[161] Neunzehntes Kapitel.
Sie saßen ja wohl nunmehr in verhältnismäßiger Sicherheit. Wie lange aber der Jüngste unter ihnen, der wahrlich nicht hierum in vergangener Nacht von Holzminden herübergelaufen war, es in solcher Sicherheit aushält, das werden wir wohl auch erfahren. Zuerst gefiel es ihm in diesem dunkeln Loch nur allzu gut, wenn auch aus einem Grunde, den Magister Buchius wenig oder gar nicht billigen konnte.
Er, Junker Thedel von Münchhausen, hatte es wahrlich auch soweit im Virgilius gebracht auf der großen Schule zu Amelungsborn, daß er grinsend in dem saubern unterirdischen Kachot das Wort des in solchen Sachen ganz erfahrenen Vaters Zeus, nein, seiner tugendsamen Gattin, der auf Sitte, Zucht und Anstand sehr haltenden Frau Juno, zitieren konnte:
»Weil die geschäftigen Rotten die Tal' umstellen mit Fanggarn,
Schütt' ich hinab und errege mit hallendem Donner den Himmel –
Dann zur selbigen Kluft gehn Dido und der Gebieter
Trojas ein.« ....
»Jeses, man kriegt so schon keine Luft vor Angst und in der Pechrabenschwärze, – dichter braucht Er mir nicht auf den Leib zu rücken, Thedel. So lasse Er doch das Drängeln, Herr von Münchhausen!« klang es plötzlich aus einem Winkel der Spelunca, weinerlich, verdrießlich, abwehrend.
»Münchhausen!« erscholl es von der anderen Seite her, vermahnend, abmahnend; »aber lieber Münchhausen, wenn Er [162] da drüben keinen Platz findet, so krieche Er hier herüber zu mir her und belästige Er nicht Mademoiselle unnötigerweise. Hier ist des Raumes zur Genüge für Ihn und mich.«
»Mademoiselle Selinde, o mein Licht im Dunkel«, flüsterte es drüben, während Magister Buchius vergeblich auf Antwort und Folgsamkeit wartete. »Mein Wiesenstern, mein Rosenstrauch, mein Schönheitsspiegel, je tiefer der Abgrund, desto höher meine Seligkeit; je finsterer die Hölle, desto heller meine Sonne; je kälter der Keller, desto heißer meine Amour! ...«
»Er ist ein ganz dummer Kerl, Herr von Münchhausen, und wenn mir nicht alle Glieder vor Nässe, Frost und Ängsten beberten, so sollte Er schon – jetzt aber lasse Er ab – ist das ein Ort und eine Stunde für dumme Flattusen und Dummejungens-Kindereien? So höre Er doch auf Seinen alten verrückten Schulmeister, Thedel!« flüsterte es zurück.
