[Erste Abtheilung]
»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.«
Paulus von Tarsos.
Ueberall, wohin das Auge schaut, erblickt es Gegensätze, welche in Beziehung zu einander gestellt sind und durch ihre Vermählung die manichfaltigsten Erscheinungen und Gestaltungen in das Dasein rufen.
Wärme und Kälte, Licht und Finsterniß, Anziehung und Abstoßung, Entstehen und Vergehen stehen im Leben der Natur in ewigem und segensreichen Kampfe einander gegenüber.
So auch im Leben des Menschen, welcher eine Welt im Kleinen, ein Mikrokosmos genannt wurde Tugend und Sünde, Liebe und Haß, Kraft und Schwäche, Glaube und Unglaube, Erkenntniß und Indolenz, Sehnsucht und Gleichgültigkeit, Gehorsam und Widerstrebung, Glück und Unglück, Armuth und Reichthum ringen da, ewig wechselnde Ereignisse gebärend, mit einander um die Herrschaft und heben auf den Wogen des Kampfes den Einzelnen sowohl wie auch die große Gesammtheit empor zu immer wachsender, immer größerer Vollendung.
All' die vielen äußeren Vorzüge, welche sich um den Menschen und an demselben geltend machen, werden hervorgerufen und in ihrem Bestehen dominirt von den inneren Gegensätzen, unter derem Einflusse das Niveau seines Seelenlebens sich auf- und abbewegt, Erkennen, Fühlen [19] und Wollen, Ausdehnung und Richtung erhält und die Handlungen entstehen, mit denen er sein Dasein gestaltet und mitbestimmend eingreift in das vielfach zusammengesetzte Getriebe der menschlichen Gesellschaft.
Der Mensch ist ein in sich abgeschlossenes, ein Individuum bildendes und vollendetes Einzelwesen und doch zugleich auch ein Glied in der großen, zusammenhängenden Reihe der Kreaturen. Aus diesem Grunde ist seine ganze Thätigkeit eine sowohl auf sich selbst bezügliche, als auch aus sich heraus auf die ihn umgebenden Gegenstände und Verhältnisse gerichtete, und dieser Widerstreit, dieser Gegensatz kann zur friedlichen Auflösung, zur wohlklingenden Harmonie gebracht werden einzig und allein nur durch die große Macht der – Liebe.
Als schönste Offenbarung Gottes ist sie vom Himmel gestiegen, um den Sterblichen zum Wiedereintritt in das verlorene Paradies vorzubereiten und ihm das Dunkel seines irdischen Lebens mit ihrem erwärmenden und begeisternden Strahle zu erhellen.
Sie lehrt ihm seine eigene Würde kennen und behaupten, legt seine Arme um das Weib, das Kind, um Vater, Mutter, um den Freund und Nächsten, macht ihn zum Bürger, Unterthan und Menschen, lenkt seine Freundlichkeit selbst auf das Thier, bringt ihn in Contact mit der ganzen Schöpfung, und was das Größeste ist, macht ihn zum Kinde Gottes, errettet ihn vom Tode und ertheilt ihm das Recht, ein ewig Sein zu führen. –
Das Gesetz, nach welchem eine Naturerscheinung aus der andern hervorging, ein lebendes Wesen aus dem andern sich entwickelte, war der allmächtigen Liebe entflossen, welche sich mit Wesen umgeben mußte, an denen sie sich bethätigen, ihre Größe und Unendlichkeit beweisen konnte, und das höchste, das vollkommendste irdische Gebilde, welches sie hervorrief, war der Mensch.
Als er zum Leben erwachte, war er Nichts als ein vegetirender Körper; denn der Geist, dessen Wohnung er bildete, mußte in allen seinen Fähigkeiten erst ausgebildet werden, und dasjenige geistige Vermögen, welches zuerst in Thätigkeit trat und sich an der Betrachtung der ringsum waltenden Erscheinungen üben konnte, war die Wahrnehmung.
Durch den Weg der Sinne, durch das Gesicht, das Gehör, das Gefühl führte sie die Eindrücke der Außenwelt der Seele zu, welche dieselben [20] durch dieAnschauung erfaßte und die einzelnen Anschauungen zu Begriffen verband.
Die Begriffe begannen, im Innern des Menschen auf einander zu wirken, indem sie in eine vergleichende Beziehung zu einander traten, deren Resultat die Gedanken waren.
Von diesen Augenblicken an erst war der Mensch ein denkendes Wesen, welches sich befähigt zeigte, durch die Verbindung der Begriffe zur Erkenntniß alles Seienden, also auch seiner selbst zu gelangen, und von den drei großen Vermögen der Seele, derErkenntniß, dem Gefühle und dem Wollen war es also die Erstere, welche noch vor den beiden Anderen zur Thätigkeit gelangte.
Diese ihre Thätigkeit war zunächst auf die sinnlich wahrnehmbaren Dinge gerichtet, deren Wesen sie zu erfassen, zu durchdringen strebte, um den ersten Schritt zu thun zur Herrschaft über alles Lebende, für welche der Mensch bestimmt war durch die Worte des Schöpfers: »Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meere, über die Vögel unter dem Himmel, über das Vieh, über die ganze Erde und über alles Gewürm, was auf Erden kriechet!« Denn nie und nimmer läßt sich ein Zustand, ein Gegenstand oder Wesen beherrschen und dominiren, bevor es nicht in allen Einzelnheiten seines Wesens und seiner Beziehungen erkannt, ergriffen und festgehalten worden ist.
Dieser erste Schritt war zugleich der schwierigste, denn der damalige Mensch besaß nicht eine an Errungenschaften so reiche Vergangenheit wie diejenige ist, auf welche sich der Denker und Forscher der Gegenwart stützen darf, und keine Wissenschaft machte ihn mit den Regeln bekannt, nach welchen sich das Eine aus dem Andern schließen und so ein vereinigendes Band durch und um alles Wahrnehmbare ziehen und schlingen läßt. –
Die Schärfe seines Gedankens mußte sich erst an der Erfahrung üben und nur durch Irrthum konnte er zur Wahrheit gelangen. Er war der Mittelpunkt, um den sich alles Lebende und Bestehende gruppirte; je mehr sein Blick sich schärfte, desto mehr vergrößerte sich sein Einfluß auf die Außenwelt und erweiterte mehr und mehr die ihm gezogenen Grenzen.
Aber wer hatte diese Grenzen ihm gesetzt? Wer war die Macht, mit der er um die Herrschaft rang, die ihm wohl gestattete, das Reich seiner [21] Wirksamkeit immer weiter auszudehnen, aber wieder und immer wieder ihm ihre Ueberlegenheit bemerklich machte? Er rang mit ihr und – fühlte seine Schwäche: Er stellte sich ihr feindselig gegenüber und wurde dadurch zur Erkenntniß seiner selbst geführt. Das ist die Wahrheit, welche in der biblischen Legende von dem Sündenfalle liegt.
Er hatte sich gedünkt, ein Herr zu sein, sah diese Herrschaft in der Hand eines Mächtigeren und erkannte, daß er nur durch Mühe und Arbeit im Schweiße seines Angesichtes zu ihr gelangen möge. Dies war die Frucht, die er sich vom Baume der Erkenntniß gebrochen hatte und welche das erste Stadium in der Erziehungsgeschichte der Menschheit bildet. Von hier datirt der Zwiespalt in dem menschlichen Herzen, unter welchem es bald zum Himmel jauchzt und bald sich an den Staub gebunden fühlt.
Die Geschichte von dem Sündenfalle ist die Geschichte von der Emancipation des Menschengeistes, die Geschichte seines Erwachens zu selbständiger, selbstbewußter Thätigkeit, von den Finsterlingen als das größeste Unglück von den Freidenkenden aber als die bedeutendste Errungenschaft auf dem Gebiete des Nichtsinnlichen bezeichnet.
Der selbstständige und selbstbestimmende Geist kennt keinen andern als den selbsterworbenen Besitz und deßhalb hat es für ihn kein Paradies gegeben, sondern er strebt erst nach einem Eden der Zukunft, in welchem er frei von den Fesseln, welche Zeit, Raum und irdische Verhältnisse um ihn schlagen, die ihm verliehenen Kräfte bethätigen kann.
Der kindliche Glaube aber erblickt in den Mängeln des irdischen Lebens eine Hindeutung auf einen früheren Zustand der Reinheit und Fehlerlosigkeit, auf ein Dasein, welches die Sünde noch nicht kannte, von keiner Schuld und Strafe ahnte und nur durch ein unablässiges Ringen nach Gnade und Barmherzigkeit zurückgerufen werden kann. Und dieser Kinderglaube kann eben auch nur einem kindlichen Geiste zu eigen sein.
Ihn versetzt die Sehnsucht in den verlorenen Garten zurück, dessen Schönheit er sich mit den lieblichsten und glühendsten Farben der Phantasie ausmalt. Da gab es nicht Sturm und Wetter; da wütheten nicht die entfesselten, verderbenbringenden Elemente; da zitterte nicht das menschliche Herz unter der Macht verheerender Leidenschaften; der Geist des Hasses, der Rache und Feindschaft lag angekettet im tiefen Grunde der Unterwelt, und in ungestörtem, seligem Frieden wandelten die Millionen glücklicher [22] Geschöpfe vertrauensvoll neben einander her. Und über ihnen allen wachte und lachte das Auge des Herrn, der in unendlicher Weisheit das Alles geordnet; die Himmel rühmten seine Ehre und die Feste erklangen von dem Schalle seines Ruhmes.
Mit dem verlorenen Eden ging auch die Gemeinschaft mit Gott verloren; das Gottesbewußtsein schwand so sehr aus dem von der Sünde verdunkelten und von ihr beherrschten Herzen, daß es nur als leise Ahnung in demselben fortlebte und erst nach langer Zeit sich wieder bildete.
Doch nicht plötzlich und mit einem Male ist die Erkenntniß Gottes dem Menschengeiste aufgegangen, sondern erst nach und nach in ihm emporgestiegen.
Sobald sein Auge über die Menge der ihn umgebenden Wesen streifte, sobald er nur sich selbst zu finden suchte, mußte sich ihm die Frage aufdrängen: »Wo sind sie her und wie bin auch ich entstanden?« Der an die Endlichkeit Gebundene vermag nicht, über dieselbe hinaus zu denken; das Bestehende muß für ihn einen Anfang haben und einst ein Ende finden. Also richtete sich seine erste Frage auf den Urheber alles Dessen, was ihm als Erschaffenes, als Kreatur erschien.
Nichts kann entstanden sein ohne einen Willen, der es gewollt, ohne eine Macht, die es in das Dasein gerufen hat. Also muß die Schöpfung ihr Dasein einem Willen verdanken, welche außer ihr liegt, und einer Macht, welche gewaltiger ist als alle Kräfte, die in ihr wirksam sind. Dieser Wille ist Gottes Wille, und seine Macht, die alles kann und Alles vermag, die keine Schwierigkeiten und Hindernisse kennt, istAllmacht.
Diese Macht ist dagewesen schon vor dem Seienden und wird bleiben, wenn Himmel und Erde vergehen und die Zeit ein Ende nimmt. Sie ist ohne Anfang und ohne Ende, ist von Ewigkeit zu Ewigkeit – ist ewig.
Und immer tiefer geht der Blick des Menschen. Er sucht nach Ordnung und Zusammenhang und entdeckt die Regelmäßigkeit, mit welcher Eines in das Andere greift, jedes seine Bahnen geht und unveränderlich auf ihnen verbleibt. Von den größten Welten bis zum kleinsten Staube hat Alles seine Bestimmung, seine Bedeutung und ist grad so gemacht, wie dieselbe es erfordert. Nur Gottes Allweisheit vermochte, diese Gesetze hervorzurufen und diese unerschütterliche Ordnung zu bestimmen, welche sich durch Jahrmillionen unveränderlich erhalten hat und in alle Ewigkeit bestehen wird.
[23] Diese Ordnung bietet dem Forscher diejenigen Punkte, auf welche er den Blick vorzugsweise zu richten hat, denn nur durch das Eindringen in jene geheimnißvollen Tiefen, aus welchen ewige Kräfte nach ewigen und unumstößlichen Gesetzen alles Seiende über den Horizont des Lebens hereinschleuderten, ist ein Schritt um Schritt weitergehendes Vordringen in dem Wissen möglich, und wenn das Menschengeschlecht gelernt hat, jene Gesetze und Gewalten zu erfassen, so wird es ihm gelungen sein, den Zusammenhang der Weltenordnung zu durchdringen und alle Erscheinungen des Lebens zu beherrschen.
Ganz besonders aber ist es Eines, was sich bei der Betrachtung des Bestehenden dem Auge zu erkennen giebt:
Welches war der Grund, daß ein Gott, der in seiner unendlichen Vollkommenheit die höchste Seligkeit und Genüge in sich selbst finden mußte, sich mit Wesen umgab, die seiner Barmherzigkeit und Güte so sehr bedurften? Diese Frage öffnet einen Abgrund, welcher uns hinunterblicken läßt in die Tiefe des göttlichen Wesens und uns die größeste, herrlichste Eigenschaft kennen lehrt, der wir das Dasein und unsere Anwartschaft auf die Seligkeit des Himmels zu verdanken haben – die Liebe Gottes.
Sie ists, welche im Rathschlusse des Allmächtigen den Ausspruch that: »Lasset uns Menschen machen!« sie ist es, welche jede neue Schöpfungsperiode mit dem göttlichen »Es werde!« bestimmte; sie ist es, welche die Welten alle und mit ihnen die Erde in die Bahnen des Himmels warf und jeder von ihnen das gab, was zu ihrem Bestehen erforderlich ist, – und sie ist es, welche aus dem Auge des ewigen Vaters leuchtet, wenn er waltend und regirend über den Sphären thronet.
Sie konnte und mochte nicht sein, ohne sich bethätigen ohne beglücken und beseligen zu können; sie mußte Geschöpfe haben, welche es bedurften, von ihr umfaßt und gehalten zu werden, und wie sie ewig war, so wird sie auch ohne Ende sein.
Und wie der Planet den hellen Strahl der Sonne nicht für sich behalten kann, sondern ihn zurückleuchten läßt, bis zur Spenderin seines Lichtes und ringsumher auf die Gestirne, welche sich mit ihm um sie bewegen, so ist es auch dem Menschenkinde, in dessen Herz ein Strahl der göttlichen Liebe gefallen ist, unmöglich, denselben in seinem Innern zu verschließen. Die heiligsten und beseligendsten Regungen, welche dieser Strahl in der Menschenbrust geweckt, sie müssen emporsteigen zum Ursprunge aller [24] aller Liebe und Alles umfassen, was die Erde, die ganze Welt an Wesen und Geschöpfen faßt und birgt.
Aber neben dieser Liebe ging ein Etwas einher, welches sich ihr auf tausendfältige Weise feindlich gegenüberstellte und den Menschen mit sich selbst in den eben schon erwähnten Zwiespalt brachte.
Der Tag währte nicht immer, sondern wich der finstern Nacht; mit dem hellen Lichte wechselten tiefe Schatten, Sturm und Wetter unterbrach die friedliche Ruhe der Natur, zitternde Stöße erschütterten die Festigkeit des Erdbodens, der Zeit des Blumenduftes und Früchtereifens folgte die erstarrende, winterliche Kälte und selbst das kräftigste Leben sank endlich in den Tod.
Und wie in der Natur, so auch in einem Leben des Menschen.
Die Reinheit der Seele, die Heiligkeit des Herzens war keine unverletzliche, sondern schon in dem frühesten Wollen des Kindes sprach sich ein Widerstreben gegen das Gute, eine Feindschaft gegen die Wahrheit, ein Verlangen nach dem Versagten aus. In die hellen, klaren und durchsichtigen Fluthen der Liebe, der Geduld, der Friedfertigkeit flossen die trüben Wasser des Hasses, des Zornes, der Rachsucht, und der Geist der Verneinung entfaltete mehr und mehr seine beängstigende Macht.
Woher das?
Konnte Gott, der die Liebe selber ist, er der Allweise, Allgütige, die schlimmen Regungen des Herzens, die Möglichkeit der Sünde in dasselbe gepflanzt haben? Konnte er der Zerstörung, dem Tode geboten haben, zu erscheinen, um die Werke seiner Allmacht, seiner Herrlichkeit von ihm vernichten und verderben zu lassen?
Nein, das war nicht möglich. Er, der das Leben selbst ist, er, der Ewige, der Unendliche, konnte nicht wollen, daß eines seiner Geschöpfe dem Tode verfalle, sondern wie die Finsterniß neben dem Lichte, die Sünde neben der Unschuld einherging, so mußte es auch neben ihm, dem Reinen, Allgütigen, ein Wesen, einen Gott geben, welcher in ununterbrochener Auflehnung gegen ihn, die Werke seiner Allmacht zerstörte und seine verführende Stimme ertönen ließ selbst bis in das tiefste Innere des früher von keinem Hauche der Sünde und des Unrechtes getrübten Menschenherzens.
Hier stehen wir vor dem Teufelsglauben.
Das ist das Gespenst, welches Jahrtausende lang sein Wesen getrieben und die kindlich gläubigen Gemüther in Angst und Schrecken versetzt hat. [25] Aber unter dem Lichte der Aufklärung schwindet der Spuk nicht nur in ein Nichts zusammen, sondern verkörpert sich zu einem Führer in den Rathschluß des Ewigen, welcher jede Welt nach bestimmten Gesetzen sich entwickeln läßt.
Fast bei allen Völkern, mögen sie von dem Schauplatze der Geschichte verschwunden sein oder als lebende Nationen noch heut' bestehen, finden wir die Annahme, daß ein böses Wesen »umhergehe und suche, Welchen es verschlinge.« Die christliche Religionslehre hat das Kapitel von dem Teufel aus dem Judenthum mit herübergenommen, welches den Teufelsglauben von den Chaldäern erbte, die ihn von den Persern übernommen hatten. Der gute Gott der Letzteren hieß Ormuzd, der böse Ahriman.
Bei den vorexilischen Juden galt der Teufel für ein unter Gott stehendes Wesen, welcher als ein Bote desselben die göttlichen Strafgerichte auszuführen hatte. Erst später bildete sich der Glaube an einen persönlichen Satan, welchen die Sage mit den abschreckendsten körperlichen Attributen versah. Natürlich gab dieser Glaube der herrschsüchtigen Priesterschaft ein willkommenes Mittel in die Hand, sich der Gemüther zu bemächtigen und einen Einfluß geltend zu machen, welcher der jetzigen Zeit fast unglaublich erscheint.
Der Teufel war der Fürst der Finsterniß, welchem alle Reiche der Welt und alle Schätze der Erde zur Verfügung standen. Mit Hülfe geheimnißvoller Sprüche und Ceremonien konnte man ihn citiren und sich unterthänig machen. Es wurden umfangreiche Bücher geschrieben über die Art und Weise, ihn zum Gehorsam zu zwingen; man berichtete von einem sechsten und sogar siebenten Buche Mosis, welches alle kalbalistischen Lehren enthalte und hier und da in Kirchen mit Ketten angeschlossen sei.
Die Sage bemächtigte sich gewisser Persönlichkeiten, wie. z.B. des Dr. Faust, Paracelsus, Philadelphia, und erzählt von ihnen die wunderbarsten Thaten, welche sie mit Hülfe des Teufels ausgeführt haben sollen; man spricht von einem einfachen, doppelten und dreifachen »Höllenzwang«, findet zuweilen heut' noch alte räthselhafte, mit geheimnißvollen Zeichen versehene Manuscripte und empfindet ein leises Gruseln, wenn von den Kanzeln herab mit Beelzebub gedroht wird.
Aber wie die biblische Lehre ihn einen »Lügner von Anfang« nennt, so ist auch das ganze Dasein eines persönlichen Teufels eine Unwahrheit, und mit dem echten und wahren Gottesglauben unmöglich zu vereinigen.
[26] Kann der heilige, der allliebende Gott ein Wesen neben sich dulden, welches die Geschöpfe seiner Hand, die Kinder seiner Liebe mit dem Fluche der Sünde belastet, ihnen ihre Göttlichkeit raubt, sie in Fesseln und Banden schlägt und dem zeitlichen, geistigen und ewigen Tode entgegenführt? Kann ein Gott dulden, daß die ewigen Gesetze seiner Weisheit zu Schanden werden um eines Geistes willen, dessen Aufgabe der Fluch, die Vernichtung ist? Kann Gott, der Allmächtige, seine Allmacht in die Hände eines Wesens legen, welches der Hölle entstiegen ist? Kann es überhaupt bei der Bestimmung Aller, selig zu werden, eine Hölle geben?
Wenn die ewige Liebe Wesen erschuf zu dem alleinigen Zwecke des Glückes, so ist eine Macht, welche nur das Unglück beabsichtigt, eine Unmöglichkeit. Wenn die Macht, welcher die Welt ihre Entstehung verdankt, Allmacht ist, so muß sie ungetheilt bestehen, und ein Geist, welcher gegen sie streitet, ist eine Unmöglichkeit. Wenn die göttliche Allweisheit Gesetze schuf, nach denen allein der Gang aller Entwickelung in Ordnung und ohne Störung verfließen kann, so ist das Böse, welches hindernd in diese Entwickelung eingreift, eine Unmöglichkeit.
Giebt es einen allmächtigen Gott, so kann es keine Teufel geben. Giebt es ein absolut Gutes, so kann es nicht das Böse geben. Giebt es eine Seligkeit, so ist damit jede Verdammniß ausgeschlossen.
Damit soll indeß nicht gesagt sein, daß jede Daseinsform den Zustand der Vollkommenheit erreicht habe. Wie das Verlangen nach einer Freude, also die Hoffnung, das Herz höher klopfen läßt, als diese Freude selbst, so liegt in dem »Trachten nach dem Reiche Gottes« eine Seligkeit, welche vielleicht nichts anderes ist, als eben die Seligkeit.
Warum ist das alte Wort wahr, welches sagt: »der Mensch bekommt nie genug?« Nur deshalb, weil das Streben mehr noch befriedigt, als das Erreichen des Zieles, und ist dieses Ziel zu niedrig gesteckt worden, so daß man es in Bälde zu erreichen vermag, so fühlt man sich nach weiteren Zielen vorwärts getrieben.
Jedes erschaffene Wesen, stehe es immer auf irgend welcher Stufe, ist relativ vollkommen, d.h. es besitzt alle diejenigen Eigenschaften, welche zur Lösung der ihm gestellten Aufgabe nothwendig sind. Hat es dieselbe gelöst, so ist es einen großen Schritt vorwärts gedrungen und geschickt worden zur Lösung neuer Aufgaben, welche ihm an dem Horizonte immer von neuem entstehen, je mehr sich derselbe erweitert.
[27] Auch der Mensch steht mitten in dieser Entwickelung, in diesem Vorwärtsstreben, in diesem Schreiten von Ziel zu Ziel, und wie das einzelne Individuum, die Gesammtheit der Familie, des Stammes, des Volkes das Alte zurückläßt und immer nach Neuerem, nach Besserem, nach Höherem strebt, so auch das Große, Ganze, welches wir Menschheit nennen.
Der Mensch ist nicht geboren, um ein in sich abgeschlossenes und mit dem Tode endendes Dasein auf der Erde zu leben, sondern nach der Erfüllung der irdischen Wallfahrt zu neuem Sein vorzuschreiten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Geist, welcher den menschlichen Körper beseelt, nicht mit dem Säuglinge entstanden ist, sondern vielleicht schon viele Hunderte von Entwickelungsstufen zurückgelegt hat und ohne Erinnerung an das Vergangene im Kinde erwacht, um für die Anforderungen des Erdenlebens zu zeitigen und reif zu werden. »In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen, und ich gehe hin, Euch die Stätte zu bereiten,« sagte Christus, der Weiseste der Weisen, und wie er hingegangen ist, den Seinigen voran, so werden auch wir den Nachkommenden vorangehen, um die Wohnungen des Vaters kennen zu lernen und von Grad zu Grad der Gotteskindschaft immer würdiger zu werden.
Der an den Erdenstaub gefesselte Geist vermag nicht, die Vollkommenheit zu entfalten, welche er später haben wird; der Stoff des Endlichen, des Vergänglichen hängt sich an ihn und beeinträchtigt sein Denken, Fühlen und Wollen. Deshalb klebt seinem Thun die Unvollkommenheit des Erdenlebens an, und im Streite zwischen Geist und Materie, zwischen Himmlischem und Irdischem tritt jene Eigenschaft des Menschen zu Tage, welche Sündhaftigkeit genannt wird.
Sie ist nicht ein Urzustand, sondern ein Ergebniß. Wie der Fuß des kühnen Steigers, der Spitze des Berges zustrebend, das morsche Gestein von seinem Halte löst, so daß es hinabstürzt zur Tiefe und den Untenstehenden verwunden und schädigen kann, so stiebt unter den mächtigen Schwingen des emporstrebenden Geistes das Irdische umher und droht Gefahr, ihn hinabzureißen in den Abgrund, aus welchem er den nun erschwerten Flug von neuem beginnen muß.
Der Gefallene erkennt in seinem Falle ein Uebel, dessen Ursache er nicht in dem Gesetze der Schwere, sondern in sich selbst und dem Einflusse des »Satans« sucht. Und doch lernt man kämpfen nur durch Kampf, und wie die Finsterniß nicht Finsterniß ist, sondern nur ein geringer Grad des [28] Lichtes, wie die Kälte nicht Kälte, sondern nur ein niederer Theil der Wärme ist, so ist der Fehler des menschlichen Thuns nicht ein absolut Böses, sondern die Folge eines tieferen Grades geistiger Entwickelung.
Der Teufel ist nichts anderes, als der Geist der Erde, welcher von dem Herrn der Heerschaaren die Aufgabe empfing, die Menschen durch Nacht zum Lichte, durch Irrthum zur Wahrheit, durch den Zweifel zur Erkenntniß zu führen.
Das »Ich« hat seine Heimath auf der Erde. Es hängt an ihr und trachtet nach den Schätzen, »welche die Motten und der Rost fressen und denen die Diebe nachgraben und sie stehlen«. Der »Odem Gottes« aber, durch welchen der Schöpfer dem Staube das Leben einhauchte, hat seine Heimath in der Ewigkeit. Er hängt an Gott und trachtet hinauf nach der himmlischen Vollendung.
Die Vereinigung Beider, die sich im Menschen vollzieht, läßt die mannigfaltigsten seelischen Gestaltungen entstehen, welche seine Stellung zu Gott und den Mitgeschöpfen bestimmen. Jede dieser Gestaltungen aber ist ein Ausdruck der Liebe entweder zu sich selbst oder derjenigen, welche nach Außen thätig ist. Die Sünde ist nicht ein Kampf gegen Gott, sondern nur ein Resultat der in den Menschen gelegten Gesetze, nach welchen das »Ich« sich bald zu, bald gegen den »Odem Gottes« stellt, und je größer die Schlacken, welche dem Geiste anhingen, desto herrlicher offenbart sich die göttliche Liebe in Gestalt der ewigen Barmherzigkeit, welche nicht müde wird, zu rufen und zu locken: »Kommt her zu mir alle, die Ihr mühselig und beladen seid; ich will Euch erquicken!«
und je heller uns die göttliche Liebe herniederleuchtet, desto höher flammt die unsrige ihr entgegen und erfüllt uns mit jener Seligkeit, welche Christus so einfachschön in den Worten ausdrückte: »Ich und der Vater sind Eins.«
Nur in dieser Einigkeit mit Gott lernen wir die Liebe erkennen, welche Gott selbst ist, und den besseren, den himmlischen Theil unseres eigenen Wesens bildet. Sie ist eine ganze, eine untheilbare, und vereinigt alle Glieder der Menschheit zu einem einzigen, unzertrennlichen Ganzen.
»Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm!« In diesem Worte hat das [29] Ich seine Geltung verloren; denn der Mensch ist nicht mehr ich, sondern als Odem des Allliebenden ein Adom des Meeres von lebenden Wesen, welche den Zweck haben, nach vollendeter Bestimmung zurückzukehren zu dem Urquelle alles Lebens. Darum sagt der große Weise: »Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst,« und »Wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann der Gott lieben, den er nicht siehet?«
Das Trachten, Gott zu finden und in seiner Liebe zu bleiben, wird mit dem Worte Religion bezeichnet. In ihr giebt sich die Liebe zu Gott in all' ihrer Macht und Herrlichkeit, aber auch in all' ihrer Verirrung zu erkennen, und die Geschichte der Religionen ist zugleich eine Geschichte der geistigen Entwickelung des Menschengeschlechtes mit all' ihren Alb- und Irrwegen. Ihr sei eine unserer Betrachtungen gewidmet.
Wenn die Hingebung des Gemüthes zu irgend einer Person den einzelnen Menschen zu den schönsten Thaten führen kann, so ist es die Liebe zu Gott, das Festhangen an den himmlischen Offenbarungen, wodurch ganze Nationen aus der Ruhe des gesellschaftlichen Lebens gerissen und zu Handlungen begeistert werden, welche ihre Folge bis in spätere Jahrtausende tragen.
Gott, der über den Sternen thronet, ist der höchste, der erhabenste Gegenstand, nach welchem das menschliche Herz zu streben befähigt ist, und so darf es nicht wundern, wenn die Liebe zu ihm in mächtigeren und dauernderen Wirkungen auftritt, als die Zuneigung zu irgend einem der uns umgebenden Wesen.
Diese Liebe ist von der einen Seite mit klug berechnendem Scharfsinn zur Erreichung von Kastenzwecken benutzt und von der anderen Seite unter Verneinung eines höheren Wesens mit geringschätzendem Spotte verurtheilt und verlacht worden; aber sie ist der gewaltigste Hebel der Cultur gewesen und hat den Völkern Gesetze vorgeschrieben, aus deren Erfüllung ihre geistige und politische Größe hervorging.
Freilich darf die Liebe nicht frei zum Himmel streben; es streckt der Egoismus die knöchernen Arme nach ihr aus und sucht sie immer wieder herunter zu ziehen in den Staub und Schmutz der Erde.
Jedes Volk geht seine eigenen Wege zur Erkenntniß, und die Stufen [30] der geistigen Anschauungen sind sehr verschieden. Leicht dünkt sich da der Eine höher, aufgeklärter und besser als der Andere, und maßt sich die Aufgabe an, ihn – und wäre es unter Anwendung von Gewaltmaßregeln – zu sich empor zu ziehen. Aber Niemand darf sagen: »Mein Glaube ist der allein richtige,« denn die verschiedenen Anbetungsformen sind nichts, als verschiedene Töne eines und desselben Accordes, der Harmonie mit Gott.
Die Liebe zum himmlischen Vater vermag den Menschen zum Engel, aber auch zur Furie zu machen. –
Wie die echte, wahre und aufopferungsfähige Zuneigung der Menschen sich nicht von dem ersten Augenblicke der Bekanntschaft datirt, so war auch bei den ersten Menschen die Liebe zu Gott nicht das erste Product der religiösen Erkenntniß, sondern es mußten lange Jahrhunderte vergehen, ehe es jauchzend über die Erde tönte: »Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.«
Die Allmacht war die erste göttliche Eigenschaft, deren sich der Erdenbewohner bewußt wurde, und die Größe und Unbeschränktheit des göttlichen Könnens mußte ihn zur Demuth, zur Furcht, zur Angst führen. Er fühlte in sich Regungen, welche dem göttlichen Willen widerstrebten, und sah im Rollen des Donners, im Zucken der Blitze, im Sausen des Sturmes, im Brausen der Wogen, im Zittern des Erdbebens nichts als Androhungen des göttlichen Strafgerichtes.
Er war so schwach, so klein, so armselig, daß er demselben nicht das geringste Widerstreben entgegensetzen konnte und suchte es durch Darbringung von Gaben, von Opfern, durch auferlegte Bußübungen von sich fern zu halten. Diese Uebungen bestanden entweder in Entsagungen oder thätlichen Kasteiungen, die Opfer in der Darbringung von Feld- und Gartenfrüchten, von Thieren oder bei barbarischen Völkern gar von Menschen.
Man meinte, damit die Verzeihung nicht blos erlangen, sondern wohl gar verdienen zu können, eine Annahme, aus welcher sich die spätere Werkgerechtigkeit des Pharisäerthums entwickelte.
Da trat der große Redner der Bergpredigt auf und stürzte mit seiner funkensprühenden Lehre diese auf sich selbst pochende und auf Andere tief herabblickende Gerechtigkeit über den Haufen. Doch nicht blos einzureißen war er berufen, sondern auf den Trümmern des Zusammengestürzten wölbte er den Tempelbau der göttlichen Liebe empor und lehrte die Erkenntniß, [31] daß wir allzumal Sünder sind, und Nichts uns zu halten vermag als einzig und allein nur die barmherzige Liebe des ewigen Vaters.
Er warf das leuchtende Wort von der Gotteskindschaft mitten hinein in die Finsterniß des Unglaubens, Mißglaubens und der Sclaverei und war somit der Sohn Gottes, der Erstgeborene vor allen Kreaturen. Seit jenen großen Tagen fallen die Strahlen der göttlichen Liebe hell und ungetrübt herab auf das Menschengeschlecht, brechen sich weiter und immer weiter Bahn und vereinigen die entlegendsten Stämme zu einem großen, zusammenhängenden Familienverbande.
Die Nebel sind gefallen, die Schatten haben sich gesenkt, und es ist lichter, heller Tag geworden, der Tag der ewigen Liebe, welche ohne Ausnahme Alle umfaßt, den Sünder und den Gerechten, den Armen und den Reichen, den Vornehmen und den Geringen, den Begabten und den spärlich Ausgestatteten, und das ist das Evangelium, die frohe Botschaft, welche uns für das Erdenleben beglückt und die Seligkeit einer ewigen Zukunft verbirgt.
Diese Lehre von der Gottesliebe ist es, welche uns aus Geschöpfen zu Menschen, aus Sclaven zu Freien, aus Knechten zu Kindern macht. Sie lehrt uns die Aufgaben unseres Daseins erfassen, durch die Nacht zum Lichte, durch den Kampf zum Siege dringen, giebt dem Geiste ewige Schwingen, verleiht dem Gemüthe Kraft zur Ergebung und breitet das Abendroth der Hoffnung selbst über die trübsten und längsten Tage des Erdenlebens.
Wohl hatte der Messias deshalb ein Recht zu dem Rufe: »Kommet her zu mir Alle, die Ihr mühselig und beladen seid; denn ich will Euch erquicken, und bei mir findet Ihr Frieden für Eure Seele!«
Eine solche Lehre mußte den Menschen unwiderstehlich mit sich fortreißen, ihn zum größten Opfermuthe befähigen und jedes, auch das größeste Hinderniß überwinden helfen. Der Meister besiegelte sie mit seinem Tode, die Schüler folgten ihm auf der Bahn des Martyrerthums nach und Tausende erlagen den Verfolgungen des Hasses und starben mit dem Worte der Liebe auf den erbleichenden Lippen.
Ueber Galiläa, der kleinen Provinz des Landes Kanaan, ging der Stern der Verheißung auf, stieg höher und immer höher und leuchtet nun über alle Welt. Ob auch die Wolke seinem Strahle sich entgegenstellt und ihn der Erde zu entziehen sucht, er dringt doch immer siegreich durch [32] ihre Hülle. Ob Ignoranz das kleine Senfkorn der Christuslehre belächelt, ob Pedanterie den befeuchtenden Strom des göttlichen Wortes in Form und Dogma zwingen will, ob der Parteihaß den Andersgläubigen mit Bann und Fluch belegt, so gilt doch von Ewigkeit zu Ewigkeit die Verheißung: »Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen!«
Jedes einzelne dieser Worte birgt eine Tiefe der Weisheit und der Wahrheit, an deren Ergründung noch späte Jahrhunderte zu arbeiten haben. Klar, einfach, groß und erhaben ist ihre Philosophie, die Philosophie der Liebe; aber schon die Jünger haben sie mißverstanden, und die hellen Sätze, welche dem Munde Jesu entflossen, wurden mit dunklem Kitte zu einem Bauwerke verbunden, in welchem man wohl von Liebe lehrt, sich aber wenig an Liebe kehrt.
