X
Slim wurde von Tag zu Tag nervöser. Er brauste leicht auf, hatte Skandale an allen Fingerspitzen und schien mit seinem Schatze nicht ins Reine zu kommen. Seine Stimmung färbte auf uns ab. [59] Ich konstatierte auch bei uns andern eine bedenkliche Neigung, uns gehen zu lassen. Dazu kam, daß unser Wirtschaftskapital auf die Neige ging. Aber das war es nicht. Was mir schwere Sorgen bereitete, war die Einsicht, daß wir litten. Eine leise Depression lastete auf uns, ein Zustand psychischer Stopfung war plötzlich eingetreten, und mit ihm schien das äußere Leben sich zu stauen. Diese Schoppkur von Eindrücken hatte unserer Konstitution nicht gut getan. Aber ein Ventil zur Handlung oder Produktion war nicht vorhanden. Wir litten.
Und warum? Wegen einiger Kleinigkeiten und fataler Differenzen mit dem hier landläufigen Geschmacke. Unser Ehrgeiz konnte sich in manches nicht einfinden. Niemand kann sagen, daß wir, van den Dusen und ich, uns nicht die größte Mühe gaben, unsere Zivilisation zu repräsentieren. Und dennoch lauerte uns stets der Angstschweiß im Hinterhalte, wenn wir durch das Dorf schritten. Was würden wir nun wieder auszustehen haben? Es war ein höchst ungemütliches Gefühl, in einer Masse zu leben, mit der man in nichts d'accord war. Das Niederträchtige an dieser Stimmung war der grob empfundene Mangel an Selbständigkeit, das beschämende Bewußtsein, daß einem die eigene Rasse – ein wenig unbequem zu werden begann.
»Unter einer Million Menschen ist es kein Kunststück, ein Eigener zu sein. Das kommt von selbst. Aber versuchen Sie es mal unter hundert Wölfen – Sie werden nicht nur mitheulen, nein, Sie werden selbst diese Klaviatur erst vollständig und harmonisch finden, wenn Sie mit von der Partie sind. Man lernt die Annehmlichkeiten nur allzubald schätzen. Sehen Sie, jetzt haben wir den ›kleinen Horizont‹, wir stehen wieder auf einer Art Landkarte, wir haben uns bereits mit einer leichtfaßlichen Zahl identifiziert. Können Sie sich noch an Ihre Schulbubenzeit erinnern – an die Geographiestunde – wissen Sie – verstehen Sie das?«
So sprach ich erregt und froh der Aussprache nach Tagen schlimmster Überlegsamkeit zu van den Dusen. Ja, er konnte sich erinnern. Wir traten den Heimweg ins Dorf an. Schon umschwärmte uns die gutgelaunte Jugend. Sie bettelte oder machte sich über uns lustig. Sie drängten sich mit ahnungsloser Miene an uns heran und setzten sich plärrend auf die Hintern, so bald wir nur geringfügig anstießen. Sie fielen bewunderungswürdig um, ohne sichtbare Störungen des Gleichgewichts. Ich trat einem der Racker unversehens auf seine Kautschukbeine; ich dachte, nun würde das Hilfegeschrei losgehen; [60] aber auffällig blieb gerade er mäuschenstill. Ich hob ihn bestürzt empor. Verständnisinnig ergriffen die anderen den Witz dieses Spieles, und was nun folgte, muß für die winzigen Kreaturen höchst unterhaltsam gewesen sein. Es hieß in ihrem Idiom so etwas wie »Aufgehoben-werden spielen« und bestand in dem sinnigen Schema, sich bei unserer Annäherung niederzusetzen, um sich von uns aufhelfen zu lassen. Dabei vollführte diese Käserinde von Menschlein einen solchen Höllenlärm, daß die Mütter erschreckt ihre Köpfe zu den Hütten herausstreckten. Stirnrunzelnd fühlte ich, wie sie lächelten. Puppa, Puppa, sagte ich zärtlich und hob einen, den zweiten, den dritten Bengel empor. Er zog die Beine in die Hocke und ließ sich wie ein Brunnenschwengel auf und ab ziehen. Da wurde ich ängstlich. Ich konnte doch nicht mein ganzes Leben damit verbringen, kleine Jungens auf und ab zu schwenken. Und heimlich und voller Rachsucht zwickte ich den vierten, zugleich aber sagte ich mit süßer Stimme »ai, du Püppchen« und schielte ein wenig nach seiner Mama, die dort in der Tür stand und meine Sympathien für ihr Kind als vollkommen gerechtfertigt anzusehen schien. Dieser mütterliche Standpunkt aber war mir denn doch zu viel. Ich zwickte nun etwas stärker, aber die gewünschte Wirkung blieb vorerst einmal aus. Im Gegenteil, meine heimtückische Zartheit erhöhte anscheinend den Reiz dieses Spieles bedeutend. Mein Temperament zog mir Liebhaber und Liebhaberinnen zu. Als wir in völliger Ratlosigkeit Numero zehn auf die Beine gestellt hatten und er sich eben wieder zurückplumpsen ließ, erschien Slim auf der Bildfläche.
»Hallo«, schrie er, »ihr seid ja verrückt, spielt euch gefälligst mit etwas anderem! Aber meine Herren«, sagte er belehrend, »machen Sie uns doch nicht lächerlich! Das macht man so!« Er hob einen der Buben auf und warf ihn auf den Boden. Wie ein Ball kam dieser wieder auf die Beine zu stehen und lief verschreckt in eine der Hütten. »Das steht besser, als Sie glauben«, sagte Slim und machte uns auf eine Eigentümlichkeit aufmerksam. Keines der Kinder gebrauchte, mochte es noch so hilflos daliegen, um aufzustehen, die Hilfe seiner Arme. Schwupsdich, griffen sie sich mit den Füßen einfach in die Höhe. Betreten sahen wir auf unsere zehnfach verratene Humanität an Herz und Beinen zurück.
Diese Art von Erlebnissen, die nachgerade an die Tagesordnung kamen, brachten mich langsam herunter. Dann kamen die Zustände der Besessenheit, meine zurückgewiesene Koketterie fachte sich zum Wahnwitz an und gab mir Rachegedanken wider meine eigene Person [61] ein. Ich hatte mit meiner Noblesse gewüstet, hatte sie mit vollen Händen hinausgeschmissen, jetzt traten die Gelegenheiten, scharf zu sehen, in Masse auf. Ich war bettelarm, ich stand mitten im Bankerott. Ein großes Unglück, welches, hätte ich nicht auf deutsch sagen können, war geschehen. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß es einen Platz in der Welt geben könnte, den ich nicht auszufüllen vermögen würde. Wo waren meine Projekte geblieben, wo blieb die kulturelle Annexion dieses Landes, die wir uns in riesengroßen Hirngespinsten ausgemalt hatten? Während ich so in mein Inneres verfilzt war und Tag über Tag, Nacht über Nacht mit diesem Geschicke haderte, erhielt ich mehrere Schläge auf den Kopf. Veritable Schläge, die meinem Selbstbewußtsein das Genick brachen und meiner Vernunft ein für allemal den Garaus machten. Erst mit dem heilsamen Fieber, aus dem ich in Panama sechzig Tage später erwachen sollte, wich diese dumpfe Überreizung. Jene Schläge aber kamen von Slim.
Heute liegt das alles hinter mir. Ich habe einen weiten Kreis von Bekannten und bin imstande, den Menschen Figur abzusehen. Dennoch will es mir nur schwer gelingen, aus Slim, so wie ich ihn bruchstückweise kennen gelernt habe, etwas herauszuschlagen. In der Zeit, in die sein Verhältnis zu mir fällt, war es für mich ausgemacht, daß sein Glanz so gut spießerhaft war, wie der irgendeines der südamerikanischen Bravos, die ich kennen lernte. Sein Feuer schien mir banal und seine Rassigkeit bäurisch. Er stand mit beiden Beinen in der Eleganz, klirrend und kürassiert von oben bis unten, impulsiv, zynisch und, wie mir damals schien, humorlos. Und doch konnte ich zu keinem abschließenden Urteil über ihn gelangen, so sehr dieses Urteil zur Überwindung meiner Demut gelegen gekommen wäre. Dann gestand ich mir einmal, daß ich im Laufe jener Tage Ausflüchte vor jeder Anerkennung getroffen hatte, die ich ihm hätte zollen müssen. Kein Zweifel, Slim war ein großer Mensch; ich sah ihn zu allen Tageszeiten und unter allen Verhältnissen; er schien mir das eine Mal belanglos und schmetterte mich das nächstemal durch die einfache Größe, die in einem Wort, einem Gedanken, einer Handlung zum Ausdruck kam, zu Boden. Und ich kam dahin, meiner uneingestandenen Bewunderung freien Lauf zu lassen. Ich war reif zur kampflosen Aufgabe meiner Überlegenheit, des gesunden Gefühls jedes Menschen, der sich zumindest in einer Spezialität jeweils unnachahmlich weiß. Diese Gesundheit hinterhältiger Selbstüberschätzung ist eine Gottesgabe; ohne sie wären die bedeutenden Zweitklassigen erdrückt, und jeder Grenadier müßte seinen Napoleon hassen. Wieviel haben [62] davon Begeisterte und Anerkennende in ihrer Hingabe an fremde Größe nötig? Mir aber war diese hygienische Selbstgefälligkeit in eben dem Augenblicke abhanden gekommen, da mich schon das Selbstgefühl meiner Kultur vor dieser Portion Indianerhütten verlassen hatte. Von Hingabe war darum nichts mehr in mir; ich nährte mich von kleinen Zweifeln in Slims Persönlichkeit. Und doch, Slim war und blieb außerordentlich.