»Lieber Münchhausen, es ist Heldenart, in großen Drangsalen sich von den Schrecknissen und Molesten der Gegenwärtigkeit frei zu machen und zu tun, als ob sie nicht wären. Wir haben die Exempla berühmter Kriegsleute und weiser Männer dafür. Plutarchos gibt uns Beispiele von den erstern. Was die zweite Art angehet, so haben wir vor allen Platons zwei Bücher, den Phädon und den Kriton – Er höret mich doch, Münchhausen?«
»Wie die, welche am Ohrenklingen leiden, das ganze Gehör voll Pauken, Flöten und Trompeten haben, Herr Magister«, brummte der Exscholar von Amelungsborn, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, daß er jetzt wirklich das Buch Kriton am Schluß ziemlich wörtlich zitiere. »Der Herr Magister brauchen nur zu befehlen, wovon wir hier im Erdenbauch diskurrieren sollen, während uns der Kuckuck und sein Küster über den Köpfen aufspielen, tanzen und den Tanzboden eintreten –«
»Herr Magister«, seufzte aus seiner Ecke in der Erdhöhle Knecht Heinrich. »Herr Magister, ich meine, ich bin halbwegs [163] wieder bei Beinen. Den Kellerhals kenn ich ja leider Gottes gegen des Herrn Magisters Vorwissen, und auf die Gefahr käm's mir nicht an, den Kopf vorzustecken und zuzusehen, wie's draußen steht.«
»Du bleibst hier, du bleibst bei mir, du bleibst, wo du bist, und rührst dich nicht von der Stelle«, kreischte Wieschen. »Wer einzig und allein hier zu sagen und zu befehlen hat, und den Kopf vorzustecken und draußen zu spionieren hat, das ist einzig und allein unser einzigster Trost und Helfer in dieser Angst und diesem Elend, der Herr Magister, der Herr Magister Buchius!«
Magister Buchius, unterbrochen in seinem ersten Anlauf, sich und seiner ungebärdigen Genossenschaft die Zeit im Dunkeln bis zur möglichen Erlösung heroenhaft und wissenschaftlich zu vertreiben, sprach:
»Herzenstochter, du hättest wohl recht: es sollte ganz eigentlich am hiesigen Orte kein anderer als wie ich als erster neuer Possessor nach unserer Vorfahren, der Cherusker Auszug, die Verfügung über Tor und Tür, Eingang und Ausgang haben. So werde ich denn wirklich auch der erste von uns allhier sein, der fürsichtig nach dem Wetter draußen siehet, wenn es mir Zeit dünkt, guter Freund Heinrich. Von Ihm aber, Münchhausen, wünsche, verhoffe und glaube ich, daß Er mich auch in dieser Finsternis oder Dämmerung darauf hin ansehen werde, wie ich unseren vornehmen Altvordern, den erlauchten Herren des Landes, des Grunds und Bodens, einen solchen gemeinen, beschwerlichen, unbequemen Aufenthalt in Höhlen und Schluften des Waldes und Gebirges anweisen dürfe –«
»Thedel, ich sage es Ihm zum allerletzten Male!« zischelte es in der unbequemen, beschwerlichen, cheruskischen Höhlen- und Schluftdunkelheit.
»Ich sehe den Herrn Magister ganz genau darauf an – sitze Sie nur stille, o Mademoiselle – Mamsell Selinde!«
»Sieht Er, das freut mich! Und so weise ich Ihn denn gern [164] auf den Dio Cassius hin, in welchem Er bei gemächlichern Umständen nachschlagen mag: Chariomerus autem rex Cheruscorum a Chattis imperio suo ejectus.«
»Uh Jeses, Heinrich, hörst du das und gruselt's dir da nicht noch mehr?«
»Es sollte eigentlich griechisch sein, Wieschen, ist aber bloß lateinisch. Und auf deutsch ist's auch nicht so schlimm, als es sich anhört«, lachte Thedel von Mamsells zärtlicher Seite her. »Da bedeutet's nur, daß der Härzer König Hariomer von den blinden Hessen auch seinerzeit aus Haus, Hof, Bett und Stall herausgeschmissen wurde und allhier, wie wir heute, in Wald und Schluft sich verkriechen und vielleicht grade in dieser selbigen Spelunka unterkriechen mußte.«
»Ach du liebster Gott, auch der vornehme Herre?« seufzte Wieschen mitleidig.
»Sie sagen, König Fritze hätte manchmal viel darum gegeben, wenn er nur solchen sichern Ort zum Unterkriechen gehabt hätte«, meinte Heinrich Schelze.