Der Prediger, welcher von der Kanzel herab soeben das Hohelied der Liebe verkündete, eifert im nächsten Augenblicke gegen den Bekenner anderer Religionsformen; der Redner, welcher soeben von der Unverletzlichkeit der allgemeinen Menschenrechte spricht, vertheidigt oder ignorirt wenigstens im nächsten Satze die Bekehrung, welcher Millionen sogenannter armer Heiden zum Opfer gefallen sind. Der Sohn kommt vom Gottesdienste nach Hause, um seinen alten Vater über sich weinen zu sehen; der Geizige verläßt das Gotteshaus, um beim ersten Schritte in seine Wohnung den Armen von sich zu weisen; die Frauen besuchen die Kirche, um sich Stoff zu eitlen und lieblosen Urtheilen zu holen, und der Krieger – er stellt sich dem Feinde auf dem Schlachtfelde entgegen, und Jeder von Beiden bittet Gott, den Andern zu vernichten.
Ein kleines Wort ist es oft nur, eine kleine Verschiedenheit in der Auslegung, welcher die Anhänger der Lehre von der Liebe und dem göttlichen Frieden in zahlreiche Heerlager theilt, die einander mit allen zu Gebote stehenden Mitteln befeinden und anfechten. Wie wenig haben sie doch das Wort Dessen verstanden, dessen Lieblingsjünger in seinen letzten Tagen Nichts weiter zu sagen vermochte, als: »Kindlein, liebet Euch unter einander!«
Es ist ein Bild rührender Liebe, wenn Christus über Jerusalem klagt: »Ich habe Dich unter mich nehmen wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel; aber Ihr habt es nicht gewollt!« Dieser Ruf hat noch heute, nach fast zweitausend Jahren, volle Bedeutung. Die [33] göttliche Liebe hält ihre Fittiche über die ganze Schöpfung gebreitet, und das freundliche Auge des Vaters wacht und waltet über alle seine Kinder; aber diese Kinder stehen einander in heimlicher und öffentlicher Feindseligkeit gegenüber und die Selbstsucht sucht ohne Unterlaß nach immer neuen Triumphen.
Werfen wir einen Blick in die Vergangenheit, so erfüllt uns die Freudigkeit, mit welcher die ersten Anhänger Christi in Leid und Tod gingen, mit Bewunderung. Ihre Opfer waren nicht umsonst gebracht, denn aus jedem Seufzer, jedem Tropfen des vergossenen Blutes erstanden neue Bekenner der Wahrheit. Die Liebe ist am größesten, wenn sie leidet. Bald aber erstarkte das Häuflein der Gläubigen; das Christenthum wurde Staatsreligion und nun schlang man um die beglückende Himmelstochter das Gewand menschlicher Leidenschaften, drückte ihr die Waffe in die Hand und trug den kriegerischen Horden der Eroberer das Kreuz voran mit dem festen Glauben an die Wirklichkeit des kaiserlichen Gesichtes: »In diesem Glauben wirst Du siegen!«
Das Beispiel Christi, welcher Petro befahl, das Schwert in die Scheide zu stecken und dieses Gebot mit den Worten »denn wer mit dem Schwerte sündigt, der kommt durch dasselbe um«, begründete, war vergessen und die Religion der Liebe ward auf den Spitzen der Schwerter von Land zu Land, von Volk zu Volk getragen. Unter dem Deckmantel der Religion verbargen sich alle möglichen Gelüste und der Name Christi, des Verkünders der Liebe, ward als Beschönigung der beklagenswerthesten Verheerungen, der Ausrottung ganzer Völkerschaften gebraucht. Mögen die Heldenthaten der Kreuzzüge bis in die fernste Zukunft leuchten, mag die Berührung der damaligen Völker noch so vortheilhafte Folgen hervorgebracht haben, es war doch nur eine ungesund Bewegung, welcher man folgte, und das bei jenen phantastischen Zügen vergossene Blut vermag durch Nichts ausgelöscht zu werden. Mit innigem Bedauern blickt das Auge des Menschenfreundes auf die Trümmer der amerikanischen Atobesstädte und die traurigen Ueberreste der einst so kraftvollen Indianerrace. Von Millionen sind nur noch wenige Tausende übrig, welche unrettbar der Bestimmung des Aussterbens verfallen sind. Mag der Vertheidiger der christlichen Propaganda auch noch so geistreich sprechen, Eins vermag er nicht ungeschehen zu machen, die Umgürtung der christlichen Liebe mit dem Schwerte des Krieges und der Eroberung.
Diese Sünde ist blutig gerächt worden an dem eigenen Leibe des [34] Christenthums. Der Fanatismus mit seiner Inquisition, seinen Ketzergerichten, seinen Religionskriegen hat unzählige Opfer verschlungen, so daß selbst die Gegenwart noch leidet an den Verheerungen längst vergangener Zeiten. Unter dem Banner der Propaganda wird die christliche Liebe zum Zerrbilde. Der christliche Priester ist kein Kalif, welchem befohlen ist, seine Religion mit Feuer und Schwert zu verbreiten, und Jesu Befehl »Gehet hin in alle Welt,« von welchem uns sein Jünger schreibt, bedarf, um richtig verstanden zu werden, einer vorsichtigen Prüfung.
Die Liebe ist nicht nur eine Macht, sondern die größeste der Mächte. Sie kann Niemandem aufgezwungen werden, sondern muß sich ganz von selbst und frei entwickeln. Man kann sie nicht dosisweise nach Kapiteln und Versen zu sich nehmen, auch läßt sie sich nicht an Paragraphe schmieden, sondern als Herrscherin selbst über den größesten der Herrscher kennt sie kein Gesetz und keinen Willen, als nur und allein sich selbst.
Und wie Gottes Licht und Luft als freie Gaben überall zu finden sind und Niemandem entzogen werden können, so waltet die ewige Liebe, Gnade und Barmherzigkeit ohne Ansehen des Standes, des Verdienstes, des Bekenntnisses oder sonst eines äußeren Umstandes, und kein Menschenkind darf sich unterfangen, in die Fülle ihrer Gaben einzugreifen, um sie einem seiner Brüder zu entziehen.
Weg darum mit aller Werkgerechtigkeit! Welches Werk einer Menschenhand wäre wohl so groß, daß es den Allmächtigen zu einer Belohnung zu zwingen vermöchte? Was Du bist, das bist Du aus Gnade und Barmherzigkeit.
Weg darum mit dem Levitenthum! Gott läßt seine Sonne scheinen über Gute und Böse und lässet regnen über Gerechte und Ungerechte. Der Segen des Himmels ist nicht von dem Willen eines Sterblichen oder von menschlichen Bedingungen, seien sie nun willkürlich oder gesetzlich, abhängig, und Niemand, selbst der höchste geistliche Würdenträger nicht, darf sich dünken, einem Andern die Thür des Himmelreiches öffnen oder verschließen zu können. Der Körper läßt sich fassen und in Banden schlagen, ihm vermag man die Erfordernisse seines Wohlbefindens zu schmälern; aber der Geist lacht der Drohung des Finsterlings und des Bannfluches, welcher von der Gewißheit einer ewigen Liebe abprallt wie der müde Pfeil von der Schiene des ehernen Panzers.
Weg darum mit Tod, Hölle und Teufel! Mag das Kind mit seinen [35] Puppen, und der Erwachsene mit seinen Vergnügungen spielen und mit ihnen wechseln je nach Lust, Fest und Gelegenheit, mögen die Gestaltungen des Erdenlebens dem Vergehen unterworfen sein oder scheinen – der Geist des Menschen, zur Lösung der höchsten Aufgaben geschaffen und befähigt, ist nicht ein Spielzeug in der Hand des Schöpfers und verdankt nicht sein Dasein einer Laune des Allmächtigen. Der, vor welchem »tausend Jahre sind wie ein Tag«, kennt kein Ende und das Wort seines Mundes, welches zur Erde herniederschallte, um sich hier in menschliche Gewandtungen zu hüllen, es muß klingen, leben und wirken in Ewigkeit. Jede Daseinsphase ist ein einzelner Laut dieses Wortes, und die Form nichts als der Buchstabe, durch welchen Laut und Wort dem Sinne erkennbar wird. Eine Liebe, welche ewig ist, ewig dieselbe bleibt und ewig dasselbe will, kann ihre Geschöpfe wohl in Wechsel kleiden, nicht aber sie selbst der Endlichkeit preisgeben. Der Tod ist nichts anderes, als das Ablegen des alten Kleides, um ein neues, besseres, edleres anzuziehen.
Weg also auch mit jenem zweigehörnten, langbeschwänzten und pferdefüßigen Ungeheuer, welches »umhergeht wie ein brüllender Löwe und suchet, wen es verschlinge.« Es kommt die Zeit, in welcher das Kind dem Ammenmährchen entwachsen ist und vorurtheilsfrei über die phantastischen Gebilde früherer Anschauungen zu denken vermag. Die »ewige Liebe« und der »Mörder vom Anfang«, die, »ewige Wahrheit«, und der »Vater der Lüge«, sie können neben einander nicht sein; das Bestehen des Einen schließt das Vorhandensein des Andern streng und vollständig aus. Und eine Hölle, in welcher die Verdammten in ewigem Feuer braten, ist eine Lästerung Dessen, der seine Kinder »je und je geliebet« hat.
Wie der irdische Vater sein Kind durch Belohnung und Strafe erzieht, so thronet auch der himmlische Vater richtend zwischen den Wolken und waltet über den Gesetzen, nach welchen der Mensch die Folgen seiner Fehler trägt. Aber wie diese Fehler und Sünden der Zeitlichkeit entsprangen, so kann auch die Strafe keine ewige sein. Ein Wesen, welches treu und unverrückt an seinen Aufgaben arbeitet und in steter Pflichterfüllung alle ihm verliehenen Kräfte zur Geltung bringt, wird sich die Befähigung für ein besseres Dasein aneignen und »geschickt sein für den Himmel«, wenn dereinst der große Schleier fällt.
Wer dagegen versäumt, das Seinige zu thun, seine Pfunde vergräbt [36] und seine Kräfte vergeudet, der wird dem unnützen Knechte gleichen und zurückbleiben bei dem großen Ringen nach dem himmlischen Lichte.
Die Lehre von der ewigen Verdammniß sucht Gott die herrlichste seiner Eigenschaften, die Liebe, zu rauben und muß der fortschreitenden Aufklärung weichen, bis sie den zukünftigen Geschlechtern nur noch als eine alte dunkle Sage durch die Tradition überliefert wird. Und die Maske welche der Irr- und Aberglaube um den »Geist der Verneinung«, den »Versucher«, geworfen, sie wird fallen und in dem Gefürchteten einen Boten Gottes entschleiern, welcher bestimmt ist, den Rathschluß der göttlichen Liebe auf dem kleinen Sterne unserer Erde auszuführen.
Freilich werden noch lange Zeiten vergehen, ehe das echte, lautere Gold der Lehre Christi aus den umgebenden Schlacken geschieden ist; steht aber die Entwickelung der religiösen Begriffe auf diesem Punkte, so wird die Liebe ihre herrlichsten Triumphe feiern, die Stimme der Zwietracht und des Hasses wird schweigen, alle Wege werden emporführen zum Firmamente und es wird erfüllt sein die größeste und zugleich lieblichste der Verheißungen: »Es wird ein Hirt und eine Heerde werden!«
»Wie lieblich ist Deine Wohnung, o Herr!« singt der von der Liebe in Gott begeisterte Psalmendichter. Dieses Wort ist über zweitausend Jahre alt, und noch hat sich das nicht erfüllt, was der Psalmist in prophetischem Geiste vorhergesehen. Die Erde entbehrt noch sehr jener Lieblichkeit, welche die Gotteskindschaft einst über sie ausbreiten wird, und der Sänger des Vaterunsers ist sehr berechtigt zu der Bitte:
Aber wenn die Liebe auch die äußeren Verhältnisse der Menschheit noch nicht durchdrungen und durchgeistigt hat, so ist ihr doch in tausend und aber tausend Herzen ein Garten errichtet, in welchem ihre Blumen duften, ihre Rosen blühen und der Geist des Friedens, der Ruhe und der Seligkeit seine Wohnung aufgeschlagen hat. Es ist etwas Herrliches, Unvergleichliches um eine Seele, welche ihren Gott gefunden hat und nun nichts mehr fühlt von dem Sturme und Drange des Erdenlebens, nach dem Ausspruche des alten Kirchenvaters Augustin: »des Menschen Herz ist ruhelos, bis es ruhet in Gott.«
[37] Während der Geist des Mannes nach immer weiteren Zielen strebt und sich in immer höherer, immer schwierigerer Weise bethätigen will, ist das Herz des Weibes vorzugsweise empfänglich für jene Ruhe in Gott und bietet der Lehre von der ewigen Liebe den fruchtbarsten Boden. Hat doch das Christenthum seine schönste Vorbereitung gefunden in dem tiefen und reichen Gemüthe der echten, reinen deutschen Weiblichkeit, und deshalb ist es auch die Mutter, welche den größeren Einfluß auf die Religiosität des Kindes übt. Selig das Kind, dessen Mutter ein gläubig Herz im Busen birgt, und selig der Mann, dessen Weib noch nicht für die schnöde Lust der Welt die Schätze eines Herzens hingegeben hat, über dessen Fluren der leise und geheimnißvolle Schritt der ewigen Liebe geht!
Die Pflege des Frauengemüthes bringt der Religion reicheren Segen als alle Mission und Propaganda. Zur Eroberung ihres Reiches bedarf die Liebe nicht der menschlichen Stärke; ihr Schritt dringt unaufhaltsam vorwärts und zertritt die Schranken, welche irdischer Egoismus ihr entgegenhält. Und so wird eine Zeit kommen, in welcher sie als Siegerin und alleinige Herrscherin über der Erde thront und das Wort in Erfüllung gegangen ist:
Wenn die heilige Schrift Gott sagen läßt: »Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei,« so haben diese Worte eine so tiefe Bedeutung, daß sie fast die einzige Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Menschen geben.
Gottes Wesen lernen wir aus seinem Thun erkennen, in welchem es sich uns nach zwei Seiten hin offenbaret: als Allmacht und als Liebe. [38] Um die Eigenschaft der Allmacht gruppiren sich: die Ewigkeit, die Unendlichkeit, die Weisheit, die Gerechtigkeit etc. während sich an die Eigenschaft der Liebe alle jene lieblichen Himmelskinder lehnen, welchen wir die Namen Gnade, Geduld, Langmuth, Barmherzigkeit etc. gegeben haben.
Ist dieses die rechte Erkenntniß Gottes, so muß sein Bild, der Mensch, sich ebenso gestalten, daß er nach der Seite der Macht und der Liebe seine Thätigkeit entfaltet. Fährt die Bibel fort: »Und Gott schufden Menschen, ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn,« so setzt sie sofort hinzu: »Und er schufsie, ein Männlein und ein Weiblein.« Während er für sie also zuerst ein Einzelwesen ist, stellt sie ihn gleich darauf in die Mehrzahl und enthüllt uns dadurch das tiefste Geheimniß des göttlichen Willens in Beziehung auf das Wesen des Menschen.
Sowohl das Gleichniß, welches das Weib aus der Rippe des Mannes entstehen läßt, als auch das apostolische Wort, daß der Mann und das Weib ein Leib seien, vervollständigen diese Anschauungen, so daß es uns nun möglich ist, die Frage: »Was ist der Mensch?« wenigstens soweit unser gegenwärtiges Wissen und Verstehen reicht, richtig zu beantworten.
Der Mensch ist Gottes Ebenbild und hat die Aufgabe, als Mann Gottes Allmacht, als Weib aber Gottes Liebe zu offenbaren. Beide, Mann und Weib, gehören zusammen, und erst ihre innige Vereinigung läßtden Menschen entstehen, welcher sowohl den Anforderungen des Erdbebens zu entsprechen vermag, als auch die Fähigkeiten besitzt, seinen ewigen Beziehungen gerecht zu werden.
Hieraus läßt sich die tiefe Bedeutung der Ehe erkennen, in der allein jenes innige Ineinanderfließen der Seelen stattfindet, durch welches die Befähigungen des Mannes und des Weibes in allen ihren Wirkungen zur glücklichen Harmonie gebracht werden. Der Katholicismus hat diese Bedeutung erkannt und die Ehe für ein Sacrament erklärt, obgleich Christi Wort und Beispiel keine darauf bezügliche Mahnung enthält.
Nur in der Monogamie, der Vereinigung eines Mannes mit einem Weibe, ist jenes Zusammenfließen möglich, welches die Wahrheit: »Mann und Weib sind ein Leib,« bestätigt und durch die gebräuchliche Redensart »Sie sind ein Herz und eine Seele« so schön verdeutlicht und ausgedrückt wird. Die Polygamie, das Zusammenleben eines Mannes mit mehreren oder wohl gar vielen Frauen, entspricht sowohl dem Wesen der Ehe als auch der Aufgabe des Menschengeschlechtes so wenig, daß nicht nur jene Worte [39] keine Anwendung auf sie finden können, sondern ihr Fluch sich über ganze Völkerschaften, über ganze Erdtheile gelegt hat, und der Polyandrie, dem Zusammenleben eines Weibes mit mehreren Männern, sei hier nur Erwähnung gethan.
Da keines der beiden Geschlechter für sich allein den Charakter der Menschheit darzustellen vermag, sondern beide darin sich ergänzen müssen, so hat der Drang nach einer geordneten Vermischung der Geschlechter für die Erfahrung aller Zeiten und Völker die Ehe als eine moralisch, rechtlich und physisch nothwendige Einrichtung bezeichnet, die sich als Selbstzweck im Welt- und Staatsleben zu bethätigen hat. Der Streit über den Zweck der Ehe ist daher ein sehr müßiger. Man hat als denselben angegeben die Befriedigung des Geschlechtstriebes, die Erzeugung und Erziehung der Kinder, die gegenseitige Aushilfe und Unterstützung u.s.w., und wenn jeder dieser Zwecke einzeln auch ohne die Ehe erreichbar ist, so sind sie in ihrer Vereinigung doch nur in derselben zu erlangen.
Die Polygamie widerspricht sowohl der Natur, als auch der Rechtsidee, weil durch sie das eine Geschlecht Mittel für die Zwecke des andern und also die Gleichheit aufgehoben wird. Ebenso ist sie von der Politik nicht gut geheißen, denn noch nie ist es einem der Vielweiberei unterworfenen Volke gelungen, sich je auf eine solche Stufe der Freiheit und Cultur zu erheben, wie sie von denjenigen Völkerschaften, welche in Monogamie leben, erreicht wurde. Alle jene Nationen des Orients, von deren Heldenthaten uns die Geschichte erzählt, deren Zukunft eine große und endlose zu sein schien und die trotzdem nach kurzer Zeit mitten im Siegeslaufe stehen blieben, Ruhm und Ehre vergaßen und die Sclaven der von ihnen Unterjochten wurden oder gar verschollen, sie fanden ihren politischen Tod im Harem, in den Armen ihrer Frauen, welche die Glieder der Helden von dem Harnische befreiten und sie in Gewänder schlugen, in denen Entnervung und Verweichlichung ihr Loos wurde.
Sämmtliche Culturvölker des Alterthums haben die Ehe als eine heilige und segensvolle Institution betrachtet. Bei den Juden galt die Unfruchtbarkeit für eine Schande, und die Wittwe wurde getröstet durch die Verheirathung mit einem Nächstverwandten. Bei den Griechen mußte, nach der Volksansicht, die ja oft größere Macht ausübt, als das Gesetz, jeder freie Mann heirathen, sobald er die geschlechtliche Reife erlangt hatte, und es galt als Glück für ein Mädchen, einen Mann zu bekommen und [40] eine einträchtige Ehe zu führen. In Rom war die Ehe Pflicht und die Hagestolzen mußten eine gesetzliche Strafe erlegen. Bei den alten Deutschen standen die Frauen in hohem Ansehen, und darum galt die Ehe bei ihnen so heilig, daß die Achtung vor den Frauen selbst durch das sittenlose Mittelalter ein auszeichnendes Erbtheil unserer Altvordern geblieben ist und das Wort »deutsche Frau« einen guten und hellen Klang hat überall, wo die Bildung und Gesittung ihre Wurzeln geschlagen hat.
Der Ruf zur Ehe klingt tief aus der Natur des unverdorbenen Menschen heraus, und nur der Unverstand kann die Behauptung aufstellen, daß aus der Emancipation der Geschlechter dem Einzelnen wie dem Großen und Ganzen Heil und Segen ersprießen könne. Während hier nur die Befriedigung von körperlichen Bedürfnissen im Auge behalten wird, blüht in der Ehe das schönste Glück des Erdenlebens in dem seligen Schlage zweier Herzen, welche in innigem Verständniß für einander ihre Gefühle ineinander schmelzen und jenes alte aber wohlbezeichnende Wort zur Wahrheit machen: »Zwei Seelen und ein Gedanke, zwei Herzen und ein Schlag!«
Wenn die Zeit der Kinder- und Schuljahre verflossen ist und der junge Flaum sich auf der Lippe zu kräuseln beginnt, wenn im Herzen des Mädchens sich ein bisher unempfundenes Drängen und Treiben und jenes bisher unbekannte Sehnen geltend macht, welches belebend und verschönernd nach Außen tritt und Busen, Arm und Wange rundet, dann beginnen sich leise die Fluthen zu regen, aus welchen Venus, die Göttin der Liebe, in bezaubernder und bestrickender Holdseligkeit emporsteigt, um ihr mildes, beseligendes Scepter zu führen. Der Puls klopft beschleunigt unter jenem Streite zwischen Ahnen und Wissen, zwischen Vermuthen und Erkennen, welcher nur durch ein leises, leises »Ja« geschlichtet werden kann, und Niemand wohl hat jene Tage der Jugend und Liebe schöner, wahrer und ergreifender geschildert als Schiller, wenn er singt:
Ja, es liegt in dieser jungen, ersten schlackenfreien Liebe eine Seligkeit, welche ihre vergoldenden Strahlen weit, weit hinein in das Leben, bis in die letzten kurzen Tage des höchsten Alters wirft. Noch wohnt Glauben und Vertrauen im Herzen, die Hoffnung eilt auf den Flügeln der Phantasie siegreich vorwärts um nach den höchsten Zielen zu greifen, und frischer, freudiger Jugendmuth beseelt die Sinne und stärkt die Hand zum angestrengten Schaffen. Noch haben die Entsagungen und Entbehrungen des harten, anspruchsvollen Lebens sich nicht geltend gemacht, noch wurde keine gestorbene Hoffnung in das Grab gesenkt, das Auge blickt frei und ungetrübt und der Weg liegt gebahnt, frei und eben vor dem Fuße. Es ist der Lenz der Jugend, der Mai des Lebens, welcher seine Knospen schwellt, seine Blüthen treibt und seine Düfte spendet. Und dieser Lenzesmonat steht mit dem jährlich wiederkehrenden Frühlinge in engster Beziehung; denn wenn draußen in der Natur das Grün erwacht und die Bäume sich mit Blüthen schmücken, so beginnen auch im Menschenherzen jene Triebe zu erwachen, welche nach süßer Minne und holder Vereinigung streben.
bekennt der Sänger der Liebe, und ein anderer Dichter kleidet das Sehnen nach Liebe und Erhörung in die fragenden Worte
[42]
Wie der Frühling die Zeit der Liebe, so ist die Rose, die Blume das Bild derselben und ebenso das Bild der erknospenden und erblühenden Jungfrau.
lautet das bewundernde Bekenntniß des Liebenden, und als süßes Zeichen und schönste Gabe der Liebe findet manch ein Röslein Platz am jungfräulich schwellenden Busen.
befiehlt der Troubadour den Frühlingskindern, welche er dem Gegenstande seiner verschwiegenen und zaghaften Minne sendet. Die Blume ist der Buchstabe, und ihre Farbe, ihr Duft der Laut, aus welchem sich die Sprache der Liebe zusammensetzt, und der Morgenländer giebt der Sehnsucht oder der Befriedigung seines Herzens am liebsten Ausdruck durch das im »Selam« verborgene Bekenntniß. Selbst der Hoffnungslose kann sich nicht enthalten, die Qual seines Herzens zu gestehen, und setzt die blühenden Zeichen zusammen zu der klagenden Bitte:
Unzählig sind die Vergleiche, welche zwischen der Rose und dem Liebchen gezogen werden, und wirklich giebt es wohl kaum ein passenderes [43] Bild für die »Menschenblume, die holde«, als die in anmuthiger Pracht sich entfaltende Blüthe des Rosenstrauches. Wie diese Letztere in der Einsamkeit, umgeben von weniger freundlichen Kindern der Natur, ihre Schönheit am augenfälligsten dem betrachtenden Blicke darbietet, so ruht das Auge des bewundernden Beobachters, nicht abgezogen durch andere, gleichschöne Formen, mit größerer Aufmerksamkeit auf der rosigen Tochter der Abgeschlossenheit, als auf der von zahlreichen Schwestern umgebenen Dame der Gesellschaft und des Salons. Deshalb lenkt die Poesie ihre Schritte so gern in die Verborgenheit abgelegener Thäler, um da die Gegenstände ihrer lieblichen Schilderungen zu suchen.
beschreibt sie die Entwickelung des anmuthigen Lieblings, führt in mütterlicher Fürsorge den Bewerber herbei und entschleiert die Gefühle seines Herzens:
Aber das schönste Glück des Lebens muß erkauft, verdient, errungen und erkämpft werden, und nicht jedem Wunsche lacht eine sofortige Erfüllung:
[44] Und dieses Blühen und Duften einer schönen, edlen und reinen Frauenseele kennt keinen Herbst, keinen Winter, sondern beglückt ununterbrochen, fort und fort Den, der sich sein »Veilchen lieb und zart« an das warme Herz gebettet hat; es währt selbst über das Grab hinaus, und Keiner hat es so schön in die Worte gefaßt, wie Hafis, der Perser, der größte Liebesdichter des Morgenlandes, wegen der Schönheit seiner Sprache genannt Lisan ul Chaid, d.i. geheiligte Zunge, und seine Worte lauten, in freies Deutsch übertragen:
Die Vorhersagung des Dichters hat sich erfüllt. Als er, dem seiner Lieder wegen die Imams ein ehrliches Begräbniß verweigerten, gestorben war, wehte der trauernde Schleier der Geliebten vom Morgen bis zum Abend über seinem Grabe; die Rose von Schiras schlug ihre Wurzel in die Erde, die ihn deckte; die schönsten Frauen Persiens pilgerten und wallfahren noch heute aus weiter Ferne zu seinem Grabe, und selbst der fremde Abendländer kann das Land des Cyrus nicht verlassen, ohne eine der berühmten Knospen von dem Hügel zu brechen, um sie als heiliges Andenken in die weitentlegene Heimath mitzunehmen.
Noch weiter geht die Poesie, wenn sie sogar einzelne Körpertheile in ihre Vergleichung zieht;
beschreibt der Meistersänger die Schönheit seiner Heldin; die Schilderung des Morgenländers bemächtigt sich des ganzen Blumenschatzes, um die Holdseligkeit seiner Favorite zu beschreiben, und ganz besonders ist es das Auge, für welches kein Bild, keine Vergleichung hinreichend erscheint.
[45]
Doch nicht blos der Dichter nimmt die Schönheit und Würde des Weibes vorzugsweise gern zum Gegenstande seiner Verse, sondern auch die anderen Künste haben sich der Darstellung derselben bemächtigt, und wir haben Meisterwerke der Malerei und Bildhauerei, welche die Bewunderung noch später Jahrhunderte in Anspruch nehmen werden.
Wenn das Weib den Künstler zu solchen Werken zu begeistern vermag, so darf uns eine Liebe, welche mit aller Kraft des Herzens und Lebens den holden Gegenstand umschließt, nicht Wunder nehmen. Die ältesten Sagen berichten von der hingebenden Macht und freudigen Opferwilligkeit einer solchen Liebe, welche lieber in den Tod geht, als daß sie sich zur Entsagung entschließt; und war diese Entsagung eine unvermeidliche so folgte ihr oft ein Dahinschwinden alles Lebensmuthes, aller Lebenskraft, ein körperliches und geistiges Siechthum, welches der Mann zwar nicht bewundern und vertheidigen kann, aber doch mit inniger Theilnahme betrachten muß. Schiller hat in seinem »Ritter Toggenburg« dieses Hinsterben meisterhaft geschildert:
Diese Gewalt des Einflusses, welche der Liebe gegeben ist und den Mann zu den kühnsten Thaten, aber auch zu den beklagenswerthesten Verirrungen führen kann, erweist sich nicht blos im gewöhnlichen und alltäglichen Leben, sondern hat auch tief in den Gang der Geschichte, der Politik [46] mit eingegriffen, und fragen wir, welche Eigenschaft des Weibes es ist, die solche Wirkungen hervorzubringen vermag, so finden wir die Meinung, welche sie der bloßen körperlichen Schönheit zuschreibt, nicht bestätigt. Vielmehr ist es der Liebreiz, welchen selbst minder schöne Frauen besitzen können, die Liebenswürdigkeit, die der Seele, dem Herzen entspringt und den Körper in allen seinen Beziehungen durchgeistigt, verschönt und veredelt. Ein englischer Autor schreibt über sie:
»Sie liegt nicht im Perlpuder, noch in goldener Haarfarbe, noch in Juwelen. Man kann sie in keiner Flasche oder Büchse erhalten. Es ist angenehm, schön zu sein; aber alle Schönheit ist doch nicht Liebenswürdigkeit. Es giebt eine höhere Schönheit, welche uns zärtliche Liebe einflößt. Augen, Nase, Haar oder Teint thun das noch nicht, obgleich es angenehm ist, schöne Gesichtszüge zu sehen. Was man ist, das entscheidet, ob uns die Natur hübsch oder schön gebildet. Gute Menschen sehen niemals unliebenswürdig aus. Wie immer die Gesichter sein mögen, ein freundlicher Ausdruck versöhnt Alles. Sind sie dazu noch heiter, so wird sie Niemand weniger lieben, weil die Gesichtszüge nicht regelmäßig sind oder weil sie zu fett, zu hager, zu bleich oder zu dunkel gefärbt erscheinen. Die Cultur des Geistes giebt den Gesichtern einen neuen Reiz, und wenn ein Mädchen geliebt werden will, liegt das mehr in ihrer Gewalt, als Tausende es ahnen. Weder kosmetische Mittel, noch Toilette entscheiden; aber eine liebenswürdige Dame wird sich immer nett und mit Geschmack kleiden. Erzwungenes Lächeln und affectirte Freundlichkeit helfen nichts; man muß gut fühlen, nicht neidisch, nicht launisch sein, wenn es möglich ist, und man wird Liebe einflößen. Dann tritt ein Ausdruck in die Züge, der oft die Rosen der Jugend ersetzt und dem Weibe nicht nur einen Gatten gewinnt, sondern einen Liebenden für Zeitlebens.«
Die Lieblichkeit der äußeren Erscheinung ist nur da zu finden, wo die von der Natur gespendeten Eigenschaften ohne künstliche Nachhülfe in ihrer anziehenden Wirkung zur Geltung kommen. Die Mode mag auf dem Felde des Handels, der Gewerbe und Industrie noch so Vieles und Gutes erzielen, nie wird es ihr gelingen, einem gleichgültig lassenden Körper jene Reize zu verleihen, die mit magnetischem Zauber ihre Fesseln um Denjenigen schlagen, welcher sich ihnen hingiebt. Die Anwendung kosmetischer Mittel führt zur Lüge, zum Betruge, indem sie scheinbar Gaben verleiht, welche in Wirklichkeit nicht vorhanden sind. Keiner Kunst, und sei sie noch so raffinirt, wird es gelingen, den [47] Mangel natürlicher Körpervorzüge zu ersetzen, und jede durch geborgte Schönheiten erfolgte Eroberung wird, wohl oder übel, zur Enttäuschung und zum Verluste führen.
Und nun werfe man einen Blick auf die Gestalten der gegenwärtigen Damenwelt, welche die Gaben der Natur nach Gesetzen behandeln, die ihnen ihre Schönheit rauben und durch die offen zur Schau getragene Anwendung von Verfälschungen nicht nur diesen Fehler vollständig auszugleichen, sondern auch die Macht zu besitzen meinen, die Natur zu corrigiren und zu übertreffen! Ein geistreicher Schriftsteller äußert darüber:
»Heutzutage ist es fast unmöglich, das Alter einer Dame genau zu bestimmen; denn die Toilette mit ihren Wundern macht bestimmte Behauptungen, wenn nicht der Geburtsschein alle Vermuthungen mitleidslos abschneidet, ungemein schwierig. Unsere heutige Damentoilette schlägt der Natur ein Schnippchen nach dem andern; sie weiß nicht nur Schäden zu bedecken, sondern man möchte nach manchen Proben glauben, daß sie auch unvollkommene Geschöpfe zu verbessern, ja sogar ursprüngliche Formen vollständig zu verrücken und umzugestalten vermöge. Wie oft sehen wir den Character einer Person durch eine widersprechende Hülle in Zwiespalt mit seinem inneren Wesen gebracht. Alles wird künstlich gesucht und, was freies Ergebniß einer natürlichen Empfindung war, unterdrückt. Der Wunsch, möglichst lange jung zu bleiben, hat bei manchen Damen allen Geist und alles Raffinement in Bewegung gesetzt, um das Falsche, was sich an der Person vereinigt, gewaltsam in eine gewisse Harmonie zusammenzuschweißen. Einen hervorragenden Platz nimmt hier der Chignon ein, und was birgt er nicht alles in seinem aufgebauschten und aufgeblasenen Dasein! Nicht nur, daß er die Hüte – früher der Schutz gegen Kälte und Schnee im Winter und Hitze und Regen im Sommer – in eine lächerlich winzige Nippform zusammenbefohlen und zu lebensgefährlicher Balance auf dem Gipfel seines Berges verdammt hat, er greift sogar öffentlich und keck in die Rechte der sonst den Damen so ergebenen Männerwelt, indem er den hinter einer Hochbethürmten Gehenden oder Sitzenden aller Perspective beraubt. Den vermittelnden Vorschlag eines praktischen Engländers, man solle das Gebäude durchstechen und in seiner Mitte zum Nutzen der hinter ihm Weilenden einen Operngucker anbringen, hat man wenigstens bis jetzt unbeachtet gelassen. Er nimmt den größten Theil des Kopfes ein, hat einen Hofstaat von Locken und Löckchen, Zöpfen und Zöpfchen, auch zum [48] Theil von fliegendem Haare, zusammengehalten von Perlenschnuren und Schmucknadeln, die wie Festungswerke möglichst weit bis in Stirn und Nacken hervorgeschoben sind und in dem abgeschnittenen und über die Augen hereinhängenden Vorderhaare einen würdigen Abschluß finden. Unter dem so geschmückten Kopfe spreizt sich ein ganzes Magazin von Leinen, Wolle, Baumwolle, Sammet und Seide, von Spitzen, Bändern, Garnituren und Besätzen, von Schößen, Puffen, Tunika's, Schleifen und Volantes. Man kann die Zusammengehörigkeit dieser Gegenstände nicht begreifen und ist gezwungen, zu sehen, was man für unmöglich hält. Und die Träger der oft gerafften, oft furchtbar geschwollenen, oft mit einem Kameelhöcker versehenen, oft mit raubvögelähnlichen Flügeln aufgeputzten Hülle stecken in einer Fußbekleidung, deren stelzenhohe Absätze den Gang lebensgefährlich, das Gebäude wankend machen und kein rechtes Gefühl der Sicherheit aufkommen lassen. Doch vielleicht soll es so sein; es steht heutzutage so Vieles auf unsicheren Füßen!«
Wohl mag diese Schilderung etwas zu drastisch sein, aber es ist nicht schwierig, zu gestehen, daß des Weibes größester und einflußreichster Schmuck in ihrer natürlichen und ungekünstelten Anmuth bestehe und diese Anmuth am allerbesten durch einfaches Gewand hervorgehoben und zur Geltung gebracht werde. Oft ist ein bescheidenes, anspruchloses Blümchen mit mehr und größerem Rechte Königin eines Balles, als die stolzeste, von der Schwere ihrer Perlen und Diamanten belästigte Rose.