Er war voller Widersprüche, aber er war der interessanteste Mensch, den ich mir noch heute vorstellen kann. Er machte den Eindruck launenhafter Gewissenlosigkeit, und am Ende stellte sich in seinem Schwanken Methode heraus. So besaß er große Körperkraft, sie machte sich selbst im Verkehr zwischen uns Weißen nicht immer ohne Drohung bemerkbar. Mir schien, er mache oft den billigsten Gebrauch davon. Er ließ seine maßlose Wut an den Indianern aus, wo es ungefährlich war, und ein anderes Mal stellte er uns zur Rede, weil wir ihm durch Krakeel bei den Rothäuten seine Position verdürben und uns unbeliebt machten. Er liebte, zynische Bemerkungen, und ich hielt ihn für platt. Ich war vergnügt, und noch in derselben Stunde sprach er aus tief seherischem Geiste: ich stand beschämt über meine zurückgebliebenen Freuden!
So geschah es, als wir bei Kelwas, des Malers, geräumigem Gehöft vorbeikamen. Aus dem Innern drangen Aufruhr und Lärm, die Matte vor der Hoftür war zurückgeschlagen, und wir konnten sehen, daß der Künstler sein kleines Weib mit der Faust ins Gesicht schlug. Das botmäßige Geschöpf gab keinen Laut von sich. Ich wußte, daß diese häuslichen Szenen sich hier öfters ereigneten, aber niemand nahm daran Anstoß. Slim stand zwei Köpfe höher da als ich, mit massiven Schultern und langen Armen, er lachte nur dreckig und ließ Kelwa, ein mageres, zartes Kerlchen, gewähren. Konnte er es als Spaß betrachten? Ich sagte etwas dergleichen. »O, blamieren Sie sich nicht«, lautete seine Antwort, »Kelwa studiert soeben, davon verstehen Sie nichts. Er ist ein Minnesänger und kennt seine galanten Pflichten. Woher sollte er sonst seine sinnreichen Bilder nehmen? Dieses Gemüt will geübt sein wie irgend etwas. – Merken Sie nicht die Zärtlichkeit der vergewaltigten Leiber auf seinen Bildern? Diese Humanität der Empfindung in den schiefgelegten Köpfen auf langen Leibern?« Wir gingen um die Hofmauern herum und nahmen die ausgestellten Prachtschilde in Augenschein.
In der Tat, schon lehrte Slim mich sehen. Ich begann dieses wilde Künstlergemüt zu begreifen. Diese wagerecht gelegten Köpfe [63] waren das Weinerlichste, das ich jemals gesehen hatte. Diese Linien sehnten sich, ganze Himmelreiche von Leiden offenbarten sich in den scheußlichen Greuelszenen, die sie darstellten. Muskulöse Männer vergingen sich an unterwürfigen, dankbaren Frauenzimmern. Akte der wildesten Sanftmut konnten einem in dieser künstlerischen Fassung das Herz brechen. Niemals war Liebreiz so flötend, niemals Gewalt süßer dargestellt worden. Die Weiber bestanden aus schwellenden Pinselstrichen und verloschen unter den Würghänden und Dolchstößen ihrer kahlschädeligen Anbeter. Die Männer waren verzückte Heldengestalten, mit Oberkörpern wie edle Champagnerkelche, dünn und unansehnlich an den Lenden und fleischig moussierend an Schultern und Brüsten, wie gärender Schaumwein. Ihre Schädel waren kahl bis zu den Wirbeln, ausgenommen ein fransiges Haarbüschchen am Stirnsaum, das einem grinsend gefletschten Gebisse nicht unähnlich aus dem Hirn hervorwuchs. Körper beiderlei Geschlechts waren zu ergreifender Fleischlichkeit verwoben, Brüste klafften steil vor Lust und nervige Schenkel bäumten sich aus Knäueln. Eines der Gemälde duftete von Liebespracht und Lustaufwand, und ein Hundevieh lief darauf hinzu und schnupperte flüchtig zu dem Paare. Dieser Hund war das Hündischeste, das je an Hundetum geleistet worden war, er war hündischer denn je ein Hund, er war die reinste Genießlichkeit, die je zu Verkörperung gelangt ist. Er bestand aus fünf braunen Pinselstrichen, vier Beinen und einem Rückgrat, und schließlich einer langen Schnauze. In dieser Schnauze lag ein ganzes Hundeleben. Er roch und streckte seinen Körper.
»Empfinden Sie, wie sehr das – Gemüt hat?« frug Slim. Fast verstand ich ihn.
Am Abend saßen wir zu dritt vor Slims Hütte. Das Zigarettenpapier war ausgegangen, und wir rauchten Pfeifen, um die blödsinnigen Moskitos fernzuhalten. Jeden Augenblick klatschte sich einer von uns fluchend auf den belästigten Körperteil. Moskitos sind die geborenen Feinde großer Männer, sie sind imstande, das Genie zu stürzen. Nicht, daß ich es Slim gegönnt hätte, der sich geradezu verrückt ohrfeigte, während er Kernsprüche von beleidigendem Scharfsinn fällte – nein, für alles, was er sagte, hatte ich eigentlich schon vorher die Witterung gehabt, und er schrieb also eigentlich bloß von mir ab, wenn er sprach. Nein, sagte ich mir, ich gönne ihm seine Intelligenz; der Unterschied zwischen uns war bloß der, daß ich delikat verschwieg, wenn ich etwas Geistreiches wußte, während er es gleichsam an die große Glocke hängte. Dennoch, ich konnte mich beim Anblick [64] der Moskitos, die in Slims Hemdkragen krochen und dort in dem gelben Fell pflügten, nicht erwehren. Ich schluckte den Triumph hinunter, er kam aber wie geölt sogleich wieder an die Oberfläche. Ich weinte vor Wut über meine häßliche Seele, aber ich mußte sie hilflos mitansehen. Meine Selbsterziehung war zum Teufel, meine Noblesse war an die Anfangsgründe der Tropenlehrzeit unnütz verpulvert, und die kleinlichen Roheiten des Knaben wagten sich wieder hervor. Das war die Wirkung des kleinen Horizontes, dies war das Beschränktheitsgift des Quadratmeterkleckses von Ansiedelung! Wie lange noch, und ich würde vom Tratsche leben, würde zu Kelwa schleichen und ihm melden, daß Aruki, das Weib Memes, ein Verhältnis habe mit – ah? – – – und würde wie eine Frau in die Hände klatschen, wenn van den Dusen mir ins Ohr flüsterte, daß er Slim des Nachts zu der stinkenden Hündin Zana ins Zelt habe schleichen sehen?