»Dieses ist so, Schelze«, sprach der Magister Buchius melancholisch. »Das Geschick ducket die Könige und die Bettler gleicherweise nieder, wenn es ihm beliebet. Von Ihm aber, Herr von Münchhausen, freuet es mich, daß Er nicht dem Herrn Pastor Dünnhaupt bei Seiner Derivation des Namens unserer hochberühmtesten cheruskischen Altvordern folget. Es scheinet mir doch zum mindesten ein wenig zu weit hergeholet, wenn der Herr Pastor behauptet, daß diese Nation von ihrer Arbeitsamkeit und unverdrossenem Fleiße Gar ut sin benannt worden wäre, welches dann die Lateiner Cherusci ausgesprochen hätten.«
»Gar ut is et friilich balle mit ösch«, murmelte Mamsell Selinde, aber:
»Vivat der Herr Pastor, der Herr Pastor Dünnhaupt!« klang es seltsamerweise aus demselben Winkel der vorsündflutlich-cheruskisch-kattischen Felsenhöhle. »Dies hätte ich schon [165] wissen sollen, wann uns auf unsern Bänken in Amelungsborn die Herren vom Katheder aus cheruskische Bärenhäuter benamseten. Faule Stricke, grobe träge Flegel, landeingeborene Schweinpelze, und – per eminentiam – cheruskische Bärenhäuter uns betitulierten! ... Hört Sie es nun wohl, Mademoiselle? Seit Uranfang sind wir belobt wegen Arbeitsamkeit und von wegen unverdrossenem Fleiße! Und es ist alles stinkende Verleumdung gewesen, was man uns an übelm Geruch und Ruf aufgeladen hat seit tausend Jahren.«
»Wenn Er mir jetzo eins von den warmen Bärenfellen, auf denen sich Seine Herren Vorfahren gerekelt haben, schaffen könnte, so wollte ich mich zum erstenmal heute bei Ihm bedanken, Thedel. Wie es aber ist, bleibe Er mir auf tausend Schritte vom Leibe, Er ist nässer und kälter als wir alle mit Seinen Zutunlichkeiten.«
»Herr Pastor Dünnhaupt will Behausungen unserer Vorfahren, wie wir sie heute, jetzt durch Gottes Güte, Hülfe und gnädigen Beistand einnehmen dürfen, noch an dem Elm bei dem Gute Langeleben angetroffen haben«, sprach Magister Buchius. »Ich für mein Teil glaube außer diesen auch noch drüben am Vogler bei Hohlenberg auf solche gestoßen zu sein, an der großen und an der kleinen Hohle, gegen den Butzberg zu. Was die Hohle Burg bei Stadtoldendorf anbetrifft –«
»Herre«, unterbrach hier, wahrscheinlich hastig sich aus den Armen seines Wieschens aufrichtend, der Knecht Heinrich Schelze. »Herre, Herr Magister, die Unterkommen und Höhlungen da im Stein stammen nicht von den alten, lange verstorbenen Bärenhäutern! Man soll eigentlich lieber nicht davon sprechen. Sie haben's nicht gerne; aber die darin gewohnt haben, die wohnen heute noch darin. Ich habe selber einen von ihnen am hellen heißen Mittage sitzen sehen – am hellen lichten Mittage, um Johanni, so um die Siebenschläfer und Peter und Paul herum, mitten im Sommer, mitten am Mittage.«
[166] »Jeses, Heinrich!« rief Wieschen; – »Ich bin nicht dabei gewesen, Mademoiselle Selinde«, lachte Thedel von Münchhausen, der Magister Buchius aber fragte ernsthaftiglich:
»Was – wen hat Er sitzen sehen, Schelze?«
»Einen von ihnen – den Kleinen, Herre! Auf der hohlen Burg unter der Homburg! Er saß bei seinem Loch und ließ die Beine baumeln. Wie ein dreijährig Kind mit einem alten, alten Kopf und langem rotgriesen Bart und einer Kappe halb über die Augen. Und es war wohl mein Glück, daß er um die Zeit auch halb im Schlaf war und saß und mit dem Kopfe nickte. Ich hatte meine Barte bei mir, aber Gott der Herr hat mich davor bewahrt, daß ich sie nach dem Spuk warf. Als ich wieder hinsah, ist er weg gewesen.«
