Franziska Gräfin zu Reventlow
Warum?
[275] In einer Mainacht erschoß sich der Sekundaner Hans Sörensen.
Er war noch ein Kind, wenigstens hielten ihn alle dafür, die sein lachendes, offenes Knabengesicht kannten. Und er lachte oft und viel, aber dann konnten seine Augen plötzlich mit einem so seltsam leeren, toten Blick vor sich hinstarren, als ob sie etwas suchten, das sie doch nicht finden konnten, oder als ob das Lachen ihnen weh täte. Niemand hatte ihm eine solche Handlung oder einen so jähen Entschluß zugetraut, niemand erraten, daß er einen schweren Kummer, eine innere Zerstörung in sich trug. Am letzten Nachmittag hatte er eine Verabredung mit einem Freunde, aber er kam nicht hin. Er saß in seinem Zimmer und ordnete seinen kleinen Besitz und seine Briefschaften. Dann machte er seine Schularbeiten für den nächsten Tag und ging aus. Seinem Stubengenossen, der ihn begleiten wollte, sagte er, daß er einen Bekannten besuchen wolle. Als er sich von ihm befreit hatte, ging er zu einem Waffenhändler und suchte sich zwei Pistolen aus. Er wolle sie zur Auswahl, sagte er, und er würde Bescheid schicken, ob er sie behielte.
Am Abend scherzte und sprach er wie gewöhnlich, und als sie nach Tisch um die Lampe herumsaßen, las er einen Roman zu Ende, den er am vorigen Abend angefangen hatte. Als die Uhr zehn schlug, gingen die Knaben zu [275] Bett. Als sie die Treppe hinaufstiegen, tönte sein helles Lachen noch einmal durch das abendstille Haus, und niemand wußte, daß er zum letztenmal hinaufgestiegen sei und daß man nur sein zerstörtes Leben wieder herabtragen würde.
Als sie sich niedergelegt hatten, las Hans wie jeden Abend in dem Andachtsbuch von seiner Mutter, dann löschte er das Licht aus und lauschte den Atemzügen seines Kameraden und stand ganz leise wieder auf, als er sich überzeugt hatte, daß jener schlief. Leise stand er auf und setzte sich an den Schreibtisch vor dem offenen Fenster, durch das die stille Nacht hereindrang. Fröstelnd saß er da und sah dem Tod ins Angesicht. Da – vor ihm stand das Bild seiner Mutter, und er schrieb an seine Eltern. Er dankte ihnen für alle ihre große Liebe, verzeihen sollten sie ihm, daß er so von ihnen gehe – er könne nicht mehr leben – und vergessen sollten sie ihn und wieder froh sein, wenn er fort war, fort und begraben. Daß sie nie wieder froh sein konnten, daß das dunkle Geheimnis seines zerrissenen Lebens auch ihres vernichtete, das hatte er nicht begriffen.
Die Pistolen nahm er mit ins Bett. Die erste versagte den Schuß – man hat es nachher sehen können – aber die Kugel der zweiten tötete ihn, über dem rechten Auge war sie in den Kopf gedrungen. Niemand im Hause wachte von dem Schuß auf, sie schliefen alle. Der andere Knabe atmete ruhig weiter, und die Kerze brannte flackernd herunter, bis sie gegen Morgen erlosch und die helle warme Sonne ins Zimmer drang.
Am nächsten Morgen fanden sie ihn so, der eine Arm hing am Bett herunter, die andere Hand hielt noch die Pistole. Der blonde Kopf war zurückgefallen, und das blasse tote Gesicht hatte seinen alten lachenden Kinderausdruck. Über dem rechten Auge klaffte die Wunde, [276] aus der das Blut und das Leben wie ein roter wilder Strom über die weißen Tücher hinabgeflossen war. Vor dem Bett lag das aufgeschlagene Gebetbuch und stand die herabgebrannte Kerze. Auf dem Schreibtisch lag der Brief an seine Eltern vor dem Bild der Mutter – sein Abschied aus dem Leben.
Die Zurückgebliebenen konnten das qualvolle Rätsel nicht lösen, und sie mußten es durch ihr ganzes Leben tragen.
Und er war gestorben und hatte es mit hinabgenommen.
– Warum?