Das Volkslied

Wach auf, wach auf, du deutscher Wald;
Laß deinen Sang nicht schweigen!
Ich such und such, ob sich wohl bald
Ein Kehlchen möge zeigen.
Der Häher schreit am Wasserfall;
Der Ammer zankt im Ried,
Doch wo, wo bleibt die Nachtigall
Und wo der Drossel Lied?
Hörst du denn nicht der Aexte Schlag
Durchs Heiligthum erschallen,
Und siehest du nicht Tag für Tag
Die Säulen niederfallen?
Berechnend tritt der Tod heran,
Vor dem das Leben flieht,
Und wenn es stirbt und schwindet, dann
Stirbt mit ihm auch das Lied.
[233]
Wach auf, wach auf im Dichterwald,
Du Sang, der einst erklungen!
Wirst du im neuen Reich nicht bald
Auch wieder neu gesungen?
Ich such den klaren, warmen Ton,
Der durch die Herzen zieht.
Der Worte giebt es Legion;
Wo aber bleibt das Lied?
Siehst du denn nicht die heilge Kunst
Ins Ausland betteln gehen,
Weil um der Magdalenen Gunst
Die hagern Dichter flehen?
Such nicht, such nicht nach Liebesdank
Bei der, die man verrieth,
Denn ist des Volkes Seele krank,
Krankt auch des Volkes Lied.
[234]

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TextGrid Repository (2012). May, Karl. Gedichte. Himmelsgedanken. Das Volkslied. Das Volkslied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-2F58-2