343. Die Hexen in Wilster.

In Wilster gab es ehedem viele Hexen und böse Leute; das ist aber schon lange her. Die Ältermutter meiner Großmutter hat es dieser als Kind erzählt und die Geschichte immer angefangen: »Dat weer all lang vœr mien Tied.«

[232] Es war in Wilster ein junger Mann, ein Sonntagskind, der die Hexen vorzüglich sehen und kennen konnte. Eines Tages stand er auf einem Platz in der Stadt, wo eine Menge Bauholz gelagert war, vor einem alten Hause und schimpfte zum Giebelfenster hinauf: »Wat sittst du dar all wedder un spinnst, du ole verfluchte Hex?« Da rief die Hexe herunter: »Sönken, Sönken, laat mi doch mien Faden spinnen!« und augenblicklich saß der junge Mensch unter dem Bauholz, wo die Leute ihn mit Mühe hervorzogen.

In einer Nacht ward derselbe junge Mann durch einen fürchterlichen Lärm aus dem Schlafe geweckt. Gleich mußte er aus den Federn und da sah er einen ewig langen Zug von Weibern auf Besenstielen und Ofengabeln reiten, die mit Feuerzangen an blanke Kessel schlugen, und so ging's fort; er mußte hinterdrein. Als sie auf den Kreuzweg kamen, hielten sie einen großen Tanz, er mußte mit allen rund tanzen. Auch hatten sie einen großen silbernen Becher; der ging von Hand zu Hand und sie tranken dem jungen Mann daraus zu und hielten einen Ringeltanz um ihn. Aber gerade als er den Becher in die Hand bekam, schlug die Uhr eins, die Hexen verschwanden und er blieb allein nach mit dem Becher in der Hand. Als er sich besonnen hatte und den Becher betrachtete, fand er die Namen aller Hexen darauf ausgegraben; obenan stand die Frau Bürgermeisterin. Da ging er am andern Morgen zum Bürgermeister und meldete ihm alles, wie schändlich es in der Stadt hergehe, und wie seine eigne Frau eine Hexe sei. Da gab ihm der Bürgermeister viel Geld, damit er nicht weiter davon rede.

Zu dieser Zeit stand die Stadt noch nicht, wo sie jetzt steht, sondern weiter nach Norden zu an einem Arm der Wilsterau, der die alte Wilster heißt. Die Leute taten alles, um die Hexen auszurotten und ihrer los zu werden. Als sie aber sich daran machten die mächtigste und bedeutendste unter ihnen zu vertreiben, versank plötzlich an einem Sonntagvormittag während der Kirchzeit die ganze Stadt, so daß nur die oberste Spitze des Turmes sichtbar blieb. Vor fünfzig Jahren konnte man diese noch immer sehen, und nachts um zwölf Uhr hat man die Hexen darauf tanzen sehen und gehört, wie sie jubelten und frohlockten über den Sieg, den sie über ihre Gegner errungen.

Schriftlich und mündlich. – Wolf, Niederl. Sagen Nr. 246. 383.

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TextGrid Repository (2012). Müllenhoff, Karl. Märchen und Sagen. Sagen, Märchen und Lieder. Zweites Buch. 343. Die Hexen in Wilster. 343. Die Hexen in Wilster. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-4D05-8