[312] Ueber die Hühnen- und Zwerg-Sagen.
Die Hühnen- und die Zwerg-Sagen haben ohnstreitig, unter allen ächten nordischen Volks-Sagen, die allerältesten Beziehungs- und Bildungs-Perioden, obgleich die letzteren jetzt schwer zu bestimmen sind.
Die meisten der übrigen uns erhaltenen norddeutschen Volks-Sagen beziehen sich auf die Räuber- und Fehde-Scenen des 11ten bis 15ten Jahrhunderts. Als Beziehungs-Periode der Hühnen- und Zwerg-Sagen aber können wir wohl nur (wenn es uns um die Auffindung einer denkbaren Veranlassung zu thun ist) den frühern Zeitraum annehmen, in dem, in mehreren Ländern Europa's, und [313] auch in dem Hartingau, zwei, an Größe und Körperstärke verschiedene, Nationen wohnten; von denen die größere allmählig die kleinere unterjochte, und sie zwang, sich in Hölen und unzugängliche Felsklüfte zu verstecken, und endlich, bis auf einzelne Individuen, auszuwandern.
Die meisten dieser Sagen scheinen sich auf das fünfte bis zehnte Jahrhundert unserer Zeitrechnung zu beziehen, und gehen also um mehrere Jahrhunderte über den Zeitraum hinaus, in welchem auch in Nord-Deutschland nur eine Nation sich darstellt; welche aber, in den Sagen aus dem Mittelalter, (so wie das griechische Volk bei Homer) in zwei Klassen unterschieden erscheint. Diese Klassen derselben Nation sind: die der Unterdrücker, welche, durch Jagd und Raub gepflegt und gestärkt, sich zu einer auszeichnenden Größe erhoben, und die der Unterdrückten, welche, zu lebenswierigen harten Arbeiten, bei dürftiger Pflege und Kost, gezwungen, sich erst nach [314] mehreren Revolutionen, aus der Sklaverei allmählig loswinden konnten.
Wer die norddeutschen Volks-Sagen in historischer Hinsicht benutzen, oder sie auch nur nach der Zeitfolge ordnen will, muß diese verschiedene Lagen, in denen sich fast alle Nationen, auf ihren Bildungs-Stuffen befanden, nicht übersehen, und sich nicht durch scheinbare Aehnlichkeiten irre leiten lassen. Denn, wenn auch, in den mittleren Sagen, der Unterschied körperlicher Größe der Edeln und der Unedeln bei derselben Nation, oft dichterisch vergrößert ist, so daß jene zu Riesen emporzusteigen, und diese zu Zwergen zusammenzuschrumpfen scheinen; so athmet doch, in jenen ältern Sagen, welche auf zwei verschiedene Völker, die dasselbe Land zugleich bewohnten, hindeuten, ein anderer Geist.
Erläuternde Beispiele von zwei an Größe und Körperbau, so wie gemeiniglich an Sitten und Sprache, ganz verschiedenen Völkerstämmen, als Bewohnern desselben Landes, [315] bieten uns, in Absicht der neuern Periode, viele Beschreibungen der Küsten vom südlichen Asien, und der benachbarten Inseln, dar. Und, die Darstellungen griechischer Dichter von den Centauren, Cyklopen, Lästigoniern, den Himmel stürmenden Giganten, und von den Pygmäen, zeigen uns, wie, schon vor Jahrtausenden, sich, aus den Ueberlieferungen solcher Bemerkungen, Sagen und Mythen bildeten.
Die ächten alten Zwerg-Sagen des Nordens erinneren an ein Zwerg-Volk, das wesentlich verschieden ist von den, durch Zufall oder absichtlich, verkrüppelten Zwerg-Menschen, welche in den Romanen des Mittelalters, vor den Burgen stehen, oder bei Prunkmahlen aufwarten, und welche noch im 16ten und 17ten Jahrhundert zum Hofgepränge gerechnet wurden.