Nicht blos der Jugend, dem Frühlinge des Lebens ist eine solche Anmuth eigen, sondern da sie ein wirklich vorhandenes Eigenthum ist, so ist es möglich, sie mit in das spätere Alter hinüber zu nehmen. Es giebt Matronen, welche eine solche Anmuth besitzen, daß sie in dem mädchenhaften Schimmer, welcher ihr liebenswürdiges Wesen und Thun umfluthet, um Vieles jünger erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind.
Eine wirkliche Schönheit kann nur aus dem Zusammenwirken körperlicher und geistiger Eigenschaften hervorgehen, und ganz besonders sind es die letzteren, welche Herzen zu gewinnen und zu erhalten vermögen. Nur durch sie ist es möglich, ein errungenes Glück für immer festzuhalten und zu bewahren, und es ist deshalb Aufgabe einer guten Erziehung, jene Eigenschaften zu wecken und auszubilden. Aber wie sehr wird hier gefehlt und durch Unterlassung gesündigt.
Wenn aber gesagt wurde, daß der Mann ein Bild der göttlichen [49] Macht, und das Weib ein Ebenbild der Liebe Gottes sein solle, so ist damit gesagt, daß die Aufgabe des Ersteren eine active, diejenige des Letzteren aber eine mehr passive sei. »Auf, laßt uns Thaten thun!« Ist ein Wahlspruch, echter Männer würdig, während er aus weiblichem Munde vielleicht einen andern Klang annehmen würde. Zwar soll die Frau auch »Thaten thun«, aber nicht mit der Faust, nicht durch das athletische Anstrengen all' ihrer Nerven und Muskeln, sondern ihre Thaten sind die schönen, beglückenden und beseligenden Thaten des Herzens, des Gemüthes, welche allerdings nicht mit gewaltigem Aplomp an die Außenwelt treten, dafür aber vielleicht mit mehr Erfolg an der Erfüllung der dem Menschengeschlechte zugesprochenen Aufgaben arbeiten, als die in die Oeffentlichkeit hinausposaunten Erfolge äußerlicher Ereignisse.
Alle jene weiblichen Heldengestalten, welche nach dem Berichte der Sage und Geschichte mit kräftiger Hand eingriffen in den Gang des politischen Lebens und gar sich mit dem Säbel in der Faust in das Getümmel des Kampfes und der Schlachten stürzten oder durch blutige Thaten nach männlicher Ehre strebten, sie beschäftigen den Forscher, den Leser, den Hörer auf eine kurze Zeit, aber Bewunderung und Liebe vermögen sie nicht zu erwecken.
Mag der Eine oder der Andere die That einer Jaël, welche Sissera erschlug oder einer Judith, welche sich zur Buhlerin erniedrigte, um ihre Hand in Blut tauchen zu können, loben und preisen, es waren doch keine Heldenthaten, sondern nichts als nackte Verbrechen. Die Thäterin hat geschichtliches und psychologisches Interesse, aber trotz desselben macht sich ein Bedauern darüber geltend, daß mit solchen Vorzügen ausgestattete Frauen ihr eigenstes, inneres Wesen verläugneten und Thaten verrichteten, denen wenn auch keine äußerliche, doch desto sicherer eine innerliche Strafe folgte. Judith, jene dunkelglühende, mächtig-prächtig- nächtige Erscheinung, welche wohl geeignet ist, die Sinne zu bethören und die Herzen zu berücken, sie geht einsam durch das Leben und findet Niemanden, der sie begehren und erhören will:
Hingebung heißt des Weibes schönstes Thun!« Dieses Wort dringt tief in das innerste Wesen des Weibes ein, öffnet uns das Verständniß für [50] so manches scheinbar Unverständliche, entschleiert die süßesten Geheimnisse des Frauenherzens und löst so manches Räthsel, vor welchem der Geschichtsforscher, der Psycholog, der Richter erfolglos gestanden haben. Die Hingabe ist nicht eine einzelne Eigenschaft, sondern sie ist das Wesen des Weibes selbst; auf sie haben alle Gedanken, alle Gefühle, alle Entschließungen und Thaten Bezug und nur sie allein ermöglicht die Triumphe, welche eine anziehende Weiblichkeit selbst über das festeste und verschlossenste Mannesherz zu erringen vermag.
Diese Hingebung kann sich bis zur größten Aufopferung steigern, und hier leistet das Weib Höheres und Bewundernswertheres als der Mann. Hier öffnet sich das Feld, auf welchem das Weib seine Heldenthaten verrichtet und in jenem »schlichten Heldenthum« erstarkt, welches oft den unerschrockensten Mannesmuth überragt.
Ein an die Seite eines ungeliebten Mannes gefesseltes Weib kann sich täglich, ja stündlich einer That rühmen, welche in das Gebiet des Heldenthumes gehört, und mancher Mann nimmt von seiner Frau Gaben in Empfang, auf welche er kaum achtet, da sie ihm klein und unbedeutend erscheinen, die aber trotzdem sich mit den größesten Beweisen seiner Liebe messen dürfen.
Das Weib lebt nur in ihrer Liebe. Der Geliebte ist ihr Alles; sie glaubt ihm, sie vertraut ihm, sie bewundert ihn, sie findet sogar seine Schwächen liebenswürdig und schließt sich mit all' ihrem Sehnen und Verlangen, all' ihrem Hoffen und Wünschen an ihn, gerade so,
und der Mann umfaßt sie mit starkem Arme, schützt, trägt, behütet und bewacht sie als das beste, das köstlichste Kleinod, welches das Schicksal ihm in die Hände gelegt und das er an sein Herz nahm mit dem zärtlichen Versprechen:
Ehre und Pflicht stehen dem Manne höher als die Liebe; deshalb [51] kann eine unerhörte oder unglückliche Liebe auf ihn nicht so tief eingreifende Folgen äußern, wie bei dem Weibe, welches nichts Höheres kennt, als die Sympathie, welche ihr Glück und Leben von der Vereinigung mit dem geliebten Gegenstande abhängig macht. Er findet in der Arbeit seines Berufes, in dem Drängen des immer vorwärts rauschenden und ihn mit fortreißenden Lebens Zerstreuung und dadurch Vergessenheit seines Herzenskummers, während die Jungfrau in der Einsamkeit ihres stillen Kämmerleins und bei der Wechsellosigkeit des ruhigen häuslichen Lebens ihren Schmerz von Tag zu Tage sich erweitern und vertiefen sieht.
klagt der zurückgewiesene Jüngling; bald aber verstummt diese Klage und der düstere Blick glänzt wieder in voller, feuriger Lebenskraft, ja, der frühere Schmerz ruft jetzt seinen spottenden Scherz heraus, und das Lied: »and're Städtchen, and're Mädchen« oder »Heut' lieb' ich die Johanne und morgen die Susanne« rächt die Untreue der Einen an allen ihren Schwestern, welche sich verlocken lassen durch den Ruf des Liebesbedürftigen und Liebesdurstigen:
Ohne Unterlaß dagegen nagt der Schmerz verlorener oder gestorbener Liebe im Innern der trauernden Jungfrau. Die Liebe war ihre Welt, und diese Welt ist zusammengebrochen und in Trümmer gegangen. Das Auge sieht, aber es blickt nicht mehr; der Mund spricht, aber er lächelt nicht mehr; der Fuß geht, aber er schwebt nicht mehr; das Herz klopft, aber es lebt nicht mehr, und nie ist dieser Untergang der innern Welt ergreifender geschildert worden, als in dem bekannten
Doch wehe, wenn dieser stille, ruhige Schmerz sich in jene wilde Leidenschaftlichkeit verwandelt, welche an Allem, selbst an Gottes Gerechtigkeit verzweifelnd, gegen sich selbst und alles Bestehende wüthet und tobt:
Diese, das Schwert sich tiefer und immer tiefer in den Busen stoßende Leidenschaftlichkeit gleicht jenem dunklen, mit sprühendem Funkenregen am Hochgerichte vorübersausenden Geisterrosse, auf welchem der Tod hockt und Bürgers »Leonore« unter nachrasselndem Gespensterspuke dem körperlichen und geistigen Untergange entgegenführt. Sie schreckt jedes fühlende Wesen von sich und bringt sich selbst um die Theilnahme, welche das Menschenherz so gern jedem mit stiller und muthiger Ergebung getragenen Leide zollt, und die noch nach langen Jahren ihren warmen Blick zurückwirft auf das Verscheiden eines goldenen, hoffnungsreichen Lebenstages:
Ein alter Schriftsteller sagt: »Es giebt auf Erden kein herrlicheres, köstlicheres und begehrenswertheres Wesen, als ein braves, reines und gutes Weib, und es giebt auf Erden auch kein häßlicheres, armseligeres und abstoßenderes Geschöpf, als ein leichtsinniges, unkeusches und schmutziges Weib.« Man darf nicht Anstand nehmen, diesen Worten vollständig beizupflichten und sieht mit um so größerem Bedauern, daß die immer weiter um sich greifende Putz-, Genuß-und Vergnügungssucht sich wie ein zerstörender Rost immer tiefer in die Würde des Frauenthums einfrißt.
Nicht unter den freundlich sorgenden und behütenden Augen der Eltern entwickeln sich jene beseligenden Gefühle, welche die Herzen für immer an einander ketten, sondern der Jüngling der Gegenwart holt sich die Auserwählte meist aus den Winkeln und Nischen der Tanzsäle und läßt die bloße Sinnlichkeit über Fragen entscheiden, welche zu den bedeutungsvollsten des ganzen Menschenlebens gehören.
ertönt die Warnung Schillers, deren Nichtbeachtung gar Mancher mit dem Glücke seines Lebens zu büßen hat. Die Zukunft macht große und ernste Ansprüche an die Gegenwart, und wer in jugendlichem Leichtsinn dem Augenblicke die Herrschaft über sich erlaubt, muß später bittere Reue tragen.
und dieses Lockenwehen bringt Erfüllung der süßesten, der heißesten Wünsche, aber es gleicht dem duftenden Frühlingshauche, welcher die Blüthen von [54] den Bäumen nimmt, damit die Kraft des Sommers die Früchte entwickle und zeitige. Auch dem Liebes- und Lebensfrühlinge folgt die Zeit der Arbeitshitze, der Stürme und Gewitter, welche die rauhe Hand des Schicksales über die Häupter der Menschenkinder dahinschleudert, und nun gilt es, sich unter dem Zucken der Blitze und dem Grollen des Donners zu bewähren. Das Schmachten, Tändeln und Spielen nimmt ein Ende; das süße Schäferspiel wird zum ernsten Kampfe, und aus der jetzt innigeren Berührung der Charaktere entwickelt sich die ernüchternde Erkenntniß, daß selbst der geliebteste Gegenstand kein Engel sei, jedes Licht seine Schatten werfe und kein Gut, am wenigsten aber das Glück des Lebens ohne Kampf, Anstrengung und Entsagung erlangt werden könne.
und herrlich ist diese aus dem gegenseitigen Verstehen und Tragen hervorschwellende Frucht, welche den Samen für das Wohl und Gedeihen späterer Generationen in sich trägt. Wollte doch Jeder bei seiner Wahl bedenken, daß die Vereinigung des Jünglings und der Jungfrau zu Mann und Frau nicht blos äußerliche, körperliche Zwecke verfolge, sondern daß ihre Wirkungen nicht weniger geistige als körperliche sind und vielleicht weit über den Horizont des irdischen Daseins hinausgreifen.
Die durch die Ehe herbeigeführte Verbindung der beiden Geschlechter führt zu einer Ergänzung, welche durch das Zusammentreten der verschiedenen gegenseitigen Eigenschaften bewirkt wird. Diese Verschiedenheit der Geschlechter erstreckt sich nicht blos auf gewisse Organe und Körpertheile, sondern sie deutet sich leicht erkennbar im ganzen Organismus, in jeder Regung der Seele und des Geistes an.
Der Mann ist im Durchschnitte größer, besitzt einen stärkeren Knochenbau, derbere Muskeln, schärfere Abrisse in der Körperform, größere Ausbildung der Brusthöhle und darin begründetes Ueberwiegen der Arteriosität, kräftigere Entwickelung des Kehlkopfes für eine in tieferen Tönen sich [55] charakterisirende Stimme, stärkere Behaarung des im Knabenalter unbehaarten Körper, in geistiger Beziehung einen auf die Grundlage stärkeren Kraftgefühles gestützten höheren Muth, daher auch höheres Vermögen zu Kraft erfordernden Lebensverrichtungen, als das Weib. Daher waltet in ihm ein lebhafter Trieb, seine Kräfte, sein Wissen und Können, seinen Willen, also sich selbst im Leben so viel wie möglich zur Geltung zu bringen.
Deshalb ist der Mann vorzugsweise in solchen Beziehungen thätig, welche einen größeren Theil der körperlichen und geistigen Kräfte in Anspruch nehmen, und äußert die ihm verliehene Art und Weise in Allem, was mit dem Schaffen sowohl als auch dem Zerstören im Zusammenhange sich befindet. Sobald die Frau auf dieses Gebiet übertritt, entäußert sie sich ihrer Vorzüge und wird unsympathisch. Eine Amazone ist weder bewundernswerth noch liebenswürdig; sie ist nichts Ganzes, nichts Rechtes, ist weder Mann noch Weib, ist Mannweib, also häßlich.
Man zolle denjenigen Frauen, welche auf Thronen gesessen haben, den schuldigen Tribut, aber man behaupte nicht, daß der Königin der Vortritt vor dem Weibe gebühre. Die schönste, die herrlichste der Kronen ist der Blüthenkranz, welchen die Liebe in das wallende Haar der Jungfrau flicht. –
Auch das Weib hat seine charakteristischen Eigenthümlichkeiten, durch welche es sich von dem Manne unterscheidet. Der Bau der Knochen ist im Allgemeinen zarter, glatter, die Vorsprünge, Leisten, Spitzen, Ecken und Kanten, welche bei dem Mann in Folge der ihnen angehefteten stärkeren Muskulatur hervorspringender und schärfer werden, sind hier weniger ausgebreitet.
Besonders ist die knöcherne Umgebung der Brusthöhle enger, kürzer und nach oben schmäler, die Rippen und das Schlüsselbein sind weniger gebogen, die unteren Rippen und das Brustbein kürzer, weshalb der Unterleib im Verhältnisse zur Brust einen bedeutend größeren Raum einnimmt, als bei dem Manne.
Das Becken ist breiter, in seiner Oeffnung weiter und geräumiger, die Hüftknochen sind mehr horizontal gestellt, das Kreuzbein breiter und flacher, das Steißbein mehr beweglich, der Schambogen runder und weiter und die Schamfuge niedriger aber breiter als bei dem Manne.
Die Pfannen der Schenkelgelenke stehen weiter aus einander; der [56] Hals des Schenkelknochen bildet mit diesem letzteren einen weniger stumpfen, mehr dem rechten sich nähernden Winkel, weshalb die Oberschenkel nach den Knieen hin mehr convergiren.
In Folge der erwähnten, ursprünglich verschiedenen Bildung der Brust und des Unterleibes tritt auch die arterielle Seite des Gefäßsystems und die der willkürlichen Bewegung gewidmete Reihe von Organen mehr zurück. Die Muskeln sind schwächer und schlaffer, die Oberfläche des Körpers zeigt sich mehr mit Fett gepolstert, wodurch die allgemeinen Umrisse schöner und abgerundeter erscheinen.
Auch die mit der Athmung in Verbindung stehenden Stimmorgane zeigen gewisse charakteristische Eigenthümlichkeiten, namentlich ist der Kehlkopf kleiner, höher gelegen und weniger hervorstehend, und die Stimme besitzt einen feineren, sich in höherer Stimmlage bewegenden Klang.
Der Körper des Weibes ist im Durchschnitte kleiner als der des Mannes, die Haut glatter, zarter und weniger behaart, so daß ein Bart zu den Seltenheiten gehört.
In der Regel waltet die vegetative und sensible Sphäre des Organismus vor, daher kommt eine größere Empfindlichkeit gegen krankmachende oder schwächende äußere Einflüsse, in Folge dessen die Frau eher erkrankt als der Mann, auf Grund der größeren Nachgiebigkeit und Fügsamkeit der Organe aber eine große Anzahl bedeutender und gefährlicher Krankheiten auch wieder leichter übersteht und überwindet.
In seelischer Beziehung überwiegt bei dem Weibe die Seite des Gefühles. Der Mann handelt nach Grundsätzen, welche seine Ueberlegung aus Vernunftschlüssen zieht und deren Behauptung er selbst mit Opfern erkauft; das Weib aber folgt am liebsten dem Gefühle und einem instinktmäßigen Empfinden des Schicklichen und Schönen. Der sich sehr oft dazu gesellende Scharfsinn und schnellere Ueberblick der Verhältnisse macht dieses Gefühl zuweilen dem schärfsten Verstande überlegen, und es liegt eine Wahrheit in dem Worte, daß eine Frau zuweilen auf den ersten Blick mehr ahnt und bemerkt, als was zehn Professoren nach jahrelangem Forschen herauszugrübeln vermögen.
Vermöge seiner höheren Geisteskraft und Körperstärke strebt der Mann, den Kreis seiner Thätigkeit über die Grenzen des Hauses und der Familie hinaus zu erweitern und bemißt seinen Werth nach dem größeren oder geringeren Nutzen, welchen er als Glied der Staatsgesellschaft erzielt; [57] das Weib dagegen ist auf Haus und Familie angewiesen, findet in diesem engen Kreise sein Glück und seine Bestimmung, kann da als Hausfrau und Mutter ihr Geschlecht repräsentiren und das höchste Ziel erreichen, was ihr von der Natur und göttlichen Bestimmung gesteckt worden ist. Während Schiller in seinem Liebe von der Glocke sagt:
[58] Die Ehe, obwohl kein bloßes Vertragsverhältniß, beruht dennoch auf einem Vertrage, welcher nach den Anforderungen des Sittengesetzes aber durch gegenseitige Liebe herbeigeführt wird, sodaß beide Ehegatten eine solche gemeinsame Lebensvereinigung fordern, daß beide nur eine einzige moralische Person ausmachen, in welcher ihre natürliche oder einzelne Persönlichkeit vollständig aufgeht.
Die Stufe der Cultur, auf welcher sich ein Volk befindet, läßt sich leicht aus dem Ansehen bestimmen, in welchem die Frauen bei ihm stehen.
Die Lage des Weibes scheint im Alterthum im Oriente weniger drückend gewesen zu sein, als sie gegenwärtig geschildert wird. Bei den Hebräern (Juden) bewohnten die Weiber im patriarchalischen Zeitalter zwar eine besondere Abtheilung des Nomadenzeltes, nahmen aber unverschleiert an allen häuslichen Beschäftigungen und wirthschaftlichen Verrichtungen Theil und durften sich selbst von den Fremden sehen lassen. Als man später aber in größeren Gesellschaften lebte, deren Glieder nicht mehr durch die Bande engerer Verwandtschaft verbunden wurden, änderte sich das Verhältniß. Besonders lebten die Vornehmeren zurückgezogener, bewohnten nach morgenländischer Sitte eine besondere Wohnung, welche aus einem besonderen Gebäude, einem abgesonderten Zimmer des oberen Stockwerkes oder des Hinterhauses bestand, und gingen zwar mit den Männern zu Gastmählern, wurden aber dort von den Wirthinnen besonders gespeist. Kinderreichthum ehrte die Weiber, während Kindermangel für eine göttliche Strafe gehalten wurde.
Das jüdische Weib wurde in älteren Zeiten den Eltern mit Geld oder Geldeswerth abgekauft und wohl auch bisweilen durch Arbeit verdient, wie Jacob seine beiden Frauen Lea und Rahel nach vierzehnjährigem Dienste von ihrem Vater Laban erhielt. Meist wurde ein förmlicher Contract, früher nur mündlich, später aber schriftlich abgeschlossen und nach der Verheirathung zeichnete sich sowohl der Mann als auch die Frau durch besondere Kleidung aus.
Der Mann übernahm die Verpflichtung, der Frau einen ihrem vorigen Stande angemessenen Unterhalt zu geben, und die Frau verband sich, wenigstens so viel zu arbeiten, als sie im Hause ihrer Eltern gearbeitet hatte. Bei der Verheirathung der Töchter mußte übrigens auch der älteste Bruder seine Zustimmung geben, und wurde eine Frau, ohne ihrem Manne Kinder geboren zu haben, Wittwe, so mußte der Bruder des verstorbenen [59] Mannes sie heirathen, damit das Geschlecht nicht aussterbe. Diese, Levirathsehe genannte Verbindung mit dem Schwager galt übrigens auch bei vielen anderen Völkern des Morgenlandes.
Die Ehescheidung wurde bei den Juden unter Ausstellung eines Scheidebriefes vorgenommen und durften die Geschiedenen sich wieder vermählen. Nur den Priestern war es untersagt, Wittwen und Geschiedene zu heirathen.
Im alten Egypten konnte jeder Mann so viel Weiber nehmen, als ihm beliebte. Die Frauen mittlerer und niederer Stände verrichteten die Geschäfte außer dem Hause, wobei sie verschleiert gingen, besorgten den Einkauf und Verkauf, trieben Viehzucht und Ackerbau, den Fischfang u.s.w., während die Männer daheim spannen, webten etc.
Nicht die Söhne, sondern die Töchter hatten die gesetzlich festgestellte Verpflichtung, die Eltern zu ernähren; sie durften bis zu ihrer Verheirathung unverschleiert gehen, doch machten von dieser Erlaubniß nur die Töchter der untersten Kasten und die öffentlichen Dirnen Gebrauch. Ein Bruder durfte seine Schwester ehelichen, was z.B. die meisten Ptolemäer thaten, auch mehrere Pharaonen ehelichten die Schwester, und mehrere Male haben Frauen als regierende Königinnen auf dem Throne gesessen.
In Griechenland waren in der ältesten Zeit die Weiber nichts Anderes als Sclavinnen; sie wurden durch Kauf oder Raub erlangt, und so kam es, daß nicht nur Eine die Gunst des Mannes besaß, sondern Mehrere sich in seine Liebkosungen theilen mußten. Zu Hause waren sie in die engen Grenzen des Frauengemaches eingeschlossen, und wenn sie ausgingen, mußten sie tief verschleiert sein und einen Diener als wachsamen Begleiter bei sich haben. Jungfrauen und Wittwen wurden noch strenger gehalten, und während man es überall für ein Glück hielt, wenn ein Mädchen einen angesehenen Mann bekam, galt es bei den alten Böotern und Lokrern für eine Ehre, wenn ein Mädchen als unberührte Jungfrau starb; ihr wurden Altäre errichtet und Opfer gebracht.
Doch schon zur Zeit Homers hatte sich Vieles in dem Verhältnisse des Weibes zu dem Hausherrn gebessert. Die Weiber hatten ihre besonderen Wohnungen gleich hinter dem Männersaale, welchen sie leicht übersehen konnten, theilten, selbst wenn Fremde gegenwärtig waren, mit dem Hausherrn den Tisch und entfernten sich nur dann, wenn das Trinkgelage begann.
Im öffentlichen Leben nahmen sie an den Opfern Theil, hielten Prozessionen, [60] verschönerten die Feste durch Reigen und Tänze und hatten sogar die Erlaubniß, in der Versammlung der Aeltesten des Volkes zu erscheinen. Den Gästen ihres Hauses mußten sie, so verlangte es die Gastfreundschaft, persönliche Dienste leisten.
Ihre Beschäftigung war Weben, Spinnen und Wirken, während die häuslichen Geschäfte, als Mahlen, Backen, Kochen, Wassertragen, Waschen, die Herstellung des Bades, die Zubereitung der Betten und das Geleite zu den Lagerstätten Sache der Dienerinnen und Mägde war. Doch unterzogen sich die Hausfrauen oder deren Töchter zuweilen wohl auch einer von diesen Verrichtungen. Dem Hausherrn machte die Hausfrau selbst das Bett und zwar unmittelbar vor dem Schlafengehen.
Nach und nach wurde die Lage der Frauen eine immer freiere und immer bessere. Sie waren nicht mehr geraubtes oder gekauftes Gut, sondern wurden dem Manne von den Eltern mit einem Brautschatze übergeben; doch blieb der Frau nie die Wahl nach den Wünschen ihres Herzens vergönnt, sondern sie war gezwungen, dem Befehle ihrer Eltern zu folgen. Die Jungfrauen lebten fort unter strenger Bewachung; aber ihre Aufseher hatten nicht blos das Amt, ihre Keuschheit zu bewachen, sondern übernahmen die Verpflichtung, zugleich ihren Geist und ihr Herz zu bilden, und ganz besonders war es in Athen, wo die Jungfrauen von anderen Lehrern in der Dichtkunst, Philosophie, Malerei etc. unterrichtet wurden, woher es kam, daß Griechenland so reich an gelehrten Weibern war.
Verbotene Grade der Ehe gab es in den ältesten Zeiten nicht, denn selbst Zeus, der oberste der Götter, hatte seine Schwester Here geheirathet; aber Ehen zwischen Eltern und Kindern galten schon in dem heroischen Zeitalter für unmöglich. Wittwen konnten wieder heirathen, doch gingen sie zuvor in das älterliche Haus zurück; edle Weiber aber zogen es vor, dem Gemahle ihrer Jugend ein treues Andenken zu erhalten und unverheirathet zu bleiben; das galt ehrenvoll im Volke.
Als sich seit Alexander dem Großen die Bürger immer mehr von der Sorge um die Angelegenheiten des Staates zurückzogen und sich dem Hauswesen mehr zuwandten, bekamen die Weiber einen oft ganz bedeutenden Einfluß auf das öffentliche Leben, den wir in der dritte Abtheilung unseres Buches einer höchst interessanten Betrachtung unterwerfen werden.
Eine Ehescheidung war in Athen sehr leicht. Die Sache wurde bei beiderseitiger Einstimmung dem Archon angezeigt, und die Ehe war getrennt. [61] Gründe anzugeben, wurde für den Mann nur dann nöthig, wenn etwa wegen Rückzahlung der Aussteuer ein Streit entstand.
Von allen übrigen Griechinnen unterschieden sich, und zwar ganz besonders seit Lykurg's Gesetzgebung, die Spartanerinnen. Sie mußten, gleich den Jünglingen, sich im Laufen, Steigen, Wurfspieß- und Diskoswerfen üben, nackt gehen, bei Feierlichkeiten tanzen, die Jagd betreiben etc. Dieser Erziehung ist es zuzuschreiben, daß die spartanischen Weiber für stolz, rauh und anmaßend gehalten wurden, obgleich sich dadurch auch ihr Hang zu unregelmäßigen Begierden schwächen mußte, da sie mit den Männern zu nahen und öffentlichen Umgang hatten und das frühzeitig eingeflößte Ehrgefühl ihren Geist über die Sinnlichkeit erhob.
Der Spartaner schloß seine Ehe dadurch, daß er seine Braut raubte, doch mußte sie ihm dann noch durch den nächsten männlichen Verwandten verlobt werden. Die spartanischen Ehen zeichneten sich sehr vortheilhaft durch Treue und gegenseitige Achtung aus.
Bei den Römern war die Lage der Weiber im Ganzen besser als bei den Griechen. Sie lebten hier nicht eingeschlossen, waren nicht von den Männergesellschaften abgesondert, konnten hingehen, wohin sie wollten etc., aber so lange Sitteneinfalt herrschte, hieß ihn eigenes Gefühl sie eingezogen leben, und Nüchternheit, Sittsamkeit und Verschwiegenheit war ihre Zierde.
Zur Erinnerung an die Thaten einzelner Weiber, wie die Vermittelung zwischen Sabinern und Römern, die Aufopferung der Kleinodien bei der Eroberung Roms durch die Gallier etc. wurden von dem Staate mehrere für die Frauen ehrenhafte Anordnungen getroffen.
Dennoch war und blieb das Weib politisch unselbstständig; sie konnte in Nichts, nicht einmal in einer Privatangelegenheit ohne Curator handeln, und als Ehefrau trat sie zu ihrem Manne in dasselbe Verhältniß, in welchem sie früher zu ihrem Vater gestanden hatte. Aber der nach der Zerstörung von Karthago und Korinth einreißende Luxus änderte das Verhältniß der Weiber sehr zu ihren Gunsten, und noch mehr geschah dies zur Zeit der Kaiser. Je weibischer und weichlicher die Männer wurden, eine desto selbstständigere und unabhängigere Stellung nahmen die Weiber ein.
Aber schon gegen das Ende der Republik hin hatte die Sittenverderbniß begonnen. Die Weiber überließen sich den größten Ausschweifungen, verübten die unnatürlichsten Verbrechen und die frechste Schamlosigkeit, [62] stellten sich an die Spitze von Verschwörungen, Aufwiegelungen und blutigen Mordthalen, und Namen wie die einer Liva, Julia, Agrippina, Poppäa, Messaline, Faustina etc. werden wir in unserer dritten Abtheilung noch näher kennen lernen.
Eine gesetzmäßige Ehe konnte in Rom nur zwischen Bürger und Bürgerin eingegangen werden; in jedem andern Falle mußte eine ausdrückliche Erlaubniß des Senates nachgesucht werden. Die Frau wurde des Mannes Eigenthum. Ehescheidungen waren in Rom lange etwas Unerhörtes, und zuerst ließ sich im Jahre 234 vor Chr. Carvilius Rupa wegen Unfruchtbarkeit von seiner Frau scheiden.
Bei den Galliern standen die Frauen in großer Achtung, obgleich die Männer volle Gewalt über sie besaßen. Sie versöhnten oft ganze Heere, welche einander kampfbereit gegenüberstanden und schlichteten Privatstreitigkeiten.
Ebenso und noch mehr standen die Frauen der alten Deutschen in hohem Ansehen. Sie waren Ratgeberinnen und Weissagerinnen, im Kriege die Begleiterinnen und Aerzte ihrer Männer, und ein Friede, welcher durch weibliche Geißeln erkauft worden war, galt heiliger als jeder andere, weshalb auch ein höheres Wehrgeld auf sie gesetzt war. Sie wohnten in dem Hause mit den Männern vermischt, waren aber so keusch und züchtig, daß gefallene Dirnen selbst bei großer Schönheit, bedeutendem Reichthume und nachher streng geübter Tugend sich die verlorene Achtung nicht wieder erringen und das Herz eines edlen Jünglings gewinnen konnten. Untreue im ehelichen Leben kam selten vor, und wurde eine Ehebrecherin entkleidet und mit abgeschnittenem Haare aus dem Hause und durch den Ort gepeitscht.
Die Sorge für die Feldwirthschaft lag der Frauen ob; sie theilten die Arbeit unter die Knechte und Mägde aus, besorgten die Kost und spannen und webte die nothwendigen Kleidungsstücke. Auch begleiteten sie mit den Kindern die Männer, trieben, auf der Wagenburg stehend, die Männer zur Tapferkeit an, erfrischten die Reihen der Streiter, warteten und pflegten die Verwundeten, ja griffen sogar selbst zu dem Schwerte, um sich am Kampfe zu betheiligen und den Ausschlag zu geben. Ihre Klagen und Vorwürfe trieben oft die schon Fliehenden zu neuem Widerstande an; waren die Männer geworfen, so ließen sie dem Feinde den Sieg noch theuer erkaufen, und wenn alle Hoffnung auf Rettung aufgegeben werden mußte, so [63] ermordeten, um nicht in fremde Sclaverei zu gerathen, sie häufig sich selbst sammt ihren Kindern. Darum darf es gar nicht Wunder nehmen, daß der alte Deutsche seine Frau hoch achtete. Er nahm sich nur eine Frau, bezahlte sein hohes Wehrgeld für sie, ließ sie an allen öffentlichen Ergötzlichkeiten Theil nehmen und erholte sich oft in den wichtigsten Angelegenheiten ihren Rath.
Der deutsche Jüngling enthielt sich lange den Freuden der Liebe und wählte sich, sobald er in die Jahre der Mann- und Wehrhaftigkeit eingetreten war, eine an Stand und Jahren gleiche Jungfrau, zu welcher er sich in seinem Herzen hingetrieben fühlte. Die Einwilligung der beiderseitigen Eltern war nöthig, doch kamen, obgleich Frauen- und Mädchenraub geahndet wurde, doch Entführungen vor, wie z.B. bei Hermann und Thusnelda.
Vor der Trauung brachte der Bräutigam seiner Auserwählten gewöhnlich das Hochzeitsgeschenk (Widdum), bestehend in einem aufgeputzten Rosse, Schild, Schwert, Speer etc. wogegen sie ihm in der Familie forterbende Waffenstücke zum Gegengeschenk brachte. Von einer religiösen Weihe der Ehe, obgleich sie nicht unwahrscheinlich war, wird uns nichts berichtet; aber Schmausereien fanden statt, zu denen die geladenen Gäste für das junge Paar bestimmte Geschenke herbeibrachten.
Starb der Mann, so heirathete die Frau selten wieder, lieber verbrannte sie sich, wie es ganz besonders in Scandinavien und bei den Herulern geschah, mit der Leiche ihres Mannes auf dem Scheiterhaufen.
Die Achtung vor den Frauen erbte sich als ein Charakterzug der Deutschen von Kind zu Kind weiter, und im Mittelalter war die Beschützung des Weibes ein nicht geringer Theil der durch Eid zu erhärtenden Ritterpflicht, so daß Beleidigung der Frauen Unehre und Verlust der ritterlichen Vorzüge nach sich zog. Bei Turnieren, den großartigen Schauspielen männlicher Tapferkeit und Gewandtheit, feuerte ihre Gegenwart die Kämpfer zu den größten Anstrengungen an, und ihre Hände vertheilten den wohlerworbenen Preis. Der Ritterschlag erhielt seine schönste Weihe durch den Empfang von Panzer, Handschuh, Schild, Schwert, Lanze und Sporen aus zarter, schöner Frauenhand.
Um diese Zeit erfuhr die Minne eine sorgsame und begeisterte Pflege, und die Ritter und Edelknappen ließen sich durch die Mahnung einer holden Frauenstimme zu den größten Heldenthaten hinreißen. Es entstanden die Minnehöfe, Gerichtshöfe der Liebe, französisch Cours d'amours [64] italienisch Corti oderParlamenti d'amore, Minnengerichte, scherzhafte Gerichte, an welchen über die Proben gesprochen und entschieden wurde, welche Liebende einander auferlegten. Dabei wurde die Liebe von fahrenden Sängern, zu denen oft Fürsten sich gesellten, gerühmt, belobt und besungen, und gar manch' eine schöne Probe alten deutschen Minnesanges ist aus jener Zeit der Nachwelt überkommen.
Von all' den berühmten Sängern ist Wolfram von Eschenbach ganz unstreitig der Vater deutscher Poesie, welche sich, statt wie bisher der fränkischen, nun der schwäbischen und alemannischen Sprache bediente. Unter den Minnesängern seien genannt:
Dietmar von Aiste,um das Jahr1150.
Heinrich von Waldeck,um das Jahr1190.
Hartmann von der Aue,um das Jahr1200.
Walter von der Vogelweide,um das Jahr1210.
Wolfram von Eschenbach,um das Jahr1220.
Gotfriet von Nifon,um das Jahr1240.
Jacob von Warte,um das Jahr1245.
ferner:
Luitbold von Seven, Ulrich von Lichtenstein, der Tanhuser, Nithart, Reinmar von Zweter, Gotfried von Straßburg, Johann Hadlour, Regenbogen, Konrad von Würzburg, Heinrich Frauenlob, Klingsor.