Moskitos sind eine Grundtatsache gegen Größe, und kleine Verhältnisse sind es auch. Aber Slim gewann doch gewissermaßen meine Bewunderung dadurch, daß er sich, während die Moskitos auf seinen Schienbeinen und Handgelenken Cancan tanzten, mit Gleichgültigkeit in diesen Sturz vom Hohen ins Groteske ergab. Die Hitze und die tropische Langeweile gingen ihm nicht auf die Nerven, er hatte ein phantastisch reelles Ziel im Auge und produzierte in seinem Auftreten die entgegengesetztesten Stimmungen. Das Dorf kriegte ihn nicht unter. Er fühlte sich hier zu Hause und war doch nicht anders als auf dem Parkettboden irgendeines Konsulats in den östlichen Städten. Er bewegte sich als Hidalgo und Geschäftsmann, als Militär und Kenner, er war so banal als ein praktischer Tourist nur sein konnte, das Exotische und Lähmende der Umgebung prallte an ihm ab. Er war auch hier auf dem Höhepunkte der Zeit. Sein Zivilisationsbewußtsein mußte rasend wach sein, mußte die Gleichzeitigkeit alles im Augenblick Geschehenden erfassen. Mit einem Worte: er kannte keine Stimmung. Da hatte ich ihn: er war kein Dichter. In seinem Ablauf sah ich den Rhythmus von Rädern, in der durchdringenden Sachlichkeit seiner zynischen Bemerkungen hörte ich die Lokomotive pfeifen. Ich aber, der Ingenieur, ich hatte den Beruf verfehlt. Ich war zum Dichter bestimmt, mein Element war von Natur aus die Poesie!
Dieser Gedanke enthielt eine ungeheure Anregung. Sofort wurde meine Laune gnädig. Ich war der Dichter, Slim der Mann der Zeit. Sein Vater, der Schiffskapitän, war ein Yankee; seine [65] Mutter Chilenin, spanisches Halbblut. Es gibt nichts herzlich Trockeneres als den Südländer, nichts Stabileres als diesen gebräunten Sohn des Sonnenlandes. Von hier bezieht Slim seine dürren, schneidenden Eigenschaften. Als Dichter bin ich zu dem Zeugnis ermächtigt, daß er damit in Mode kommt. Ich bin hierfür als Dichter nachgerade verantwortlich. Wer selbst keine Sehenswürdigkeit ist, beruhigt seinen Ehrgeiz als Impresario einer solchen. Mister Slim, es mindert den Respekt vor meinem Genie nicht im mindesten, daß Sie dassind, wozu ich die Idee in mir trage, das Schema, dem Sie als Füllung dienen; und ich bin auch ein anständiger Kerl mir gegenüber, das heißt ein Psychologe, so ist dies doch eine Privatsache, und niemand braucht darum zu wissen. Daß ich mich für einen Schurken hielte, wäre Grund genug, einer zu sein. Ich weiß, dahinter steckt ein schofles Geschäft, hat aber trotzdem für andere eine redliche und achtunggebietende Arbeit zu sein wie irgendwas. Schon sehe ich die fremde Bereitwilligkeit voraus, die Ironie, die ich selber gegen mich verwende, zu akzeptieren. Es ist mir ein Beweis für meine Verdienste als Impresario des modernen Menschen; wäre ich um ein Jota weniger originell, ich selbst würde einen ganzen Rattenkönig von Impresarios inspirieren. Denn, meine Herren,der Dichter ist stets genialer als sein Geschöpf. Da ich aber nicht hilflos bin – – –
Die Moskitos wurden jetzt noch einmal zudringlich, weil die Sonne sank, und dies die Stunde ihres Frohlockens war. Schnell wurde es dunkel, und zwischen den Hütten des Dorfes begann ein blauer, scharfer Rauch aufzusteigen, der die Moskitos vertrieb. Große Männer und kleine Weiber, mit Fruchtkörben auf dem Kopfe, kamen aus der Savanna zurück.
Man beachtete uns um diese vorgeschrittene Zeit unseres Aufenthalts wenig. Am ersten Tag hatten sie uns höflich ignoriert. Später erfuhr ich, daß Feindlichkeit und Mißtrauen oft das Beste hinter guten Sitten sind. Denn kaum hatte Slim uns durch Luluac, den Häuptling, dem Parlament vorstellen lassen, als auch schon die nette Förmlichkeit umschlug und wir eine Periode ärgsten Belagerungszustandes, Spießrutenlaufens und anderer ethnologischer Methoden durchzumachen hatten. Stumm und im Innern vor Wut knurrend saßen wir zur Schau. Slim gab hin und wieder Aufklärung über verschiedene Eigentümlichkeiten des Stammes, dem wir angehörten, während wir so auf Klappsesseln hockten und der Wissenschaft dienten. Als besonderes Merkmal mußten wir geladene Revolver in den Händen halten. Der psychologische Grund dieser von mir veranstalteten Maßnahme [66] war aber ein anderer. Jeden Augenblick war ich bereit, aufzuspringen und eine kleine Vorstellung zu geben, wenn das wissenschaftliche Interesse unserer Gäste zu weit ging. Denn dieser Forschungsdrang war konsequent genug, auch hinter die Geheimnisse unserer Wäsche eindringen zu wollen. Zumal unsere Hosen erregten als phantasievolle Abart der hierzulande getragenen Schoßlätze ein enormes Aufsehen. Damit hatte es nun überhaupt einmal so seine Bewandtnis und hatte eine Geschichte zur Folge, bei der van den Dusen nur mit Mühe von einer uns Europäern nun einmal angeborenen Roheit zurückgehalten werden konnte. Sie passierte, als eines Tages eine der Damen nähertrat und unschuldsvoll seine seidengestickten Hosenträger aufzuknöpfeln begann. Der dicke Holländer barst in ein fürchterliches Gelächter aus, in einer Art hysterischen Anfalls fing er mit dem Revolver zu fuchteln an und behauptete zwischen Weinen und Lachen, er sei gekitzelt worden, ja, man habe hier die Absicht ihn zu kitzeln, er habe schon seit langem bemerkt, daß dies für die schwarzen Damen ein noch ungelöstes Problem sei, daß ihre Neugier feßle. Aber soweit brauche er sich nicht demütigen lassen, er würde schießen, sofort, dies lasse er sich nun und nimmermehr gefallen. Die wißbegierigen schwarzen Schülerinnen kicherten sehr, als sie ihn so erregt gewahrten. Sie verstanden nicht, wie man so verrückt, ungalant oder weiß Gott was sein konnte, sich der Wissenschaft entgegenzustemmen. Aber der Holländer blieb dabei, daß man es darauf abgesehen hätte, ihn zu kitzeln. Slim mußte ihm in den Arm fallen, um ein Unglück zu verhüten.
Slim managete uns als europäische Show ziemlich glücklich. Ich wußte, daß er bereits einmal als Manager einer Buffalo-Bill-Truppe auf der Pariser Weltausstellung runde Summen gemacht hatte. Ich sah ja, was als Entree einlief. »Heute große Vorstellung ›Europa in Pomacco‹. Kinder haben freien Zutritt! Die weißesten Indianer der Welt! Ein Stamm ohne Füße, einzig in seiner Art! Der dickste Mann der Welt, besondere Attraktion für das weibliche Geschlecht, groß und klein! Hereinspaziert! Noch nie dagewesen! Erstes und letztes Auftreten der dümmsten und ungeschicktesten Kerle auf Gottes Erdboden. Größter Lacherfolg des Jahrhunderts! Herrein, herreinspaziert meine Herrschaften!!«
Als Entree gingen ein: Wildpret, Speere, Pfeile, Bananen, Brotfladen, Vogelpasteten, Gemüsesuppen und anderes Verderbenbringendes. Aber dies dauerte nur so lange, bis die Sache sich eines Tages überlebt hatte und die Dorfbörse auf ein anderes Gebiet überging. [67] Und da begann die Zeit, wo nur um den Preis von Sardinenbüchsen, Glasperlen, Zigarettenschachteln, bunten Lappen, mechanischen Bestandteilen, Bleistiften und alten Kleidungsstücken der Hunger gestillt werden konnte; wo man, wie am Beginne, keine Notiz mehr von uns nahm, uns die Gassenjugend auf den Hals hetzte und sich ungeniert einer Lustigkeit überließ, über deren Gründe allerlei Vermutungen angestellt werden konnten.