»Nun guck einer den dummen Kerl«, rief der Junker von Münchhausen. »Mademoiselle Selinde, wäre ich dabei gewesen, als Kavalier und irrender Ritter, ich hätte meiner Allerschönsten, meiner Allerliebsten und königlichen Prinzeß den Zwerg von der hohlen Burg an Händen und Füßen gebunden, über den Rücken gehängt, mitgebracht nach dem Kloster und zu ihren Füßen geleget. Er ist doch nur ein Rindvieh, Schelze, so gute Freunde wir auch sonsten sind, Heinrich.«
»Das sagt Er wohl, Herr von Münchhausen«, sagte Heinrich Schelze; doch Magister Buchius sprach, in seiner finstern Ecke wissenschaftlich melancholisch den Kopf schüttelnd: »Es ist wohl nur eine Phantasie, eine Phantasmagoria, eine Einbildung und Täuschung der Sinne gewesen, lieber Heinrich; aber, lieber Thedel, die Welt ist doch voll der Mirakel und Mysterien, und der Mensch, wie er in der Schwebe hänget zwischen Himmel und Erde, ja, zwischen Himmel und Hölle, so hänget er auch zwischen dem, was er begreifet, und dem, was er nicht begreifet um sich her und in sich selber. Der Mensch sitzt in der finstern, schaudervollen Nacht in Heiterkeit und bei hellem Verstande und bedienet sich seiner Vernunft fröhlich bei seinem Studio [167] oder in Überlegung seiner zeitlichen Umstände. Und derselbige Mensch traut am hellen Mittage bei leuchtender Sonne unter Gottes blauem Himmel nicht seinen fünf Sinnen! Ja, er stehet vor den beiden großen Grundsätzen aller unserer Erkenntnisse, dem Satz des Widerspruches, nämlich, daß es unmöglich ist, daß etwas zugleich sei und zugleich nicht sei; und dem Satz des zureichenden Grundes, nämlich, daß alles, was ist, einen zureichenden Grund haben muß – er stehet, sage ich, wie die Kuh vor dem verschlossenen Tor. Was die schlimmsten, die ärgsten Zweifler oder Skeptici nicht leugnen, das schwanket in seiner Seele. Er siehet am hellen Mittage Dinge, die dem schnurstracks widersprechen, was, abgesehen vom Principio rationis sufficientis, die Alten schon das Principium exclusi medii inter duo contradictoria nannten.«
»Jeses, Jeses, Jeses!« wimmerte das Wieschen; doch der Magister fuhr mit erhobener Stimme fort:
»Ja, der Mensch glaubt am hellen Mittage an ein Drittes zwischen zwei Widersprüchen. Auch ich habe in diesen Gegenden am lichten Sommertage, wann die Sonne am heißesten aufs Gestein und die Waldblöße brannte, Dinge gesehen, – Dinge gesehen, sage ich, die mich an mir selber und dem Satze, daß etwas entweder sein oder nicht sein muß, zum herzbebenden Zweifeln brachten.«
»Davon sollten der Herr Magister grade jetzo der Beruhigung wegen das Genauere erzählen«, meinte Thedel; doch Magister Buchius sprach schon ohne diese Aufmunterung weiter:
»Ihr kennet alle auf dem Küchenbrinke unser uraltes Klostergebäude, so heute noch der Stein genannt wird. Es stehet über dem alten Sundern, an dessen Ende gen Westen sich noch Rudera einer Kapelle finden, so die Klus von uns genannt wird. Da hab' ich ihn gesehen um elf Uhr gegen Mittage, grade als die Klosterglocke schlug, am zwölften Julii des Jahres Siebenzehnhundertsiebenundvierzig.«
[168] »Wen? Wen? Wen?« rief atemlos, trotz der Schlacht des Herzogs Ferdinand und des Marschalls von Broglio am fünften November Siebenzehnhunderteinundsechzig, die Gesellschaft in der Ithhöhle.
