlich ist die symbolische Ansicht: nur das Schaubare, nur das Bild, nur das fürs Aug' fertig Gerahmte sei Realisierung. Das Sinnenhafte, das Bildliche, das Vergleichsmässige, das »Wie« einer Handlung, das Augenmessbare, – dies ist alles nur fürs Publikum da. Wäre das ungeheure Mass an Mut des Einzelnen, das zur Schau in Publikumsarbeit verschwendet war, in Intensität [94] umgesetzt worden, so wär etwas geschehen. Aber wenn die ganze Welt etwas sieht, so ruht sie um die Handlung selbst. Sie ruht, nur ruhend, beruhigt über ihre Unruhe, auf einer gigantischen Tragödien-Kuriosität.

Der Franzose, der eine Bombe ins Pariser Café warf, hat dadurch nicht alle Kapitalistencafés zum Schliessen veranlasst. Die Ermordung eines Erzherzogs beseitigte nicht die Kriegsgefahr zwischen Österreich und Serbien. D'Annunzio, der Triest im Aero überflog, eroberte die Stadt nicht für Italien. (Deswegen bleibt d'Annunzio doch der mächtigste – und ausgenutzteste–Anreger der heutigen Literatur. Und man denke: wenn dieses Mundstück seine Oden nicht für sondern gegen den Krieg gekehrt hätte – wie unsterblich stände Europa da!) Symbolische Handlungen schaffen nie etwas in der Absicht der Handlungen. Nur Staunen über das blutige Augenspiel. Es bleibt beim Schaustück.

Tolstoi, ohne Armfuchteln, so unsymbolisch, dass er aus Nachgiebigkeit noch kurz vorm Tode seinem Weiberhause entlief, Tolstoi hat mehr getan.

Bedeutung

Im Augenblick, wo eine Handlung noch etwas bedeutet, etwas anderes als sie selbst, hat sie ihre Triebkraft verloren. Sie kommt schon aus der Skepsis an ihrem Werte. Sie wird schon begonnen – nicht weil die Intensität keinen andern Auspuff mehr findet – sondern weil Alle mal gelegentlich aus Beschäftigungslosigkeit in Handlung machen. Die Geschichte der Handlung hört auf, es beginnt die Geschichte der Bedeutung. Die Bedeutung soll durchaus ihre Existenz rechtfertigen; sie soll sich von allen anderen Bedeutungen unterscheiden, sie wird überaus vornehm. Hier erscheint die Originalität: die gemimte Rolle, als sei etwas geschaffen aus [95] Intensität. Der Ausdruck tritt auf, man besorgt durchaus unterscheidende Merkmale. Und nun soll jeder ausnahmslos Beifall klatschen können. Etwas ganz Grossartiges und Massives wird um das bisschen Geste herumgeknetet. Jeder, ja jeder soll sich Wichtiges denken können, was ihm gefällt. Der Zodiakus wird bemüht, die Frühlingspunkte sausen vorbei, die Sonne wird vom grünen Mond verschlungen, Planeten (keiner hat eine Gewissheit, man ahnt was dumpf) werden auf alles bezogen, die Milchstrasse wird ausgebreitet. Irgendwo kömmt ein Messias. Höchster Typ der Bedeutung: ein Mythos wurde kalfatert. Wo nichts mehr lebend übrigbleibt, wo alle schimmligen Bedeutungshäute vom durchfressenen Gerippe der Tatenlosigkeit abfaulen, stets da kommt man uns mit dem dreckigen Schwindel vom Mythos. O Babylon, Babylon.

Dreitausend Jahre sollen vergangen sein wie nichts. Wir sollen immer noch ahnen, raten, Geheimnisse verwalten. Nein. Wir geruhen nicht mehr unsere Ahnenseele zu bemühen. Wir waren nicht, wir werden nicht sein. Wir sind. Wir sind. Wir sind. Oder, zum Donnerwetter, wir existieren überhaupt nicht.

Eine Handlung ist sie selbst. Wir lassen sie uns nicht religionsverstiftern. Wir brauchen sie nicht zu verstehen. Es gibt nichts zu verstehen.

Wir wissen, dass die Handlung aus uns kam, und wir wissen immer, wohin sie geht. Wir wissen, wozu sie da ist.

Ein »Wie« hat die Handlung nicht, und keine Art, in der sie sich von einer anderen Gruppe Handlung unterschiede; die Handlung hat keine Erklärung. Die Handlung, dieses Selbstverständliche, ist in ihrem armen Wege (aus Uns zum Ziel der Realisierung) ganz und gar in sich. Sie ist nichts mehr, als sie tut.

Nicht die Handlung ist zu verstehen. Nicht wir, die handeln, [96] sind zu verstehen. Sondern der Standpunkt, von dem aus wir handeln, das Geistige, – dies ist zu verstehen, zu erklären, bringen anderen Menschen mit allen Mitteln.