Als im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderte der Geist des Ritterthums mehr und mehr schwand, trat an dessen der Frauenachtung günstiges Element mit dem Wiederaufblühen der Wissenschaften die Liebe zur platonischen Philosophie, welche der Liebe und Schönheit eine tiefe Bedeutung und dadurch auch die Achtung der Frauen zu sichern schien.
Freilich schritt Frankreich hier nicht wenig störend ein. Hier trat an Stelle des Ritterthumes die Galanterie, welche das Aeußere auf Kosten der Wahrheit unterstützte. Damals bildeten sich sogenannte literarische Gesellschaften, an deren Spitze geistreiche Frauen standen. Doch schien der Charakter der französischen Frauen wenig Haltung in dieser Höhe zu haben, und gegenüber der Galanterie der Männer bildete sich jene Coquetterie mit körperlichen und geistigen Gaben und Vorzügen aus, welche von hier aus auf sämmtliche Nachbarländer überging. Frankreich war die Heimath des [65] Maitressenwesens, das sich im siebzehnten Jahrhunderte fast über ganz Deutschland verbreitete.
Aber die deutschen Frauen erreichten ihre Vorgängerinnen und Lehrmeisterinnen weder in der Coquetterie noch in der Intrigue und überhaupt der sittlichen Verdorbenheit. Sie bewährten sich in ihrer sittlichen Reinheit, Gemüthstiefe und schönen Liebe zum Vaterlande in jener großen und erhabenen Zeit, in welcher die Männer Deutschlands die Bande zerrissen, welche der corsische Eroberer um sie geschlungen hatte.
Damals war es, wo deutsche Frauen und Jungfrauen ihre Schätze, ihren Schmuck, ja selbst ihr Haar zum Opfer brachten, um den Kampf für die Freiheit zu unterstützen und einzeln oder in Vereinen zusammengetreten verwundete Krieger persönlich pflegten, erquickten und unterstützten. Diese Vereine behaupteten ihr Bestehen auch nach dem Kriege und erstreckten ihre rettende, helfende und tröstende Wirksamkeit auf alle Arten und Fälle menschlicher Noth und menschlichen Elendes, wie z.B. die Erziehung verwaister und verwahrloster Kinder, die Unterstützung des arbeitsunfähigen Alters. Noch in der jüngsten Zeit haben die deutschen Frauen sich in dem deutsch-österreichischen und deutsch-französischen Kriege für alle Zeiten ein herrliches Denkmal errichtet, dessen Bau nicht minder glanzvoll dasteht, wie die Siegesmonumente, welche der Heldenhaftigkeit der deutschen Krieger gesetzt wurden.
Der deutschen Frau am nächsten verwandt ist die Engländerin. Die Damen der höheren Stände in Großbritannien zeichnen sich fast immer durch freiere, bessere und gediegenere Bildung besonders in Bezug auf Kunst und Literatur aus und stehen auch in gesellschaftlicher Beziehung auf einer höheren Stufe, als die meisten anderen Nationalitäten. Sie haben eine hochgewachsene schöne Gewalt, volle Körperformen, eine feine, zarte Haut, helles Haar, glänzende Zähne. Die Engländerin zählt zu den ersten Frauenschönheiten.
Ihr nahe steht die Amerikanerin, deren Charakter durch die fremdartigen Beimischungen allerdings wesentlich motivirt ist. Sie sind hübsch, aber oft ohne Leben, verblühen bald und nehmen gegen Unbekannte gern ein noch zurückgezogeneres Wesen als die Engländerinnen an. Ihre Sitten sind meist rein und die Ehen glücklich. Es gab eine Zeit, in welcher die Achtung vor den Frauen in Amerika fast bis zu einem Frauencultus getrieben [66] wurde, was seinen Grund in dem Umstande hatte, daß bei der großen Anzahl männlicher Einwanderer eine große Nachfrage, aber kein Angebot von Frauen war.
Durch die Adern der Italienerin rollt das heiße Blut des Südens, ihre vollen, lockenden Formen schwellen unter dem Drange des raschen, glühenden Pulses und aus ihrem dunklen Auge blitzt der Strahl des Verlangens und Gewährens.
Dort wirkt das Klima verführerisch auf die Sinnlichkeit, die üppige Phantasie schreibt dem Kopfe und dem Herzen ihre zauberischen Romane vor, und die Liebe mit all' ihren Genüssen ist ein unabweisbares Bedürfniß, welches sich weniger als sonst irgendwo von der Moral abhängig macht. Die Italienerin liebt nicht aus Laune, nicht zum Zeitvertreib, sondern aus Nothwendigkeit.
Die Glanz- und Versammlungspunkte der italienischen Schönheiten und Liebenswürdigkeiten sind Rom, Toscana, Florenz, Sicilien, Siena und Venedig, während die Frauen in den Alpen gedrungener, beleibter und also unschöner werden.
Die Sitte des Cicisbeates, welchem wir später ein besonderes Kapitel widmen werden, ist im nördlichen Italien durch den Einfluß der französischen Herrschaft fast ganz verschwunden, obgleich sie dort als nationale Gewohnheit tief in alle Kreise der Gesellschaft eingedrungen war. Ebenso spielt der Cavaliere servente nur an wenigen Orten noch eine wenig glanzvolle Rolle.
Die Spanierin trägt das Kennzeichen der orientalischen Abstammung noch deutlich in ihrem ganzen Aeußeren an sich. Ganz besonders schön an ihr ist das schwarze, große Auge, die Anmuth und Gewandtheit in ihren Bewegungen, die Zartheit in Bau und Umriß der Glieder und der Ausdruck in der graziösen Haltung. Bevorzugt ihrer Schönheiten wegen sind besonders Andalusien und Malaga.
Da das weibliche Geschlecht der pyrenäischen Halbinsel schnell heranreift, so werden die Mädchen in einem Alter von 13 bis 14 Jahren verheirathet und verblühen dann sehr schnell.
Die Spanierin liebt die Bequemlichkeit, doch giebt es Gegenden, wie z.B. Alt-Castilien und Biskaya, wo sich die Weiber den schwersten Arbeiten, sogar dem Schleichhandel unterziehen. Hervorstechende Züge sind Edelmuth, Offenheit und Lebhaftigkeit.
[67] In der Liebe ist die Spanierin leidenschaftlich und fordert vollständige Ergebung. Untreue vergilt sie mit dem größten Hasse und einer rücksichtslosenRache.
Die orientalischen Gebräuche in dem Hauswesen, besonders in Beziehung auf das Einschließen der Frauen und ihre ängstliche, eifersüchtige Bewachung, haben sich nach und nach immer mehr verloren. Ganz besonders ist dies in großen Städten der Fall, wo französisches Wesen Eingang gefunden hat, und es wird dem weiblichen Geschlechte schon längst jede anständige Freiheit erlaubt.
Die Erziehung läßt allerdings noch sehr viel zu wünschen übrig, und so kommt es, daß die Bildung der Spanierin keine bedeutende ist: Lesen, Schreiben und Musik, ein wenig Kochen und – Tanzen, das können sie, wie das Sprüchwort sagt, schon ehe sie auf die Welt kommen. Aber sie sind, trotz aller scheinbaren Freiheit, Ungezwungenheit oder gar Ungenirtheit, doch im Umgange mit dem andern Geschlechte nicht sittenlos und scheinen nur mehr zu versprechen, als sie halten und gewähren.
Die in Spanien sehr häufig vorkommenden Zigeunerinnen (Gitana's) sind oft von großem Liebreiz oder gar bezaubernder Schönheit, nur schade, daß sie so schnell verblühen und dann eine gradezu abstoßende Häßlichkeit zur Schau tragen. Auch liegt in ihrem Charakter eine außerordentliche Liebe zur Ungebundenheit, welche in der Vereinigung mit der Neigung zu Trägheit, Feigheit, Betrug und Diebstahl wenig Empfehlenswerthes bietet.
Trotz der großen Nachbarschaft gleichen die portugiesischen Weiber den spanischen nicht sehr. Der häufige Aufenthalt in den Klöstern und der Mangel an Bewegung giebt ihrem Teint eine Blässe, welche nach und nach in das Olivenfarbene übergeht, und diesem Mangel an öfterer freier Bewegung ist auch jene Ungrazie zuzuschreiben, welche bei ihnen so auffällig hervortritt. Wie bei den Orientalen, gilt Wohlbeleibtheit hier für Schönheit, und da sie von den Männern eifersüchtig in die Zimmer eingeschlossen werden, so sind sie meist nur auf den Promenaden und in Gesellschaften zu sehen, wo es viel Steifheit und Unbeholfenheit, aber wenig Erholung und Vergnügen giebt. Natürlich sind sie bei ihrer Abgeschlossenheit sehr zu Liebeshändeln geneigt, und der unternehmungslustige Ausländer kann leicht eine kleine abenteuerliche Episode erleben, wenn er eine heimliche Damenbekanntschaft zu machen beabsichtigt.
[68] Die Frauen Schwedens sind germanischer Abkunft und nach Art dieses Volksstammes für das Haus mehr als der Mann, und dem Manne mehr als alles Andere. Sie zeichnen sich durch wohlgefälligen Bau, eine oft recht interessante Blässe, welche das Gesicht fein und schmachtend erscheinen läßt, freie, schöne Haltung und gemessene, würdevolle Bewegung vortheilhaft aus. Doch ist die Anschauung, daß die meisten Schwedinnen blondhaarig und blauäugig seien, nicht auf Wahrheit begründet.
Selbst in den größeren Städten, wo die Mode mit ihren Ansprüchen und Umgestaltungen sich eingebürgert hat, ist der häusliche Sinn und die Liebe zur Wirthschaftlichkeit treues Erbe der germanischen Abstammung geblieben, sodaß selbst sehr wohlsituirte Frauen ein Zimmer besitzen, in welchem sich ein Webstuhl befindet.
In geistiger Beziehung stehen die Schwedinnen auf einer anerkennenswerthen Stufe der Bildung; die Durchschnitskenntnisse sind bessere als in manchem anderen Lande, und mancher Freund von Dichtkunst und Poesie weiß eine oder die andere Schwedin zu nennen, deren Romane ihn in eine spannende Lectüre vertieft haben. Sie lieben es sehr, die Französinnen des Nordens genannt zu werden.
Die Bewohnerinnen von Norwegen sind meist flachshaarig und haben blaue Augen. Frömmigkeit ist eine ihrer Haupttugenden; darum besuchen sie sehr fleißig die kirchlichen Gottesdienste oder halten, wenn ihnen die Kirche zu fern liegt, häusliche Andachten. Hochzeiten und Kindtaufen werden hoch gefeiert.
Bei Brautwerbungen herrscht in vielen Gegenden noch die alte Sitte daß der Bursche ohne viel Federlesens sofort an das Bette der Geliebten kommt. Nimmt sie ihn auf, so sind sie Braut und Bräutigam, weist sie ihn aber fort, so hat es allerdings mit dem Freien ein Ende.
Ueber die dänischen Frauen läßt sich nicht viel Charakteristisches sagen. Sie sind von altersher deutschen Ursprunges und besitzen also in der Hauptsache die Eigenthümlichkeiten der germanischen Frauen.
Die Russinnen stehen weder im In- noch im Auslande in einem besonders hohen Ansehen. Bei den Vornehmen mangelt es an jenem die Frauen zierenden Sinne für die Häuslichkeit, für wirthschaftliche Thätigkeit, Einfachheit und Ordnungsliebe, welcher den Mann beglückt, weil er ihn an das Haus und die Glieder seiner Familie fesselt. Sie jagen gern [69] rauschenden Vergnügungen nach und suchen ihre Eitelkeit durch politische und gesellschaftliche Intriguen zu befriedigen.
Wie weit an diesen nicht lobenswerthen Eigenschaften selbst die Damen der höchsten Kreise, ja sogar die Kaiserinnen Theil genommen haben, lehrt uns die Geschichte sehr deutlich und ausführlich.
Die Rusinnen gewöhnlichen Schlages führen im Allgemeinen ein eingezogenes Leben, sodaß die Mehrzahl der auf den Straßen Gehenden Männer sind. Besonders tritt der slavische Charakter in den unteren Ständen hervor, in denen die Weiber eine höchst untergeordnete Rolle spielen. Es wohnt in ihnen viel sinnliche Liebe und eine kräftige Leidenschaft, auch entbehren sie keineswegs der körperlichen Reize, doch werden dieselben unter dem Einflusse der viel gebrauchten Dampfbäder sehr früh schlaff und welk.
Die Polinnen sind ihrer körperlichen und geistigen Vorzüge wegen überall bekannt und berühmt. Sie haben eine lebhafte, gesunde weiße Hautfarbe, meist reiches, braunes Haar, ebensolche Augen, einen edlen Gang und machen in ihrer Haltung und ihren Bewegungen einen fesselnden und wohlthuenden Eindruck.
Ohne gerad' sehr tiefe Bildung, sind sie doch außerordentlich empfänglich und gelehrig, edel, geistreich, witzig und von einer so tiefen Anhänglichkeit an ihren Gatten, ihre Familie und ihr Vaterland beseelt, daß dieses Gefühl sie zur größten und freudigsten Aufopferung zu treiben vermag.
Die Geschichte der polnischen Aufstände hat dieses bis zur Evidenz bewiesen und mit den ergreifendsten Beispielen belegt. Die Frauen versuchten die Krieger mit Rath und That zu unterstützen, begeisterten sie zum todesmuthigen Kampfe, traten sogar selbst mit in die Reihen der Vaterlandsvertheidiger, und als alle, sogar die letzte Hoffnung auf Freiheit und Selbständigkeit gesunken war, gingen sie mit in das Exil, um auf fremdem Boden sich eine neue Heimath zu gründen und nicht gezwungen zu sein, die Frauen unterjochter Männer zu werden.
Die türkischen Frauen würden schön sein, wenn die Haremsabgeschlossenheit, die vielen Bäder, das unaufhörliche Schminken und das immerwährende Sitzen auf eingeschlagenen Beinen ihre Reize nicht in der Entwickelung beschleunigten und ihrem Körper jene übervollen Formen verlieh, welche nur im Morgenlande für eine Zierde der Frau gehalten werden.
[70] Die Ehe ist, was wir von uns Deutschen nur erst seit der neuesten Zeit sagen dürfen, bei den Türken ein bürgerlicher Contract, der vor Gericht von dem Manne mit der Familie der Frau abgeschlossen wird. Dieser Contract regelt das Verhältniß zwischen Mann und Weib bis in das Einzelnste und bestimmt ganz besonders die Höhe des Eingebrachten, des Leibgedinges oder überhaupt der Summe, welche den Frauen im Falle des Todes ihres Mannes oder einer Scheidung verbleiben soll. Deshalb verschreibt ein Großer sehr oft seiner Frau sein ganzes Vermögen, um im Falle der Absetzung oder Confiscation – was einem Türken allerdings sehr leicht und unvermuthet passiren kann – noch wohlhabend zu bleiben. Uebrigens ist dieser Act der Klugheit nicht blos türkischer Gebrauch geblieben, sondern auch nach Westen gekommen und scheint sich sehr zu bewähren, da er von Tag zu Tag mehr Anhänger findet.
Zur Scheidung einer Ehe ist nur nöthig, daß der Mann die Worte spricht: »Du bist geschieden.« Ein Scheidebrief macht dann die Trennung rechtskräftig.
Die Frauen erscheinen tief verschleiert. Das Gesicht wird durch zwei Mousselinbinden so verhüllt, daß nur die Augen zu erblicken sind; auch der Körper wird in der Weise von Gewändern umschlungen, daß die Formen desselben vollständig verschwinden und es dem Neugierigen nur selten einmal glückt, das kleine, volle, weiße Händchen zu sehen.
Sogar kranke Frauen entschleiern sich dem Arzte gegenüber nur in der äußersten Gefahr, und auch dann nur in Gegenwart des Mannes oder einer Dienerin. Sie lassen dann die kranken Theile sehen, verdecken aber sorgfältig die übrigen Glieder. Den Puls darf der Arzt nur durch eine Mousselinschleife befühlen. Weiber, welche als Hebammen dienen, verrichten die meisten Kuren; ein Geburtshelfer wäre auch bei der größten Gefahr unerhört.
Allerdings giebt es auch einige Gegenden der Türkei, besonders der asiatischen, wo die Frauen unverschleiert gehen; ja Abraham Pascha verordnete im Jahre 1838, als er Damaskus besetzt hielt, daß alle Weiber mit unverbundenem Gesichte erscheinen sollten, weil bei Aufruhrversuchen die Empörer sich als Frauen verkleidet und unter ihren Gewändern Waffen verborgen gehalten hatten.
Ihre meiste Zeit bringen die Türkinnen in den Bädern zu, wo sie sich mit ihren Freundinnen treffen, und lange dauernde Klatschgevatterschaften [71] halten. Auch besuchen sie sich gegenseitig in ihren Harems. Die Besuchende läßt dann zum Zeichen der Anwesenheit einer fremden Frau ihre Pantoffeln vor der Thüre stehen, und so lange dieselben stehen bleiben, darf selbst der Herr des Hauses den Harem nicht betreten.
Auch anmuthige Orte vor den Städten werden von den Frauen besucht, wo sie sich vergnügen und mit Scherz und Spiel unterhalten. Männer halten sich von solchen Orten fern. Nie erscheint eine Frau an der Seite eines Mannes und noch heute setzen sich selbst Europäerinnen groben Insulten aus, wenn sie öffentlich mit ihren Männern ausgehen.
Auch Besuche von Männern werden von den Frauen nicht angenommen, und nur außerordentliche Veranlassungen, wie z.B. Heirath, Entbindung, Beschneidung und die großen Feste gestatten eine Ausnahme von dieser Regel.
Diese Bemerkungen gelten sowohl von verheiratheten Frauen als auch von Mädchen, die sich noch züchtiger halten als die ersteren. Nie ist eine Frau Hökerin oder etwas dergleichen, und nur in die Harems tragen alte Weiber gewisse Kleinigkeiten für Putz etc. zum Verkauf.
Nur Aermere gehen allein auf den Straßen, Vornehmere nie ohne Begleitung von Eunuchen und Sclaven. Oft fahren sie auch in Araba's, plumpen, verschlossenen und mit Vorhängen umhängten Wagen, in denen sie liegen und verschleiert durch die ovalen Fenster hinaussehen.
Obgleich die Frauen in den Harems manche Rechte genießen und oft großen Einfluß ausüben, sind sie doch ohne alle Bildung. Sie leiten die Erziehung der Kinder, denen sie jedoch wenig Liebe widmen, können aber selbst weder lesen noch schreiben und verachten dabei die europäischen Verhältnisse, besonders aber die Freiheit, welche die Frauen des Abendlandes genießen.
Gegen Christen sind sie nicht sehr zart und rücksichtsvoll, betasten ohne alle Entschuldigung in Bazars und bei anderen Gelegenheiten ihre Kleider, ihr Gesicht etc. und sind zuweilen auch Liebeshändeln nicht abgeneigt, zu denen sie oft durch coquette Entschleierung des Nackens, des Gesichtes etc., scheinbar durch den Luftzug bewirkt, den Anlaß geben. Doch muß sich der Europäer hier sehr hüten, denn die grausamsten Strafen folgen einem solchen Verhältniße, wenn es entdeckt wird.
Oft schon ist es vorgekommen, daß verheirathete und vornehme Türkinnen unter den Franken einen Geliebten haben, den sie wöchentlich [72] einige Male besuchen. Sie gehen zu diesem Zwecke in das Bad, welches sie, während die Diener warten, unter einer andern Kleidung verlassen und nach dem Stelldichein wieder aufsuchen.
Trotz der Vielweiberei giebt es auch eine zahlreiche Menge von Freudenmädchen, deren Umgang jedoch auch nicht ohne Gefahr für Leben und Gesundheit, Hab und Gut ist. Sie werden in mehrere Klassen getheilt, deren erste, die Almeah's, in Dichtkunst, Tanz und Saitenspiel sehr erfahren sind und den Hetären des alten Griechenlandes ähneln. Die Angehörigen der unteren Classen bewohnen, wenigstens in größeren Städten, eigene Stadttheile und Quartiere und stehen unter dem Befehle alter verworfener Kupplerinnen.
Im Harem bringt der Osmane den größten Theil seiner Zeit, mit untergeschlagenen Füßen auf weichen Polstern sitzend, mit Kaffeetrinken und Tabakrauchen zu.
Das von den türkischen Frauen Gesagte gilt auch von den Perserinnen.
Die Frauen in Ostindien sind schlank und regelmäßig gebaut, haben schöne Gesichtszüge, außerordentlich kleine Hände und Füße und glänzend schwarzes Haar. Die Gesichtsfarbe ist sehr zart und in das Olivenfarbige übergehend, doch die Frauen höherer Stände zeigen oft ein fast europäisches Weiß.
Sie sind von harmlosem Charakter, sanft, einfach, zum Sinnen und zur Melancholie gereizt, dabei aber verweichlicht, wollüstig und abergläubisch.
Sie tätowiren sich gern ein wenig, färben das Innere der Hände und Füße roth, ummalen die Augen mit einem schwarzen Ringe, salben sich mit wohlriechenden Oelen und schmücken sich gern mit reichen Kleidern und edlen Metallen und Steinen.
Die Ehe ist bei ihnen Gegenstand der Religion; unverheirathet bleiben gilt für eine Schande.
Die Verbindungen werden unter den Eltern gestiftet, und die nächsten männlichen Anverwandten haben das meiste Recht auf die Hand eines Mädchens. Die Braut wird entweder verschenkt oder verkauft, und die Verlobung ist nicht mehr rückgängig zu machen, sobald die Braut das Brautkleid und den Tali, ein Goldplättchen, welches sie in der Weise als [73] Symbol trägt, wie bei uns der Verlobungsring getragen wird, angenommen hat.
Kinder bringen Ehre, und die Geburt eines Knaben wird mit vielen Ceremonien gefeiert, während der Hindu eine unfruchtbare Frau verlassen darf.
Die Frauen befinden sich in einer befriedigenden Stellung, obgleich sie meist verschleiert gehen und die Vornehmen ihre Weiber verschlossen halten.
Der Ehebruch wird an den Frauen hart bestraft. Die Sutti, d.i. Selbstverbrennung der Wittwen, hat den englischen Bemühungen weichen müssen.
Die Sitten des ledigen Standes sind nicht die besten. Selbst nach den Religionsbegriffen der Hindu ist es nicht blos erlaubt, sondern sogar ehrenvoll und gefällig, an gewissen Tempeln als Tänzerinnen zu dienen und sich gegen Bezahlung preiszugeben.
Die chinesischen Frauen haben ganz den mongolischen Typus: platte Nase, rundes Gesicht, vorstehende Backenknochen, tiefliegende, schiefgeschlitzte Augen, unbehaarte Augenlider, aber starke Augenbrauen, großen Mund, dicke Lippen, kleines Kinn, schlichtes, schwarzes Haar, aber entgegengesetzt den eigentlichen Mongolinnen, deren Hautfarbe ein schmutziges Gelb ist, einen feinen, weißen Teint.
Sie theilen die Eigenschaften ihrer Männer und sind fleißig, höflich, geschickt und gehorsam, aber auch schmutzig, listig, wollüstig und unmäßig. Beleibtheit gilt ihnen für die größte Schönheit.
Das bekannte Verkrüppeln der Füße kommt nur bei den Frauen ersten Ranges vor; doch steht zu erwarten, daß diese für die armen Kinder so grausame und schmerzhafte Procedur, welche das Weib der Freiheit und besten Lebensgenüsse beraubt, mit der Zeit verschwinden werde. Freilich hängen gerade die Frauen, trotz der Qualen und späteren Entbehrungen, welche dieser barbarische Gebrauch ihnen auferlegt, an der Sitte der Fußverstümmelung und sehen mit Verachtung auf jedes weibliche Wesen herab, welches gesunde Füße besitzt. Sogar über die schönsten europäischen Damen werden die kleinen Stumpfnäschen gerümpft, und eine echte Chinesin kann sich nicht genug wundern über den Geschmack dieser Damen, die doch sonst in Beziehung auf Anstand und Schönheitssinn so große Vorzüge besitzen.
[74] Die Frauen zweiten Ranges u.s.w. müssen allerdings ihren Füßen die natürliche Gestaltung lassen, weil sie sonst unmöglich ihre Pflichten als Weiber und Mütter zu erfüllen vermöchten; aber sie blicken auch mit außerordentlichem Neide auf die Wohlhabenderen, denen ihr Reichthum gestattet, die große, unvergleichliche Schönheit eines Klumpfußes zu tragen.
Die Kleidung der Weiber gleicht in Beziehung auf den Schnitt ganz und gar derjenigen der Männer und unterscheidet sich von der letzteren nur durch die Farbe, welche bei den Männern schwarz, blau und violet, bei den Frauen aber meist grün und roth ist. Gelb ist ausschließlich kaiserliche Farbe und darf von den Unterthanen nur bei Trauer getragen werden.
Wohl in keinem Lande der Erde ist die weibliche Treue so schwach, die Hingebung so leicht käuflich und das Unwesen der Freudenmädchen so außerordentlich verbreitet wie in China, und Jedermann weiß, daß ganze Schiffsladungen chinesischer Frauenzimmer nach Amerika gegangen sind und noch gehen, um dort die Bedürfnisse der californischen und mexikanischen Goldgräber etc. zu befriedigen.
Die Japanesinnen sind wohlgewachsen, schwarzäugig und schwarzhaarig, fein gebaut, hübsch, oft sogar sehr schön, wenn man sich einmal an den mongolischen Schnitt der Gesichtszüge gewöhnt hat, und nicht so wollüstig wie die Männer, bei denen diese Eigenschaft sehr auffällig zu Tage tritt.
Der Bewohner Japans, zu dem gebildetsten Volke Ostasiens gehörig, lebt in Monogamie, doch haben fast alle Vornehmen mehr oder weniger Beischläferinnen.
Die Mädchen erlangen sehr bald die geschlechtliche Reife, heirathen gewöhnlich im fünfzehnten Lebensjahre, gebären aber schon im Alter von acht Jahren. Der Braut werden die Zähne schwarz gefärbt, an welcher Farbe man die verheirathete Frau sofort von dem Mädchen zu unterscheiden vermag.
Die höhergestellten Japanesen schließen ihre Frauen ein; die Weiber der gewöhnlichen Bürger aber gehen frei und unverschleiert durch die Straßen, hüten sich aber sehr, mit einem Manne zu sprechen.
Freudenmädchen sind sehr zahlreich vorhanden. Sie wohnen in eigenen Vierteln und Häusern und stehen unter dem Schutze des Gesetzes. Die Besitzer der Theehäuser, welche ohne solche Frauenzimmer gar nicht existiren könnten, kaufen sich weibliche Kinder von deren Eltern auf eine [75] bestimmte Zeit und erziehen sie zur gewerblichen Prostitution. Haben sie ihre Aufgabe erfüllt und ist die vereinbarte Zeit abgelaufen, so kehren diese Mädchen in die bürgerliche Gesellschaft zurück, werden meist tüchtige und keusche Hausfrauen und finden ihr Ansehen nicht im Mindesten durch ihre Vergangenheit geschmälert. Man weiß es nicht anders, und – ländlich, sittlich!
Die Malayen bilden einen schön gewachsenen Menschenschlag mit starken Augenbrauen, schwarzen Augen und ausdrucksvollen, belebten Zügen. Die Frauen der Reicheren werden eingeschlossen, die der Aermeren aber gehen unverschleiert auf öffentliche Plätze und verkehren ungenirt mit dem männlichen Geschlechte.
Die Polygamie ist bei ihnen erlaubt.
Die ganze Organisation der Negerrace deutet darauf hin, daß sie mehr für Sinnlichkeit und Alles, was auf das Gefühl Bezug hat, als für höhere Intelligenz befähigt ist. Deshalb kann man die Neger als große Kinder, und zwar, sobald sie sich selbst überlassen sind, als große verwilderte Kinder betrachten.
Die Hautfarbe der Negerin ist, wie des Negers überhaupt, schwarz. Es ist nicht das heiße Klima Afrika's, welches die Ursache dieser Schwärze bedeutet; diese liegt vielmehr in einer eigenthümlichen Färbung des Schleimnetzes und der äußeren Lederhaut.
Weiße Menschen werden in Afrika nie, selbst in ihren späteren Generationen nicht, schwarz, ebenso wie die Schwarzen in milderen Himmelsstrichen nie weiß werden, sobald nämlich nicht eine Vermischung der Racen vorkommt.
Negerkinder werden zwar geblich weiß geboren und sind nur an einigen Körpertheilen, w.z.B. an den Rändern der Nägel, um die Augen, um die Brustwarzen etc. schwarz gefärbt, werden aber zwischen dem dritten und sechsten Tage vollständig schwarz, also noch ehe das Klima irgendwie einzuwirken vermag.
Aber nicht allein die Schwärze ist eine Eigenthümlichkeit, welche die Haut des Negers charakterisirt, sondern sie zeichnet sich auch durch eine ganz vorzügliche, sammetartige Weichheit und Fettigkeit beim Anfühlen aus, und besonders macht sich bei der Berührung mit einer jungen, liebevollen Negerin jene aufregende Einwirkung geltend, welche der Kenner schwarzer [76] Schönheiten mit dem Worte »electrisch« bezeichnet. Die Negerin ladet mehr zum physischen Genusse ein, als die Weiße.
Leider macht sich die Hautthätigkeit des Negers durch eine scharfe, übelriechende, knoblauchartige Ausdünstung bemerklich, welcher dem Nervenzarten eine zärtliche Annäherung bedeutend erschwert. Diese Transpiration ist so penetrant, daß sich ihr Geruch sogar oft den Fußtapfen des Negers für eine kurze Zeit mittheilt.
Die Negerin unterscheidet sich von den Frauen anderer Rassen vorzüglich durch eine auffallend abweichende Kopfbildung aus. Diese Abweichung liegt vorzugsweise in der vorwaltenden Ausbildung des Gesichtstheiles vor der des Hirnschädeltheiles in Folge des kleinen Gesichtswinkels und der Verlängerung der beiden Kiefer. Während der Gesichtswinkel des Europäers 80 bis 90 Grad beträgt, mißt derjenige des Negers durchschnittlich 70.
Der Hinterkopf ist glatter und die Stirn weniger vorwärts gewölbt; der Schädel erscheint von einer Seite zur andern zusammengedrückt, und das Gehirn findet in seinem Innern verhältnißmäßig weniger Geräumigkeit. Aeußerlich stehen die Jochbogen weiter vom übrigen Schädel ab; die Backenknochen sind breit und stark, fast viereckig und springen bedeutend vor; die Augenhöhlen sind geräumiger und ihr äußerer Umfang ist größer und weiter. Die Nasenlöcher machen gegen einander einen schiefen Winkel, die birnförmige Oeffnung der Nasenhöhle ist sehr groß und diese Höhle selbst sehr entwickelt. Ebenso ist auch die äußere Oeffnung sehr groß und das Gaumengewölbe länger, rauhe und sehr ausgedehnt. Der Fortsatz des Oberkiefers ist breiter und größer und der aufsteigende Ast des unteren Kiefers sehr breit; sein sonst stumpfer Winkel nähert sich mehr einen rechten, und sein Körper ist dicker, höher und unebener. Das Kinn ist nicht so ausgebildet und wie zurückgedrängt. Die Zähne der beiden Kinnladen stoßen unter einem spitzigeren Winkel zusammen, sind dick, breit und stark und stehen in dichteren Reihen beisammen.
Ebenso abweichend ist die Knochenbildung des übrigen Körpers.
Die Brusthöhle ist gewölbter und geräumiger, das Becken etwas enger; die Hüften sind tiefer ausgeschweift, Hände und Füße flacher und länger, die Unterschenkel meist etwas gebogen und die Kniee scheinen weiter von einander zu stehen.
Auf diese Abweichungen gegründet zeigt der ganze Körper seiner Form nach auffallende Verschiedenheiten. Der Uebergang zu dem Nacken ist nicht [77] so ausgehöhlt, sondern flacher, das Haupthaar pechschwarz, fein, gekräuselt, wollartig, härter und elastischer und die Grenze des Haarwuchses so scharf gezogen, daß das Haar wie eine aufgesetzte Perrücke erscheint. Eine Eigenthümlichkeit dieses Haares ist es, daß es an der Wurzel stets weiß erscheint.
Die Augenbrauen sind schwächer, die Augenspalten kleiner, die Augäpfel dagegen größer und rings um die Hornhaut herum etwa eine halbe Linie breit schwärzlich gefärbt. Das Weiße im Auge zeigt weniger Ganz, sondern besitzt eine gelblich bräunliche Färbung, und die Falte des inneren Augenwinkels ist stärker. Die Wimpern sind an beiden Lidern gekrümmter, häufiger, dichter und vollständig pechschwarz.
Die Farbe der Iris ist meist ungemischt dunkelbraun, die Nase aufgestülpt, mehr breit als lang, stumpf, klein und ragt, mehr auf der Oberlippe liegend, über diese nicht hervor. Die äußeren Nasenlöcher sind weit, die Lippen wulstig, aufgeworfen, lang, groß, dick, bläulich-schwärzlich oder auch schmutzig rosenfarben, zuweilen aber auch so schwarz, daß ihre Färbung kaum von der Gesichtsfarbe zu unterscheiden ist.
Die Ohren stehen mehr vom Kopfe ab und sind rundlicher; die Kaumuskeln und Schläfe sind sehr stark ausgebildet, die übrigen Gesichtsmuskeln dagegen weniger entwickelt.
Am übrigen Körper sind die Unterschiede weniger erheblich. Die unteren Gliedmaßen sind meist weniger gut gebildet, und der Nabel ragt mehr rundlich hervor.
Bei den Negerinnen tritt die Pubertät sehr frühzeitig ein, und aus diesem Grunde werden sie auch sehr jung verheirathet. Die Fruchtbarkeit ist bei ihnen ungewöhnlich groß, und die Geburten gehen sehr leicht von Statten, wozu theils die Schlaffheit der mütterlichen Constitution, theils der kleinere Kopf des Negerkindes sehr viel mit beiträgt. Ihr Brüstee sind lang und geben reichlich viel Milch.
Alle Negervölker leben in Polygamie.
Die Psychologie des Weibes bietet ungleich interessantere Punkte als diejenige des Mannes und grad' die kleinen, piquanten Eigenthümlichkeiten, welche[78] hierbei zum Vorschein kommen, üben eine ebenso bedeutende Anziehungskraft auf das schöne Geschlecht aus, wie die äußerliche, körperliche Schönheit.
Es wurde schon früher gesagt, daß das Grundprincip des weiblichen Wesens in dem Gefühle liege, und hierauf basirt sich Alles, was wir als specifisch weiblich bezeichnen müssen. Wird dieses Gefühl in die rechten Bahnen gelenkt, so vermag die Frau die Erde in einen Himmel zu verwandeln, wird es aber irre geleitet, so werden alle Furien los, die das irdische Leben zu einer Hölle zu machen vermögen.
Das Herz handelt nach den Offenbarungen des Gefühles und nicht nach Regeln und Grundsätzen; es gehorcht der Gottheit oder dem Teufel des Instinctes und steht zu jeder Art von Logik in der ausgeprägtesten Feindschaft. Darum ist das Weib in so vielen Fällen und bei so vielen Dingen vollständig unberechenbar, glaubt nach klaren, offen daliegenden und unwiderleglichen Motiven zu handeln und bleibt doch dabei ein immerwährendes wechselvolles Räthsel, zu dessen Lösung selbst der schärfste und geübteste Verstand kaum irgend eine feste und zuverlässige Handhabe zu finden vermag.
Nur wer das Gefühl des Weibes zu beurtheilen, zu berücksichtigen und zu leiten versteht, hat den Schlüssel zur Herrschaft über sie in der Hand und wird sich nie betrogen finden, so lange er die Regungen ihres Herzens gelten läßt.
Während der Mann rechnet und philosophirt und oft, statt der Gegen wart gerecht zu werden, die Zukunft zu durchdringen und zu ergründen strebt, lebt die Frau blos in der Gegenwart und handelt nach den Eingebungen des Augenblickes. Der eben verflossene Augenblick ist der Gebieter des nächsten, und der Stand der gegenwärtigen Verhältnisse giebt den Maßstab zur Beurtheilung der zukünftigen.