»Den ersten ureigenen Herrn und Eigentümer der heiligen Stätte vor unserm Einsiedler, dem Waldbruder Amelung! Er saß mit einem blutigen Messer auf den Ruderibus der Klus, mit langem greisen Bart und einem Eichenkranz, doch das Haupt gesenket wie in tiefsten Gedanken. Er kümmerte sich nicht um mich. Er sah nicht nach mir. Woher ich es wußte, weiß ich nicht; aber ich wußte es, er war den Küchenbrink herabgekommen vom Steine; er war herausgekommen aus der Pforte nach Mitternacht, wo man heute noch das Agnus Dei mit der Fahne eingehauen siehet, von dem Orte, wo sein Stein gestanden hat, sein Altar und Opferstein, allwo man die Römer und die Soldaten Caroli Magni abgeschlachtet hat, ehe und bevor Graf Siegfried von der Bomeneburg, was wir heute die Homburg heißen, unser Kloster anlegte und es mit dem Hedfeld, dem Heidenfelde dotierte.«
»Und dann, Herr Magister?« fragte jetzt selbst Mamsell Selinde Fegebanck.
»Dann, meine liebste Mademoiselle, lösete sich dieses, so für den tagtäglichen Menschenverstand ganz und gar außerhalb des Principii rationis sufficientis, will sagen, des Satzes vom zureichenden Grunde lag, auf im Flimmern der heißen Sonne über dem Trümmergestein und dem jungen Tannenwuchs, und nach einer Weile mußte ich nach Hause, dieweil nun doch bald die Glocke den Cötus von Amelungsborn zu Tische läutete.«
»Nihil est sine ratione sufficiente, Mamsell Selinde«, rief jetzt Thedel von Münchhausen. »Alles was ist, muß seinen zureichenden Grund haben, die Amour und der Haß! Auch die Wut, die der alte Barde auf unsern seligen, alten Waldbruder Amelung gehabt haben muß. Herr Klopstock hätte von ihm nicht [169] verlangen können, daß er unter seinem erbeigentümlichen Herd und Küchenbrinke anstimme: Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung! Aber nun lassen die Herren auch mich mal heran. Auch unsereiner hat wohl seine Spukgeschichten erlebt bei Tage und bei Nacht in dem alten Spükekasten Amelungsborn und draußen. Es ist bis unters Deckbett nicht immer geheuer, Mademoiselle, und wenn Herr Lessing seinen Alten reden läßt:
O Jüngling, sei so ruchlos nicht,
Und leugne die Gespenster,
Ich selbst sah eins beim Mondenlicht
Aus meinem Kammerfenster!
so spreche ich mit dem Jüngling:
Ich wende nichts dawider ein
Es müssen wohl Gespenster sein.
Hat nicht der Herr Amtmann einmal in der Nacht vor Kreuzeserhöhung auf eines aus seinem Fenster geschossen, wo freilich Herr Magister Lessing seinen Alten wieder singen läßt:
Auch weiß ich nicht, was manche Nacht
In meiner Tochter Kammer
Sein Wesen hat, bald seufzt, bald lacht;
Oft bringt's mir Angst und Jammer.
Ich weiß, das Mädchen schläft allein;
Drum müssen es Gespenster sein.
