Ueberflüssig

Nehmt mir den Stein von meinem Grabe;
Für mich giebts keinen Leichenstein!
Ich, der ich nun verklärt mich habe,
Will doch für euch kein Todter sein!
Warum das Weinen und das Klagen,
Wozu der Gram, das Herzeleid?
Was ihr von mir hinausgetragen,
War nur das abgelegte Kleid.
Ich bin im Geist bei euch geblieben,
Für den es keine Trennung giebt,
Und werde euch auch ferner lieben,
So, wie ich euch bisher geliebt.
[341]
Zwar könnt ihr mich jetzt nicht mehr sehen,
Obgleich ihr mir noch sichtbar seid,
Doch ist ja weiter nichts geschehen,
Als: ich bekam ein andres Kleid.
Und dieses Kleid, ich soll es tragen
Zu meinem Heil, zu meinem Glück.
Das alte – tröstend will ichs sagen –
Ich wünsche es mir nicht zurück.
Doch, wenn ihr weint, dürft ihr nicht wähnen,
Ich könne mich euch selig nahn;
Es thut mir jede eurer Thränen
Noch weher, als sie euch gethan.
[342]
Laßt sie fortan nicht weiter fließen,
So lieb ihr es auch mit mir meint;
Sie auf den Hügel auszugießen,
Dazu sind sie doch nicht geweint.
Drum, nehmt den Stein von meinem Grabe,
Da ihr nun wißt, ich lebe noch!
Wenn ich euch auch verlassen habe,
So bleibt euch meine Seele doch.
[343]

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TextGrid Repository (2012). May, Karl. Gedichte. Himmelsgedanken. Ueberflüssig. Ueberflüssig. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3002-6