Darum ist es für die Frau oft so schwer, den Mann zu verstehen, dessen Speculation das noch fern vor ihm Liegende zu erfassen und zu dominiren sucht.
so schildert er mit poetischer Zartheit das Weib in ihrer Unabhängigkeit von allem, was einem Grunde, einer Thätigkeit des berechnenden Verstandes ähnlich sieht.
Der Mann vermag im Dienste der Nothwendigkeit sein ganzes Wesen und Leben umzukehren, das Weib wird es nie zu Stande bringen. In der höchsten Begeisterung der Jungfrau von Orleans:
in welcher sie sich stärker fühlt und kräftiger als der stärkste und kräftigste der Helden ihres Vaterlandes und sie dem kühnsten der Recken als Mann sich zur Seite stellt, bricht doch das Weib hervor und klagt:
Ganz ohne ihren Willen entströmen diese Worte ihren Lippen; die reine, zarte Weiblichkeit in ihrem Innern sträubt sich gegen die Bestimmung, welche dem Mädchen von Domremi geworden ist und taucht süß und rein aus den wallenden Fluthen der Ekstase empor. Die Vorzüge des sinnigen Weibes vor dem geschäftigen, lauten Manne bringen zur schönen und klaren Anschauung die Strophen:
[80]
Das Weib fesselt den kühnen, immer nach oben strebenden Geist des Mannes an die Erde und erinnert ihn an seine gegenwärtigen Aufgaben, hebt ihm mitten in seinem gewaltigen und rastlosen Wirken und Schaffen den erquickenden Kelch des stillen, häuslichen Glückes an die dürstenden Lippen, mildert das Gefühl des Ernstes und der Strenge, welches all' sein Thun beherrscht und ihn leicht verführen kann, über das Glück und die Wünsche Anderer hinwegzuschreiten und lenkt mit demüthiger Freundlichkeit und sanfter Bitte den Trotz des männlichen Zornes in die Bahnen milder Beruhigung. Und woher diese Macht des sonst so schwachen Geschlechtes? Die Antwort liegt in den Worten:
Die Anmuth ist's allein, welche der Jungfrau den Jüngling gewinnt und dem Weibe die Liebe des Mannes erhält, die mehr werth ist, als die Schönheit des Körpers, denn sie verschwindet nie, bleibt ewig jung und zeigt im freundlichen Angesichte der Matrone stets und treu die Züge der sinnigen Jungfrau. Sie ist die Blume, von welcher es schön heißt:
Der Verstand zersplittert seine Thätigkeit, indem er dieselbe auf jede einzelne Lebenserscheinung richtet; das Gefühl aber ist immer ein Ganzes, darum:
und während aus eben demselben Grunde das Urtheil des Mannes ein sich veränderndes, sich immer verbesserndes ist, zeigt dasjenige des Weibes eine Starrheit und Unveränderlichkeit, welche oft geradezu verletzend und tief ärgerlich ist:
während das Weib sich den Eindrücken des äußern Lebens leichter hingiebt und sie mächtiger auf sich einwirken läßt:
und grad' diese Hingabe, diese wechselvolle Veränderlichkeit in ihrem innern und äußern Wesen ist es, welche das Weib dem sich stets gleich bleibenden Manne als Contrast entgegenstellt und – da Gegensätze sich anziehen – beide einander als begehrlich er scheinen lassen. Es ist dadurch die Liebe des Mannes in eine stete und ununterbrochene Thätigkeit gesetzt, sodaß er [84] endlich mehr liebt als denkt und selbst noch für die Sünderin eine glühende Hingebung fühlen und empfinden kann, wie Thomas Moore so schön singt
Und noch tief unten im Schlamme des moralischen und geistigen Verderbens flammt dann die Liebe als das letzte gerettete Gut hoch empor und beleuchtet mit ersterbender Gluth den Untergang zweier Wesen, welche mit einander sanken, nur weil das Herz die höchsten der Rechte allein für sich in Anspruch nahm:
Dieses Zusammenhalten ist eine Folge des engeren, innigen Zusammenlebens, wie es die Ehe mit sich bringt. Wenn sich zwei Personen so recht herzlich lieb haben, so fließen all' ihre gegenseitigen Gedan ken, Gefühle, Worte und Handlungen in einander, werden beiderseitiges Eigenthum und nähern die erst verschiedenen Character einander von Tag zu Tage immer mehr.
Auch die materielle Seite des Ehelebens ist hierbei wohl in Betracht zu ziehen. Mann und Frau leben unter vollständig gleichen Verhältnissen, haben gleiche Wohnung, gleiches Licht, gleiche Luft, gleiche Wärme und Temperatur, gleiche Nahrung, machen die gleichen Erfahrungen, theilen sich in gleiches Leid und gleiche Freude und müssen deshalb bei der Accommodabilität der menschlichen Natur einander immer ähnlicher werden.
Und wirklich zeigt sich diese Aehnlichkeit nicht nur innerlich, sondern auch in dem äußeren Wesen der Gatten. Bei in Beziehungen auf die Religion gemischten Ehen stehen sich die Ansichten zwar nicht feindlich, aber doch eigenartig gegenüber, verlieren aber nach und nach immer mehr von ihrer Schärfe, runden sich ab, fügen sich an einander, durchdringen sich gegenseitig und bilden schließlich eine von beiden Personen getheilte Anschauung.
Verschiedene Character ziehen einander an. Der Sanguinisch-Melancholische fühlt sich von der Cholerisch-Phlegmatischen angezogen und umgekehrt. Diese Temperamente sind einander zwar unähnlich, aber sie ergänzen sich, berühren sich also in den verschiedensten Lagen und Verhältnissen, und diese Berührung wird schließlich zur gegenseitigen Mittheilung. So kommt es, daß der ursprünglich stille, contemblative und wortkarge Mann durch den Umgang mit seinem muntern Weibchen mit der Zeit gesprächiger wird, und dieses Weibchen, dessen allerliebstes Plapperment in der ersten Zeit der Ehe gar nicht gut zur Ruhe kommen konnte, sich doch nach und nach eine gewisse Ruhe aneignet und sogar recht ernst und bedenklich werden kann.
Sehr häufig kommt es vor, daß die äußeren Reize und Vorzüge eines Mädchens, wie Schönheit, Vermögen, einem hochgebildeten Manne Liebe einflößen, sodaß er eine Verbindung mit ihr eingeht, ohne daß sie eine [86] ähnliche Ausbildung des Geistes und Herzens besitzt. Die Alles ausgleichende Zeit ebnet gar bald diesen Unterschied; denn das innige Zusammenleben Beider bewirkt eine Mittheilung der Vorzüge des Einen auf den Andern, und die außerordentliche Auffassungsgabe und Bildungsfähigkeit des Weibes thut das Ihrige dazu.
Ebenso ist es auch mit den äußerlichen Unterschieden. Es ist eine sehr unvollständige Meinung, welche annimmt, daß dieselben blos in den Kindern zu einer Vereinigung kommen. Man photographire ein junges, soeben getrautes Brautpaar, welches nicht die mindeste gegenseitige Aehnlichkeit besitzt und vergleiche diese Photographie mit ihren Zügen in späteren Jahren. Jede der beiden Physiognomien wird zwar ihr Chrakteristisches bis zu einem gewissen Grade behalten und bewahrt haben, aber dieses Characteristische hat sich abgeschärft und durch die ununterbrochene körperliche und geistige, ganz besonders aber durch die innige geschlechtliche Berührung Züge angenommen, welche erst nicht vorhanden waren und nun das Eigenthum beider Gatten sind. Der Kenner weiß sogar in Folge fortgesetzter Uebung die Aehnlichkeit zwischen Eheleuten von der gewöhnlichen Familienähnlichkeit, wie sie Eltern und Geschwister zeigen, sehr wohl zu unterscheiden, obgleich bemerkt werden muß, daß sie natürlich in früheren Jahren nicht so bemerkbar hervortritt, wie in späterer Zeit.
Dies eben ist einer der größten Segen des Ehestandes, daß die einander gegenüberstehenden psychologischen Eigenthümlichkeiten zur friedlichen Ausgleichung, zur harmonischen Auflösung gebracht werden. »Also wird der Mann Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen« heißt es in der heiligen Schrift, und auch die Jungfrau trennt sich von den Ihrigen, wie der Senker eines Rosenstrauches von seinem Stamme und blüht nun an der Brust des geliebten Mannes mit der Hingabe, welche Ruth so schön auszudrücken weiß: »Rede mir nicht darein, daß ich dich verlassen sollte und von dir umkehren! Wo du hingehest, da will ich auch hingehen; wo du bleibest, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, und da will ich auch begraben sein. Der Herr thue mir dies und das; nur der Tod soll mich und dich scheiden!«
In dieser Hingabe, diesem Zusammenklopfen der Pulse und Zusammenfließen der Seelen liegt das höchste Glück der Liebe, die größte Seligkeit des Erdenlebens die leider leider unter so vielen Millionen[87] Menschen nur so Wenigen beschieden ist. Worin hat dies seinen Grund?
Wenn Paulus an die Epheser schreibt: »Die Weiber seien unterthan den Männern, als dem Herrn; denn der Mann ist des Weibes Haupt, gleichwie Christus ist das Haupt der Gemeinde und er ist seines Leibes Heiland,« so gilt dieses Wort auch noch für die Gegenwart, ja, trotz den Bestrebungen der sogenannten Frauenemancipation, für alle Zeiten und nicht blos für jene Vergangenheit, in welcher die Frau nicht der Engel, sondern die Sclavin des Hauses war. Trotz alles Sträubens des weiblichen Geschlechtes ist der Mann vermöge seiner körperlichen und geistigen Eigenschaften in gewissen Beziehungen Herr der Frau, und es ist nicht blos Gebot der Pflicht, sondern der Klugheit, sich ihm hier unterzuordnen, denn grad' in dieser Unterordnung gelangen die Eigenschaften und Vorzüge des Weibes zur Geltung, zur Macht und Herrschaft über den Mann. »Eine kluge Frau vermag hundert Männer zu regieren, tausend strenge Männer aber nicht eine kluge Frau,« sagt das Sprüchwort und hat sehr recht.
»Ihr Männer, liebet eure Weiber,« fährt der Apostel fort, »gleichwie Christus auch geliebet hat die Gemeinde und hat sich selbst für sie gegeben. Wer sein Weib liebet, der liebet sich selbst, und Niemand hat jemals sein eigen Fleisch gehasset, sondern er nähret es und pfleget sein.« Die hier gebotene Liebe des Mannes ist es, welche die ihm vorhin eingeräumte Herrschaft mildert, ausgleicht und die gegenseitigen Rechte und Pflichten vollständig nivellirt. Aber hierzu gehört eben außer der Liebe auch ein tiefes Verständnist und eine treue Pflichterfüllung, und wenn wir so viele glücklosen Ehe beobachten müssen, so ist eben der Mangel dieses Verständnisses und der erwähnten Pflichttreue schuld.
Viele, sehr viele junge Leute verwechseln die Liebe mit dem Sinnenrausche, in welchen sie durch den Anblick und Umgang eines anziehenden Wesens des andern Geschlechtes versetzt werden. Wie jeder Rausch, so verfliegt auch diese sinnliche Aufregung nach dem vollendeten Genusse; es folgt eine Ernüchterung, welche vielleicht in eine vollständige Enttäuschung übergeht, und statt des gehofften Glückes Ueberdruß und gegenseitige Abneigung zur Folge hat.
Die Jugend huldigt dem physischen Genusse und kostet ihn bis zur Neige durch, während das Glück sich auf geistige Eigenschaften basirt und ganz besonders von der gegenseitigen Achtung abhängig ist. Darum sollte [88] man sich vor einer zu frühen, zu häufigen und zu leidenschaftlichen Hingabe hüten, und ein Mädchen, welche auch nach der Hochzeit die züchtige, verschämte und mädchenhafte Geliebte ihres Mannes bleibt, wird demselben tausendfältigeres Glück gewähren, als wenn sie den Sinnen unbeschränkte Herrschaft gestattet. Eine solche Liebe erhält nicht nur Körper und Geist in vollständiger Rüstigkeit, vertieft das Gemüth, bereichert das Herz und macht jeden Genuß zur Seligkeit, sondern sie selbst bleibt ewig jung und bewahrheitet den Spruch: »Die Liebe ist eine Tochter des Himmels, ist göttlichen Geschlechtes.«
Wie die Kinder die Sprößlinge der Eltern sind, so ist die Elternliebe die Tochter der Gattenliebe und das schönste Ergebniß der gegenseitigen Zuneigung zwischen Vater und Mutter. Die lebenskräftige Liebe der Gatten zwingt zur süßen, geschlechtlichen Vereinigung, und die Frucht dieser Vereinigung ist der beste, der sicherste und unumstößlichste Beweis vom Vorhandensein der genannten Liebe.
In der Erhaltung und Ausbildung dieses Beweises begegnet sich das freundliche Bestreben der Eltern und concentrirt seine besten Kräfte auf die Entwickelung eines, die Characterzüge Beider abspiegelnden Ebenbildes. Das Kind ist der Zweig, welcher, von den Eltern abgesenkt, in dem Resultate ihrer pädagogischen Bemühungen die genaue Summe all' ihrer einzelnen Eigenthümlichkeiten zur Anschauung bringt und sich für die ganze Zeit seines Lebens, ja kaum für eine einzige Stunde desselben von den Eindrücken des Elternhauses zu emancipiren vermag.
Dem heiligsten Acte des Menschenlebens, welcher fast ein schöpferischer genannt werden darf, verdankt es sein Dasein; der Ort, an welchem es für seinen Eintritt in die Welt der irdischen Erscheinungen vorbereitet wird, ist ein heiliger und selbst von den rohesten Völkern während der Zeit der Schwangerschaft mit einer ehrfurchtsvollen Scheu behandelter, die Stunde seiner Geburt gleicht dem Sanctuarium, aus dessen geheimnißvollem Dunkel eine neue Offenbarung der göttlichen Allmacht in das Reich des Bestehenden tritt, und diese Heiligkeit der ersten Phasen des jungen Menschenlebens [89] sollte als eine unveräußerbare Zierde allen späteren Entwickelungsstufen treu bleiben.
Im Acte der Begattung kommt das männliche Princip zu seiner vollsten Thätigkeit; in der Stunde der Geburt zeigt sich das Weib in seiner höchsten Bestimmung und wie der eine dieser Augenblicke der seligste, der andere aber der schmerzensreichste genannt werden muß, so reichen sich über dem kleinen Haupte des neugeborenen Erdenbürgers die Göttinnen der Freude und des Schmerzes, des Glückes und des Leides, der Erfüllung und der Versagung die Hände und gestalten sein Leben zu einem wechselvollen Laufe über heitere Fluren und öde, dornenvolle Länderstrecken.
Es war eine sowohl wissenschaftliche als auch religiöse Verirrung, aus der Constellation der Gestirne das Schicksal eines Neugeborenen berechnen und vorhersagen zu wollen; aber in dieser falschen Ansicht lag ein tiefer Sinn, welchen selbst der aufgeklärteste Geist zu achten hat. Die Entwickelung des Embryo zum lebenden, selbständigen und sich selbst bestimmenden Wesen, welches, je nach der immer weiter fortschreitenden Ausbildung der ihm innewohnenden geistigen, d.i. göttlichen Gaben, sich die entferntesten Tiefen des Firmamentes zu eigen macht, hatte, wenigstens in idealer und seelischer Hinsicht, vielleicht eine größere Bedeutung, als die Erschaffung eines Weltenkörpers, welcher nur bestimmt war, als Aufenthaltsort lebender Wesen zu dienen, nicht aber selbst ein solches Wesen zu sein. Und ist denn wohl die Philosophie so gar sehr lächerlich, welche die Zukunft des Menschengeschlechtes mit den rollenden Welten in Beziehung stellt, indem sie die immer weiter vorrückenden und immer höheren Ziele unserer Wallfahrt an die leuchtenden Sphären des Firmamentes bindet? Es ist für das sinnige Gemüth so unendlich wohlthuend, mit beruhigender, tröstender und ermuthigender Phantasie eines jener lieben, strahlenden »Himmelsaugen« als ganz besonders freundlich auf sich ruhend zu denken, und wenn diejenigen der Abgeschiedenen, welche uns nahe standen und uns liebten, jetzt wirklich »über den Sternen« wandeln, so mag die Liebe, welche ja nie aufhört und nimmer stirbt, in Stunden stillen Sehnens, süßer Hoffnung und innigen Glaubens immerhin eine Verbindung knüpfen zwischen dem Planeten der Menschenkinder und dem funkelnden Aufenthaltsorte der »Seligen«.
»Kinder sind eine Gabe Gottes,« sagt das Sprüchwort, dessen Wahrheit sich in so vielen Fällen glänzend beweist. Wohl ist es wahr, daß [90] der Mann des Reichthums durchschnittlich weniger hat, als der Sohn der Armuth, ja sogar durch moralisch höchst verwerfliche Mittel sich als ein Anhänger des sogenannten »Zweikindersystems« documentirt; ebenso wahr ist es auch, daß der reiche Kindersegen dem Armen sehr, sehr oft zu einer schweren Last wird, die er kaum zu ertragen vermag; aber wenn der rechte Ernst und die wahre Sorgfalt auf die Erziehung der Kleinen verwendet wird, so beweisen sie sich in Wahrheit als Schätze, welche in der Zukunft die schönsten Früchte und reichsten Zinsen tragen. Und wie oft kommt es vor, daß zwei Herzen, welche durch äußere Verhältnisse zusammengeschmiedet wurden und unter diesen Fesseln schwer und bitter seufzten, sich an der Wiege des Erstgeborenen lieben und verstehen lernten und nun dasjenige in ein süßes Glück umgewandelt sahen, was ihnen vorher als das größte und fast nicht zu tragende Unheil erschien. Wie oft wurden die Herzen der Gatten durch Nachlässigkeit, Leichtsinn, eigene oder fremde Schuld einander entfremdet und begegneten sich in alter liebevoller Weise erst wieder bei dem Klange des ersten Lebenslautes, mit welchem dasjenige Wesen sie begrüßte, dessen Wohl und Wehe sie nun auf ihre gemeinsame Verantwortung zu nehmen hatten.
Wenn wir sehen, daß selbst bei ungebildeten Völkerschaften Kinderlosigkeit für eine Schande, Kinderreichthum aber für eine Ehre, einen Vorzug gehalten wurde und noch wird, so müssen wir den Mangel an höherer Einsicht beklagen, welcher vor Allem die Mühen und Entbehrungen der Kindererziehung im Auge behält und nicht weiß, was es bedeutet, als Erzeuger und Ausbildner einer Seele, welche die Gottesähnlichkeit an sich trägt, bevorzugt und begnadet zu sein.
Auch hier, bei der Erziehung, greifen Mann und Weib jedes nach seiner Eigenartigkeit in die innere und äußere Entwickelung des Kindes ein: der Mann mit dem denkenden Verstande und der schaffenden, sorgenden Kraft, das Weib aber mit dem erwärmenden, belebenden Gefühle, der stets bereiten Opferfreudigkeit und dem ruhigen Dulden und Harren auf die Entfaltung der Blüthen und Früchte.
Bei dem Entstehen eines neuen menschlichen Daseins ruht im Vater das eigentliche Leben spendende Princip, und er ist nach der Geburt vor Allem thätig, dieses Leben, sowohl das körperliche als auch geistige, zu erhalten, zu stärken, zu kräftigen und es mit allen Bedürfnissen zu versehen, welche zum Wachsthum und zur einstigen vollendeten Reife nothwendig[91] sind. Darum ist der Vater recht eigentlich der Ernährer und Erhalter seiner Kinder und kennt weder Ruhe noch Rast in der Beschaffung von alle Dem, was Luther in der Erklärung der vierten Bitte unter dem »täglichen Brode« aufzählt. Mit Recht darf man daher jedem Kinde zurufen:
Ebenso sorgt der Vater auch für die Nahrung, welche der Geist bedarf, und ist hier ebenso wie vorhin der Spender und Geber alles Nöthigen. Da er sein Gefühl der Einsicht unterstellt, so besitzt er vorzugsweise Befähigung zu einer gerechten Disciplin und kennt besser als die nachsichtige Mutter die ernste Mahnung: »Wer seinen Sohn lieb hat, der züchtiget ihn.« Er erblickt in dem Sohne sein Ebenbild, den Träger seines Namens und Erben seiner Errungenschaften und bereitet ihn durch den Ernst der Erziehung auf den Ernst des Lebens vor, obgleich er wohl weiß, daß die Kurzsichtigkeit des Kindes in Folge dieses Ernstes leicht und oft an der väterlichen Liebe zweifelt und sich von ihm ab- und zur Mutter wendet. Sehr am Orte ist daher für jeden Sohn der Hinweis:
Bei dieser im Vater sich vollziehenden schönen und fruchtbringenden Vereinigung von Verstand und Gefühl, von denen immer das eine das andere ergänzt, das eine dem andern rathend, verbessernd und vervollständigend zu Hülfe eilt, ist es natürlich, daß nicht die Mutter, sondern der Vater als der gesetzliche Vormund der Seinen gilt und bis zu einem gewissen Grade über sie, ihre Verhältnisse und ihr Schicksal zu entscheiden hat. Und doch dürfen wir der Mutter die dazu nöthige Befähigung keineswegs durchgängig absprechen.
Wie oft kommt es vor, daß eine Familie in Unglück, Armuth und Elend versinkt, weil der Vater seine Pflichten vergißt und der Gewalt der Leidenschaften und des Lasters die Herrschaft über sich einräumt. Er vertrinkt, verspielt, vergeudet und verschlemmt nicht nur sein Eigenthum, sondern auch das der Seinen, ruinirt seinen wirthschaftlichen Wohlstand, sinkt tiefer und immer tiefer und fährt als Bettler und moralischer Lump in die Grube. Jetzt aber rafft sich das Weib empor. Längst zwar schon ist die Noth wie ein gewappneter Mann an sie herangetreten, aber jede Mühe, auch die kleinste, wäre verloren gewesen; denn der Verstorbene hätte jede Anstrengung zum Besseren erfolglos gemacht. Nun, da er das nicht mehr kann, nimmt die Frau die Leitung der Wirthschaft und die Sorge um den Unterhalt der Familie in die Hände. Sie arbeitet im Schweiße ihres Angesichtes und – siehe da, es gelingt, gelingt über Erwarten, und in verhältnißmäßig kurzer Zeit hat sie den Beweis geliefert, daß die Löwin des Löwen nicht bedarf, wenn es sich um die Rettung ihrer Jungen handelt. Das ist der [93] Heroismus einer Mutter, und Tausende solcher Heldenthaten werden im Stillen ausgeführt, ohne daß auch nur der nächste Nachbar ihnen eine mehr als gewöhnliche Theilnahme schenkt.
Um die Größe und Aufopferungsfähigkeit der Mutterliebe zu schildern, hat man von Schlangenbissen erzählt, deren Gift die Mutter ausgesaugt hat. Wir sind weit entfernt, grad' dieses Beispiel als eclatant gelten zu lassen, da dieses Aussaugen meistentheils ungefährlich ist, vielmehr offenbart sich die Mutterliebe in ihrer größten Größe grad' bei solchen Dingen und Vorkommnissen, welche uns das tägliche Leben in unendlicher Zahl zur Anschauung bringt.
Wenn der Vater vorzugsweise durch die Thätigkeit seines Verstandes auf das Kind einzuwirken sucht, so herrscht auch hier bei dem Weibe das Gefühl vor. Die Mutter ist empfangend und gebährend auch bei der Erziehung. Sie ergreift den Stoff, welchen der Vater dem jungen Leben entgegengebracht hat, erwärmt ihn mit dem Pulsschlage ihres Herzens, ruft ihn mit der milden Freundlichkeit ihres Auges zum Keimen und entwickelt jede einzelne Regung des Kindes, bis dieselbe als geistige Geburt des kleinen Erdenbürgers nach außen tritt. Wenige, sehr wenige Väter werden hierzu befähigt sein!
Es ließen sich viele Bücher füllen über die Thätigkeit, Opferung, Schonung und Ausdauer einer Mutter, und wahrlich, sie hat nicht etwa das kleinste Anrecht auf die Liebe und Dankbarkeit des Kindes, und wenn die Bibel sagt: »Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser,« so setzt sie mit voller Gerechtigkeit sofort hinzu: »aber der Mutter Fluch reißet sie nieder.«
Mag das Aeußere eines Weibes noch so häßlich, noch abstoßend sein, es wird verklärt und verschönt von der Sorge und Liebe für ihre Kinder, und wahr ist es, daß es keinen heiligeren Augenblick giebt, als »wenn eine Mutter betet für ihr Kind.« Welche Liebe wäre wohl mit der Liebe einer Mutter zu vergleichen, die tausendmal verzeiht und immer wieder vertraut! Sie gleicht dem Quelle, welcher unerschöpflich der Erde entquillt und immerfort fließt, ob man auch noch so viel von ihm schöpfe:
[94] Bei der Größe dieser Liebe will uns jenes Beispiel fast unwahr erscheinen, nach welchem die Mutter der sieben Brüder einen ihrer Söhne nach dem andern hinschlachten sehen konnte um eines religiösen Gebotes willen (2. Macc. 7). Und doch weiß sich auch eine Mutter über den Verlust ihres größten, köstlichsten Schatzes zu trösten:
Von allen Arten der Liebe ist die Mutterliebe der Liebe Gottes am ähnlichsten, am nächsten verwandt, sie hat das meiste Himmlische an sich, und der Busen der Mutter ist der beste und sicherste Ort der Erde, an welches sich das schwache, müde und gehetzte Kind des Staubes zu flüchten vermag. Und wie der Säugling schweigt, wenn er sich auf dem Arme der Gebärerin fühlt, so zieht es auch den Erwachsenen immer wieder mit Macht an die liebe, traute Stätte zurück, an welcher das Mütterchen, das ergraute, verweilt, und ist er zurückgekehrt in ihre Arme, so wird sein klagendes Herz still und es schweigt das Leid, welches in seinem Innern nagte:
»Kann auch eine Mutter ihres Kindleins vergessen?« fragt die heilige Schrift, und es ist auch leider wahr, daß diese Frage nicht allemal mit »nein« zu beantworten ist. Aber selbst dann, wenn sie es vergißt, wenn sie sich aller ihrer Pflicht entäußert und ihr Herz der süßesten und natürlichsten [95] Liebe, der Liebe zu ihrem eigenen Fleische und Blute verschließt, eins hat sie doch gethan, was ihr das Kind nimmer vergessen kann und darf: sie hat es unter ihrem Herzen getragen und ihm mit Schmerzen und unter Todesangst das Dasein gegeben.
Glücklicherweise sind die Fälle selten, in welchen ein Weib vergißt, daß sie Mutter ist; vielmehr kommt die Macht des Zusammenhanges zwischen Mutter und Kind all' überall zur Geltung, und wie vor fast zweitausend Jahren Simeon verkündigte: »Und es wird ein Schwert durch deine Seele dringen,« so ist auch heut' noch die mütterliche Sympathie eine machtvolle und wird Thränen der Freude und des Schmerzes für die Kinder haben, so lange die Erde der Aufenthalt von Menschen bleibt.
Nirgends zeigt sich die Wahrheit: »Wenn man etwas verloren hat, erkennt man seinen Werth so in ihrer ganzen Schwere, als bei dem Verluste der Eltern, und ganz besonders ist es der Tod der Mutter, welcher einen tiefen, unheilbaren Riß in das Leben und Glück der Familie bringt; darum sollte ein Jeder die ernste Mahnung bedenken:
In der Mutter zeigt sich das Weib im vollsten Sinne als ein Abbild der göttlichen Liebe, trägt mit unendlicher Geduld und Langmuth alle Mühen und Entbehrungen und geht vollständig auf in der Hingebung an das Wesen, dessen Leben und Bestehen ihrem Herzblute entstammt. Ein neuerer Schriftsteller sagt: »Schön kann nur das sein, was auf dem Gipfelpunkte seiner Bestimmung steht, und aus diesem Grunde ist ein Weib dann am schönsten, wenn sie sich im Zustande der Schwangerschaft befindet.« Es gehört wohl nicht nur eine hohe Pietät, sondern wohl auch eine außerordentlich glückliche Phantasie dazu, sich der Anschauung dieses Mannes beizugesellen. Arbeit und Schönheit stehen sich sehr oft feindlich gegenüber, und das Schwangersein ist eine der Hauptbestimmungen, eine der vorzüglichsten Arbeiten des Weibes, unter welcher die Schönheit des Aeußeren meist nicht unbeträchtlich zu leiden hat. In Wahrheit ist es auch mehr die Pietät als unsere Bewunderung, welche wir für eine Frau empfinden, die ein junges Leben unter ihrem Herzen trägt; denn die Schwangerschaft ist zunächst ein rein körperlicher Vorgang, eine angestrengte physische Arbeit, ausgeführt von einem Wesen, dessen weiche, zarte Constitution mehr zur Schonung fordert, als zu Aeußerungen physischer Kraft geeignet erscheint. Die Schwangerschaft ist kein normaler, ist ein leidender Zustand, welcher so oft zur Schonung und Nachsicht auffordert, und der Nachsicht würde die Schönheit nicht bedürfen, diese letztere fordert vielmehr zur Bewunderung auf, und wer würde wohl die angespannten Muskeln, die aufgeschwellten Formen und die erregte Nervösität einer Frau bewundern, welche sich offenbar in einem innormalen, wenn auch nothwendigen, Zustande befindet!
Nein, die körperliche Schwangerschaft ist ein leidender, der Schönheit feindlicher und gefährlicher Zustand. Aber das geistige Tragen unter dem Herzen, die Ausbildung und Entwickelung des Gefühles und Gemüthes eines neugeborenen Menschenkindes, wie es sich in der liebereichen Beziehung der Mutter zu dem Säugling vollzieht, bietet der Schönheiten so viele, daß dieses Thema für den Künstler fast unerschöpflich erscheint.
[97]
singt Schiller in der Glocke, und mit diesen wenigen Worten ist ein Gemälde gezeichnet, welches einen unerschöpflichen Reichthum an Schönheiten Erhabenheiten und Seligkeiten entfaltet. Giebt es auf Erden irgend Etwas, dem eine ewige Jugend verliehen ist, so ist es das Mutterherz, dessen Reichthum ein so unerschöpflicher ist, daß es unmöglich ausgeschöpft werden kann, sondern seine Gaben in ununterbrochener Fülle spendet, bis dieses Herz seinen letzten Schlag gethan hat:
Es ist unumgänglich nothwendig, hier an dieser Stelle eines Thema's zu gedenken, mit welchem sich der Menschenfreund, [98] der Psycholog und der Gesetzgeber mit eingehendem Eifer zu beschäftigen pflegen.
Hat ein junges, unerfahrenes und vertrauensvolles Mädchen in einem schwachen, unbewachten Augenblicke den Versuchungen ihres Verführers und der Aufregung ihrer eigenen Gefühle nicht den rechten, nothwendigen Widerstand geleistet und fühlt sie nun die Frucht dieser Unbedachtsamkeit unter ihrem Herzen sich entwickeln, so sieht sie sich oft in die beklagenswertheste Lage versetzt. Von dem Vater ihres Kindes verlassen und entweder alleinstehend oder von den hartherzigen Eltern fortgestoßen, ist sie der Schande preisgegeben und leidet unter dem Mangel alles Dessen, was eine Entbindung mit ihren zahlreichen und kostspieligen Folgen als Erforderniß hinstellt. Sie sucht ihren Zustand so lange wie möglich zu verbergen, und statt die Frucht ihres Fehltrittes als ein kostbares Geschenk und die Stunde der Geburt als eine freudige anzusehen, erblickt sie in der ersteren nur die verhaßte Hinterlassenschaft eines Menschen, der sie um Liebe und Vertrauen betrog und das größte, kostbarste Geschenk eines unschuldigen Mädchens, ihre Ehre, rücksichtslos mit Füßen tritt. Die Angst vor all' den erwähnten Folgen bemächtigt sich ihres Herzens; das Kind ist Fleisch von ihrem Fleische, Blut von ihrem Blute, erscheint ihr als ein Theil ihrer selbst, über dessen Schicksal, über dessen Bestehen oder Vergehen nach den Gesetzen der Natur nur sie allein das Recht der Bestimmung hat. Ihr Nervensystem wird durch den Zustand der Schwangerschaft in ungewöhnliche Mitleidenschaft gezogen; es bemächtigt sich ihrer eine immer wachsende Aufregung, welche ihre Denkkraft beeinträchtigt, dazu kommt der Schmerz der Geburt, welcher ihr die Zukunft im grellsten Lichte erscheinen läßt; die ganze körperliche und geistige Constitution ist in eine Revolution versetzt, durch welche für den Augenblick der ernste, sittliche Halt vollständig verloren gegangen ist und – die That ist geschehen, das junge Leben vernichtet, noch ehe es zum Bewußtsein kommen konnte.
Liegt hier ein Verbrechen, ein Mord vor? Ganz gewiß. Sind die Gründe, durch welche sie sich zu demselben bewegen ließ, stichhaltig? Nein; aber viel, sehr viel läßt sich sagen, um das grelle, abschreckende Licht, welche die gräßliche Sylbe »Mord« umfluthet, zu mildern. Die Vergangenheit bestrafte den gewaltsamen Tod eines Neugeborenen mit den härtesten ihrer Strafen; die nachfolgenden Zeiten sind gerechter geworden und urtheilen menschlicher über ein Vergehen, welches unter normalen Umständen allerdings [99] zu den schwersten Verbrechen gezählt werden muß, unter Verhältnissen aber nur eine Folge der Sinnenverwirrung, der Unzurechnungsfähigkeit, der Verzweiflung sein kann.
heißt es in Schillers »Kindesmörderin«, und es ist wohl zu bedenken, daß vor dem ewigen Richter die Schuld einer solchen Handlung nicht blos auf das Haupt der Mutter fällt, sondern ebenso sehr auf dem Verführer und noch Anderen ruht, welche sich vor den irdischen Gesetzen sicher wissen.
Das Verbrechen des Kindesmordes ist ein viel weiter verbreitetes, als man gewöhnlich annehmen zu müssen meint, nur daß hier ein Unterschied ist zwischen den Paragraphen des Gesetzbuches und den Bestimmungen einer rein und streng sittlichen Anschauung. Es liegt in gewissen Theilen der Geschlechtsorgane (Sperma, Ei) eine Reihe menschlicher Daseinsformen verborgen und aufbewahrt, und strenggenommen ist jede Vernachlässigung, jede Verschwendung dieser Theile und Stoffe Zerstörung zukünftigen Lebens. Die Prostitution mit all' ihren Sicherungsvorkehrungen, das schon oben erwähnte Zweikindersystem und überhaupt jeder geschlechtliche Act, bei welchem das Wort »Vorsicht« mit in Betracht gezogen wird, muß dem Gewissen und jedem sittlich ernsten Menschen als verwerflich, als verbrecherisch erscheinen, und könnte man das Schicksal derjenigen Kinder verfolgen, welche da das Licht der Welt erblicken, wo »Damen eine ruhige, ungestörte und zurückgezogene Niederkunft erwarten können«, so möchte sich dem Menschenfreunde vielleicht gar manche betrübende Beobachtung entgegenstellen. –
Unter allen Lebensverhältnissen, in denen Menschen zu einander stehen, ist das zwischen Mutter und Kind von der Natur das am meisten geheiligte, am stärksten ausgeprägte und am liebevollsten in Schutz genommene. Nach den Gesetzen der meisten Staaten ist der Anspruch, welchen ein Vater auf das Kind zu erheben berechtigt ist, größer und kräftiger unterstützt als derjenige der Mutter; dafür aber tritt die Natur in den meisten Lebenslagen und wo die Ansprüche der Eltern gegenseitig sind, auf die Seite Derjenigen, welche das Kind unter ihrem Herzen getragen hat und in deren eigenes Dasein der Sprößling, so lange er im mütterlichen Körper seiner Selbstständigkeit entgegenreifte, auf das Innigste verschlungen war.