Daß die eigentlichen Zwerg-Sagen, in ihrem unterscheidenden Charakter, z.B. dem Verschwinden und dem plötzlichen Erscheinen [316] der Zwerge, und ihrem Auffenthalt in Hölen und unterirdischen Wohnungen, schon vor dem zwölften Jahrhundert vorhanden waren, sehn wir besonders aus den Gedichten des schwäbischen Zeitraums, wo sich mehrere Spuren von dem bald verschwindenden, bald sichtbar werdenden Zwerg-Volk finden. So führt uns, unter andern, das»Heldenbuch« von Wolfram von Eschenbach und Heinrich von Ofterdingen vor: »den bald sichtbaren bald unsichtbaren Zwerg-König Elberich, der mit der Königin der herrschenden Nation einen Sohn erzeugt« und an einer andern Stelle: »den kleinen, oder Zwerg-König Laurin, der sich durch eine Nebelkappe unsichtbar machen konnte, welcher mit vielen andern Zwergen in einem ausgehohleten Berge, der viele Schätze und Kostbarkeiten verbirgt, wohnt, mit mehreren edeln Rittern mannhaft kämpft, eine schöne Jungfrau aus der Oberwelt entführt und zu seiner Gemahlin macht« u.s.w.
[317] Daß die Verschiedenheit der Körpergröße der beiden in demselben Lande wohnenden Völker, in den Sagen, mit solcher Uebertreibung ausgemahlt wird, erklären wir uns wohl am besten, theils aus der Jugendkraft der ungezügelten Phantasie eines sich emporarbeitenden Volks, 1 und theils als Versuche, die Aufthürmung mancher Felsenmassen zu erklären, welche zum Theil durch Kunst geordnet scheinen, und doch von fünf- bis sechsfüssigen Menschen nicht bewegt werden können. Zu manchen dichterischen Ausmahlungen gaben auch [318] vielleicht die Dunstgestalten Veranlassung, welche die Wolken in Gebirgs-Gegenden, in höchst sonderbaren Carrikaturen, zeigen. Viele Stellen in Oßians Gedichten, und mehrere Schilderungen von den Erscheinungen der nordischen Götter deuten sichtbar auf Nebel- und Wolken-Phäno mene. Man denke, um das Entstehen solcher Darstellungen sich zu erklären, z.B. an das Phänomen, welches das Brocken-Gespenst bildete, an die Geister erschlagener Helden, bei den ersischen Dichtern, welche in Berghohen Gestaltungen erscheinen, unabsehbare Speere aufbäumen, und unermeßliche Wunden zeigen, denke an Homers Beschreibung vom Orion:
[319] Daß eine nationelle Verschiedenheit von einigen Zollen leicht, in dem Munde des größern Volks, zu verächtlichen Schilderungen des kleinern Volks, und zu Uebertreibungen Veranlassung geben konnte, lernen wir z.B. aus Cäsar, der uns erzählt: 2 »Das die Celten beständig über die Römer, wegen ihrer kleinen Figur, lachten und spotteten, und, unter andern fragten: woher solche Zwerge die Hände und Kräfte nehmen wollten, die erbauten Thürme fortzubewegen?« u.s.w. Und doch betrug der Unterschied der nationellen Größe zwischen den Celten und Römern, schwerlich über 6-9 Zoll.
Denken wir uns nun ein Volk von ausgezeichneter Körper-Größe, das ein kleineres Volk aus seinem Lande verdrängt hatte; sollte nicht den Enkeln der Sieger die besiegte und zurückgedrängte Nation, deren Ueberreste kaum an das Tageslicht zu kommen wagten, als ein [320] Zwerg-Volk, die Sieger aber als Riesen erscheinen? Sehn wir doch wohl noch jetzt, auf den Denkmahlen der Vorzeit, den besiegten Wittekinn kaum die Knie seines Siegers Karl erreichen. Und so wird es uns nicht befremden, die Sagen, welche die Jugendkraft der Phantasie schuf, etwas stark abweichend von der prosaischen Darstellung zu finden, welche in einem viel spätern Zeitraum die herrschende wurde.
