209. Die Eiche am Elbufer.

Nicht weit von Glückstadt steht unter dem Deiche, wo sonst nur Weiden stehen, eine schöne große Eiche, wohl weit herum die einzige in der ganzen Marsch. Vor vielen Jahren stand hier nur ein Busch. Ein paar Tagelöhner ruhten sich einmal an einem heißen Tage dahinter aus, als sie an der andern Seite einen Handelsmann, der sich auch da niedergesetzt hatte, mit seinem Gelde klimpern hörten. Der böse Geist erwachte in ihnen und sie fielen über den armen Mann her und erschlugen ihn, nahmen ihm sein weniges Geld und warfen seinen Packen in die Elbe. Die Leiche verscharrten sie unter dem Busch. Aber als sie noch mitten im Werke waren, war eine Schar wilder Enten schreiend über sie hingeflogen; [145] sterbend hatte der Unglückliche ihr Geräusch gehört und seine Hand zum Himmel erhebend sie zu Zeugen der Tat angerufen.

Doch viele Jahre blieb der Mord unentdeckt. Aber an der Stelle wuchs seit der Zeit ein blutrotes Kraut und sonst nirgend in der Gegend. Man nannte sie daher nur den roten Fleck. Und abends, wenn die Jungen die Pferde aus dem Außendeich holten, mußten sie immer schnell daran vorüber jagen und die Pferde mit Gewalt dazu zwingen. Denn sie wieherten und bäumten sich und scharrten mit den Hufen, wie sie immer an Stellen tun, wo unschuldig Blut vergossen ist. Der eine Mörder hatte sich unterdes verheiratet, der andere diente noch als Knecht auf einem Hofe; beide waren alt und grau geworden und wurden von allen als brave und tüchtige Leute geachtet. Da begab es sich nun, daß einmal an einem Abend jener mit seiner Frau am Deiche spazieren ging, und sie unvermerkt in die Nähe des roten Flecks kamen. In demselben Augenblick kam der Knecht über den Deich, um ein Pferd zu holen, und wie er am Busche vorüberstreifte, flatterten schreiend einige Enten auf: beide Männer fuhren vor Schreck zusammen, sahen starr einander an, und gingen aneinander vorüber, ohne ein Wort zu sagen. Während der Knecht das Pferd suchte, und der Mann mit seiner Frau noch eine Strecke weiter ging, ließen sich die Enten wieder nieder und flogen nun abermals auf, als beide sich noch einmal in der Nähe des Busches begegneten. Wenn der Frau beider Benehmen schon anfangs wunderlich vorgekommen war, so verwunderte sie sich jetzt noch mehr, als sie beide bleich und zitternd sah und fluchen hörte. Doch wich ihr Mann allen ihren Fragen aus; aber seit dem Abend war sein ganzes Wesen verändert, still und schwermütig ging er umher und mied jede Gesellschaft. Die Frau klagte es endlich der Nachbarin, erzählte ihr alles, was sie gesehen, und fragte sie um Rat, weil sie für die Gesundheit ihres Mannes besorgt war. Der Nachbarin aber stiegen gleich böse Vermutungen auf; ohne ein Wort zu sagen ging sie fort und hinterbrachte alles ihrem Manne. Der ging sogleich zum Bauervogt und als man nun auf der Stelle beim Busche nachgrub, fand man bald das Gerippe des Ermordeten. Die beiden Männer wurden festgenommen, und von Gewissensbissen gepeinigt gestanden sie die Tat, die sie vor vierzig Jahren vollbracht, und litten in Reue und Ergebung bald in Glückstadt ihre Strafe. Zum Gedächtnis pflanzte man jene Eiche.

Mündlich. Außer den »Kranichen des Ibykus« vgl. Haupts und Hoffmanns altdeutsche Blätter I, 117 und die Nachweisungen dazu, und Happel relat. curios. III, 397. Thiele, Danm. Folkes. II, 308.

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TextGrid Repository (2012). Müllenhoff, Karl. Märchen und Sagen. Sagen, Märchen und Lieder. Zweites Buch. 209. Die Eiche am Elbufer. 209. Die Eiche am Elbufer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-4DC3-D