Aus diesem Grunde ist schon unter den Instincten der Thiere, durch welche die Natur für Fortpflanzung und Erhaltung der Geschlechter gesorgt [100] hat, die Fürsorge der Thiermutter für ihre Jungen in der frühesten Zeit ihres Eigenlebens der mächtigste. Nur bei den Thieren der niedersten Stufen hat es die Natur selbst übernommen, für die nur in Keimen oder als Brut aus dem mütterlichen Körper getretenen neuen Wesen zu sorgen. Durch die Menge der als Brut von einem früheren schon daseienden individuellen Leben gelösten neuen organischen Wesen ersetzt sie dann den großen Abgang, welcher durch die Zerstörung der Keime noch vor ihrer Entwickelung im Reiche des Lebendigen entsteht. Wo es aber, wie besonders in höheren Thierklassen, darauf ankommt, daß die durch die Zeugung belebten Keime auch in der Mehrzahl ausgebildet und erhalten werden, da setzt sie dieselben nach Ablösung vom zeugenden Körper unter die Obhut mütterlichen Instinctes, der schon bei den Vögeln theilweise gegen die gelegten Eier, ganz entschieden dann aber gegen die durch das Ausbrüten aus ihren hervorgelockten Jungen sich äußert liebevoll bewährt. Dieser Instinct verleiht auch dem sonst schwachen und zaghaften Geschöpfen eine ihm früher fremde Kraft, erhöht seinen Muth und stählt seine Ausdauer ganz besonders in solchen Fällen, in denen es gilt, die zum Dasein gebrachten Wesen mit Gefahr des eigenen Lebens zu vertheidigen oder sonst vor einem Unfalle zu bewahren.
Im Menschengeschlechte nun veredelt sich der Mutterinstinct zur Mutterliebe, und diese letztere steigt und wächst, je mehr das Kind unter der mütterlichen Pflege reift. Sie ist einer der stärksten Triebe, deren das Menschenherz fähig ist, und das ist wohlweislich vom Schöpfer so eingerichtet worden, denn kein Geschöpf kommt so hilflos und pflegebedürftig zur Welt und bedarf der Unterstützung auf so umfassende Weise und so lange hinaus, wie der menschliche Säugling. Das Arrangement der Natur weist deutlich darauf hin, daß jede Mutter auch zur Säugerin ihres Kindes bestimmt ist, und auch diese Fürsorge belohnt sich, wie jede Erfüllung einer Mutterpflicht, nicht nur durch erhöhtes Liebesgefühl, sondern auch durch innigeres Zusammenleben und diejenige herzliche Befriedigung, welche der Gehorsam gegen die Gesetze der Natur mit sich bringt. In Folge dessen strebt jede Mutter, deren Sein nicht in der Zerstreuung des Weltlebens oder unter der Last der Noth und Sorge von ihrer Mutterbestimmung abgelenkt wird, ihrem Kinde an jedem Augenblicke seines Lebens Freude zu machen und ihm angenehme Gefühle zu erregen und zu erhalten.
Soll aber das Kind durch die Liebe der Mutter nicht verzärtelt und [101] von seinen Zielen abgelenkt werden, so müssen die von der Natur geknüpften Bande der Neigung, wenn auch nicht aufgelöst, so doch aufgelockert und einem höheren, geistigen Principe, der Vernunft untergeordnet werden, und das um so mehr, als, wie es vorwaltend bei Knaben der Fall ist, der Zögling so früh wie möglich seine eigentliche und beste Stütze in sich selbst suchen, finden und erfassen soll. Jede Mutter denkt, ihrem bloßen Gefühle folgend, auch bei dem erwachsenen Sohne mehr an die Erhaltung und Sicherung des Bestehenden im Leben, als an die Erlangung und Erreichung dessen, was sich für die Zukunft als ein unabweisbares Bedürfniß herausstellt, und daher erfüllt die Sorge der Mutter das Gemüth für das ganze Leben viel tiefer, als die Sorge des Vaters, welche überhaupt mehr aus der Reflexion als dem Gefühle hervorgeht, obgleich sie einen größeren Umfang hat, da sie sich mehr auf die Erweiterung der Lebenssphäre, als auf die Behauptung des schon Errungenen richtet. Die Erziehung des Vaters bereitet den Sohn vor, »hinaus zu gehen in's feindliche Leben,« während die Mutter ihrem Lieblinge den Lebensweg gern so viel wie möglich erleichtern, ihm jede Sorge, jeden Kampf, jede Unannehmlichkeit ersparen und ihn womöglich nicht aus der schützenden Umschlingung ihrer liebevollen Arme lassen möchte, weshalb auch das Wort »Muttersöhnchen« als Bezeichnung eines durch die Mutterliebe verzogenen und verhätschelten Weichlings in Gebrauch gekommen ist.
Auch hier sehen wir wieder einmal so recht deutlich, daß Mann und Weib sich gegenseitig ergänzen und in ihrer glücklichen Vereinigung eine Einwirkung auf die Entwickelung ihrer Kinder üben, welche durch kein Elternsurrogat ersetzt werden kann, mag es nun Amme, Bonne, Gouvernante, Erzieher oder sonst irgendwie mit Namen genannt werden. Und doch wird grad' in dieser Beziehung so unendlich viel von den Eltern gesündigt; in gewissen Kreisen verbietet es die Sorge für die körperliche Schönheit und der Gehorsam gegen die gesellschaftlichen Regeln, die süßesten der Pflichten zu erfüllen, und es ist fast Mode geworden, dem Kinde nichts zu sein, als die Gebährerin, welche sich vielleicht in der Kinderstube Mutter nennen läßt, im Salon aber gern auf diesen Namen Verzicht leistet, da in ihren Augen Jugend und Schönheit höher stehen, als das Glück, einem Menschenkinde das Leben geschenkt zu haben.
Desto reicher aber belohnt sich eine treue Erfüllung der Mutterpflichten, und tief gräbt sich das Gedächtniß jedes einzelnen Augenblickes des jugendlichen[102] Lebens in Seele und Herz des Kindes ein. Der süße Klang der mütterlichen Stimme, der warme Blick des Mutterauges, der sanfte Druck der mütterlichen Hand, sie werden nie vergessen, und wenn das Auge längst gebrochen, die Stimme verstummt und die Hand erkaltet ist, die Dankbarkeit stirbt nicht; was die Mutter gethan, das lebt im Kinde fort, erbt sich fort auf späte Generationen, und der Ort, an dem man sie zur Ruhe bettete, bleibt ein Heiligthum für Alle, die von dem Strahle ihrer Liebe erwärmt und beleuchtet wurden.
»Ein Auge, das den Vater verspottet und verachtet der Mutter zu gehorchen, das werden die Raben am Bache aushacken und die jungen Adler fressen,« droht die Bibel allen den Kindern, welche es vergessen, daß in ihrem Herzen die Blumen der Liebe gegen ihre Eltern lebenskräftig blühen und sprießen sollen. Es ist ein fürchterlicher Fluch, der in diesen Worten liegt, bei deren Klange man sich fast eines Schauders nicht erwehren kann, aber es liegt eine tiefe Wahrheit in dem Satze, daß die ewige Gerechtigkeit keine Sünde so streng bestraft, wie diejenige, welche an Vater und Mutter begangen wurde.
In der Reihe der zehn Gebote, welche Gott der Herr seinem Volke von den Höhen des Sinai herab dictirte, schließt sich das »du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren« eng an diejenigen an, welche von den ernsten Pflichten gegen Gott handeln, und in dieser Anordnung liegt eine sehr verständliche Hindeutung auf die Heiligkeit der elterlichen Würde. Sie die Eltern, vertreten in dem Zeugungsacte die göttliche Allmacht und [103] bringen bei der Erziehung ihrer Kinder jede einzelne der göttlichen Eigenschaften zur Bethätigung und Anschauung; sie sind Stellvertreter Gottes, und darum ist das vierte Gebot das erste Gebot, das eine Verheißung hat: »auf daß es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden.«
In den patriarchalischen Zeiten war der Vater nicht nur der Richter, sondern auch der Priester des Hauses, und diese Würden sind bis zu einem gewissen Grade dem Hausherrn durch alle Zeiten bis in die Gegenwart herein treu verblieben. Die Disciplin der Familie, welche von so großem Einflusse auf das Ordnungsgefühl des Volkes ist, ruht in seinen Händen, und wenn auch die Erweckung und Pflege des religiösen Sinnes in erster Linie von der Mutter ausgeht, so ist doch vorzugsweise er zum Wächter gesetzt über die Herzensäußerungen der Kleinen und hat das fröhliche und ungehinderte Wachsen und Gedeihen des Göttlichen im Menschen zu beschirmen.
»Nicht mein Wille geschehe, sondern der deinige,« mit diesem unter größter Seelenangst im Garten Gethsemane gesprochenen Worte Christi wird er zum leuchtenden Vorbilde für den hingebenden Gehorsam des Kindes in den Willen der Eltern. Dieses empfing seinen Leib aus dem Schooße der Mutter, verdankt das Erwachen seines Geistes und die Entwickelung aller ihm verliehenen körperlichen und seelischen Fähigkeiten der Mühe und Arbeit der Eltern; alles, was es ist, was es kann und was es hat, kam ihm von Vater und Mutter, sein Leben und Denken, Fühlen und Wollen ist mit dem ihrigen verbunden und verknüpft, und in Folge dessen beruht die innere und äußere Abhängigkeit des Kindes auf den einfachsten natürlichsten Gründen. Die Liebe zu den Eltern und die Achtung vor ihnen sind Naturgesetz und müssen sich ganz von selbst herausgestalten, und nirgends zeigt sich die Strafandrohung »bis in das dritte und vierte Glied« und die Segensverheißung »bis in das tausendste Glied« in solchem Umfange wie hier. Dies hat seine Ursache in dem Umstande, daß die Eigenschaften, welche sich gegen die Eltern erweisen, ihre Wurzeln in die Zeit der ersten, frühesten Jugend schlagen, auf das Eingehendste mit dem Leben, mit dem ganzen Wesen verwachsen und sich verschlingen und in Folge des elterlichen Einflusses auf Kind und Kindeskinder übergehen.
Es ist gefragt worden, woher es kommt, daß die Kinder so sehr oft gegen die Großeltern eine bedeutend größere Anhänglichkeit zeigen als gegen die Eltern. Dies hat zwei Gründe.
[104] Selten wohl wird ein Elternpaar schon in den ersten Jahren der Ehe diejenigen Kenntnisse, Erfahrungen und Anschauungen besitzen, welche zur Kindererziehung nothwendig sind. Es kommen da gewöhnlich eine Menge Begehungs- und Unterlassungssünden, eine Zahl von Inconsequenzen vor, welche dem Kinde nicht unbemerkt bleiben, denn dieses hat grad' für solche Fehler einen feinen Sinn und ein außerordentlich scharfes Auge. Bei den Großeltern dagegen ist die Hitze und Sanguinität der Jugend verflogen; sie sind ruhig geworden und haben sich gewöhnt, jede Handlung, jedes Wort reiflich zu erwägen und zu überlegen; diese Ruhe und Sicherheit leuchtet aus jedem ihrer Blicke, spricht aus jedem ihrer Worte, giebt sich in jeder ihrer Bewegungen, jeder ihrer Thaten kund und zwingt unwillkürlich und nothwendig zu herzlichem und unbeschränktem Vertrauen. Die Jugend gleicht dem gährenden Moste, das Alter dem goldenen, abgeklärten Weine, und dieses Gold der Ruhe und Ueberlegenheit ist es, was das Kindesherz gefangen nimmt in gläubiger und rückhaltsloser Hingabe. Das ist der eine Grund.
Wie wir überall im großen und kleinen, im ganzen und einzelnen Leben der Natur einen Kreislauf bemerken, der die Materie immer wieder zu ihrem Ausgangspunkte zurückführt, während der Geist in unaufhaltsamem Fluge immer weiter vorwärts eilt, so auch im Leben der Völker, wie des einzelnen Menschen. Die Nationen kommen und verschwinden wieder; sie haben ihre Kindheit, ihre Jugend, ihr Mannes- und ihr Greisenalter, und dieses letztere kehrt, um den Kreislauf zu vollenden, gern wieder zur Kindheit zurück. Bei den mehr allgemeinen und entwickelteren Eigenschaften des Völkerlebens ist dieses Zurückkehren nicht ein so augenfälliges, wie bei dem einzelnen Menschen, der nicht nur in Beziehung auf den Körper im Alter sich niederbeugt, sondern auch geistig zurückkehrt zu den kindlichen Anschauungen seiner früheren und glücklicheren Jahre. Es ist, als habe der Geist die Schärfe seines Denkens und die Energie seines Handelns im Kampfe des Lebens genugsam verwerthet und wolle nun am Abende des irdischen Tages dem so oft zurückgesetzten und vernachlässigten Gefühle wieder seine volle Berechtigung gestatten; ja, es ist, als müsse der Geist angesichts der nahe stehenden Trennung von seiner sterblichen Behausung zu seiner Kinderweise zurückkehren, um als Kind für ein neues, besseres und höheres Dasein geboren werden zu können. Ist es ein Wunder, daß das in das Leben erst eingetretene Kind und das vom Leben scheidende Kind durch den [105] Zug einer wohlthuenden Sympathie einander genähert werden? Die Morgenröthe der Jugend und das verglühende Abendroth des Alters, was sind sie anders, als die Reflexe einer und derselben Sonne, die eine vor dem Tage und das andere nach demselben. Das ist der andere Grund.
Es ist eine falsche Ansicht so vieler Eltern, daß die Liebe der Kinder ausschließlich durch Milde oder gar Nachsicht zu erlangen sei. Eine wirkliche fruchtbringende und dauernde Kindesliebe ist nur dann möglich, wenn sie ihre Wurzeln in dem gedeihlichen Boden der Achtung und Ehrerbietung schlägt, und wirklich bemerken wir die echte und rechte Kindesliebe nur da, wo sich »die Milde mit der Strenge paart«. Es mag eine Züchtigung des Kindes dem Elternherzen wehe thun; aber der verständige Vater, die vernünftige Mutter wird größeren Schmerz empfinden bei der Entdeckung eines bösen Triebes am jungen Baume des Kinderlebens, als bei den durch die nothwendige Strafe hervorgerufenen Klagen. »Es ist besser, daß ein Glied verloren gehe, denn daß der ganze Leib verderbe«, und eine strenge, aber gerechte Kinderzucht ist viel, sehr viel werth.
Worin liegt wohl anders der Grund der gegenwärtigen vielen und allgemeinen Klagen über die Undankbarkeit und den Ungehorsam der Kinder, der Klagen über eine Zeit, welche das Bibelwort: »Ehre Vater und Mutter mit der That, mit Worten und Geduld, auf daß ihr Segen über dich komme,« ganz vergessen zu haben scheint, als in den Eltern selbst, welche nicht verstehen, »die Zügel straff zu halten« und die unnützen Schößlinge nachsichtslos zu verschneiden!
Und hier kommt nicht blos die Schwäche der Eltern in Beziehung auf die Disciplin in Betracht, sondern es werden hier noch eine Menge anderer und schwererer Sünden begangen. Zunächst ist der Stolz zu bemerken, mit welchem sehr viele Mütter auf die äußeren und sehr viele Väter auf die inneren vermeintlichen Vorzüge ihrer Kinder blicken. Jede Gabe der gütigen Natur ist ein unverdientes Geschenk, eine Gnade, für welche Demuth und Bescheidenheit die beste Dankbarkeit ist. Das Kind auf äußerliche Schönheiten aufmerksam machen, ist nicht nur unvorsichtig, sondern einer der bedeutendsten Fehler, welche man begehen kann. Geistige Vorzüge giebt es bei einem Kinde, welches alle seine Fähigkeiten ja erst noch zu entwickeln hat, absolut gar nicht, und doch sieht man so häufig, daß Väter die wunderbare Klugheit und Geschicklichkeit ihrer Söhne nicht genug rühmen und preisen können und dieses Lob am liebsten in der [106] Gegenwart des vermeintlichen Genies aussprechen. Wenn doch diese Väter wüßten oder bedenken wollten, daß schon mancher hoffnungsvolle Knabe moralisch todtgelobt worden ist und an der hohen Meinung seiner Eltern, die er natürlich auch zu der seinigen machte, jämmerlich zu Grunde ging.
Man kann sich eines gewissen Mitleides nicht erwehren, wenn man so häufig bemerkt, daß Eltern von ihren Bediensteten das hochachtungsvollste und schonendste Benehmen gegen ihre Kinder fordern. Man sollte bedenken, wie gefährlich es ist, den Hochmuth mit all' seinem Gefolge in das kleine Herz eines solchen Prinzchens oder einer solchen Prinzeß en miniature zu pflanzen; das Herz wird verhärtet und rücksichtslos und verschließt sich allen jenen zarten und liebenswürdigen Regungen, welche das nothwendige Zusammenleben der Menschen zu einem Genusse, einem Glück machen. Man sieht Kinder, welche, wie zum Ballet herausstaffirt, zu Zier- und Modepuppen erzogen werden, denen es im ernsten Leben einmal an allem festen Halt fehlen muß. Solche Eltern erziehen sich die Kinder zur eigenen Strafe.
Und das ist noch nicht Alles, noch nicht das Schlimmste.
Die Kinderseele ist zart, weich und eindrucksfähig wie Wachs und jede an sie herantretende Erscheinung prägt sich ihr in Folge dieser außerordentlichen Empfänglichkeit und Bildsamkeit ein, läßt ihre tiefen Spuren zurück und äußert auf diese Weise einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf Gestaltung und Richtung sowohl des inneren als auch des äußeren Lebens.
Dies bedenkend, sollten die Eltern jeden Eindruck, welcher in schädlicher Weise auf des Kindes Herz zu wirken vermag, mit der größten Sorgfalt und Aengstlichkeit von ihm fern halten, damit die Fähigkeiten des jungen, hoffnungsvollen Menschenlebens nur in der Richtung des wahrhaft Guten und wahrhaft Reinen ausgebildet würden. Blickt man aber in das Leben der Familien hinein, so findet man in dieser Beziehung die größte und unverantwortlichste Nachlässigkeit vor.
Schon im engen Kreise des Hauses und der Familie giebt es eine lange Reihe von Vorgängen, welche dem Auge des Kindes entzogen werden müssen. Da wir hier nur die Liebe zu den Eltern im Auge haben, so wollen wir von all' denjenigen von diesen Vorgängen absehen, welche zu dieser Liebe in keiner Beziehung stehen und also auf ihre Veränderung keinen Einfluß haben; aber wenn wir behaupteten, daß die erste und[107] sicherste Grundlage der Liebe zu den Eltern in der Achtung vor und der Ehrerbietung zu ihnen stehe, so werden sich unseren Beobachtungen hunderte von gewöhnlich nicht beachteten Fällen bieten, in denen diese Ehrerbietung Schaden leidet und die Liebe also beeinträchtigt wird.
Hier gilt vor allen Dingen die ernste Mahnung an die Eltern, selbst und stets so zu sein, zu reden, zu handeln und zu leben, wie sie es von ihren Kindern wünschen, ihnen also allezeit und in jeder Lebenslage ein leuchtendes und nachzuahmendes Beispiel zu sein. Untugenden und Laster, denen sich Eltern hingeben, pflanzen sich den Kindern ein und klammern sich ihnen an wie Parasiten, deren Ausrottung in so vielen Fällen trotz der nachhaltigsten Anstrengung nicht gelingt. Aller Zwist muß unter vier Augen abgehandelt und die Kinder dürfen nicht Zeugen dabei werden. Wie viel hier und in hundert anderen Fällen, deren wir keiner Erwähnung thun, von den Eltern gefehlt wird, muß jeder Vater und jede Mutter sofort erkennen, sobald man mit der nöthigen Aufmerksamkeit auf sich und die Seinen achtet.
Viele Eltern klagen über Mangel an Liebe und Anhänglichkeit, an Gehorsam und Zutrauen bei ihren Kindern und wissen nicht, woher dieser Mangel kommt. Sie haben ihre Kinder lieb, beweisen ihnen diese Liebe ohne Unterlaß und thun Alles, was sie für ihre Pflicht halten; und doch sehen sie im Herzen der Kinder nicht diejenigen Knospen springen, welche im Herzen eines jeden Kindes treiben und Früchte bringen sollen. Woher kommt das? Im Großen und Ganzen sind Vater und Mutter auf die sorgfältigste Erfüllung ihrer Pflichten bedacht, aber das Kleine entgeht ihnen, und doch haben die scheinbar unbedeutendsten Dinge sehr oft und grad' auch hier die augenfälligsten Folgen. Wollt Ihr, daß Eure Kinder Euch lieben und ehren, so seid ohne Unterlaß und auch im Allerkleinsten und Geringsten bedacht, Euch diese Liebe und Achtung zu verdienen.
Hier ist ein Wort nöthig über das Verhältniß der Stiefeltern zu ihren Kindern und überhaupt alle solche Fälle, in denen fremde Personen die Stelle der Eltern vertreten.
Die Sylbe »Stief« gehört zu denjenigen in Mißcredit gerathenen Ausdrücken, bei deren Klange man unwillkürlich zu einem Gefühle des Mitleides für Diejenigen getrieben wird, auf die sie Bezug haben, und ihre [108] Bedeutung, die ursprünglich eine reine und ungetrübte war, ist eine in der Gesellschaft mißliebige geworden. Warum?
Der größte Verlust, welcher ein Kind zu treffen vermag, ist der Verlust der Eltern, und keine Person vermag die Stelle des gestorbenen Vaters, der abgeschiedenen Mutter im Herzen des Kindes vollständig zu ersetzen. Ebenso vermag weder Mann noch Weib das Kind eines andern Mannes oder Weibes in eben der Weise zu lieben, als ob es das eigene wäre. Selbst wenn das Stiefverhältniß in äußerlicher Beziehung keinerlei Beeinträchtigung oder gar Zurücksetzung zur Folge hätte, würde es doch nicht die im Herzen gefühlte Lücke auszufüllen vermögen.
Allerdings, je jünger das kleine, verwundete Herzchen ist, desto leichter wird es der Zeit und der elterlichen Freundlichkeit und Hingebung, diese Wunde zu heilen, und der beste Balsam besteht hier in einer treuen, selbstlosen, die feindlichen Regungen überwindenden Liebe. Die Liebe glaubt Alles, sie hoffet Alles, sie duldet Alles, ja, sie kann und vermag auch Alles, und der günstige Erfolg ist hier einzig und allein nur in die Hände der Eltern gegeben.
Es ist etwas Köstliches und Herrliches, etwas Heiliges und Erhabenes um die Bildung und Entwickelung einer Kindesseele, um die Entfaltung eines kindlichen Geistes und Herzens für ein Dasein, welches weit über den engen Horizont des Erdenlebens hinausreicht und die Erfüllung der höchsten Aufgaben, die Anstrebung der beseligendsten Ziele in sich schließt. Wie der Strahl der Sonne den Keim belebt und aus der bergenden Erde lockt, so dringt die elterliche Liebe und Mühe in die Fähigkeiten der Kinderseele ein und ruft ein Leben wach, welches jeden Sonnenblick mit reichen Früchten lohnt.
Und doch, wie viel wird hier gefehlt! Es ist ein gar ernstes Wort: »Wer da ärgert dieser Geringsten Einen, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäufet würde im Meer, da es am tiefsten ist«, und wie oft hier Aergeniß gegeben wird, weiß nur Der, welcher mit ernstem Fleiße wohl auf sich und seine Umgebung achtet.
Die hier einschlagenden Verpflichtungen gehen natürlich auch auf alle diejenigen Personen über, welche an Stelle der Eltern oder mit denselben an der Erziehung der Kinder arbeiten. Wir werden an der geeigneten Stelle über diese Verhältnisse (Lehrer, Meister, Prinzipal etc.) des Weiteren erwähnen.
[109] »Kind« wird der Mensch genannt in der Periode von seiner Geburt an bis zur Zeit der erlangten Geschlechtsreife. In dem frühesten Kindesalter hat das Pflanzenleben das Uebergewicht und die Anregungen des thierischen Lebens beschränken sich fast einzig auf Instincte, das Athmen und das Saugen an der Mutterbrust. Erst um die Mitte des ersten Lebensjahres wird das Bewußtsein des Kindes in der Wahrnehmung wach, daß außer dem eigenen Gefühle, das sich bisher nur in Forderungen und Stillungen von dringenden Lebensbedürfnissen zu erkennen gab, auch noch Etwas in seinem Lebenskreise ist, was nicht zu jenem Gefühle selbst gehört. Indessen ist auch für diese Lebensperiode die körperliche Entwickelung bereits eine vollendete.
In der Säuglingsperiode müssen zu starke oder schädliche Eindrücke durch Erhitzung oder Erkältung, zu starke Körpererschütterungen (wie durch zu heftiges Wiegen), sowie alle sonstigen Beeinträchtigungen oder gar Verletzungen des kindlichen Körpers durch Druck, Reiben etc., besonders aber der an den Lichtreiz noch gar nicht gewöhnten Augen sorgsam vermieden werden, indem letztere zur Augenschwäche, selbst zur Blindheit führen kann, wie die meisten Blindgeborenen hierdurch blind geworden sind. Dagegen ist auch selbst ein lärmendes Geräusch in der Nähe des Kindes ohne nachtheilige Einwirkung auf die Ruhe desselben, da das Gehörorgan erst während dieser Periode seine völlige Ausbildung erlangt.
Nächst der Aufmerksamkeit für Licht und Farben, die sich am frühesten zeigt, und dem Gehörsinne, tritt nun auch der Tastsinn, besonders im freien Gebrauch der Glieder, vor allen Dingen der Hände, hervor, indem es sich mit denselben alle bemerkbaren Gegenstände anzueignen strebt, wogegen es alles Störende mit der geringen Kraft, die es besitzt, von sich zu entfernen und ihm sich zu entziehen sucht. Sodann benutzt es alle der Willkür unterworfenen Muskeln, namentlich der Füße, anfänglich durch Anstemmen und Aufrichten des Körpers, zunächst im Sitzen, allmälig auch im Stehen und endlich auch im Fortbewegen desselben, wenn auch nur im Kriechen, zu selbstständigem Handeln.
Die zweite Periode des Kindeslebens beginnt von etwa dem siebenten Monat an nach dem Entwöhnen und mit dem ersten Zahnausbruche. Der Körper gelangt zu der vollkommenen Ausbildung des Darmkanals und der Verdauungsorgane überhaupt, zugleich auch durch fortgesetzte Uebung in dem Gebrauche seiner Füße allmälig zum Gehen, während seine Hände sich als [110] Tastorgane immer mehr ausbilden und seine Zunge die Fähigkeit erlangt, Gefühle, Vorstellungen und Wünsche mittelst der Sprache auszudrücken, und zu gleicher Zeit zeigt sich die beginnende Entwickelung des Verstandes.
Daß dieser nicht auf einmal in Thätigkeit tritt, zeigt sich in der »Kindersprache«, die jedes Kind nach Fassungskräften sich selbst bildet und zu der auch seine Erzieher sich herablassen müssen. Aber erst dann, wenn die Kinder vermöge der Sprache auch abstracte Begriffe auszudrücken wissen und ihre Begriffe in Sätzen zu Urtheilen und Folgerungen verbinden lernen, erlangt der Verstand so viel Schärfe und Stärke, daß die im Gedächtniß aufgefaßten Vorstellungen auch für das spätere Leben erhalten bleiben und die Kinder wirkliche Lebenskenntnisse sich zu erwerben fähig werden. Daher kommt es, daß Erwachsene nicht leicht Erinnerungen haben, welche über das vierte Lebensjahr zurückgehen.
Immer aber behält die Einbildungskraft und der selbstständige Thätigkeitstrieb das Uebergewicht über den wachenden Verstand. Beide treiben das Kind zum Spiele, als seiner eigentlichen Lebensschule. Da das Vernunftvermögen in dieser Periode nur erst im Aufkommen begriffen und noch unentwickelt ist, mithin auch kein sittliches Gebot die Handlungen des Kindes bestimmt, so befindet sich sein Leben noch vollständig im Stande der Unschuld und erregt dadurch das Wohlgefallen und die Liebe der Erwachsenen. Aber gleichwohl bedarf dieses in der Kindesnatur vorwaltende egoistische Princip der Beschränkung und Mäßigung, um Kinder zum Leben mit Erwachsenen vorzubereiten. Dies geschieht durch die Kinderzucht, deren Aufgabe es ist, den Egoismus der Kinder zu beschränken und zu leiten, sodaß diese Hemmung der möglichst freien Entfaltung der körperlichen und geistigen Kräfte des Kindes nicht hinderlich ist.
Meist werden nur wenige schmerzhafte, in der Erinnerung zurückbleibende Erfahrungen des Kindes, daß sein Eigenwille einem fremden, verständigeren Willen untergeordnet sei, zureichen, es zum freiwilligen Gehorsam zu bewegen, welcher in dieser Periode in der Kinderzucht die Stelle des Sittengesetzes vertritt und vernünftige Consequenz in der Leitung der Handlungen des Kindes, im Gestatten und Untersagen und dadurch Gewöhnen zu dem, was zu seinem eigenen Heile gereicht, und vor allem gutes Beispiel der Erzieher und anderer Kinder, mit denen es aufwächst, die Erziehung in dieser Periode vollenden, ohne dem Kindesleben in seiner freien Entwickelung Eintrag zu thun.
[111] Dieser Typus ist in der menschlichen Natur so tief begründet, daß er auch nach dem Erwachen der Vernunft im späteren Lebensalter, als Kindlichkeit in Bezug auf Personen, welche im Leben höher gestellt sind, für eine Tugend gilt. Es ist aber auch diese Periode die eigentliche Zeit des Lernens und als solche auch durch den Trieb, der besonders als Neugierde hervortritt, angedeutet, aber doch nur des Lernens oder des Erwerbes von solchen Kenntnissen, die innerhalb der nächsten Umgebung des Kindes und die auch nur seine Neugierde erregen und durchaus nur Sinnesgegenstände sind, sich befaßt.
Man muß diesen Lerntrieb verständig befördern, aber ohne das Kind noch mit eigentlichen Lehrstunden zu plagen; höchstens ist es rathsam, sich in denselben auf Gewährung von Anschauungen und auf Uebung der Urtheilskraft zu beschränken, nicht aber auf Aneignen von Fertigkeiten sich auszudehnen. Sowie der Geist zu einer verständigen Besonnenheit gelangt, haben auch die Schädelknochen durch Verwachsung sich vollständig geschlossen und das Gehirn die Größe erlangt, die es für das Leben behält.
Die dritte Periode des Kindeslebens beginnt mit dem Wechsel der ersten Zähne, tritt also mit dem siebenden Lebensjahre ein. Die ganze geistige und körperliche Entwickelung schreitet vorwärts, die Scheidung des Geschlechtes und der Verfolg von Lebensbestimmungen, die zunächst aus der Geschlechtsverschiedenheit hervorgehen, wird schon merklich. Kinder männlichen Geschlechtes fassen als Knaben immer vorwaltender ein höheres Interesse für Gegenstände, die zunächst in Lebenskreisen von Männern im späteren Alter, Mädchen dagegen für solche, die Frauen näher liegen oder auf ihre Bestimmung Bezug haben. Vorrückend in diesem Alter, zeigen Knaben und Mädchen einerseits eine Art von Scheu und Abneigung gegen einander, häufig aber auch eine, aber nur auf Einzelne sich richtende Zuneigung für einander, die, zumal bei vorzeitiger Bekanntschaft mit den Geschlechtsverhältnissen durch Schauspiel, Romanlectüre, wohl aber auch zu einer kleinen, schuldlosen und gewöhnlich schnell vorübergehenden Liebelei wird.
Die zunehmende Verstandesbildung führt nun aber zur Entwickelung der Vernunft, und dies um so rascher, je mehr der Jugendunterricht, als Vorbereitung zum ernsten Leben, zu dessen Benutzung das Kind nun herangereift ist, derselben Förderung leistete. Der nothwendige Zwang, in den [112] das Kind hierdurch jetzt geräth, verleitet dasselbe einerseits zu einer Rückwirkung, um seine Selbstständigkeit zu behaupten, die besonders bei Knaben in Folge ihrer Geschlechtsentwickelung schärfer hervortritt und eine Uebergangsperiöde in der Erziehung zur Folge hat, in der sie sich gewöhnlich nicht sehr empfehlenswerth vorstellen und die deshalb mit dem Namen der »Flegeljahre« bezeichnet wird. Hieraus entwickelt sich auch der in diesem Alter der Kinder, besonders der Knaben, so eigne Muthwille und Vorwitz, der meist die Zucht um so stärker durchbricht, als sich in späterer Zeit der Character um so selbstständiger entwickelt. Auch zeigt sich oft, besonders in den späteren Jahren dieser Periode, ein Mißbehagen mit sich und seinem Streben, eine Abweichung von der bestimmten, oft selbstgewählten Lebensbahn, und es ist daher eine zwar liebreiche, aber dabei stets aufmerksame und ernste Zucht ein großes Bedürfniß.
Mit der Vernunftentwickelung tritt in diesem Alter aber zugleich als der mächtigste Hebel ihrer eigenen Förderung und des sittlichen Lebens der Ehrtrieb hervor, aber, je nach Verschiedenheit des Geschlechtes, bei den Knaben mehr als Nacheiferungstrieb, als im Bestreben, sich auszuzeichnen und bemerklich zu machen, bei Mädchen mehr als Scham, als eine Scheu, etwas Unziemliches zu begehen. Der Körper erlangt dabei die Größe und Stärke, in der er immer mehr der fremden Hülfe für das Leben zu entrathen vermag, in jedem Geschlechte nach seiner ihm eigenthümlichen Bestimmung. Knaben vermögen jetzt ein Pferd zu besteigen und zu leiten oder Waffen zu führen, Mädchen dagegen ein Kind zu tragen und zu warten. Noch sind die Knochen in allen ihren Theilen nicht völlig verwachsen, aber sie besitzen doch schon zu einer kräftigen Lebensthätigkeit die hinreichende Festigkeit. Ebenso erlangen nun auch die Muskeln eine höhere Ausbildung und werden zu hervorragenden Körperfertigkeiten geschickt. Besonders aber richtet sich von jetzt an die Natur auf allmählige Ausbildung der geschlechtlichen Theile und deren Beendigung wenigstens so weit, daß eine geschlechtliche Vereinigung möglich ist, und mit dem gleichzeitig erwachenden Geschlechtstriebe erfolgt der Uebergang des Kindesalters in den zweiten Abschnitt des menschlichen Lebens, die Jugend, während welcher der Mensch sich dem erziehlichen Einflusse der Eltern etc. immer mehr entzieht. In diesen Bemerkungen ist eine Reihe von bemerkenswerthen Fingerzeigen gegeben für solche Eltern und Erzieher, welche sich die schöne Aufgabe gestellt haben, durch einen segensreichen Einfluß auf die Kindesseele sich eine wirkliche und alle Lebenslagen [113] überdauernde Liebe zu erwerben. Denn nur auf diesem ernsten Wege ist es möglich, das Kind für das ganze Leben mit schönen und beglückenden Banden an sich zu fesseln. Die Liebe ist zwar etwas Seelisches, aber wie der Geist in inniger Beziehung und Wechselwirkung zu dem Körper steht, so ist auch die Liebe in ihrem Wesen und nach ihren Eigenschaften abhängig von den Erscheinungen des äußeren, physischen Lebens, und die Liebe des Kindes steht zu derjenigen der Eltern in so nahem, verwandtschaftlichen Verhältnisse, daß fast immer nur Vater und Mutter selbst die Schuld zuzuschreiben ist, wenn es ihnen nicht gelingt, die Herzen der Kinder zu gewinnen und Freude an ihnen zu erleben.
