[134] 189. Woher die großen Fluten kommen.

Die Nordsee ist eine Mordsee, ist ein Sprichwort hier zu Lande, und wo einmal Wasser gewesen ist, kann auch wieder Wasser kommen, ist ein alter Glaube. Darum hat alles Land von der Elbe an bis Riperfurt immer viel vom Wasser zu leiden; es ist aber nicht immer so gewesen.

Um das Jahr 600 nach Christi regierte in England eine Königin, Namens Garhöven, der versprach der damalige König von Dänemark, sie zu heiraten. Aber er hielt sein Wort nicht und ließ sie sitzen. Da ergrimmte die Königin und gedachte alle ihm zugehörigen Länder zu ertränken und zu versenken. Darum ließ sie die Höveden (die Vorgebirge) zwischen England und Frankreich, die sich sieben ganzer Meilen erstreckend bis dahin das Wasser aufgehalten hatten, von siebenhundert Mann, die sieben Jahre unaufhörlich arbeiteten, durchstechen. Gleich damals geschah durch das Hereinbrechen der Flut an unserer Küste ein merklicher Schade und hunderttausend Menschen wurden ersäufet. Darüber erzürnten die Leute im Lande so auf den König, daß einige vom Adel ihn mit Gift töteten und sein Name ganz und gar vertilgt und vernichtet ward. Seit der Zeit haben bis auf diesen Tag diese Küsten alljährlich zu leiden vom Zorn der Königin. Um dieselbe Zeit trieb mit dem Nordwestwind ein Moor aus Island oder, wie andre wollen, aus Schottland in Nordfriesland bei dem großen, dicken Walde an, der nur der düstere Damswald geheißen ward, wo sich viele ungeheure wilde Tiere aufgehalten haben. Das Moor ließ sich auf den Wald nieder und bedeckte ihn ganz, also daß seit der Zeit Friesland an Holz und Wald ganz arm ist. Im Kirchspiel Niebüll sind noch einige Häuser aus dem gedachten Walde gebaut. – Andre aber berichten, daß die Königin mit den Aquitaniern und den See- und Holländern Krieg geführt und dieselben nicht eher habe bezwingen können, als bis sie jene Höveden durchgehauen. Da sollen die Länder also untergegangen und zur wüsten See geworden sein. Doch die Friesen, so nächst am Meere gewohnt, haben einen Teil derselben bei kleinen Kögen wieder eingeholt. Deshalb empfingen sie zum Lohn von Karl dem Großen ihre Küren und Freiheiten.

Heimreich ed. Falck I, 83, 84. Kielholt ebendas. II, 345. Jonas Hoyer, Bericht S. 12 gibt einige abweichende Züge; vgl Thiele, Danm. Folkes. II, 7 f.

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TextGrid Repository (2012). Müllenhoff, Karl. Märchen und Sagen. Sagen, Märchen und Lieder. Zweites Buch. 189. Woher die großen Fluten kommen. 189. Woher die großen Fluten kommen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-4DFD-B