[180] In arktischer Nacht

Mir träumte, wir gingen beide am Meeresstrand entlang. Tiefer Winter war's, und statt des Wassers dehnte sich zu unserer Linken eine endlose, graue Eisfläche aus; zur Rechten erhoben weiße Riesen ihre gespenstischen Häupter und streckten ihre kalten Arme aus, als wollten sie uns erdrücken in eisiger Umarmung. Und zwischen diesen beiden Schrecknissen führte ein schmaler Schneesteg unmittelbar am Strand entlang, – und auf diesem Stege gingen wir.

Zu unseren Häupten aber funkelten die Sterne der arktischen Nacht.

Mich fror, und der Fuß glitt aus auf der schlüpfrigen Fläche. Du hörtest meinen leisen Wehlaut und zogest eine stählerne Kette aus deinem Gewande, die du um unsere Körper legtest, um uns vor dem Fallen zu bewahren. Und ich schmiegte mich fest an deine Seite; aber immer noch schüttelte der Frost meine Glieder.

»Wohin gehen wir?« fragte ich leise.

Da legtest du die Hand auf meine Augen, und als du sie zurückzogst, sah ich in weiter Ferne ein flimmerndes, unbestimmtes Licht wie von einem großen Sterne.

»Das ist unser Ziel!« sagtest du.

»Aber meine Glieder erstarren, und ich werde es nicht erreichen in dieser Finsternis, die uns nicht einmal den Weg schauen läßt, den unser Fuß geht.«

Und da ich also klagte, schlugest du den Mantel auseinander und bargest mein Haupt an deiner Brust. Da war es, als sei deine Brust von Glas, und ich sah tief hinein in dein Herz. Und sah dein Herz flammen und glühen, und die Wärme teilte sich meinem Herzen mit, daß meine Glieder geschmeidig wurden und mein Blick zu leuchten begann.

[181] »Törichtes Kind,« fragtest du und küßtest lächelnd meine Stirn, »glaubst du nun, daß wir unser Ziel erreichen werden?«

»Ich glaube . . .«


Die Luft war schneidend kalt und unbewegt, aber die Flamme in deinem Herzen warf einen rosigen Schein auf den Schnee vor uns, auf die Eiswände an unserer Seite. Wir waren lange gewandert, und das Licht hatte mich geblendet, so daß ich den fernen Stern nicht mehr schaute und mich willenlos führen ließ. Dein Arm lag um meinen Leib, und mein Ohr vernahm das Rieseln des warmen Blutes in deinen Adern. Ich fühlte nur dich und deine selige Nähe, und keine Kette drückte mich mehr, keine Angst ließ meinen Fuß erlahmen.

Und wir wanderten und wanderten. Dann kam eine Stelle, wo der Weg sich verengte und die Eiswände zusammenrückten. Ich erhob die Hand, um dein Haupt zu schützen; du aber wehrtest mich ab und wandtest dein Haupt stolz nach oben.

»Meine Stirn muß frei sein,« sprachst du, »damit ich das Ziel nicht aus den Augen verliere.«

Und als ich entmutigt die Hand sinken ließ, berührte sie die Kette, die unsere Körper umschlang, daß sie leise klirrte, ganz leise . . . ..

Da sah ich die Flamme in deiner Brust unruhig aufflackern, so daß der grelle Schein an den Eiswänden emporhuschte und seltsame Schattenbilder aus der Finsternis herauskrochen. Und von Nordost schlug uns ein Luftzug entgegen, so voll eisiger Schärfe, daß mir bange ward um das Licht in deiner Brust.

»Es will Morgen werden,« sagtest du.


Und schärfer ward der Wind und kälter; ein Brausen klang aus der gefrorenen See empor, und der Wind wuchs zum Sturm. Und [182] der Sturm zerrte an deinem Mantel und trieb sein unruhiges Spiel mit der Flamme in deinem Herzen.

»Sie erlischt!« schrie ich auf.

»Was tut's?« erwidertest du, »schau hin: im Morgen taucht ein helleres Licht empor –«

Ich aber preßte in wahnsinniger Angst beide Hände auf deine Brust und versuchte, die süße, warme Flamme zu schützen, welche unsern schmalen Weg erleuchtet hatte. Doch meine Kraft war zu schwach gegen die Gewalt des Windes und gegen deinen trotzigen Willen. Du richtetest dich hoch empor und gabst deinen Mantel dem Winde preis, und ich sah dich stolz erhoben stehen, das siegbewußte Antlitz voll dem dunklen Firmamente zugewandt – einen Augenblick, o, einen kurzen Augenblick nur . . .

Da kam es heran: ein Rauschen und Raunen in den Lüften, ein Singen und Klingen um uns her, ein Klirren und Krachen. – Und die Flamme erlosch, und die Eiswände neigten sich über uns, und in der Todesangst warf ich mich zurück, so daß die Kette zerriß, die uns beide verbunden hatte. Dann drang ein schriller Weheruf durch die Nacht, und deine Hand entglitt der meinen; aus dem wankenden Boden empor kroch die Kälte an mir in die Höhe und drang in meine Adern und preßte mir das Herz zusammen, daß die letzten Tränen in meinen Augen zu Eis wurden, zu blinkendem Eis.

Ueber uns aber flammte es auf und leuchtete und strahlte und warf blitzende Lichter über die schimmernden Schneefelder und die gestürzten Berge. Todkalt und herrlich stand sie da am mitternächtigen Himmel, die Sonne der arktischen Nacht, das farbenschimmernde Nordlicht . . . und in dem einen, letzten, furchtbaren Augenblick, den mir zu denken noch vergönnt war, sah ich, wie die Eisberge dich begraben hatten und nun auch über mich sich neigten im verderbenbringenden Fall, sah ich mit grauenhafter [183] Klarheit, daß alles, was uns geleitet und beglückt, mein frommer Glaube und deine stolze Zuversicht bis auf die heilige Flamme in deiner Brust ein Irrtum gewesen war, ein einziger, süßer, schrecklicher Irrtum nur . . .

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TextGrid Repository (2012). Müller-Jahnke, Clara. Gedichte. Gedichte. Sturmlieder vom Meer. In arktischer Nacht. In arktischer Nacht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-52C5-6