Unsere abendlichen Sitzungen zeigten unsere Lage von Tag zu Tag deutlicher. Nichts aber ärgerte, nichts kränkte, nichts verbitterte mir den Aufenthalt hier mehr, als wenn ich des Abends sah, wie Checho zu Aruki hinüberschlich, dienerte, sie hofierte und vor ihr mit seinem Jünglingsgerippe prahlte. Es schnitt mir ins Herz, wenn sie beide lachten und ich es nicht verstand. Freilich, Checho war schön. Aber hier handelte es sich um ein wenig Grammatik, soviel ich sehen konnte. Checho sprach ein tüchtiges Indianisch; er war der geborene Verführer; ich durchschaute ihn. Wen ich aber nicht verstand, das war Meme, dieser Riese von einem Manne. Wenn es schon spät war, saß er noch fleißig in seiner eigentümlichen Stellung vor dem Spannbolzen und schoß das Webgarn rhythmisch hin und her. Seine langen Waden standen auf den flachgepreßten breiten Sohlen, und zwischen ihnen hing wie der Buchstabe M der Oberkörper, eine schmiegsame Pyramide aus feinen Knochen, Muskeln und Nerven. Seine Füße waren groß und wohlgeformt; wenn er saß, traten die blutgespreizten Adern wie helles Reisig auf der dunkleren Haut hervor. Auch er hob seinen starken Körper mühelos empor, ohne der Hände als Stütze zu bedürfen, ohne die Pose zu ändern, lediglich aus der elementaren Muskelkraft seiner knabenhaften Hüften heraus. Wenn er stand, war er ein Hüne, und Aruki war neben ihm ein kleines, plumpes Weibchen. Seine Oberarme waren breit und lagen wie flachgedrückte Keile auf den Brustringen. Checho schien, an ihm gemessen, armselig an Stärke, und ich begriff nicht, ob Meme den fremden Indianer fürchtete oder ob er in seiner Arbeitsleidenschaft ein kühler Gatte war. Hin und wieder fiel sein Blick auf die beiden, ohne daß sein Gesicht eine Spur von Bewegung zeigte. Aber oftmals betrachtete ihn Aruki verstohlen und verzweifelt. Eben fuhr sie Checho über den Rücken, prahlerisch deutete er mit dem zurückgelegten Daumen auf eine Stelle. Aruki schien bewundernd. In der Tat ein schöner Rücken, was aber mochte so besonders reizvoll daran sein?
Ich machte Slim aufmerksam. »Seine Narben«, sagte er. »Haben Sie es noch nicht bemerkt? Er hat zwei Narben am Nacken, dort [68] hat ihm sein Stamm bei irgendeiner Feierlichkeit die Probe auferlegt, sich die Haut lösen und einen Pfeil durchklemmen zu lassen. Das ist erstens heroisch, zweitens ist es für den Burschen ein Kapitalvergnügen. Alle Arten von Verwundung und Grausamkeit sind bei diesen Stämmen bis zu Objekten der Gelehrtheit gediehen. Zana, Sie kennen sie?« – – sein Gesicht konnte einen falschen Ausdruck nicht verbergen – – – »Zana ist Doktorin in dieser Disziplin. Das Wundfieber ist eine Art Rausch. Jedes Fieber – – Sie werden noch Gelegenheit haben, diese Theorie zu überprüfen«, fügte er hinzu und sah mir aufmerksam in die Augen. Er machte eine Pause und sah plötzlich auf meine Handgelenke; da bemerkte ich, daß sie blaß und gelb wurden. Es war das erstemal, daß ich vor Slim erschrak und die Macht, die bestimmende suggestive Macht, die in ihm lag, er kannte. Jetzt sah er starr und mit leerem Blicke vor sich hin; er schien mit in großer Kraft einer bösen innern Macht zu widerstehen, die er nicht ganz beherrschte; er hatte einen unglücklichen Zug im Gesichte. Dann schlug er den verlassenen Weg der Unterhaltung wieder ein und sagte mit gleichgültiger Stimme: »Im Prinzip ist die Art, wie man hierzulande das Leben tonisiert, in nichts verschieden von unserer Zivilisation. Sind Sie in Asien gewesen? Haben Sie jemals die Methoden studiert, mit denen Ekstatiker und Derwische arbeiten? Alle diese Menschenrassen kennen nicht das süße Gift der Reflexion: sie sind auch nichts weniger als erotisch; aber ihr epileptischer Manierismus ist genau jene göttliche Steigerung der Gesundheit ins schier Krankhafte, die wir in unsern Großstädten auf unsere Weise erzielen.«
Gesundheit, hatte er gesagt. Schon damals, vor den Bildern des lasterhaften Kelwa, hatte er das Wort gebraucht. »Gesundheit, hm!« machte ich spöttisch.
Er sagte nichts weiter. Ich bekam zu fühlen, daß er seine Weisheit nicht vor einen dummen Hund warf – übrigens, ich irrte mich vielleicht. Er sah mich wieder aufmerksam an, mit Interesse wie für eine Person, mit der man sich aussprechen möchte, die man aber vorher einer sorgfältigen Prüfung unterwirft. Und plötzlich stand drüben Meme auf. Er stand auf und stieß seinen Apparat geräuschvoll zurück. Wirklich, seine Riesenlänge sah bedrohlich her. Hallo, Checho, geschwind! Meme aber hing sich eine Kette fingerslanger Geierschnäbel um den Hals und ging mit gebogenen Knien aus der Hütte, die Straße hinauf, flink, leicht, sich wiegend, ohne die Wirtschaft unter seinem Dache auch nur eines Blickes zu würdigen.
Von diesem Augenblicke an wurde Aruki einsilbiger. Slim witterte [69] mein Interesse an diesem Vorgang und sagte: »Das Weib wünscht sich nichts Besseres als den langen Mann auf den Hals. Verstehen Sie die alte Tatsache noch immer nicht? Wenn ein Mann seine Frau nicht mindestens zweimal in der Woche prügelt, spricht er ihr damit ein vernichtendes Urteil.« Dies klang mehr bäurisch als neu und ich sah dem Sprecher ins Gesicht. Und erinnerte mich an eine Situation im Kanoe, auf dem trägen Urwaldflusse, mitten im Schweigen, wo Slims Froschblick mich betastet hatte. Sein männliches, hartes Gesicht mit dem zottigen Knebelbarte war soeben die böseste Lebemannsfratze gewesen.
Van den Dusen, der in der Hütte hinter uns am Gepäck zu schaffen gehabt hatte, trat in diesem Augenblick herzu. »Slim«, rief er in unser Gespräch hinein, »hören Sie auf, Sie wollen uns gern den Kannibalen vorspielen. Wir glauben es Ihnen auch so. Hat nicht erst jüngst noch eine Dame in fette Schenkel gebissen und sich Eberzähne in die Nase gepflockt, die sich vielleicht Ihre Großmama nannte?«
»Und wenn es so wäre«, sagte Slim und lachte, »ich würde nicht gerade beunruhigt darüber sein. Hüten Sie sich nur, M'nherr, auch in diesem idyllischen Neste hat man schon à la bête gespeist. Sehen Sie mal diese langen Kerle von Männern an und diese winzigen Frauenzimmerchen. Die Frauenzimmer waren einst vom Volk der Arrauaken; es war ein kleiner, wenig begünstigter Menschenschlag. Da kamen Karaiben, lange Soldatenschlingel, erstklassiges Menschenmaterial, und fraßen den Arrauakenmädchen ihre Verehrer und Männer buchstäblich vor der Nase weg. Dann wurde Hochzeit gemacht, und seither hat sich dieses poetische Verhältnis schon durch Generationen hindurch fortgepflanzt. Die Jungens werden groß, die Fräuleins bleiben hübsch zierlich. Draußen am dritten Kreis, in der Vorschanze bei den Proleten, Unedlen und Unterdrückten, die am ersten dran glauben müssen, wenn ein feindlicher Stamm das Nest berennt, wohnen noch die Überbleibsel des männlichen Arrauakismus. Lakaien und Kirchendiener, die auf das Zeichen einer göttlichen Inspiration hin eines Tages vom Stamme eingepökelt werden. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß beim nächsten Mal Sie dran glauben müssen, van den Dusen!«
»Ah«, piepste der Holländer, »verflucht noch einmal, Slim, Sie haben aber eine recht dumme Art von Humor. – Wollen Sie mir nicht lieber sagen, was man von Aruki zu sagen hat? Checho macht ihr den Hof. Ob sie darauf eingeht – –«
[70] »– – und nachts halten sie Zusammenkünfte ab, dort, am Saum des Djungles. Die Moskitos blasen ihnen den Hochzeitsmarsch. Aruki zieht schmachtend aus, das muß man erleben, und kommt schwärmend heim um Mitternacht. Dabei hinkte sie einmal; Checho muß eine merkwürdige Art haben, Knöchel auszurenken. Ich selbst habe einmal zugesehen, als er sie, sozusagen, seine Süße nannte!«
»So?« sagte Slim und sah weg. »Tja, ja«, schnalzte van den Dusen und zog die Augenbrauen schlau in die Höhe. Plötzlich bog sich Slim hinüber. »Wie ist das eigentlich«, sagte er leichthin zwischen den Zähnen, »wo flanieren Sie denn des Nachts umher, Söhnchen Charlie?« »Und wer machte bei Zana Visite?« feixte der Holländer. Ich gewann den Eindruck, daß ich nicht der einzige war, und daß wir alle drei unsere Abenteuer hatten.