Der Zentralpunkt unseres Lebens wird hell. Es beginnt das Reich des Absoluten. Und dieser ungeheuerste Dynamitblock der Welt wird sichtbar: der Wert. Dann sind wir für den Geist Eiferer, Überzeuger, Belehrer, Beredner, Umtreiber, Umwender; verzweifelt, hochmütig, klotzig, schmeichelnd, ergeben, beweisend, erschütternd: Wir Änderer. Für den Geist allein sind wir das Ordinärste und Erhabenste, das man ausdenken kann; das Kümmerlichste, Lächerlichste, und die fürchterlichste Triebkraft an dieser Welt: Wir sind Partei.

Lassen wir das ewige Verständnis. Die Gallerte Bedeutung zerfliesst zitternd. Kümmern wir uns um unseren Standpunkt. Seien wir Partei!

Änderung der Welt

Je geringer in Europa die Freiheit wurde, um so mehr geriet sie in Misskredit. Wir wollen uns doch nicht selbst täuschen: Wichtiger ist die Freiheit selbst als ihre Definition. Jeder Mensch weiss in Wahrheit, was für ihn Freiheit ist. Weiss er es nur unklar? Das schadet nichts. Selbst in dieser Unklarheit kann er diesmal handeln. Innerhalb der vergangenen hundert Jahre ist aus dem grossen Programm nur die Liberté uns geblieben. Bleiben wir zumindest bei ihr. Seien wir mutig genug, hier Spezialisten zu sein, Schuster, Klotzköpfe: arbeiten wir an der Freiheit. Es ist genug zu tun!

Zum Beispiel: die Erfolglosigkeit der internationalen Sozialdemokratie im Internationalismus kommt von der Beruhigungslehre, die sich auf Marx stützen wollte: die menschliche Gesellschaft gleite durch gradweises »Hineinwachsen« in den neuen Sozialismus. (Und nie zu vergessen: Alle Prophetie, [97] alle Beschreibung im Marxismus ist schon lange vor dem Krieg falsch gewesen. Doch alle Forderung in ihm eine unermessliche ethische Leistung!)

Ein furchtbares Symptom ist die Vernachlässigung der untersten, elendesten Gesellschaftsschicht. Der Unorganisierbaren. Der ganz Unbedingten, die nichts zu verlieren haben, der stets ausserhalb Stehenden, zu jeder Änderung Bereiten, und die die unheimlichste, feinste Witterung für den Änderungsmoment haben. Das ist der Mob.

Man hat den Mob – das wundersüchtigste Gebilde der heutigen Gesellschaft – der Heilsarmee überlassen (weil man selbst nichts Unbedingtes, keine Wunder, hier in der Gegenwart: keine Änderung! zu vergeben hatte). Das ist irreparabel. Wilhelm Weitling hatte noch ein schärferes Auge für diese Wirklichkeit als seine staatsfrohen Nachfolger, er hatte die Erstmaligkeit des Sehens. Kautsky, dessen Genauigkeit die unheilbare Vernachlässigung merkt, hat eine Hilfstheorie zum Zwecke der nun gebilligten Vernachlässigung des Mobs aufgestellt. Danach sei der Mob ein wenig wechselndes und unfassbares Gebilde. Aber es ist zu erinnern, dass das organisierte Proletariat dem Kapitalisten vergangener Jahre genau so mystisch unfassbar war, wie heute der Mob dem Organisierten.

Die Besitzenden haben Tradition. Der Mob hat nur eine: zu sein. Ob er sich »verändert« hat– und bezeichnenderweise sagt dieser fast geniale Popularisator hier nicht »entwickelt« –, kann auch Kautsky nicht wissen. Aber was wir alle wissen können: die Reaktionsart des Mobs, seine Wirkungsfähigkeit hat ihre putschistischen Formen seit dem Altertum nicht verändert. Schliesslich hat der Mob der Juden aus anarchischen Revolten das Christentum gemacht, für wilde, atavistische Gefühlsklänge von volksmässig versunkenem babylonischen [98] und iranischen Geister-und Prädestinationsglauben; gegen die aufgeklärten Sadducäer. Und die gesellschaftlich und kulturell elendeste Bevölkerungsschicht des endenden Mittelalters hat die Reformation gemacht, gegen die aufgeklärten Humanisten. Also der Mob ist da und regt sich. So unfassbar scheint er doch nicht zu sein, die Ruinen der Häuser, die er gebrannt und geplündert hat, sind ziemlich fassbar. Und, sonderbar, wenn die Regierungen ihn brauchen, bekommen sie ihn so sicher zu fassen,dass sie für manche gewünschten Wirkungen nur auf den Signalknopf drücken müssen. Partei. Partei! Für die Freiheit! Es ist genug zu tun.

Methoden?

Zum Zwecke der Auspressung von Menschenkraft hat Taylor in Amerika ein System ausgearbeitet. In Hunderten amerikanischer Riesenfabriken wird seit langem jeder Arbeiter gemessen, im Detail seiner Arbeit genau beobachtet, kinematographiert, in den Resultaten seiner Arbeit sukzessive kontrolliert. Jeder Einzelne von Hunderttausenden.