Wir werden bei den Zwergen des Nordens an die Sagen und Darstellungen aus der griechischen Vorwelt denken, wie die Pygmäen mit Kranichen förmliche Kriege führten, und bald siegten, bald besiegt wurden; bei den Rossen der Hühnen, welche tausendfüßige Abgründe überspringen, an Homers Schilderungen von den Rossen der Götter, »die in einem Sprung den Raum überschreiten, den ein Mann, sitzend auf dem vorragenden Fels und ausschauend auf das Meer, überblickt« 3 und [321] bei den hundertfüßigen Hühnen und Hühninnen 4 in den nordischen Sagen, an die hundertfüßigen Titanen in den alten griechischen Mythen, und an Homers Schilderung des Otos und Efialtes:
In dem dichterischen Zeitraum, der einige Jahrhunderte nach dem allmähligen Verschwinden der Periode des Despotismus und der blutigen Fehden einzutreten pflegt, mahlt die aufgeregte Phantasie ausgezeichneter Köpfe unter den Enkeln der Sieger, die historisch-poetischen Ueberlieferungen der Vorzeit ins Große aus. Dann schaft sie Riesen, welche mehrere[323] der gewöhnlichen Menschen, auf ihre Speere gereiht, forttragen, wie aufgereihete Fische; dann Cyklopen, »deren Haupt gleicht waldbewachsenen Vorgebirgen, welche Berge schleudern, die das Meer aufschwellen machen;« 6 dann schaft sie Hühnen, welche gewöhnliche Menschen wie Insekten zusammendrücken, und ganze Heere von Zwergen wegblasen mit ihrem Horn, oder mit ihrem Hauche verwehen. Und eben diese Phantasie verwandelt die kleinere Menschenrace in unsichtbare, und doch dabei mächtige und furchtbare, Zwerge.
Das hohe Alter dieser Gattung von Sagen macht es erklärbar: warum gerade diese so auffallend viel Unzusammenhangendes, und der jetzigen Bildung Wiederschprechendes haben? und, warum das Volk sie nur in ganz vertrauten Cirkeln zu erzählen wagt?
Von den Hühnen-Sagen sind oben schon mehrere dargelegt, auf welche ich hier verweise, [324] z.B. vom Roßtrapp, vom Mägdesprung, vom Hühnenblut. Nun mögen noch einige Zwerg-Sagen aus dem Hartingau, oder vielmehr Bruchstücke derselben, hier folgen, um das Obenangedeutete näher darzustellen, und wegen der historischen Ansicht, welche sie darbieten.
Fußnoten
1 Man vergleiche z.B. folgende Stelle des Heldenbuchs:
»Den Held begrif syn grimmer zorn,
Do er also in banden hieng,
Ein dampf im von dem munde gieng,
Der verbrandt im syne bandt« u.s.w.
Und in demselben Buch, die Beschreibung des Wurms, der einen Löwen ins Maul und einen edeln Ritter unter seinen Schweif nimmt, und so mit ihnen über Berg und Thal rennt. – Auch in der, uns vom Livius erhaltenen, Volks-Sage vom Zweikampf des Manlius Torquatus mit einem Gallier, wird dieser zu einem Berg hohen Riesen, der den kleinen Römer zusammen zu drucken droht.
2 Vom gallischen Kriege B. 2. Kap. 30.
3 S. Iliade 5. 770 ff.
4 Diese Höhen-Bestimmung der Hühnen, welche in den ächten nordischen Volks-Sagen das Gegenstück der Zwerge sind, ergiebt sich z.B. aus dem Sprunge, welches das Roß der Hühnin, in der Sage vom Roßtrapp machte, aus der Sage vom Hühnen-Blut, und besonders aus der vom Mägdesprung, da die Fußstapfen der springenden Hühnin, die daß Volk noch jetzt zeigt, auf 60-80 Fuß von einander entfernt sind, welches auf eine Höhe von mehreren hundert Fußen hindeutet, welche die dichterische Phantasie dem Hühnen-Mädchen gab.
5 Odyßee 11, 310. ff
6 S. Odyßee 9 und 10.