Ja, was wohl dieses Dorf sonst noch an Geheimnissen barg? Mit diesem Gedanken geriet ich in gute Laune. Denn nun konnte ich vielleicht doch noch etwas erleben, eine kleine Erinnerung mit nach Hause nehmen in die Heimat, eine Serenate unter brasilianischen Palmen, ein tête à tête in einer Indianerhütte, ein herziges nerv- und sinnerfreuendes Erlebnis. Ich war eben ein Dichter; und nun begann ich zu sprechen und zu fragen, ließ Arukis glänzendes Fell im Feuerschein auf mich wirken, gab meiner Wißbegierde für alles, was sich auf das Leben und Treiben dieses Völkchens bezog, lebhaften Ausdruck. Malend und farbensuchend in meinen Worten, spann ich auch Slim in diese Erregung hinein; er wurde mir jetzt als Autorität auf diesem Gebiete plötzlich lieb; und schon fühlte ich, daß wir in einer gewissen Art ein Herz und ein Gedanke waren.
»Erzählen!« verlangte ich. Eine homerische Stimmung, eine zarte Einfalt des Hörens beherrschte unsern kleinen Kreis. Selten kamen wir Weiße, die wir in der Intimität des Reisens doch so nahe aneinandergedrängt waren, so sehr zu uns selbst, wie an diesem ruhigen ausgeglichenen Tropenabend. Hier war es, wo ich ein gutes Stück mehr von dem wirklichen Slim erfuhr. Schon sank der Abend dunkelblau durchleuchtet vor die Hütten; die Interieurs wurden kleine Schmieden der Häuslichkeit, vor den flackernden Feuern bewegten sich bückende und fleißige Gestalten, Weiber hielten ihre entfesselten Brüste in den Schein und durch die aus Glasperlen und Beeren geflochtenen Schürzen hindurch bewegten sich schattenhafte Hüften. Ich saß unter Wilden und kam mir nicht sonderlich fremd vor. Und so begann eines der größten und bedeutsamsten Gespräche, die ich mit Slim hatte.
Slim fing mit der Behauptung an, in dem Dasein des Wilden [71] gebe es ein Glück mehr: die Lust. Man habe darin Erfahrung, man habe darin mehr Kultur als in dem kultiviertesten Zentrum der Welt, Paris. »Nehmen Sie zum Beispiel nur diesen einen Umstand, die schreckliche physische Überlegenheit des Mannes. Ich wage zu sagen, wo die fehlt, da ist im Geschlechtsleben etwas nicht richtig. Was ist nun ›richtig‹? Richtig, das heißt gesund, ist der Mensch mit dem vielseitigsten und von keiner Moral verschnittenen Lusttriebe. In den europäischen und deren Töchterzivilisationen aber fehlt es an physiologischer Aufklärung; die Menschen wissen nicht, was das ist: ›gesund‹. Den Urbegriff verstehen sie nicht, sie sind trotz jahrtausendelangen Denkens und systematischen Wertens noch zu keinem blutigen Bilde von dieser Angelegenheit gelangt. Einen einzigen Mann habe ich unter ihnen gefunden, einen Weisen in einem Wiener Kaffeehause. Er hat ein Ashanteebuch geschrieben, in dem er die Seele Afrikas – –«
»Ach ja«, sagte ich, »den kenne ich. Er heißt, warten Sie mal, er ist ein großer Dichter – er war aber nie dort – – –«
»Ppp ... « machte Slim und blies Luft aus den Backen. »Aber gewußt, was zu wissen ist, und was man nur in Afrika lernen kann, hat er doch. Er sagte, ich erinnere mich nunmehr des Sinnes, ungefähr das: ein richtiger Kranker ist wertvoller als ein falscher Gesunder.« Es entstand eine kleine Pause, während welcher Slim uns erwartungsvoll und mit offensichtlichem Hohn ansah. Dann fuhr er fort, indem er dieses überflüssige Gespräch beleidigend kürzte und sofort die Nutzanwendung zog: »Das ist es: in den europäischen Zivilisationen fehlt es an physiologischer Aufklärung. Man führt dort gewissermaßen noch immer Hexenprozesse gegen die schönsten nymphischen Eigenschaften des Menschen!«
In diesem Augenblicke wandte sich van den Dusen mir rasch zu. Es war die Erregung eines Menschen, dem die unverständliche Art eines dritten denn doch über die Hutschnur geht. »Das muß man nämlich wissen«, schrie er, von ehrlicher Heiterkeit geschüttelt, »diese Logik eines Slim, diese Spezialität des Schweinehundes als Philosophen!«
Nun hätte Slims Zynismus, dieses beim Namen genannte Kind seiner Seele, das er also gern als Tiefe verschwieg, doch wohl offenbar sein sollen! Ich erschrak. Gespannt betrachtete ich Slim. Und während ich mich vergewisserte, was da jetzt in ihm vorgehen mochte, gewann ich ihn plötzlich lieb. Er wurde nämlich nicht laut, nicht drohend, nicht boshaft. Im Gegenteil, sein Gesicht verzog sich zu einem weinerlichen Lächeln, er wurde hilflos und verlegen. Ließ ihn[72] seine Geistesgegenwart im Stich? In diesem Augen blick stellte ich die absolute Ehrlichkeit und Naivität seines Charakters und seiner Gesinnung fest. Sie mochte nie und nimmer auf unpassende Überlegenheiten angewiesen, noch auf überraschende persönliche Anspielungen gefaßt sein. Ich liebte Slim jetzt wegen seiner Zartheit und weil er das Thema nicht mit einer persönlichen Spitze erweiterte, sondern nach einer Pause des Stotterns sicher auf seinen Gegenstand zurückkam. Er schlug den Holländer, indem er ihn ins Sachliche mißverstand.
»Nein«, sagte er, »gesund, – – normal ... das ist so eine unsichere Nomenklatur. Das ist alles so verteufelt – – wie soll ich sagen? – fade. – Sie werden zugeben, daß man die Hand gesund nennen darf, die in jedem Sinne im Vollbesitze ihrer zehn Finger ist. Sie können dieses Bild nach den Richtungen aller menschlichen Talente hin verwenden. Nun, die Kultur, die sich als einzig bestehende und gegenwärtige dünkt, ist eine Rechtser-Kultur. Sie neigt zum Extrem, sie ist unausgeglichen, sie ist in ihren Wertungen ungesund. Die Atrophie ihrer einen Seite dient ihr als Bezeichnung des Abfälligen, sie meint das ›linkisch‹ böse und heißt alles, was ihr paßt, nach der bevorzugten Seite. In allen zivilisierten Sprachen ist rechts und richtig gleich an Urteils- und Spruchkraft. Es gibt aber kein Links oder Rechts mit Bezug auf die Güte einer abstrakten Fähigkeit. Der körperliche Linkser gilt als Abnormität und besitzt doch nichts anderes als die komplette, gesunde Konstitution. – Verstehen Sie mich?«
»Gewiß«, sagte ich schnell; »was ist daran nicht zu verstehen?« »Nein, dann verstehen Sie es nicht«, sagte Slim. »Ich dachte, Sie wüßten es schon.« Er sah mich starr an, und auf einmal spürte ich seine Blicke wie eine magnetische Kraft mich aufheben und entwuchtigen; dieses entsetzliche Gefühl schien mir falsch und lächerlich, und ich muß wohl auch eigen gelächelt haben, als ich ihn jetzt ergeben ansah. So rein und sprungfertig hatte sein Blick, ich erinnerte mich, damals auf mich gewirkt, als ich ihn das erstemal im Osten traf. Dieser Augenblick, der reich und vielfältig gewesen sein muß, ist mir nur als etwas Entsetzliches, aber ganz Verschwommenes im Gedächtnis geblieben. Die Idee, daß dieser Mann Macht über mein Gehirn hätte, kam mir damals nicht, sondern kommt mir erst heute. So natürlich, ja alltäglich spielte sich dieser mir unverständliche Eingriff damals ab.
Plötzlich lächelte Slim süß: »Sie wissen es noch nicht; ah? Ich bin enttäuscht. Ich dachte, Sie würden es schon wissen.« Er dachte einen Augenblick lang nach. »Nun, wir werden ja sehen, was mit [73] uns ist.« Sein Gesicht wurde heiter und einfach. »Ich werde jetzt ein wenig langweilig werden. Interessiert es Sie?« »O ja, doch«, gab ich zurück und empfand eine aufrichtige Neigung, zu horchen.