Bei einer innigen Sympathie zwischen Eltern und Kindern und dem in Folge dessen sich entwickelnden freundlichen Familienleben ist es gar nicht anders möglich, als daß die Geschwister sich eng verbunden fühlen und einander die liebevollste Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit widmen.
»Wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtiglich bei einander wohnen,« klingt es im Bibelworte, und diese Eintracht ist eine einfache Folge der Abstammung von den gleichen Eltern und dem Leben unter vollständig gleichen Verhältnissen. Hier nun lassen sich einige recht interessante Bemerkungen machen.
Knaben und Mädchen haben beide ihre eigene Art, ihre ausgesprochensten Eigenthümlichkeiten, die sich gegenseitig anziehen und ergänzen. Die Gefühle des Mädchens sind zarterer Art, als diejenigen des Knaben, dagegen ist der Wille und die Energie des Letzteren mehr ausgeprägt und zuverlässiger als bei dem Ersteren; daher schließen beide sich leicht und gern an einander und äußern im innigen, geschwisterlichen Zusammenleben einen gegenseitigen äußerlichen und innerlichen Einfluß, der gar nicht hoch genug zu schätzen ist. Manche Schwester ist in Beziehung auf die Entwickelung des Herzens, der Umgangsformen etc. die eigentliche Lehrerin und Bildnerin des Bruders geworden und hat wiederum demselben die Selbständigkeit oder wenigstens den ihr eigenthümlichen »Schnitt« des Characters zu verdanken.
Bei diesem warmen Aneinanderschließen von Bruder und Schwester ist die Entwickelung einer Liebe, welche sich für das ganze Leben treu [114] bleibt, sehr natürlich, und die Geschichte zeigt uns die Macht und Gewalt dieser reinen, aufopfernden Geschwisterliebe in zahlreichen und ergreifenden Beispielen. Das Zusammenleben mit dem Mädchen entwickelt in dem Knaben jene chevalereske Rücksicht, welche den Stürmischen zart und den rasch Auflodernden freundlich und höflich macht, und das Mädchen lernt sich in die Eigenthümlichkeiten des Andern einleben und eignet sich die feine Nachgiebigkeit an, durch welche später das Weib eine so große Herrschaft auszuüben vermag.
Anders nun freilich ist es, wo der Kreis der Geschwister ausschließlich nur aus Knaben oder Mädchen besteht. Die ganze körperliche und geistige Ausbildung verfolgt gleiche Ziele und läßt eine Concurrenz entstehen, welche gar leicht die Mutter des Neides, der Mißgunst, der Schadenfreude und des Hasses wird.
Bei Bruder und Schwester sind die Bedürfnisse verschiedene, und diese Verschiedenheit bildet sich desto mehr aus, je älter beide werden oder vielmehr, je mehr sie sich der Jünglings- und Jungfrauenzeit nähern; es steht also nicht Eins dem Andern hindernd in dem Wege. Brüder aber sehen sich immer unter einander in ihrem Interesse gekränkt und beleidigt, und andererseits kennt ja Jedermann die kleinen, aber zahlreichen Unliebsamkeiten, welche unter Schwestern auf dem täglichen Repertoire verzeichnet stehen.
Alles was die körperlichen Vorzüge betrifft und mit der Hervorhebung derselben in Verbindung steht, hat bei dem Mädchen, deren Zukunft nicht wenig von diesen Vorzügen abhängig ist, einen großen Werth. Hier liegt also auch der Punkt, an welchem die Eifersüchteleien von Schwestern am öftersten zusammenstoßen, und besonders ist es bei den niederen Ständen häufig zu beobachten, daß eine Schwester der andern eine gemachte Eroberung mißgönnt und ihr wohl gar als Nebenbuhlerin entgegentritt.
Hier ist es die Aufgabe der Eltern, durch sorgfältige und aufmerksame Herzensbildung allen Zerwürfnissen vorzubeugen, welche der geschwisterliche Egoismus in seinem Gefolge hat.
Eine wahre brüderliche und geschwisterliche Liebe ist etwas so Köstliches, daß Christus und die Apostel sie zum Bilde der christlichen Liebe genommen haben und man allezeit von Brüdern und Schwestern in Beziehung auf den Glauben sprechen wird.
Den eigentlichen Uebergang von der Verwandten-zur allgemeinen Nächsten- oder Menschenliebe bildet die Freundschaft, wie ja in der Sprache [115] des Volkes das Wort »Freundschaft« sehr oft im Sinne der »Verwandtschaft« genommen wird.
Schon bei den Thieren bemerken wir ein Gefühl, welches die Individuen einander näher bringt und sogar in einzelnen Fällen die Feindseligkeit der Arten besiegt. Hund und Katze, Katze und Vogel sieht man öfters in friedlichem Zusammenleben bei einander, und sogar der Löwe im Käfig überwindet seinen Hunger oder wenigstens seine ursprüngliche Abneigung einem kleineren Wesen gegenüber, um in der Einsamkeit einen Gespielen zu haben, dem er seinen mächtigen Schutz gewähren kann.
Auch zwischen den Menschen und gewissen Thierarten besteht eine gewisse Freundschaft, welche aber von Seiten des Ersteren sehr aus der Rücksicht für den eigenen Nutzen entspringt. Die besten Freunde des Menschen im Thierreiche, die Hausthiere, sind zugleich auch Nutzthiere, und selbst da, wo es sich nur um Liebhabereien handelt, ist es doch nur die Unterhaltung, das persönliche Vergnügen, welches ihn veranlaßt, den »Herrn der Schöpfung« in einem freundlicheren Lichte als gewöhnlich erscheinen zu lassen.
Diese Selbstsucht ist es auch, welche, mehr oder weniger an den Tag tretend, die meisten Freundschaften unter Menschen schließt, wie ja Liebe und Egoismus, trotz ihrer großen Verschiedenheiten, in tausend Beziehungen einander ähnlich sind und sogar innig in einander verfließen, sodaß eine Grenze zwischen ihnen gar nicht gezogen zu werden vermag. Nur der wirklich gebildete Mann wird einer Freundschaft fähig sein, welche ihn über die Rücksichten der Selbstsucht erhebt und zur Opferung seiner eigenen Interessen bereit macht.
Das schönste Beispiel dieser Art von Freundschaft ist dasjenige von David und Jonathan, dem Königssohne; Freundschaft war es auch, welche Christus hinzog zu Johannes, seinem »Lieblingsjünger«, die Freundschaft zwischen Kastor und Polydeukes, den beiden Griechen, hat ihr Bild sogar den Sternen gefunden. Ueberhaupt war die Freundschaft im Alterthum unter besonders geachtet bei den Griechen und Scythen (Germanen). Besonders waren es die älteren heroischen Zeiten, welche sich durch die großartigsten und zur Aufopferung bereiten Freundschaftsbündnisse auszeichneten. Man vereinigte sich zur Ausführung von Großthaten, deren Gelingen nur durch das engste Aneinanderschließen und Zusammenwirken möglich war.
Dann später, wo ein tyrannischer Herrscher in einem Staate regierte, [116] verbanden sich Männer von gleicher Gesinnung und gleichen Gefühlen, um das geknechtete Volk zu rächen und die Freiheit aus ihren Ketten zu erlösen. Die Philosophie der Alten nahm sich der Freundschaft auf das Wärmste an. Pythagoras wird der »erste Gesetzgeber der Freundschaft« genannt; seine Schule wurde so reich an Herzensbündnissen, daß man dieselben »pythagoräische Freundschaften« nannte. Aristoteles widmete der Freundschaft zwei Bücher der Ethik (das achte und das neunte), und Cicero schrieb ein eigenes Buch: »De amicitia.« Ebenso verfaßte von den späteren Griechen Lucian den Toxaris, worin er einen Wettstreit zwischen einem Griechen und Scythen (Marsippus und Toxaris) darstellt, welches Volk höhere Begriffe und schönere Beispiele echter und wahrer Freundschaft aufzuweisen habe.
Bei den Germanen wurde die Freundschaft auf Leben und Tod häufig zwischen ganzen Gesellschaften geschlossen. Ein Beispiel hierzu sind die sogenannten »Blutbrüderschaften«, eine Sitte, welche dem ganzen Germanenthume bis hinauf nach Island eigen war. Man verband sich auf Leben und Tod so, daß die Verbundenen für einander wegen erlittener Beleidigung Blutrache nahmen und daß, wenn Einer starb oder fiel, der Andere sich selbst das Leben nahm. Beim Schließen einer Blutbrüderschaft knieten die Betreffenden auf die mit ihrem Blute benetzte Erde und schwuren, einander die Hände gebend, bei allen Göttern, sich einander wie Brüder zu halten und zu rächen. Auch bei den slavischen Völkern fand sich diese Sitte vor, und in Dalmatien wurden Blutbrüderschaften noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts an christlichen Altären geschlossen. Ebenso schließen die Dajaks auf Borneo ähnliche Verbindungen unter Vermittelung eines Priesters, welcher ihnen Blut abläßt und gegenseitig davon zu trinken giebt.
Unter anderen Verbrüderungen ist besonders der Bund der Freimaurer zu erwähnen, welcher eine die ganze Erde umfassende Ausbreitung gefunden hat. Bei Ausschließung aller politischen und kirchlichen Zwecke und Achtung der bestehenden Staatseinrichtungen und Gesetze erstreben die Versammlungen der Maurer nur rein Menschliches. Für alles Gute angeregt, sollen die Brüder als bessere Menschen in die Außenwelt zurücktreten und an allem Edlen regen Antheil nehmen.
Die eigentliche Freundschaft, den Bund zweier Herzen für das Leben, findet man wohl nicht in so massenhaften Verbrüderungen, sondern mehr [117] und vorzüglich im Einzelleben. Die Geschichte ist reich an eclatanten Beispielen wahrer Freundschaft; besonders gern verzeichnet sie die Freundschaften berühmter Fürsten und Geistesgrößen; einen wirklichen Werth aber gewinnt die Freundschaft in den Alltäglichkeiten des gewöhnlichen Lebens, wo im Kampfe mit den Widerwärtigkeiten der Verhältnisse der Rath und die mithelfende That eines Gleichgesinnten und das selbst im Unglücke treue Aushalten eines wahlverwandten Geistes von unendlichem Werthe ist und die Last erleichtert, welche des Lebens Sorge und Leid dem Menschen auferlegt.
der hat von einem großen Glücke zu sagen; denn, so viel von Freundschaft gesprochen wird, die echte, wahre ist doch selten. »Der beste Freund ist mir im Himmel, auf Erden sind die Freunde rar, denn bei dem falschen Weltgetümmel kommt Redlichkeit oft in Gefahr« sagt der alte Liedervers, »Freunde in der Noth gehn hundert auf ein Loth,« und
klingt der vielgehörte, wahre Spruch, welcher sich über die Seltenheit der unverfälschten Freundschaft beschwert. Wem daher der erwähnte Wurf gelungen ist, der soll den gewonnenen Freund auch festhalten und sich seiner werth erzeigen. »Uebergieb einen alten Freund nicht,« sagt Sirach, »denn du weißt nicht, ob du so viel am neuen kriegest. Ein neuer Freund ist ein neuer Wein; laß ihn alt werden, so wird er dir wohl schmecken.« Je älter der Freund, desto mehr hat er sich bewährt und desto höher steigt auch sein Werth.
Vor allen Dingen aber muß bedacht sein, daß Derjenige, welcher über den Mangel an wahrer Freundschaft klagt, zuerst bei sich selbst anfangen sollte. Wer an sich selbst arbeitet und einen Freund nicht nur zu erringen, sondern auch zu verdienen sucht, der wird ihn auch finden, und wer bei sich selbst das Wort Salomo's: »Ein treuer Freund liebet mehr und stehet fester bei, denn ein Bruder,« beherzigt, der wird auch nicht über Untreue zu klagen haben. – –
Wer nun ist mein Freund? oder vielmehr, wem soll ich Freund sein? [118] Die beste Antwort auf diese Frage giebt uns Christus in seinem: »Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und aus allen deinen Kräften, und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Diese Nächsten-, diese Bruderliebe ist eine nothwendige und unausbleibliche Folge der Gottesliebe; denn: »Wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann der Gott lieben, den er nicht siehet?«
Wer aber ist mein Nächster? Das Beispiel vom Samariter zeigt es deutlich, ein Jeder, der mir nahe kommt, der meiner Hülfe, meiner Unterstützung, meiner Freundschaft, meiner Liebe bedarf. Hier darf kein Unterschied des Standes, des Vermögens, der Politik, der Religion gelten, denn »wir sind allzumal Kinder eines einigen Vaters,« »wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollen.« Wenn wir daher der Gnade Gottes in gleichem Maße bedürfen und Keiner einen Vorzug vor dem Andern hat, so gilt es auch, unsere Liebe nicht nach Rücksichten zu vertheilen, sondern sie gleichmäßig auf Alle zu erstrecken.
»Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr den Balken in deinem Auge?« spricht Christus. »Du Heuchler, ziehe zuvor den Balken aus Deinem Auge, und darnach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest.« »Denn mit dem Maaße, da ihr messet,« sagt er am andern Orte, »wird euch auch gemessen werden,« und kein Philosoph, kein Menschenfreund hat die Lehre von der Nächstenliebe so rein und unverfälscht, so glühend und eindringlich verkündigt, wie er, der Prophet aus Galiläa, der für seine Liebe nur Haß erndtete und seine Predigt am Holze büßen mußte.
Während jede andere Religion die Liebe nur für ihre eigenen Bekenner predigt, umfaßt das Christenthum die ganze Menschheit mit seiner warmen Theilnahme, und wenn trotzdem grad' der Christ so schwer sich an der Gesellschaft versündigte, so lag dies nicht an dem ursprünglichen, wahren und unverfälschten Christenthume, sondern an der Dunkelheit des Kittes, mit welchem man die Lehren des Nazareners zu einem Gebäude verband, unter welchem den menschlichen Leidenschaften ein weiterer Spielraum geboten war.
Die christliche Nächstenliebe findet ihren Gipfelpunkt in der Feindesliebe. »Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er lässet seine Sonne aufgehen [119] über Gute und Böse und lässet regnen über Gerechte und Ungerechte,« lehrt und begründet Christus diese Feindesliebe, welche den höchsten Grad menschlicher Selbstüberwindung und Herzensfreundlichkeit voraussetzt. Einer Zuneigung, einer Anhänglichkeit, ja einer gewissen Art von Liebe ist auch das Thier fähig; aber ein feindliches Wesen zu lieben und es mit Wohlthaten zu überschütten, dazu ist nur der Mensch in seiner sittlichen Vollkommenheit fähig.
Zwar mag es schwer sein, auch den Mantel hinzugeben, wenn Einer den Rock nimmt, oder auch den linken Backen zu bieten, wenn man einen Streich auf den rechten bekommt, aber diese Selbstbeherrschung dem Feinde, dem Widersacher gegenüber, ist die beste Waffe, ihn zu schlagen und zu besiegen, wie ja auch Christus sagt: »Auf daß du feurige Kohlen auf sein Haupt sammelst.« David hatte seinen größten Feind, den König Saul, mehrere Male in seiner Gewalt und konnte ihn tödten; er besiegte ihn durch Edelmuth und hatte es in der Folge nicht zu bereuen. So ist es auch im gewöhnlichen Leben. Nichts ringt dem Hasse und Zorne die Waffe so schnell aus der Hand, wie die Sanftmuth, welche »nicht wieder schilt, wenn sie gescholten wird, sondern es dem anheimstellt, der da recht richtet.«
Eine Liebe, welche sogar sich auf den Feind richtet und also sich über die ganze Menschheit erstreckt, kann nicht gleichzeitig über alles Dasjenige hinweg gehen, was mit der Menschheit in Verbindung oder in Beziehung zu ihr steht. Das dem Menschen nächststehende Geschöpf ist das Thier. Den durch ihren Nutzen hervorragendsten unter ihnen hat er die Erlaubniß gegeben, in seiner unmittelbaren Nähe zu leben, und verwendet auf sie eine Sorgfalt, wie sie ihrem Werthe für ihn entsprechend und erforderlich ist. Sie leben unter seinem Dache, nehmen Theil an seiner Haushaltung, gehören zu seiner Wirthschaft, sind Hausthiere geworden. Bei diesem unmittelbaren Zusammenleben und dem für ihn daraus hervorgehenden Vortheile muß er ihnen seine Theilnahme widmen.
Zwar stehen auch hier Liebe und Egoismus eng neben einander; aber in tausend Fällen weiß doch die erstere sich über den letzteren zu erheben, und gar manches Thier, welches für seinen Herrn gearbeitet hat, genießt Pflege und Gnadenbrod auch zu der Zeit, in welcher seine Kräfte nicht mehr ausreichen für die Anstrengungen der Arbeit.
Auch die heilige Schrift hat sich des Thieres angenommen. »Du sollst dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verstopfen,« gebietet [120] Moses, und das Wort »von dem Sehnen der todten Kreatur« will das Interesse des Menschen sogar noch weiter ausdehnen.
Das Thier hat seine Berechtigung nicht nur zum bloßen Leben, sondern auch zum persönlichen Wohl befinden, und hier ist es, wo uns eine Erscheinung entgegentritt, der wir unsere Anerkennung unmöglich versagen können. Soweit die Bildung und Gesittung ihre Flügel über die Länder der Erde schlägt, so weit begegnen wir auch Vereinigungen von Männern, welche es sich zur Aufgabe gemacht haben, die unter der Grausamkeit ihrer Herren leidenden Thiere in Schutz zu nehmen, und sogar die Gesetzgebung hat sich dieses Gegenstandes bemächtige, um dieser Humanität den gehörigen Nachdruck zu geben und die wehrlosen Geschöpfe vor der Brutalität ihrer Besitzer zu schützen.
Nicht zu verwechseln mit der Liebe zu den Thieren ist die Liebhaberei für gewisse Arten derselben. Zwar hat diese ihre vollständige Berechtigung in den Verhältnissen und Neigungen des Menschen, aber gar leicht geht sie über die ihr zustehenden Grenzen hinaus und gewährt dem Thiere eine Rücksicht und Aufmerksamkeit, welche sie dem Nebenmenschen verweigert. Besonders ausgeprägt finden wir sie bei solchen Personen, welche Ursache zu haben glauben, auf den näheren Umgang mit Menschen zu verzichten, und in Folge dessen ihre Theilnahme niedriger stehenden Geschöpfen zuwenden, bei alten Jungfern und Junggesellen oder Wittwern und Wittwen. In Folge dessen befindet sich ein Affe, Papagei, ein Hund oder eine Katze oft in einer Lage, wie sie sich dem bravsten und fleißigsten Arbeiter nicht bietet, und tausende von armen Kindern wird nicht die Pflege und Wartung geboten, wie sie ein solches Thier genießt.
Eigentlich ist die Liebe zum Thiere schon eine Art der Liebe zur Natur obgleich sich diese letztere lieber gegen die Gesammtheit der irdischen Erscheinungen richtet als gegen einzelne Gegenstände. Thut sie es dennoch, so sind von ihr meist die Pflanzen bevorzugt, und diese Neigung hat neben ihrem ästhetischen Character noch den Vorzug, daß sie das Leben verschönt und die Nebenmenschen nicht in ihrem Rechte kränkt. Es liegt etwas Zartes und ungemein Rührendes in dem Bestreben, den Keim eines Pflanzenlebens zur Entwickelung zu bringen und in der Tiefe des schwellenden Kelches das geheimnißvolle Walten und Wirken einer duftenden Blumenseele zu belauschen.
Freilich bemächtigt sich der Kinder Flora's auch die Liebhaberei, und [121] es ist vorgekommen, daß z.B. für eine einzige Tulpenzwiebel ein ganzes Vermögen gegeben wurde; doch fällt diese Liebhaberei wenigstens Andern nicht lästig und hat Jeder seinen Schaden selbst zu tragen.
Von einer Liebe zu den Mineralien läßt sich wohl nicht sprechen, da man es hier nur mit der Liebhaberei des Sammlers, dem Interesse des Forschers oder der Verschwendung zu thun hat, die sich mit Steinen schmückt, welche nur einen künstlichen, nicht aber einen reellen Werth haben. Wenn der Sammler unter tausend Mühen und Beschwerden nach irgend einem Gegenstande sucht und sich glücklich schätzt, ihn endlich gefunden zu haben, so ist dies nicht eine Liebe zu diesem einzelnen Dinge, sondern die Liebe zur Wissenschaft, welche ihn zu solchen Anstrengungen veranlaßt.
Diese Liebe ist etwas rein Geistiges und einer der kräftigsten Hebel für die Bildung und Entwickelung des Menschengeschlechtes. Sie ist es, welche den Menschen zu den größten Mühen und Arbeiten, zu den ungeheuersten Entsagungen und Entbehrungen befähigt, um mit Hülfe seiner geistigen Errungenschaften ihn zur Erfüllung seiner Aufgabe zu führen: Herr zu sein über die Erscheinungsformen unseres irdischen Planeten. Sie hat die größten Geister entwickelt, die berühmtesten Männer großgezogen und ist eine Bürgschaft dafür, daß in dem Ringen nach den uns gedeckten Zielen kein Stillstand eintreten werde.
Eine ihr an Begeisterungsfähigkeit gleiche Schwester ist die Liebe zur Kunst.
Soweit wir die Geschichte kennen, hat es die Kunst ursprünglich nur mit inneren, höheren, besonders aus dem religiösen Bewußtsein hervorgegangenen Anschauungen und Empfindungen zu thun und breitet sich erst allmälig über das übrige Leben aus. Sie ist demnach als eine Sprache der Menschen zu Gott und von göttlichen Dingen von vornherein auf eine selbstständige, höhere, von dem gewöhnlichen Leben unabhängige, wenn auch damit in Verbindung stehende Ausdrucksweise angewiesen.
Der Trieb, welcher die Kunst allmälig zu ihrer Entwickelung führt, ist das Bestreben einerseits nach möglichster Uebereinstimmung des Zeichens mit dem, was durch dasselbe dargestellt werden soll, also nach Wahrheit, andererseits nach möglichster Vollkommenheit und gesetzmäßiger Ausbildung dieses Zeichens. Die Gesetze dieser Ausbildung bestehen theils in besonderen Vorschriften, theils in Vorbildern, wie sie uns vorzüglich die Natur bietet.
[122] Die auf diese Weise in die Augen fallende innige Beziehung zwischen Kunst und Natur kann die ursprüngliche Bestimmung der Ersteren so verrücken, daß es ihr nicht sowohl um die Darstellung innerer als vielmehr um die Wiederhervorbringung äußerer Anschauungen zu thun ist, also daß sie, statt selbst zu schaffen, nur Geschaffenes nachbildet. So wird die Kunst Nachahmerin der Natur, was sie ihrer ursprünglichen und allgemeinen Bestimmung nach nicht ist.
Zu dem Nachbilden gehört Talent, zum freien Schaffen aber Genie; das Erscheinen und Verschwinden Beider, des Talents und Genies, ist unabhänig von der menschlichen Willkür und steht in der Regel mit dem ganzen politischen und moralischen Zustande einer Nation im innigsten Zusammenhange.
singt Schiller in seinem Festgesange an die Künstler, und diese Abhängigkeit der menschlichen Würde von dem Stande der Kunst giebt der Liebe zu der letzteren eine so hohe Bedeutung. Stets haben sich daher auch die edelsten der Herrscher und die einsichtsvollsten Aristokraten des Kapitales der Künste angenommen und die Geschichte hat gar manchen Mäcen zu verzeichnen, der durch Beschirmung der Künstler sich um sein Volk, ja um die ganze Menschheit hoch verdient gemacht hat.
Die Beschäftigung mit der Kunst ist eine der edelsten und schönsten Berufsarten, und wie sie mit Liebe getrieben werden muß, so gehört diese Liebe auch zu jedem andern Berufe. Ohne Berufsliebe giebt es keine rechte Freudigkeit zum Schaffen, und wo diese Freudigkeit fehlt, da mangelt es an dem gehörigen Fleiße, der erforderlichen Umsicht, der rechten Ausdauer und also auch an dem wünschenswerthen Erfolge. Darum sollte Niemand zu einer Beschäftigung gezwungen werden, für welche er sich nicht selbst freiwillig entscheidet, und jeder Vater sollte wohl und sorgsam untersuchen, zu welchem Berufe sein Sohn die rechte Lust und Liebe empfindet; denn diese Liebe ist eine Stimme, die man nie ungestraft überhört.
Trotz der geistigen Freiheit und Selbständigkeit des Menschen übt die [123] Gewohnheit einen außerordentlichen Einfluß auf ihn aus, und in Folge dessen wird es ihm schwer, sich von den Erscheinungen und Verhältnissen loszureißen, unter denen er geboren wurde und seine Jugend verlebte. Die Heimath ist es, welche eine gewaltige Anziehungskraft selbst noch auf den gereiften Mann ausübt, und die Liebe zu ihr kann, wenn die Sehnsucht nicht gestillt wird, zur Krankheit, ja sogar zu langsamem Siechen und Hinsterben führen.
»Herz, mein Herz, warum so traurig?« fragt der Sänger sein heimwehkrankes Herz; in hunderten von Liedern hat die Sehnsucht nach der Heimath Ausdruck gefunden, die dem Wanderer in der Fremde keine Ruhe läßt, bis er den Schritt heimwärts lenkt, um dort entweder zu gesunden oder Ruhe zu finden, wie Geibel in seinem »Zigeunerknaben« sagt:
Wie stark muß dieses Weh sein, welches unempfindlich macht selbst gegen den Verlust des höchsten materiellen Gutes, welches der Mensch besitzt – desLebens! An dasselbe fühlt er sich mit tausend und abertausend Banden geknüpft, und mit Aufbietung aller der ihm verliehenen Kräfte sucht er es sich zu erhalten und zu verlängern. Nicht allein ihrer Schmerzen wegen, sondern vorzüglich der Gefahr wegen, in welche sie das Leben bringt, ist die Krankheit so gefürchtet, und keine Sünde ist so groß, und kein Verbrechen wird so sehr verabscheut und von der weltlichen Gerechtigkeit so streng geahndet, wie das Verbrechen an dem Leben seines Nächsten. Weil sie uns das Leben schenkten und uns befähigten, dasselbe zu erhalten, widmen wir den Eltern die höchste Verehrung und Dankbarkeit; wir zittern, wenn eins unserer Lieben der Hülfe des Arztes bedarf und betreten die Stätten, wo sich Hügel an Hügel reiht, mit einem Gefühle heiligen Grauens. Wie groß muß also die moralische Versunkenheit, die Hoffnungslosigkeit oder Verzweiflung eines Menschen sein, der die Liebe zum Leben verleugnet und Hand an sich selbst legt! Doch auch hier hat Keiner das [124] Recht, zu richten, sondern nur die Pflicht zur herzlichsten Theilnahme. Die Humanität ringt sich immer mehr los von veralteten, pharisäischen Anschauungen, um auf die Stufe der Entwickelung zu gelangen, wo es für die Beurtheilung des Bruders nur einen Maaßstab giebt: Die Liebe. –
Der denkende Mensch ist gewöhnt, alles an ihn Herantretende zu definiren und nach seiner Bestimmung kennen zu lernen, und dieses Streben ist ein sehr fruchtbringendes, denn nur dann, wenn ein Zweck erkannt wird, ist er auch zu erreichen. Wo dieser Zweck so klar und offen daliegt, wie bei der Liebe, scheint die Frage nach ihm überflüssig zu sein, und doch können wir uns derselben nicht entziehen, weil ein großer Unterschied zwischen einem bloßen »Wissen von« und einer genauen und klaren, übersichtlichen Kenntniß ist.
Welchen Zweck hat die Liebe?
Die Liebe an und für sich ist Selbstzweck; sie ist ihr eigenes Gesetz, ist auch ihr eigener Richter. Was sie thut, beginnt sie aus eigenem, freiem Antriebe und läßt sich auch in der Fortführung durch nichts Anderes beeinflussen. Sie ist nur Gefühl, steht mit dem Denken in keiner näheren Verwandtschaft, hat ihre eigene, eigenthümliche Logik und handelt vollständig unabhängig von dem Zwange, welcher in den Worten Prämisse und Conclusion zu finden ist. Was Wunder, wenn man sich gewöhnt hat, ihr die nöthige Urtheilskraft abzusprechen und sie in dieser Beziehung in Unmündigkeit zu erklären:
»Die Liebe ist blind.«
Dieses Wort hat durch die Gewohnheit der Anwendung fast eine unangefochtene Legalität erlangt und scheint auf den ersten Blick auch eine nicht anzuzweifelnde Wahrheit zu enthalten, und doch läßt sich gar Manches dagegen sagen.
Die Liebe als Gefühl handelt instinctiv; sie berechnet nicht. Sie gleicht dem Vogel, welcher bei dem Nahen des Herbstes die Schwingen schlägt, welche ihn nach dem Süden tragen sollen. Er hat keinen Kalender, keine astronomischen und chronologischen Tabellen; aber er kann sich mit größerer Sicherheit auf seine Ahnungen verlassen, als wir scharfdenkenden [125] Menschen auf unsere Witterungsregeln und meteorologischen Scharfsinnigkeiten.
So ist's auch mit der Liebe. Ihr ist es nicht gegeben, zu addiren oder zu dividiren, und darum kann sie sich auch nie verrechnen. Sie ist göttlichen Geschlechtes und kann, so lange sie diese Abstammung nicht verläugnet, sich nie irren. Die Liebe, die echte, wahre, reine Liebe ist nie blind, sondern gleicht der Seherin, deren Auge nicht nur Vergangenes und Gegenwärtiges, sondern auch die Zukunft umfaßt.
Sobald aber die Tochter des Himmels mit den irdischen Schwächen in Berührung tritt, sich von Rücksichten leiten läßt, welche eine Berechnung voraussetzen, oder den physischen Trieben eine zu große Gewalt über sich einräumt, so wird aus der infalliblen Herrscherin eine Sclavin irdischer Leidenschaften oder Rücksichten und dann, ja dann geht ihr die Untrüglichkeit verloren und sie geräth auf Wege, welche sie weit ab von ihrem Ziele, von ihrer Bestimmung führen.
Welches ist denn nun diese Bestimmung der Liebe?
Es ist ganz dieselbe und keine andere, als die Bestimmung jedes einzelnen Menschen sowohl, als auch des ganzen Menschengeschlechtes, die Bestimmung jeder einzelnen Naturerscheinung als auch diejenige der ganzen Schöpfungswelt: der Zweck glücklich zu sein.
Mag man sich die Welt entstanden denken durch den Willen eines allmächtigen Gottes oder in Folge eines großen, Alles dominirenden Naturgesetzes, mögen Glaube und Zweifel in dieser Beziehung ein ander noch so schroff gegenüberstehen, in Einem treffen sie doch zusammen, in der festen Ueberzeugung, daß der einzige Zweck des Bestehenden derjenige des Glückes sei. Nur muß man hierbei gar wohl die Frage aufwerfen, was man unter »Glück« denn eigentlich zu verstehen habe?
Die Ansichten hierüber sind so verschieden, daß fast jeder einzelne Mensch seine eigene Meinung hat und seine eigenen Ansprüche macht. Er hat sich irgend ein gewisses Ziel gesetzt, irgend ein bestimmtes Bild des Wohlbefindens entworfen und nennt nun alles Das, was ihn diesem Ziele zuführt, einen Grundzug dieses Bildes ausmacht, Glück, ohne zu beherzigen, daß der Mensch mit seinen schwachen Sinnen so oft der Täuschung unterworfen ist und in Folge dessen Wünsche hegt, deren Erfüllung ihm schadet, oder Befürchtungen unterhält, die zu seinem Wohlsein in divergirender Linie stehen.
[126] Zunächst ist es eine unumstößliche Wahrheit, daß ein Glück bei völliger Abgeschlossenheit, in einem gleichsam ummauerten Einzelleben eine vollständige Unmöglichkeit sei. Der Mensch ist, wie schon Herodot sich ausdrückt, ein »politisches Thier«, das will sagen, ein Wesen, welches nur im Zusammenleben mit Seinesgleichen seine Bestimmungen erreichen, also glücklich zu werden vermag. Das menschliche Glück, das menschliche Wohlbefinden ist also nur dann ein solches, wenn es mit dem Wohlbefinden und dem Glücke der Menschheit als Großes und Ganzes nicht im Widerspruche steht, und indem die Aufgabe des Menschen, glücklich zu sein, ihn durch die Neigung seines Herzens zur freundlichen Verbindung mit Anderen führt, legt sie ihm gewisse Bedingungen auf, welche alle darauf zielen, daß das Wohlsein der Gesellschaft nicht durch das vermeintliche Wohlsein des Einzelnen bedroht oder gar gestört und beschädigt werde.
Um glücklich sein zu können, hat jeder Mensch die Heilighaltung gewisser Rechte zu beanspruchen, welche, weil sie der ganzen Menschheit zustehen, allgemeine Menschenrechte genannt werden. Diese Rechte, welche eigentlich das Naturrecht ausmachen, kommen einem Jeden vermöge seiner menschlichen Natur zu und sind aus derselben begründet, also unveräußerlich. Diese »angeborenen Vernunftrechte«, welche an allen Orten, zu allen Zeiten und ohne alle Voraussetzung, also auch ohne Gesetz, Vertrag etc. ihre volle Geltung haben müssen, sind verschieden von den angeborenen Staatsbürgerrechten, bei denen schon ein staatliches Zusammenleben vorausgesetzt werden muß. Sie sind:
1., das Recht der Persönlichkeit, nach welchem jeder Mensch verlangen kann, daß man ihn nicht als Waare oder als bloßes Mittel gebrauche und wider seinen Willen zu etwas bestimme, was gegen seine Aufgabe als Glied der Menschheit ist, sondern ihn als vernünftiges und selbstdenkendes Wesen behandle.
2., das Recht der äußeren Freiheit, das dem Menschen gestattet, unbeschränkt nach seinem eigenen Willen zu handeln, sofern er nichts Pflichtswidriges vollbringt. Er darf daher seine körperlichen und geistigen Kräfte frei entwickeln und gebrauchen, die Mittel zur Erhaltung seines Lebens und zur Befriedigung seiner Glückseligkeit in Bewegung setzen und einem jeden Andern Widerstand leisten, der ihn zu unrechtmäßigen Handlungen verleiten oder in einer auf rechtlichem Grunde basirenden Thätigkeit hindern und schädigen will.
[127] 3., das Recht des freien Gebrauches der Sachen, nach welchem er Thiere und leblose Dinge nach seiner Willkür und zu seinen Zwecken verwenden darf, so lange er nicht die Rechte Anderer kränkt oder sich eines pflichtwidrigen Gebrauches schuldig macht.
In diesen allgemeinen Menschenrechten ist auch mit enthalten: das Recht der Selbsterhaltung, also auch der Selbstvertheidigung, das Recht der Vervollkommnung, der religiösen Glaubens- und Gewissensfreiheit, das Recht auf natürliche Ehre und guten Namen, auf die Sprache und auf die Wahrheit. Zur Ausübung dieser Rechte muß der Mensch allerdings eine menschliche Gestalt unverkennbar an sich tragen, indem er sich nur in dieser Gestalt als wirklicher Mensch offenbaren und darstellen kann. Ebenso muß er durch die Geburt schon in die menschliche Gesellschaft eingetreten sein, denn der noch Ungeborene ist noch kein wirklicher, vollendeter Mensch, und es kann also von dem Rechte noch Ungeborener nur dann die Rede sein, wenn man sie als zur Geburt Bestimmte betrachtet. Uebrigens ist zur Ausübung der Menschenrechte eine Erkenntniß derselben nicht erforderlich, indem auch der Unmündige, der Blödsinnige ein Mensch ist.
Wie jeder einzelne Mensch, um glücklich zu sein, seine persönliche Menschenwürde zu behaupten hat, so muß er dieselbe auch an seinen Nebenmenschen achten, wenn nicht das Wohlbefinden der Gesellschaft gestört und das »Glück der Menschheit« zur Illusion werden soll.