Nichts ohne seinen zureichenden Grund, nihil sine ratione sufficiente hätte der Jüngling in diesem Falle mehr als in einem andern logice antworten dürfen; doch ich lasse es dahingestellt, und rede auch nur von dem, was mir persönlich passiert ist und auch wie dem Herrn Magister Buchius und dem Knecht Heinrich außerhalb von Kloster Amelungsborn. Der Heinen Grasgrabe kennt wohl jeder von uns?«
»Ei wohl«, sprach Magister Buchius, »das Feld vor dem Kloster zwischen der Heerstraße und dem gleich einer Zunge [170] aus dem Vogler vorgehenden Berge, westlich vom Odfelde, Campus Odini, nordwärts unter dem mit Holz bewachsenen Berge, so –«
»Der Bütze- oder Butzeberg heißt. Da bin Ich für mein Teil dem Butzemann begegnet –«
»Permittiere Er einen Moment, lieber Münchhausen«, rief aus seinem dunkeln Dolomitwinkel Magister Buchius, »was Er uns auch zu berichten die Absicht haben mag, Er ist diesmal damit auf dem richtigen, durch die Historie begründeten Boden. Dorten war der geheiligte Hain, das Fanum Odini, der finstere und heimliche Wald, worin die Gottheit unseren Ahnen gegenwärtig war. Ohnstreitig entstand Böse von Butz; und die Christen haben zur Abschreckung den Ort den Butzberg genannt, und manche Mutter und Kindsfrau schrecket noch jetzo unschicklicher Weise die Kinder mit dem heidnischen Butzmann oder Bussemann –«
»Und ich habe dort den Hohlenbergern, einerlei ob aus der großen oder der kleinen Hohle, am hellen lichten Mittage den Glauben an den Butzemann beigebracht, daß sie heute noch ihren Kindern hinterm Ofen damit bange machen und Kinder und Kindeskinder noch nach hundert Jahren davon erzählen werden. Nämlich sie waren zu funfzig mal wieder über Heinrichen her. Sie hatten meinen besten Waldkameraden Heinrich Schelzen mal wieder unter ihren groben Bauerfäusten zu Boden –«
»Herr du mein Leben, i Blitz nochmal, ist denn das die Möglichkeit?« rief jetzt hiezwischen der gute Knecht Heinrich Schelze aus dem tiefsten Heiden-und Spukekeller mit vollständig gesundeter, starker Stimme in höchster Verwunderung. »I, Donnerwetter, Blitz und Hagel, Herr von Münchhausen, waren denn das der Herr Junker, der uns Klosterleuten da aus dem Busch als unser Vorfahr und wilder Mann zu Hülfe und den Bärenhäutern und verfluchten Bauern über die Lauseköpfe kamen?«
[171] »Schlechtweg und zufällig, Heinrich; – simpliciter et per accidens, Herr Magister«, lachte der Thedel von Münchhausen. »Ich kam aus dem Froschpfuhl auf dem Odfeld. Wo alle Cherusker, Katten und Sachsen bis zu Karl dem Großen ihr Opfervieh und ihre Priesterinnen gebadet haben, Herr Magister. Es war uns von schulwegen verboten, das heidnische Liegen im Wasser; aber wer es tun wollte, der heißen Tage wegen, der tat es doch, contra leges. Ich will's jetzt nur gestehen, und der Herr Magister haben selber wohl dann und wann ein Auge zugedrückt im Walde. So kam ich diesmal, mit Erlaubnis der Damen, nackigt wie der wilde Mann auf den Harzgulden, über die Hohlenberger und gottlob auch mit einem jungen Tannenbaum in der Faust.«
»Hierüber kann man alles vergessen, Bataille, Franzosen und Engländer!« rief Knecht Heinrich in allerhöchster Verblüffung. »Nun sind der Herr Junker von Münchhausen auch diese Erscheinung gewesen? Und vor jeder Kuh- und Pferdekrippe, in jeder Spinnstube geht es im Sommer und im Winter bei Tage wie bei Nacht um: der wilde Mann vom Harze habe sich auch hier bei uns an der Heinen Grasgrabe sehen und spüren lassen!«
»Sehen und spüren lassen!« lachte Thedel von Münchhausen. »Ein paar blutige Köpfe und blau und grüne Buckelstriemen setzte es wohl ab. Diesmal ließ das Spukeding einige handgreifliche Beweise von seiner Erscheinung zurück; ehe und bevor auch es sich wieder in die blaue Luft auflöste.«
»Und der Herr Junker hat es über sich vermocht, hierüber den Mund zu halten und nur in der Stille Sein Gaudium an – uns allen in und rund um Kloster Amelungsborn zu haben?« rief Heinrich in voller Bewunderung einer Verschweigsamkeit, deren er sich nimmer nach einem solchen Streiche für fähig achtete. »Was sagen denn der Herr Magister jetzt hierzu?«
Magister Buchius sagte gar nichts. Er ließ nur ein undeutlich [172] Gebrumm vernehmen und nicht ohne rationes sufficientes, nicht ohne zureichende Gründe.