»Nun«, begann Slim, »nehmen Sie einen Punkt an, einen wirklichen Punkt ohne alle Stofflichkeit; ein solcher Punkt ist dann gleichbedeutend mit Existenz. Bewegen Sie, bitte, diesen Punkt: so kommen Sie zur Linie, von da zur Fläche und von da durch das gleiche Verfahren zum Raum. Nun denken Sie sich den Raum weiterbewegt, so entsteht die Zeit. Die Zeit. Die bewegte Zeit ist Leben. Das bewegte Leben ist Bewußtsein. Wir gewinnen also als letzte Dimension das Bewußtsein. Was aber ist der Inhalt dieses Bewußtseins? Wir fangen beim Vorletzten an, beim Leben. Das Leben zutiefst gefaßt, ist Ich; Ich zutiefst gefaßt ist Lust. Lust ist der direkteste Inhalt des Bewußtseins. Denn um gleich die Methode zu nennen, die letzten Dinge werden die ersten sein. Es ist ein tiefsinniges Wort, merken Sie sichs. Der tiefste Inhalt am anderen Ende des Bewußtseins aber ist Existenz. Von dort aus erfolgt eine Bewegung, die man ganz gut Dekadenz nennen kann. Denn die zweite Dimension, Linie, die Grundlage von Form, ist eine schon entartete Existenz. Wie alle Form in der Folge. Bleiben wir aber bei der Lust, das ist: Leben; der Inhalt ist hier die Zeit, das heißt die Bewegung im engeren Sinne, die Änderung« – verbesserte sich Slim. Er fuhr fort: »Der Raum, nun haben wir es leichter, ist schon wieder eine weniger originelle Dimension, für die uns die Grammatik noch gutsteht.« – Hier unterbrach er sich, sah mich höflich an und frug: »Sage ich Ihnen schon Bekanntes?«
Ich erschrak; seine Augen waren stark und von einer eigentümlichen Leidenschaft belebt. Ich fand es wunderlich, zu erschrecken, da geselligerweise gar kein Grund dazu da war, und alle gewöhnlichen sinnlichen Dinge ihren richtigen Verlauf nahmen, und sagte schnell: »Ja, ja, ich verstehe schon; darüber habe ich gerade in letzter Zeit soviel nachgedacht; man denkt hier soviel, diese Sonne wirbelt die Gedanken so mechanisch durcheinander, es ist ein Fieber, hier zu denken, und man kommt auf so verrückte Einfälle. Finden Sie nicht auch?« Dies sagte ich schnell, ohne es jemals vorher gedacht zu haben; es fiel mir gerade ein, war mir aber durchaus vertraut. Ein wenig überrascht war ich durch Slims offensichtliche Neugier. Er nickte unmerklich mit den Augenbrauen und den Ohren und fuhr fort:
»Dies ist nun wirklich ein Punkt hinter allem. Die Grammatik durchschaut; es ist das alte Mysterium des Logos. Das Erste wird [74] das Letzte sein. Akzent ist alles.« »Jawohl«, stimmte ich zu. Es war eigentümlich und unbehaglich, daß Slim gerade dies so ausdrückte. Aber es kam mir vor, als hätte ich mit ihm schon vorher darüber gesprochen. Und plötzlich hatte ich während einiger Sekunden ein seltsames Gefühl: es war mir, als hätte ich dies alles überhaupt schon einmal erlebt, als sei ich schon vor Urzeiten mit Slim so dagesessen und hätte dieselbe Unterhaltung gepflogen.
Slim fuhr fort: »Die Reihe ist an einer Stelle durchbrochen. Der Mensch platzt als Bewußtseinsträger herein und sofort beginnt sein Geschäft als Lustsammler. Er vierteilt, grob gesagt, die Dimensionen; sein erster Augenaufschlag ist ein Willkürakt. Er zerreißt und halbiert das Ganze: Leben und verschafft sich die Effekte: Links und Rechts. Ist Ihnen das plausibel?«
»Jawohl«, stürzte ich heraus, »dieser Gedanke ist ganz mein Fall. Ich muß Ihnen endlich gestehen, welche Entdeckung ich gemacht habe. Ich nenne sie das ›Wasserrad‹, sie ist ein Technikum für eine Art Paradoxon ...«
»Soso, ja ...« sagte Slim und seine Augen wurden spitz wie Enterhaken; dann wurde er zerstreut und versank in seinen eigenen Gedankengang. Er war still geworden wie ein Schwungrad, das zum Stillstand kommt. Eine Weile herrschte Schweigen. Dann lächelte er, dieses grauenhafte Lächeln eines vollständig verkommenen und haltlosen Menschen, das ich niemanden mehr so habe lächeln sehn wie ihn. Ein weniger schönes und edles Gesicht, wie das seine, hätte niemals so furchtbar und abstoßend lächeln können.
Er sagte: »So spricht man und schwätzt man. Das Gehirn, dieser Lustspeicher, ist der phänomenalste Dialektiker. Ja, wer den Eingeweiden und Organen auf alle ihre Phrasen käme, auf alle ihre Stilblüten! Könnte er danach seine Effekte dressieren, er wäre der größte Künstler. Ist es Ihnen noch nie aufgefallen, wieviel Ausreden, schlechtes Gedächtnis, Hysterien, kataplektische Unarten noch in unserer lautersten Weisheit stecken? Wie unsere Reflexion dialektisch verläuft, zehnmal neue grausame Kitzel versucht, schmeichelt und wohltut? Ich habe Sie vorhin auf eine alte, aber sehr tüchtige Idee aufmerksam gemacht, ich erinnere Sie jetzt an eine andere, jene, die den Wunsch als Vater des Gedankens bezichtigt. Es ist ein Gesetz, das hier der Wortlaut trifft. So bin ich mir zum Beispiel wohl bewußt, daß meine Theorie von den Dimensionen höchst auffallende Fehler zeigt. Ich schaffe mir einen Standpunkt abseits aller Erklärung, der nicht in ihr lokalisiert ist. Damit fehle ich gegen die Natur. Es ist [75] nichts außerhalb des Seins. Es ist nichts ganz, das nicht diese Harmonie seines Seins und seiner Erklärung in sich trägt. Ganz ist nur, wie soll ich sagen: das Gefühl? Der Glauben? Eine befriedigte Lösung, eine beantwortete Frage. Was bedeutet alle Intelligenz schließlich gegen das Gefühl? Was wir wirklich erleben, was uns wirklich reizt und schafft, ist nur das Gefühl. Und das Gefühl vollzieht sich lächerlich selbständig, fließt und stockt und reagiert wie eine Drüse, die man beschreiben, sezieren, heilen und hochmütig behandeln, aber doch niemals als Lebensform herstellen kann. Das Denken ist nur ein Ausfluß dieser Drüse: Gefühl; es hat taktische, aber keinerlei strategische Bedeutung. Und nun begehe ich den Fehler der Einsamkeit wie ein Philosoph. Diese stellen sich auf den Mars, um die Erde zu beschreiben, aber nun, sie selbst kommen nicht vom Flecke weg, sie lassen sich aus, sie vergessen sich mitzuzählen, sie sind in einer raffinierten Weise egoistisch. Sie schreiben einen Roman über das Erdenleben – man schreibt immer einen Roman über das Erdenleben. Immer, mit jedem starken Gedanken. Das zerriebene Leben wird mit dem eigenen Speichel geknetet: und man zapft ihm Form ab. Form! Wenn ich Form sage, so fühle ich eine Art Hohn. Und dennoch, ich schätze die Form über alles; dennoch – – –« Er sah mich wieder prüfend an, wie ein Opfer, das er die Absicht hatte zu verwirren, mit einer geistigen Koketterie im Blicke, aus Schlauheit und Naivität gemischt. »Meine Theorie ist aber praktisch«, sagte er plötzlich mit einem frivolen Zug um den Mund, als ob er seine sprunghaften Übergänge als geistige Erschwerung genieße. »Sie hat Betriebsmöglichkeiten. Sie leistet Arbeit, wie die Wissenschaft sagen würde. Sie verhilft zu Entdeckungen.« Es entstand eine Pause; während dieser wurden die Grimassen auffällig, die der Holländer während des ganzen Gesprächs geschnitten hatte, und man sah nun, daß man jemanden vernachlässigt hatte, der sich alle Mühe gab, aus gemischten Gefühlen zu bestehen. Van den Dusen seufzte, da mit uns nichts anzufangen war und wir uns offensichtlich in den Ehrgeiz tiefsinnigen Dialogisierens verrannt hatten. Wie weit war er über diese Bedürfnisse nutzloser Geister hinaus! Aber auf Slims Gesicht trat ein eiskalter Zug hervor, ein barbarisch entwickelter Muskel der Verachtung, wie ich sie bei keinem Manne mehr, wohl aber bei edlen Frauen beobachtet habe, spannte sich ausdrucksvoll und kenntlich bis unter die Stirne. Dieser Augenblick enthüllte die tiefe Antipathie der beiden Männer und ich bemerkte zum ersten Male mit Erstaunen, wie geheime und unlautere Kräfte in unserer kleinen europäischen Gesellschaft am Werke waren.