Beweis: dass man auch in grossen Volksmassen wirklich zu jedem Individuum gelangen kann. Der Erfolg des Taylorsystems kommt von seiner Wahrung eines Standpunktes. Es ist der Standpunkt des reinen Nurkapitalismus, unter dessen Druck jene konkrete, doch noch hinreichend allgemeine Arbeitsindividualformel ausgegeben wurde.

Aber zu erstreben ist: Der Ersatz jener Besitz-Macht-Kapitalisten-Abenteuer-Endabsicht durch eine rein geistige Endabsicht. Rein geistig, das sagt, von mächtiger Triebkraft (keine evolutionistischen Surrogate). Etwa auch nur ein winziges Wunschtum Freiheit; ihre Konkretisierung: Unabhängigkeit. Und eine individualisierende Aufklärungsarbeit in den Massen, geschult an der rapiden Riesenformel des Taylorsystems.

[99] Welche Resultate!

Zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts steht die bewegende Politik unter dem Druck der Nationalidee. In der zweiten Hälfte unter der Rassenidee. Am Ende bis in diesen Krieg dominiert die Staatsidee und verschlingt die beiden andern oder speit sie nach Bedürfnis aus.

Ist es nicht höchste Zeit, sich über die völlige Gewesenheit dieser drei Ideen klar zu sein! Mit ihnen kann man sich die Erde immer noch nur so platt wie eine gemalte Landkarte denken. Sie schliessen keine Spur der Vorstellung in sich, dass wir auf einer Kugel leben, und dass wir alle gegenwärtig sind; dass unsere Handlungen nicht bloss physikalisch natürliche Linie, Druck und Gegendruck sind, sondern in einem Moment gleichzeitig überall auf der Erdkugel – die ... von ... Menschen ... bewohnt ist ... – wirken.

Merkwürdig, die realen Hilfsmittel der »grossen« Politik stammen aus unserer Zeit, aber ihre Absichten aus dem Mittelalter. Das Mittelalter führt die Kriege.

Höchste Zeit, dass die Erdgenossen sich auf ihr Erdentum besinnen.

Tellus = die Erde. Tellurismus = die Erdkugelpolitik. Aber wir können nicht länger warten.

Was sind Sie? – – Ich bin Tellurist!


Es geht ja nicht um Gefühle.

Es geht nicht um Sterne, nicht um die Vergangenheit, nicht um Unsterblichkeit. Nicht um Ruhm. Nicht um Unendliches; es geht nicht einmal um die Zukunft. Lassen wir doch das Pomposo. Es geht nur um unsere kleine Erde. Es geht um die gegenwärtigste Gegenwart.

Wir haben ja noch alles versäumt. Wir sind zu vornehm. Wir sind Ökonomiker, Ausbeuter, Ausgebeutete, Entwicklungsgläubiger, [100] Zukunfts-Symboliker. Wir sind ja immer noch Erben.

Wir sind noch nicht Politiker. Muss nicht dies unsere erste, einzige Absicht werden? direkt sein. Handelnd, ändernd. Hebel sein. Politisch sein!

Wir rechtfertigen uns zu wenig vor unserer geistigen Herkunft. Wir lassen uns noch alles, alles vom Fatum bieten. Wir sind tot – – oder noch zu beruhigt mitten in allem; noch nicht genug Ausserhalb. Sind wir Gegebenheitsgewebe um uns? Wir sind noch nicht ausgestossen genug. Handlungen geschehen wider erste, tiefste, entschiedenste Tatsachen unseres Erdendaseins. Wir sind noch zu eifrig gefällig, zu sehr Psychologen, zu verständnisinnig. Wir vergassen ganz unser eigenes Wissen von uns selbst. Unseren Standpunkt. Unsere Freiheit zu urteilen. Selbst zu handeln, zu hebeln, zu ändern.

Kameraden, stehen wir nicht im grossen Bund des Geistes?

Sind wir nicht Geschütz und Sprengstoff zugleich? Sind wir nicht freie Flammen, zuckend und heiss genug, Totes zu zerstäuben, Hartes zu schmelzen, diese Welt flüssig zu machen. Sind wir nicht Geistige, um alle feurigen Flüsse in den Bund des Geistes zu giessen!

Mit unserer Geburt bekamen wir die Gabe, die Welt zu ändern. Ändern wir. Ja, bessern wir, ganz simpel. Irgendwo höhnt ein quietistischer Idiot: »Weltverbesserer!« O Freunde! Freunde, die ihr wirklich da seid. Die ihr noch nicht zu sprechen wagt. Freunde! hier ist unser Ehrenklang, unsere Fahne, der Salut unserer Brüder. Hoc signo.

Seien wir Weltverbesserer, alle. Wir haben es nötig. Vielleicht wird dann kein Geniesser mehr unsere Toten mit ihrem »Erlebnis« überrumpeln. Nieder das Erlebnis! Wir haben genug. [101] Seien wir Politiker, trocken, hart, listig, gütig, erschütternd. Verantwortlich für alle Menschen unserer Erde.

Und ein Physiker wird uns sagen, dass Flammen nicht nur brennen, sondern auch singen können.

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TextGrid Repository (2012). Rubiner, Ludwig. Schriften. Die Änderung der Welt. Die Änderung der Welt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9ED8-9