Er hatte seinerzeit nämlich durchaus nicht gewußt, was er von dieser kuriosen Apparition des wilden Manns, des Butzemanns vom Harze unterm Butzeberg am Vogler und auf dem Odfelde, auf dem alten Geschichts-, Geister- und Zauberboden zu halten habe. Wie er sich zu verhalten habe gegen die Meinungen und Ansichten, die jedermann um ihn her, spöttisch, bedenklich, angsthaft-gläubig oder kopfschüttelnd kundgegeben hatte.
Er hatte seinerzeit, alles in allem in Erwägung ziehend, nur:
»Hm! hm!«
gesagt; und jetzo, in der Tiefe seiner wunderlich ausstaffierten Gelehrtenseele und ganz heraus aus dem Geist, Wissen und Glauben der weiland großen Wald-, Wildnis- und Klosterschule von Amelungsborn, sagte er wiederum nur:
»Hm! ... hm, hm, hm, hm! Ahm!«
»Diese dummen Geschichten machen einen nur immer nur noch kälter und verklommener, und die letzte auch noch nasser in der Einbildung«, meinte aber jetzt weinerlich-verdrießlich Mademoiselle Selinde. »Und heller wird's auch nicht davon hier im Mordkeller. Man sieht jetzo wohl seine Hand vor Augen, aber auch weiter nichts; und wenn ich einmal sterben muß, so will ich's doch lieber draußen im Lichte. Man vernimmt auch von draußen her gar nichts mehr von der dummen Bataille. Das Grummeln und Brummeln hat ja gänzlich aufgehört, und wenn's nach mir ginge, hätten sich nun alle die Hälse einer nach dem andern abgeschnitten, daß man ruhig wieder nach Hause könnte. Jetzt bleibe Er von mir, Thedel; oder ich spiele Ihm den Butzemann, oder wilden Mann vom Harz und tachtele Ihm eine Maulschelle hin, daß Er Sein Lebetage bis zum Kopfwackeln hin an Seine dumme Prinzeß von Kloster Amelungsborn in Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit zu denken haben soll!«
»Herr Magister«, rief Junker Thedel von Münchhausen, [173] »Herr Magister, Mamsell hat recht, so wahr ich lebe! Hier hocken wir, Hans und Hannchen im Keller, und erzählen einander dumme Spukgeschichten, und draußen bringen sie die Welthistorie zum Austrag, ohne daß einer von uns drauf acht gibt. Sie haben, der Teufel hole mich, ihr Pulver beiderseits verschossen, oder der eine hat den andern unter. Vivat Herzog Ferdinand und die hohen Aliierten! Mamsell hat auch darin recht, der Satan hält uns hier im Tartaro eingespundet. Sehe Sie zu, wie Sie gut nach Hause kommt, Mademoiselle Fegebanck. Ich krieche vor aus dem Loch und sehe nach, wie es draußen steht –«
»Caute, caute! Mit Vorsicht, Münchhausen. Lasse Er mich erst Seinen Rockschoß fassen, lieber Münchhausen!« rief Magister Buchius, mit zitternder Stimme, aber im vollen Bewußtsein, daß man sich in dieser Ithhöhle wohl ein wenig zu lebhaft von alten Spukgeschichten unterhalten habe.