[76] »Ich habe Ihnen eine Theorie an die Hand gegeben«, wandte Slim sich mir mit deutlicher Bevorzugung zu, »die Sie glücklich machen könnte.« Er ließ das Wort »glücklich« in einem singenden Tonfall entschweben und lächelte mild. »Ein Leben hat zwei Hände. Das Rechts haben wir entwickelt. Das Links die anderen Rassen. Nehmen Sie sich dieser links liegengelassenen Kultur an, Sie sind ein junger Mann, Sie haben vielleicht Zukunft.« Hier wurde sein Blick schwer, aber in der Art, daß man sich verpflichtet fühlte, dieses Schwerwerden mit Erschütterung zu bemerken. Wieder stieg ein Verdacht an Slim in mir auf, aber er erlosch sofort an der Herzlichkeit, mit der die folgenden Sätze gesprochen wurden: »Das Leben links – ist näher dem Herzen ... Man darf nicht schlecht denken von diesen Witzen, diesen Trugschlüssen der Sprache. Sie enthalten den furchtbarsten Tiefsinn. Ich selbst bekenne mich zum Wortspiele, bin so stolz wie irgendwer auf den persönlichen Geschmack seines Aberglaubens. Napoleons Stern funkelt in einem anderen System als dem astronomischen; und stets hat Aberglaube den Aberglauben am meisten gehaßt; der Glaube allein ist Grandseigneur. Und Worte sind Amulette, mit geheimen Kräften Tiefe anziehend wie der Keim die Stoffe: wer weiß, warum und wie er wächst und sich füllt?«
Wir schwiegen. Van den Dusen spielte mit der goldenen Kapsel um seinen Hals.
Slim begann wieder: »Meine Theorie ist kreisrund. Der Wille zur Lust ist sophistisch. Dies Wort ist eine aus der Lust geborene, zur Lust strebende Erkenntnis. Es hat keinerlei Richtigkeit außerhalb seiner für sich. Ich bejahe in ihm, was ich mit ihm verneine. Nun glauben Sie wohl, ich sei kokett. Johnny, Sie halten mich für frivol. Das ist es nicht. Ich bin der Mystiker, der kommt. Ich sage nicht nein! zu dieser Kultur Europas; ich schmähe nicht auf die Reflexion, ich verachte sie nicht, die Analysengeschmeidigkeit dieses getigerten Gehirnes, dieses zweifelgefleckte Wissen, diesen müden Blutdurst der Überzeugung; ich preise sie, ich besinge sie in mir, ich übertreibe sie zu einem ewig neuen Grauen und Wunder – und, Johnny«, sagte er, mich nun auffallend zum zweiten Male beim Namen nennend, während seine Augen schmal wie die Knöpfe von Siegelringen wurden, »lassen Sie sich nichts einreden von mir: es ist wirklich eine Kultur, diejenige des Gehirnes. Und ich habe nur den Einwand zu machen, daß sie nicht genug bunt und übertrieben ist – – –«
»Kultur ist einfacher und strenger Geist«, fiel ich strafend ein, obwohl ich fühlte, daß meine Replik nicht auf der Höhe des Gesprächs stand.
[77] »So ist es. Aber wäre eure Kultur übertriebener, so wäre sie einfacher und strenger als sie ist. Es ist dies, daß sie nicht sonderlich übertrieben und heroisch ist. Sehen Sie denn nicht, Johnny, wie mir Exzeß mit der höchsten Gesundheit identisch ist und daß das Einfache nur das Übertriebene ist? Darum eben ist ja eure Kultur – ich sagte Ihnen schon, Sie sollten mir nicht glauben, ich verführe allzugerne – eben eine Kultur, weil sie übertrieben ist, weil sie das Gehirn überbetont. Und sie ist keine Kultur, – versuchen Sie zu folgen, Sie können es – weil sie zu wenig überbetont. Sie ist so wacker, so philiströs, so von Rechts wegen – so war es nicht immer. Aber so ist es heute. Und sie ist es heute, weil sich rings etwas anderes regt. Seit diese Kultur heute äußerlich die Weltherrschaft antritt, ist sie nicht mehr die stärkste. Ganz andere, ihr abgelegene Dinge, weltverschiedene Perspektiven, ihr geradezu entgegengesetzte Rasse- und Kulturgedanken heben den Kopf – den Kopf, nein, wie soll man sagen: das ihnen sinngemäße Organ. Die Linkserkulturen regen sich. Es geschieht etwas Furchtbares auf dem Erdball, der Akzent springt um.« Er lächelte milde und schien in meinem Gesicht zu lesen. In meinem Hirn und meinem Halse saß ein verdurstetes Sprechen, das nicht flüssig werden konnte. »Sehen Sie um sich! Und verstehen Sie: Ihre Reflexion ist das Einzige, das als Lustinstrument einen Vergleich mit diesem Leben hier standhalten kann. Das Bewußtsein«, hier drückte sein Gesicht Ekel und Weisheit wie das eines alten verkommenen Fakirs aus, »ist eine Lustmaschine. Versuchen Sie doch, einem von den Ihren die Reflexion zu nehmen – er wird sich immer wieder an der Stelle wundkratzen, wo er sie vermutet. Zudem ist euer Grad von Reflexion nichts so Neues auf dieser Welt. Es ist ein uralter und geschärfter Jägerinstinkt, eine Raubtierbeobachtung, die in euren neurotischen Zuständen aufwacht. Der Neurastheniker ist eine atavistische Jägernatur; das aber ist der monumentale Witz aller Reflexion, aller Psychologie und ebenso alles Nimrodtums: der beste Jäger muß Wild sein können. Er muß alle Arten von Vergnügen umständlich lernen, um zu dem Seinen zu kommen. Nun, und«, sagte Slim gedehnt, »Nummer vier in dieser Reihe ist das, was Ihr Erotik nennt. Andere Kulturen, verzeihen Sie, Rassen kommen schneller zu diesem Resultat. Sie haben die physiologische Seite ihres Lebens ohne Apparat entwickelt. Bei ihnen ist das Bewußtsein noch nicht im Gehirn vergesellschaftet, und Ihr erkennt es nicht, weil es keine Großstadt bildet, sondern als Provinzialismus in den einzelnen Gliedern sitzt. Dabei haben sie sich ein Element der [78] Lust bewahrt, das Ihr darangegeben habt. Das Grauen. Wahrlich, die Seligkeit und der Schrecken sind Schlafkameraden. Das Glück der Faszination geht in den kaukasischen Leibern nicht mehr um! Eure Weiber umarmen keine Gefahren. Hier aber ist Schaudern das direkt gedeckte Erzbedürfnis.«
Ich sah hinüber zu Aruki; sie arbeitete mürrisch, die Sehnsucht wütete in ihren Gliedern und machte sie unfroh. In der Tat, von einem großen Manne, der sonst gleichmütig hinter dem Webstuhl hockte, konnte ihr vielleicht geholfen werden. Aber, war das die ganze Weisheit Slims, und war das alles, womit er sich so pathetisch identifizierte? Warum sagte er stets »euch«?
»Warum sagen Sie stets ›euch‹?« frug ich ihn. »Weil wir hier eben andere Menschen sind. Unser Sinn ist anders. Unsere Wirklichkeit ist gesünder. Wir sind eine Drohung für euch – oh, die Künstler unter euch ahnen es. Zu der Zeit, da ich als junger Student mich in Paris herumtrieb, habe ich die Bekanntschaft eines merkwürdigen Menschen gemacht. Er war ein Maler und hatte seine eigene Anschauung – Anschauung, sage ich. Er begann zu malen, legte es hin, und eines Tages machte er sich davon und tauchte irgendwo im Archipel auf. Ich habe ihn später in Tahiti wiedergetroffen. Er studierte von den Eingeborenen Farbenauffassung und die Fläche und gab sich auch mit dem lustvollen paradiesischen Käferdasein dieser Insulaner ab. Seiner Meinung nach waren sie die einzige, noch junge, unerschöpfte Rasse der Welt. Eine Auffassung, die ich mir nach vielen Reisen gleichfalls angeeignet habe. Sehen Sie sich diesen Punkt unter den Sternen gut an: wenn Europa einstmals eine einzige große Fabriksmetropole sein wird, wird man hier noch zu leben wissen.«
Slim endete hastig, wie von plötzlicher Langeweile ergriffen. Sein Gesicht drückte Unzufriedenheit, vielleicht Scham aus. Vielleicht sollte es das auch ausdrücken. Ich umfaßte mit einem blitzschnellen Verständnis diese ganzen menschlichen Beziehungen seiner Persönlichkeit, die ihn ebensogut ein Kind der geistgesättigten Pariser Luft, wie eine passende Figur dieses Jägeridylls sein ließen. In ihm lag jene Universalität, die auf die tiefsten menschlichen Gründe zurückgeht. Sein Nervensystem war ein Rest Tropen, in ihm war der Geist des Boulevards wieder mit seiner Urform, der animalischen Tiefe des Lebens, eins geworden. Ich ahnte in ihm den Vertreter einer neuen Menschlichkeit. Über sein Verhältnis zu diesen ihm verständlichen Eingeborenensitten mochte er sich einem koketten Irrtum hingeben. Ich reklamierte [79] ihn für den technischen Weltteil. In ihm war die Analyse eine neue Energie geworden.
Während Slim die Straßenkurve hinaufsah und ich meinen strömenden Einfällen freien Lauf ließ, kam Zana daher. Slim sagte laut: »Da kommt Zana.« Die Grillen geigten unverdrossen auf Millionen winziger Violinen und die Nacht war blau über den Hütten aufgehängt. An den Rändern des Horizontes lagen die Sterne dicht beieinander, ein kalkiges weißblaues Licht, wie von einer vagen Mauer zurückgeworfen, faßte das silbern gesträubte Zenith ein. Zana ging vorüber und wir blickten ihr mit einer leisen Rührung nach. Das also war Zana! Ich muß gestehen, ich war ein wenig enttäuscht. Denn ich sah sofort, woher diese eigentümliche Wirkung kam; sie ging von den Beinen aus, die ein wenig knieeng waren; die Kniekehlen spannten sich beim Gehen flach und breit wie kleine Trommeln. Sie hatte tüchtige Waden, aber nun waren da wieder die Füße! Befremdend frei ging sie mit ihnen, wie die Hand eines Klavierspielers über die Tasten. Das rotgrüne Perlenschürzchen schlug kühl und schlank in die Mulde zwischen ihren Schenkeln. Sie ging gerade an uns vorüber, man sah ihren tätowierten Rücken und die gestrafften Kniekehlen, und sie verschwand, während sie die Kurve hinabging, mit einer Achseldrehung. Der volle Wuchs ihrer Schenkel war für einen Augenblick sichtbar. Es waren die Schenkel eines Tieres, kegelförmig und kompakt.
Zana! Wir stopften in den Pfeifen und schlugen nach den Moskitos. Der Rauch von den Zuglöchern der Hütten kam hin und wieder beizend in die Augen. Ich fühlte mich stark, weil mir Zana nicht gefiel. Sie konnte mir nichts anhaben. Mein Geschmack war eben Aruki. Jetzt nachträglich erinnerte ich mich, daß Zana ein kleines, verdrücktes Hundegesicht hatte; eine breite Nase mit einem tiefen Sattel. Und ihre Brüste? An die konnte ich mich wahrhaftig nicht mehr erinnern, wahrscheinlich waren sie nur sehr schwach vorhanden. Das war doch bei Aruki anders!
Ich suchte zum Genuß dieser Situation zu kommen. War es nicht eine seltsame exotische Sache, daß ich hier vor einem indianischen Wigmam saß und mit Slim, dem ersten neuzeitlichen Menschen, tiefsinnige Erörterungen tauschte, während die Weiber hier vorbeigingen und mit jeder Bewegung ihres Körpers um meine günstige Kritik ersuchten? Nun wollen wir uns einmal hineinknien in dieses Mysterium, an dem ich drei Punkte unterscheide: Mich, die exotische Stimmung der Umgebung und meine vollständig neuen Gedanken, [80] die ich Slim soeben ausgesprochen, nein, aber doch geheimnisvoll vermittelt habe – aber da merke ich plötzlich, daß etwas an diesem Kleeblatte nicht in Ordnung ist. Plötzlich war es aus, die Stimmung war verflogen. Ich sah mit einem Male anders, sah die Dinge furchtbar total und deutlich. War es die Überschärfe meines Bewußtseins – dann mußte es sich nach dem soeben gehaltenen sonderbaren Gespräche jetzt um ein besonderes Vergnügen handeln. Und wirklich, ich stand vor einer neuen Rauschart, zu sehen. Ich war gelassen und nahm es, wie es kam. Aber wie kam es? So wie ich es brauchte. Ich brauchte Heimlichkeit, Sicherheit und Realität. Und da war es. Die Exotik und das Stimmungshafte, das mich seit meiner Anwesenheit so stark beherrscht und behelligt hatte, waren überwunden. Ich wußte nun alles, wie es wirklich war. Zana hatte ganz frauenhafte Beine und war auch kein Dämon, und ich sah ein, wie schwer so viel Unbekanntes auf mir gelegen hatte; nun aber war es weg, und ich atmete erleichtert auf. Mit der Exotik war ich fertig. Dies war ein veralteter Standpunkt. Impressionismus? Er war falsch; er war ein Defekt der Beobachtung. Er war nicht tief, absolut nicht tief. Oh, ihr Exotiker, nun habe ich euch? Welches stammelnde Geschrei, welche Überraschungen und Perspektiven, welches schäbige Glück der Vagheit würdet ihr an meiner Stelle aus diesem Amerika erdichten? Welche Melodien würdet ihr diesem Ansichdasein abhören? Wie sieht nach euch die Wüste aus, ihr kahlstelligen Herzen mit eurer Oasensehnsucht? Drei Kubikzentner Sand auf euer Lügenmaul ist alles, was sie für euch haben sollte. Ich höre und sehe klar. War's möglich, daß Zana, die Unbekannte, mich solange beunruhigen konnte? Ha, Slim und ich, wir beide sind die modernen Menschen. Bei uns ist die Analyse eine Energie geworden. Nun erhebe ich mich, ich klopfe ruhigen Herzens meine Pfeife aus und begebe mich hungrig zu Slims Gasterei. Ich glaube, er ist heute jagen gewesen. Ja, nicht wahr, ein wundervoller Abend! Das südliche Kreuz ist so nahe, daß ich es mit einer Stange herunterholen könnte, wenn ich auf einer Wolke stünde. Im Herz der Palme nebenan muß eine Grille sitzen. Welch ein Dingelchen, welch ein schwarzer, unerschrockener Arbeitsnerv! Ich liebe Aruki. Aber ich könnte vielleicht auch Zana lieben. Sie hat mich angesehen. Immerhin, um die Knie hat sie etwas, das rührt. Es sieht ein wenig rachitisch aus; möglicher weise ist es nur häßlich. Dennoch. Es liegt eine Menge von Lust in allem Wirklichen. Ja, mit der Stimmung ist es jetzt ein für allemal aus. Das menschliche Bewußtsein ist grausam. Es tötet [81] Stimmungen, liebt Chirurgie, Wunden und Operationen. Ich sehe dieses Dorf, und es fällt mir nicht ein, es exotisch zu finden. Wenn der Himmel nicht wäre: liegt es auf einer Alpendrift oder unter dem Äquator? Hier ist Arbeit, Betrieb, Geschäft und Transaktion. Eine kleine, niedliche Technik. Die Hauptsache ist, daß sich alles ziemlich eng um den Punkt des Daseins bewegt. Es könnte in einem Ameisenhaufen nicht stimmungsloser hergehen. Jawohl ja, Beobachtung ist alles. Slim hat recht, dieses Leben ist unsereinem im Grunde gar nicht so fremd – nur kompletter ist es. »Nun, Slim, wie denken Sie über ein Abendessen?« Ich ahnte, daß ich mich hier einmal heimisch fühlen würde.
»Passen Sie auf«, sagte Slim, »Zana wird – wird mit uns kommen!«