Bei dem angeborenen Triebe aber des Menschen, vor allen Dingen zuerst und vorzugsweise auf sich selbst, auf seinen eigenen Vortheil zu sehen, seine eigenen Interessen zu wahren und sie allen anderen vorauszusetzen, wäre diese Berücksichtigung unmöglich und das Wohl des Nächsten und der Gemeinschaft gefährdet, wenn nicht die Vorsehung eine Maaßregel getroffen hätte, welche ein unverkennbares Zeichen, ein unumstößlicher Beweis der göttlichen Weisheit ist.
Der Mensch muß durch mächtig auf ihn einwirkende Verhältnisse gezwungen werden, sein Wohl dem Wohle des Ganzen unterzuordnen, muß gezwungen werden, die Rechte Anderer achten und berücksichtigen zu lernen. Aber dieser Zwang darf nicht ein drohender, ernster und strenger, sondern muß ein nach-und rücksichtsvoller, ein freundlicher und milder sein. Er muß in dem wohlthätigen Gewande der Erziehung an das Kind herantreten und dasselbe nach und nach geschickt machen, ein Mitglied der Gemeinde, ein Bürger des Staates, der Erde zu werden. Und zu diesem [128] Zwecke hat Gott eine Institution eingesetzt, welche die segensreichste des ganzen Erdenlebens ist und nicht nur in ihrem Schooße eine Fülle des reinsten, reichsten und süßesten Glückes birgt, sondern von dieser Fülle auch allen anderen Beziehungen des Erdenlebens reichlich mittheilt: die Familie.
Sie besteht in der Gemeinschaft von Vater und Mutter, oft auch von Großeltern, Söhnen und Töchtern und sonstigen Blutsverwandten, welche durch den Zwang der Liebe oder der Verhältnisse zu einem engen Zusammenleben geführt worden sind.
Der Vater, der Mann ist das Haupt der Familie; er regiert die Glieder derselben, ist ihr natürlicher und nächster Vormund und Richter, vertritt sie in jeder Lage nach außen und hat Alles zu thun, was ihr Wohl begründen, befördern und zu erhalten vermag.
Die Mutter ist die Seele des Ganzen, mildert mit sanfter Weise die Strenge des Hausherrn, sorgt für Ordnung, Reinlichkeit und Gemüthlichkeit und richtet ihre Thätigkeit vorzugsweise auf das Innere sowohl der Häuslichkeit als auch der Personen, die sie die Ihrigen nennt.
Unter der Familie im weiteren Sinne sind alle Angehörigen des Hauswesens, also auch Knechte, Mägde, überhaupt die Bedienung und das Gesinde, wohl auch alle diejenigen Personen zu verstehen, welche vorübergehend, vielleicht als Gast, Zutritt in den sonst enger geschlossenen Kreis gefunden haben.
Je zahlreicher dieser Verband ist, desto mehr wird jeder Einzelne geübt, sich in die Eigenthümlichkeiten des Andern zu schicken, ihren Ansichten und Meinungen Rechnung zu tragen, seiner Ueberlegenheit sich unterzuordnen oder die eigenen, wohlberechtigten Ansprüche gegen ihn geltend zu machen und zu vertheidigen. Dies geschieht bei der innigen Zuneigung, mit welcher naturgemäß sich Alle umfassen, auf freundlichem Wege und in einer Weise, welche Niemandem wehe thut. Natürlich ist hierbei vorausgesetzt, daß die Eltern ihren heiligen Verpflichtungen gewachsen sind und die Entwickelungen des inneren Lebens der zur Familie gehörigen mit reger, ernster und unausgesetzter Theilnahme überwachen. Dann wächst das Reis der Verwandtschaft zu einem mächtigen, kräftigen und gesunden Baume empor, welches duftende Blüthen trägt, reiche Früchte bringt, seinem Gärtner Ehre macht und den stärksten Stürmen trotzt, und die [129] Familie wird im wahrhaften Sinne das, was sie sein soll: eine Vorbildungsschule für die Gemeinde, den Staat und die ganze menschliche Gesellschaft.
Aus der Verbindung mehrerer Familien entsteht die Gemeinde, nämlich die Dorf- oder Stadtgemeinde. Im weiteren Sinne versteht man unter Gemeinde eine Genossenschaft Mehrerer zu einem gemeinsamen, fortdauernden und vom Staate gebilligten Zwecke.
Als juristische Person steht die Gemeinde im Allgemeinen einer physischen Person gleich, erwirbt und wird verbindlich wie diese, soweit ihr nicht ein Gesetz oder die Natur entgegensteht. Als Gesellschaft hat sie alle Rechte und Befugnisse, welche aus der Natur und dem Zwecke ihrer Verbindung fließen und ist in mancher Hinsicht gesetzlich sogar noch bevorrechtet, indem sie z.B. die Rechte der Minderjährigkeit genießt.
Zur Gründung einer Gemeinde sind wenigstens drei Personen erforderlich; doch ist außerdem die Bestätigung der höchsten Gewalt im Staate nöthig, und deshalb beruht sie eigentlich auf einem Privilegium.
Der Inbegriff der dem einzelnen Gemeindeberechtigten zustehenden politischen und Ehrenrechte, eben so der nutzbaren und sich auf das Vermögen beziehenden Rechte heißt »Gemeinderecht.« Der bloße Aufenthalt in der Gemeinde oder ein Grundbesitz in derselben giebt die Rechte noch nicht. Daher haben die in der Gemeinde Angestellten (Pfarrer, Lehrer, Forstbeamte) in der Regel kein Gemeinderecht, wenn nicht besondere Gesetze oder Verträge, Verjährung und Herkommen ihnen solches geben.
Auf den Dörfern haben meist nur die Besitzer einer Ackerwirthschaft Gemeinderechte, Häusler und Miethlinge sind davon ausgeschlossen. Die Bestimmungen über die Verfassung, Verwaltung und Organisation der Gemeinde, über die Erwerbung des Gemeinderechtes, über die Rechte und Pflichten der Gemeinde und ihrer Glieder, über das Gemeindevermögen, über die Unterordnung der Gemeinden unter die Aemter etc. enthält die Gemeindeordnung.
Eine Gemeinde kann nur für den vom Staate anerkannten Zweck handeln. Handlungen gegen denselben machen nicht die Gemeinde als solche, sondern die einzelnen Individuen verbindlich. Die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten geschieht nach den gesetzlichen Vorschriften oder nach den herkömmlichen Vorschriften durch die Gemeindevorsteher. Diese haben das Recht, ein Gemeindsiegel zu führen und Versammlungen zum Zwecke der Beschlußfassung anzuberaumen. Gewöhnlich werden sie von [130] der Gemeinde gewählt, doch ist der Modus hierzu und auch die Bestätigung der Gewählten durch die höheren Behörden nach den einzelnen Staaten verschieden, und in manchen Ländern ernennt der Grundherr oder die Regierung die Gemeindevorsteher.
Oft sind diese Letzteren auch mit der niederen Gerichtsbarkeit und Polizei beauftragt, obschon dies nicht im Wesen ihres Amtes liegt. Besonders liegt ihnen die Verwaltung der Gemeindegüter ob, deren Genuß allen Gemeindegliedern zusteht. Der Staat hat, obwohl sie nicht als Staatsgüter anzusehen sind, doch ein Aufsichtsrecht bei deren Erwerbung, Verwaltung und Veräußerung.
Ferner haben sie die Gemeindekosten, also die Abgaben und Leistungen für die Gemeinde mit Beirath der Gemeindeglieder zu vertheilen. Ebenso liegt ihnen die Regulirung und Verwaltung der Gemeindeschulden ob. Zunächst haftet das Gemeindevermögen für die Schulden; doch wird auch das Privatvermögen der einzelnen Glieder pflichtig, wenn die Schuld durch solche Bedürfnisse veranlaßt wurde, zu deren Bestreitung die einzelnen Glieder verhältnißmäßig hätten beitragen sollen, w.z.B. die Kriegsschulden.
In gewissen Zeiträumen, meist jährlich, haben die Gemeindevorsteher Gemeinderechnung abzulegen, d.h. Berechnung aller Einnahmen und Ausgaben, die jährlich bei einer Gemeinde vorkommen, sowie Uebersicht über den Stand des Gemeindevermögens zu geben. Gemeinde- oder Gemeinheitstheilungen finden nur an bisher unbenutzten Gemeindegütern in Folge eines mit Stimmenmehrheit gefaßten Beschlusses statt.
Die Gemeindeverfassung gründet sich auf die Gemeindeordnung, auf das Herkommen, auf Vergleiche, auf Rezesse, sowie auf allgemeine Landesgesetze und endlich auf das gemeine Recht, wo dasselbe nicht ausdrücklich aufgehoben ist. Durch den Tod aller Mitglieder, oder mit der Aufhebung von Seiten des Staates, oder durch freiwillige Auflösung von Seiten der Mitglieder hört die Gemeinde auf, insofern nicht für Letztere besondere Gesetze und Bestimmungen entgegenstehen.
Aus der Vereinigung von Gemeinden entsteht derStaat.
Der Staat besteht in der Vereinigung von freien Menschen auf einem bestimmten Landesbezirk unter gemeinschaftlicher Obergewalt zum Zwecke eines festen Rechtszustandes. Von dieser Vereinigung sind wohl zu unterscheiden diejenigen des Stammes, des Volkes und der Nation.
[131] Unter einem Stamme versteht man die Vereinigung von Familien, welche einen gemeinschaftlichen Stammvater haben, und es war die Eintheilung nach Familien und Stämmen in den ältesten Zeiten im Morgenlande die vorherrschende und ist es auch heute noch; auch im Abendlande begegnen wir ihr. Besonders deutliche Kunde von ihr bekommen wir in der Geschichte des Volkes Israel, der Griechen und Römer und ebenso auch der alten Germanen.
Die Vereinigung der Stämme bildet eine Nation. Sie wird zu einem Ganzen gemacht durch ein inneres, aus der Menschennatur hervorgegangenes und durch Geburt und gemeinschaftliche Abstammung sich ziehendes Band, während das Volk, wenigstens anscheinend, sich zufällig bildet. Dieses verbindende Princip nennt man Nationalität, welche nicht mit der Volksthümlichkeit verwechselt werden darf.
Das nationale Leben ist als eine zweite Steigerung des individuellen menschlichen Lebens anzusehen, dessen erste Comparation das Familienleben ist. Indem Familien sich in einer und derselben Wohnstätte der Erdoberfläche zusammenfinden, oder in späteren Generationen die Bande des Familienlebens lockerer werden, bilden sich in der einfachsten Weise Nationen, die dann, wenn ihr Wohnplatz ihnen nicht mehr genügt, in Nomadenstämmen umherziehen und, wo sie hinlängliche Weide für ihr Vieh und fruchtbaren Boden finden, sich ansiedeln und nun erst, unter immer vielfacher werdender Verschlingung der gesellschaftlichen Bande, zur Höhe des Nationallebens gelangen.
Daß nach dem friedlichen Principe der Natur Menschenvereine zu Nationen sich bilden sollten, ersehen wir deutlich aus den Uebereinstimmungen, welche Menschen, die lange innerhalb einer Naturgrenze zusammenleben, erhalten, wodurch die Natur ihnen gleichsam ihren Stempel aufdrückt. Hierher gehören die als Nationalphysiognomie bezeichneten eigenen Gesichtszüge, die z.B. so entschieden bei den Chinesen hervortreten, welche unter allen größeren Völkerschaften am wenigsten aufgehört haben, Nation zu sein.
Die von der Natur verliehene Nationalbildung beschränkt sich aber nicht allein auf die Gesichtszüge, sondern verbreitet sich auf den ganzen Körper, und selbst der Geist nimmt an dieser Uebereinstimmung Theil. In Folge der natürlichen Geistesentwickelung bildet sich eine Nationalsprache, Nationalreligion, Nationalsitten aller Art, überhaupt ein Nationalcharacter. [132] Alles dies ändert sich im Zeitfortgange, da eine Nation, von innen und außen beeinträchtigt, nach und nach ihren früheren Verhältnissen entzogen und in neue versetzt wird; durch diese Veränderung der Verhältnisse bildet sich auch eine Veränderung der Sitten und des Characters aus, und es gestaltet sich mit der Zeit ein ganz anderes Nationalleben. Nur selten wird es eine Nation geben, welche ihre Eigenthümlichkeiten selbst in der Zerstreuung über alle Länder der Erde so treu bewahrt hat, wie die Juden.
Wie aber ein Mensch im individuellen Leben sein Heil dann am wenigsten verfehlt, wenn er der Natur treu bleibt und ihren Gesetzen Folge leistet, so wird auch die Wohlfahrt einer Nation am gesichertsten bleiben, wenn ihre Gesetzgebung die gebotenen Eigenthümlichkeiten berücksichtigt und ebenso auch die Berechtigungen anderer Nationalitäten im möglichsten Umfange anerkennt. In dem Maaße, als dieses Ziel verfolgt wird, wird auch der Patriotismus und die Vaterlandsliebe angeregt und immer fester begründet, und in diesem beiden besteht ja der eigentliche innere Haltepunkt eines Nationallebens.
Während der Begriff »Nation« eine natürlich verbindende Einheit im Sinne hat, zielt der Begriff »Volk« mehr auf die Menge der in ihm enthaltenen Bestandtheile. In Folge der Ungleichheit der individuellen Anlagen und der Geneigtheit der Menge, sich stärkeren Naturen unterzuordnen, treten inmitten der Nation einzelne mit überlegener Kraft Begabte hervor, um die Schwäche der Anderen zur ihrem Nutzen und für das Interesse ihrer Familie, ihrer Nachkommen auszubeuten. Es gruppirt sich in Folge dessen eine Vielheit um den einzelnen Hervorragenden, und es entsteht durch die Abzweigung von der Nation – ein Volk.
Nach der umfassenden Bekanntschaft, welche in neuerer Zeit die Menschen in ihrem gleichzeitigen Zusammenleben mit einander gemacht haben, stellen sie sich trotz aller Abzweigung doch durchaus als eine Gesammtheit dar. Ueberall, wo jetzt Menschen zu einander gelangen und wo der von ihnen betretene Boden nur nicht allzu dürftig und unfruchtbar ist, finden oder bilden sich Völker, deren Einheitsprincip in einer Staatsverfassung besteht, in welcher Einzelne herrschen, während die Menge gehorcht.
Diese sämmtlichen Vereine haben Beziehungen zu einander, wo nicht durch Verträge und Repräsentationen, so doch wenigstens direct oder indirect auf andere Weise, durch den Handel, die Wissenschaft etc. Diese allgemeine Beziehung führt auch den Begriff »Völkerleben«, in dem das Menschengeschlecht [133] nicht nur durch Uebereinstimmung der Naturformen, sondern auch durch ein äußeres Band ein großes Ganzes bildet.
Wenn wir oben sagten, daß der Grundgedanke eines jeden Staates ein fester, geordneter Rechtszustand ist, so ist der Zweck dieses auf den Gesammtwillen, dem sich der Einzelwille unterordnen muß, beruhenden Rechtszustandes, also der Staatszweck, die Sicherheit der Person, des Eigenthums, der Bildungs-und Entwickelungsfreiheit. Ohne Staat würde die Willkür und Gewalt des Einen den Andern an dem Gebrauche seiner Rechte hindern, und aus diesem Grunde ist der Staat vernünftig und sittlich nothwendig. Er findet sich am frühesten bei Ackerbau und Viehzucht treibenden Völkern.
Betrachtet man aber die Entstehung des Staates von der rechtlichen und idealen Seite, so legt man ihm den vernünftigen Gesammtwillen, einen Staats- oder Staatsgrundvertrag, als Grundlage unter, indem man annimmt, daß im Augenblicke des staatlichen Zusammentretens die Glieder desselben sich stillschweigend zu einer rechtlichen Ordnung unter gemeinschaftlicher Obergewalt vereinigt haben. Jenen Gesammtwillen, oder die ursprüngliche Machtvollkommenheit des Volkes nennt man Souverainetät, und in Folge dessen kann also auch von einer Volkssouverainetät die Rede sein. Diese aber so gedacht, als ob die Majestät im Volke liege und von demselben die höchste Regierungsgewalt ausgeübt werden könne, ist ein Unding. Irriger Weise aber wird oft unter Souverainetät der Inbegriff der Befugniß der Regierung verstanden. Von dieser muß jedoch angenommen werden, daß sie durch den Staatsgrundvertrag in die Hand des Regenten gelegt worden ist.
Die Art und Weise nun, nach welcher ein Staat eingerichtet worden ist, bestimmt die Staatsgrundformen oder Regierungsformen, und das Resultat derselben wird Staatsverfassung oder Staatsorganismus genannt. Die Form, unter welcher eine Regierung verwaltet wird, also die Regierungsform, kann sein: 1., monarchisch, wo die Regierung in den Händen nur Eines liegt; sie zerfällt in die erbliche und Wahl-Monarchie und ist entweder unumschränkt (absolut) oder constitutionell. 2., republikanisch, wo dann die Leitung in den Händen Mehrerer liegt; sie ist entweder aristokratisch oder demokratisch; die Ochlokratie, d.h. die Herrschaft des Pöbels, kann auf die Dauer nicht bestehen, indem das bessere Princip stets die Oberhand gewinnen muß.
[134] Beruht die Staatsverfassung auf einem ausdrücklichen Gesetze oder Vertrage, so heißt dieses Gesetz oder dieser Vertrag Staatsgrundgesetz oder Staatsgesetz, obgleich man unter der letzteren Benennung oft auch das Gesetz überhaupt versteht. In jedem Staate findet man deshalb ein Staatsoberhaupt, eine Staatsverwaltung (Regierung) und die Unterthanen, das Volk (Regierte), obschon dadurch nicht etwa Gegensätze im Staate, sondern nur gewisse Beziehungen angedeutet werden sollen.
Das Staatsoberhaupt ist der Träger der gemeinschaftlichen Obergewalt oder Staatsgewalt, welche die Mittel zur Erreichung des Staatszweckes zu wählen hat und so den Gesammtwillen der Staatsgesellschaft verwirklicht. Zugleich vertritt dieses Oberhaupt den Staat nach Außen, gegenüber anderen Staaten. Es hat die ihm anvertraute Gewalt nur zur Erreichung von Staatszwecken anzuwenden, nicht aber zur Befriedigung seiner Launen und Leidenschaften oder zu Privatzwecken, ist in seiner Person und unverletzlich heilig und in dieser Beziehung nur Gott verantwortlich. Die in der Staatsgewalt begriffenen Rechte (Staatshoheitsrechte, Staatsgewalten, Regalien) sind dem Volke gegenüber unantastbar und müssen von der Regierung gewahrt werden. Das Staatsoberhaupt muß rechtlich als fortdauernd gedacht werden und ist unabhängig von dem Wechsel der physischen Personen, durch die es vorgestellt wird.
Die Anwendung der Staatsgewalt in der Wirklichkeit ist die Staatsverwaltung, und die Grundsätze, nach denen sie von oben herab vollzogen wird, werden Staatsmaximen genannt. Sie kann entweder eine bureaukratische oder collegialische sein und geschieht im Auftrage des Staatsoberhauptes und in dessen Namen durch die Staatsbehörden. Dieser immerwährende und nie verlöschende Auftrag (resp. Verpflichtung) zu bestimmten Verwaltungsgeschäften, sobald sie nicht bloße mechanische Dienstleistungen sind, heißt Staatsdienst oder Staatsamt. Staatsbeamte sind also solche von dem Oberhaupt angestellte Personen, welche unter besonderen Verpflichtungen und auf die Dauer bestimmte Geschäfte zu öffentlichen Zwecken vorzunehmen haben. Die Beamten sind Repräsentanten der Staatsgewalt und werden also Beleidigungen gegen ihre amtliche Würde als Beleidigungen gegen die Staatsgewalt betrachtet und darnach bestraft.
Insofern die Staatsbeamten die Organe der Staatsregierung sind, bilden sie gewissermaßen den Gegensatz zu den Staatsbürgern, Staatsgenossen oder Staatsunterthanen, d.h. allen gesetzlichen Mitgliedern eines [135] Staates, welche des Staatsbürgerrechtes theilhaftig sind. Dieses wird begründet durch Volljährigkeit, durch das Heimathsrecht und die Ansässigkeit im Lande und gewährt Anwartschaft zum Staatsdienste, zur Befugniß, als Abgeordneter oder Landstand gewählt zu werden oder auch bei dieser Wahl Theil zu nehmen, ein Gemeindeamt zu verwalten etc. und zwar dies alles außerhalb der allgemeinen Urrechte. Jeder Bürger ist verpflichtet zur Treue gegen das Oberhaupt, zum Gehorsam gegen das Gesetz, zur Beobachtung der Verfassung, zur Uebernahme der Staatslasten (Abgaben etc.) und zum Kriegsdienste. Die Thätigkeit der Staatsbürger, welche der angestrengten und fleißigen Erreichung ihrer erlaubten Privatzwecke und Sonderinteressen gewidmet ist (Reichthum, Ehre, etc.), dient zugleich zur Erfüllung der allgemeinen Staatszwecke und bildet den Inbegriff des sogenannten Staatslebens, welches nur bei einem gesicherten Rechtszustande und einer zeitgemäßen, den Entwickelungsgesetzen huldigenden Regierung ein kräftiges und gesundes sein kann. Dieses Staatsleben bedarf, wie überhaupt jedes andere Leben auch, einer materiellen Grundlage, eines Staatsgebietes und eines Staatsvermögens.
Das Staatsgebiet ist der von sämmtlichen Unterthanen und Bürgern bewohnte Landesbezirk und wird meist zur Erleichterung der Verwaltung in verschiedene Provinzen, Bezirke, Kreise, Aemter etc. eingetheilt. Da, wo die Civilisation ihre unteren Stufen überschritten hat, ist gewöhnlich das Eigenthum sehr vertheilt oder sollte es wenigstens sein, um der Gefahr der Eigenthumslosigkeit und der oft schädlichen Besitzesanhäufung zu begegnen. Die Grundeigenthümer und zwar vorzüglich die größeren, erfreuen sich gewöhnlich gewisser Vortheile und Begünstigungen, unter denen die besitzlosen Bürger leiden. Das Staatsvermögen oder Staatsgut ist der Inbegriff alles Dessen, was dem Staate als festes Eigenthum zusteht, sodaß der Gebrauch davon ohne Ausnahme nur allein dem Staatszwecke bestimmt ist. Dieses Vermögen nennt man wohl auch das unmittelbare, während man unter dem mittelbaren dann das Vermögen der Dorf-und Stadtgemeinden, der milden Stiftungen etc. versteht. Von dem allgemeinen Staatsgute unterscheidet man die Staatsgüter (Domänen). In Beziehung alles Staatseigenthumes und des Privatvermögens seiner Bürger hat der Staat die Verpflichtung, alle auswärtigen Staaten und Privaten von der Aneignung abzuhalten und sie von dem Gebrauche desselben, wenn nöthig, sogar mit bewaffneter Hand auszuschließen.
[136] Die Sorge für die Herbeischaffung der zur Erreichung des Staatszweckes nöthigen Mittel liegt dem Staatshaushalte, der Staatswirthschaft oder Staatsökonomie ob, deren Lehren und Regeln in der Staatswirthschaftslehre begriffen sind. Diese Regeln dürfen nicht gegen die Gesetze der Volkswirthschaft streiten. Die Staatswirthschaft im engeren Sinne (Kameral-oder Finanzwissenschaft) hat es mit der Herbeischaffung, Verwaltung und Verwendung der Mittel zur Bestreitung des Staatsbedarfes zu thun, und ihre erste und vorzüglichste Aufgabe ist die, die Staatseinnahmen und Ausgaben in dem gehörigen Gleichgewichte zu erhalten.
Die Lehre von den inneren Verhältnissen des Staates, von den Grundverhältnissen und Unterthanen wird das Staatsrecht genannt. Sämmt Lehren, welche vom Staate handeln, werden von den Staatswissenschaften umfaßt. Diese zerfallen in rein philosophische, in rein geschichtliche und in gemischte. Die Kenntniß und Anwendung der besten und sichersten Mittel zur Erreichung eines Staatszweckes nach den Grundsätzen des Rechtes und der Klugheit heißt Staatskunst. Sie berücksichtigt zunächst das innere Staatsleben, nämlich die Cultur des Volkes, den Organismus des Staates in Beziehung auf Verfassung, Regierung und Verwaltung und endlich auch die Bedingungen, unter denen das Staatsleben sich fortbildet und entwickelt. Ferner berücksichtigt sie das äußere Staatsleben und sucht die Grundsätze zu erkennen und zu verwerthen, nach denen die Verbindungen und Wechselbeziehungen des einzelnen Staates mit allen neben ihm bestehenden Staaten stattzufinden haben. Vor allen Dingen ist es Aufgabe der Staatskunst, alle gegen den Staat gerichteten feindseligen Intentionen bei Zeiten zu erkennen und die Mittel zu ergründen und herbeizuschaffen, mit denen diese Feindseligkeiten abgewehrt werden können. Die Staatskunst hat zwar nach gewissen Regeln zu handeln, doch giebt es wohl keine Wissenschaft, welche in ihrer Ausübung so sehr von persönlichen Meinungen und äußerlichen Veranlassungen und Ereignissen abhängig ist, wie sie. Auf dem Felde, über welches sie ihre gebietende Hand streckt, hat sich nicht nur das Gute, sondern ebenso auch das Böse in seiner ganzen Größe gezeigt, und die Kunst, den Staat zu lenken, ist eine so verführerische, daß sie den menschlichen Ehrgeiz bis zu seiner höchsten Potenz aufstachelt und auf dem Gebiete der Politik sich die widerstreitendsten Kräfte begegnen.
Die Vereinigungen der Einzelnen zur Familie, zum Stamme, Volke, [137] oder Staate finden ihren Abschluß in dem Zusammentritte sämmtlicher Nationen zu der großen Gesellschaft, welche wir Menschheit nennen, welche ebenso wie jede andere Vereinigung ihre Zwecke hat, ihre Aufgaben verfolgt und also einem jeden ihrer Angehörigen besondere Verpflichtungen auferlegen muß. An der Erfüllung dieser Pflichten, die natürlich sehr allgemein sind, hat jeder Staat, jedes Volk, jede Gemeinde, jede Familie und jeder Einzelne je nach seinen Kräften mit zu arbeiten; jedes erlaubte Sonderinteresse zielt auf sie hin, und bei dem tausendfältigen Widerstreite der verschiedensten Einzelvortheile ist es nur eine Macht, welche den Conflict zu lösen und die Gegensätze zur friedlichen Ausgleichung zu bringen vermag: die Liebe.
In welcher Weise und auf welchem Wege gelingt ihr dies? Gehen wir von dem Einzelnen aus, um auf das Ganze und Allgemeine zu kommen.
Die Beglückung, als Zweck der Liebe, tritt in dem individuellen Leben deutlicher und bestimmter zu Tage, als in dem Leben und der Entwickelung jener großen Vereinigungen, welche Tausende von Quadratmeilen unserer Erdoberfläche bedecken und in cultivirtes Land umwandeln.
Schon vor der Geburt sorgt die Liebe für den zukünftigen Erdenbürger. Der Vater arbeitet ohne Ruh und Rast an der Sicherung einer Lebensstellung, welche ihm gestattet, den Seinen alles das zu bieten, was zu ihrem leiblichen und geistigen Wohlbefinden noth wendig ist. Die Mutter sitzt in der Erwartung jener bangen und doch seligen Stunde, welche einem jungen Pilger das Thor zum Erdenleben öffnet, an der heimlichen Arbeit, um in liebevoller Fürsorge die Nothwendigkeiten vorzubereiten, welche sich bei der zu erwartenden Vergrößerung des Familienkreises ergeben. Seit dem Augenblicke, an welchem die Gattin dem Gatten das süße und erwünschte Geständniß gemacht hat, daß sie »eine frohe Hoffnung« unter ihrem Herzen trage, hat das Verhältniß Beider eine Weihe erhalten, welche das Haus zu einem Tempel der Liebe, der rücksichtsvollen und unermüdlichsten Aufmerksamkeit und Zartheit verwandelt und den sonst vielleicht auch weniger freundlichen Mann zu einer Nachgiebigkeit veranlaßt, welche die Frau zur Gebieterin der Familie, des Hauses macht.
Wie viele Eltern ersehnen sich aus den verschiedensten Gründen das Glück, ein Kind das Ihrige nennen zu können und begrüßen das Erscheinen desselben dann als ein Ereigniß der frohesten Bedeutung, welches selbst [138] tiefe und unheilbar scheinende heimliche Risse des Herzenslebens vergessen und verschwinden lassen kann. Es besitzt der Vater ja nun in dem Sohne einen Träger seines Namens und den Erben aller Errungenschaften seiner körperlichen und geistigen Anstrengungen. Er weiß nun, für wen er arbeitet, und das Ziel aller seiner Wünsche, Hoffnungen und Bestrebungen hat sich aus weiter Ferne ihm nun näher gerückt und eine Gestalt angenommen, welche im lächelnden Kinde ihm als Ebenbild seines eigenen Wesens entgegenleuchtet. Als Mutter des Neugeborenen ist ihm das Weib nun doppelt theuer, und er bewacht ihr Glück nun mit erhöhter Aufmerksamkeit und doppelter Hingabe, da er weiß, daß der Himmel eines Mutterherzens sich in dem klaren Niveau der Kindesseele widerspiegelt und in dem Letzteren jedes Wölkchen erkennen läßt, welches über den Horizont des Ersteren dahinzieht.
Und die Mutter? Wohl ist es eine schwere, erwartungsreiche Stunde, die Stunde der Geburt. Nicht umsonst theilt das Schicksal seine Gaben aus; sie müssen errungen, erkauft, erkämpft, bezahlt und verdient sein. Und für die größte seiner Gaben – ein neues Leben – fordert es auch den größten, den höchsten Einsatz – das Leben der Gebärenden. Der alte Fluch »mit Schmerzen sollst du Kinder gebären«, umfaßt nicht die vollständige Größe, den ganzen Umfang jener unendlichen Bangigkeit, welche den Puls und alle Fibern des Innern in der Stunde der Entscheidung schneller schlagen und erbeben läßt. In diesem Augenblicke liegt der Gipfelpunkt der Bestimmung des Weibes, und in ihm zeigt sich das weibliche Heldenthum in seiner augenfälligsten Bedeutung. Das Weib ist eine Heldin nur – im Leiden, und die höchste Passivität liegt in dem widerstandslosen und von der Natur mit aller Strenge geforderten Gehorsam gegen ein Naturgesetz, welches die keuschesten Geheimnisse des weiblichen Körpers zur Preisgabe zwingt und die süßesten und heiligsten Räthsel der Frauenliebe durch die rücksichtsloseste physische Nothwendigkeit zerreißen läßt. Aber ist dieses Opfer gebracht und das »Sesam« wieder geschlossen, welche den Schatz eines entwickelungsreichen Daseins in das Leben treten ließ, dann ist die ermattete Mutterseele nur noch eines Gefühles, nur noch einer Regung, nur noch eines Gedankens fähig, welcher von nun an ihr ganzes Wesen durchdringt – der Liebe, welche den Neugeborenen mit aller Macht umfaßt und für ihn lebt und wirkt bis zu letzten Augenblicke des Erdenlebens.
In Beiden, in Vater und Mutter, nimmt die schaffende und [139] wahrende Liebe das Kind in die Arme, trägt es auf sorgenden Händen, lehrt ihm den ersten Schritt auf irdischem Boden und begleitet es ohne Unterlaß auf allen Lebenswegen, mögen diese nun durch duftende Blumengänge oder abschreckende Dornenstriche führen.
Aber nicht blos durch die Eltern erweist sie sich, sondern sie naht sich dem Erdenkinde von zahlreichen anderen Seiten. Ihr größtes Ritter- und Vasallenthum hat sie sich in dem Bunde der christlichen Kirche errichtet, welcher den Wahlspruch der Liebe als seine schönste, ja seine einzige Devise an der Stirn trägt. Wer seiner Segnungen theilhaftig werden will, muß Zutritt zu ihm nehmen, und deshalb sorgen die Eltern, daß der kleine Weltbürger sobald wie möglich das Sacrament genieße, von welchem Christus sagt: »Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig.«
Die christliche Liebe, welche in dieser Handlung nun Eigenthumsrecht an dem Kinde findet, stellt demselben einen Vertreter, welcher in ihrem Auftrage zu handeln und sich als »Pathe«, als Vater zu erweisen hat. In dem Pathenverhältnisse hat sie sich ein Monument gesetzt, welches der treueste Zeuge ihres Wesens und ihrer beglückenden Wirkungen ist; leider aber wollen so wenige Pathen ihre Verpflichtungen recht erkennen und üben. Man hat schon längst begonnen, die Taufe für nichts Anderes und Weiteres, als eine Veranlassung zum gesellschaftlichen Vergnügen anzusehen, bei welcher es stets darauf ankommt, den Eltern neben der gewöhnlichen freundschaftlichen Gesinnung eine gewisse Opferwilligkeit zu zeigen. Wie Vielen ist die sakramentliche Handlung entweder ein reiner Act des Vergnügens oder der Gegenstand einer Zumuthung, der man nur aus Höflichkeit oder allgemeiner Rücksicht nachkommt, und doch ist mit dieser Handlung die Anerkennung von Verpflichtungen verbunden, welche nur mit dem Leben selbst verlöschen.
Der Pathe hat eigentlich und zunächst dafür zu sorgen, daß das Kind in der christlichen Religion unterrichtet und zu einem christlichen und sittlich reinen Lebenswandel angehalten werde. Das ist die eigentliche Verpflichtung, welche er bei seiner Theilnahme an der Taufe auf sich genommen hat. Die Pathen sollen zuerst vom römischen Bischof Hyginus, um das Jahr 140 nach Chr. eingeführt worden sein; doch kommen sie erst seit Anfang des dritten Jahrhunderts vor, und es sollten deren drei Classen geben: für unmündige Kinder, für Erwachsene, welche wegen irgend einer Krankheit nicht antworten konnten, und sodann für Erwachsene überhaupt.
[140] Den Ursprung der Sitte, bei der Taufe Pathen anzunehmen, erklären Viele aus der bei der jüdischen Beschneidung stattgehabten Gewohnheit, fromme und ehrbare Männer dazu als Zeugen zu nehmen, Andere aber aus der Bedeutung der Taufe als den Eingang zu einem Bunde, zu dessen Gültigkeit und Sicherheit im bürgerlichen Leben gewisse und zuverlässige Zeugen nöthig waren. Anfangs waren die Eltern Pathen, was jedoch 813 durch einen Concilbeschluß zu Mainz verboten wurde. Bei Erwachsenen waren es ursprünglich Diakonen und Diakonissinnen, und wenn es später auch anderen Personen gestattet wurde, so mußten dieselben getauft und in der christlichen Religion erzogen und erwachsen sein. Trotzdem man sonst Mönche und Nonnen gern mit einem Nimbus, mit einem Heiligenscheine umgab, wurde ihnen die Erlaubniß, Pathe zu stehen, im Jahre 578 verweigert. Die ältere Kirche hat über die Zahl der Taufzeugen nichts benimmt, und gewöhnlich war es nur eine Person aus demselben Geschlechte, dem auch der Täufling entstammte. Im 12. Jahrhundert waren es zwei, auch vier, und erst im 13. Jahrhundert wurde die Zahl auf drei festgestellt, um mit derselben einen Hinweis auf die heilige Dreieinigkeit zu geben. Aus Habsucht der Klerikalen erließ die ältere Kirche ein Verbot, in welchem das Heirathen unter Pathen ohne Dispensation nicht gestattet war, weil eine geistige Verwandtschaft unter ihnen stattfinde; doch verlor glücklicherweise in Folge der Reformation in der protestantischen Kirche dieses Verbot seine Kraft.
Außer der ihm gewordenen kirchlichen übernimmt der Taufpathe unstreitig auch eine über dieselbe hinausreichende moralische Verpflichtung. Er ist eigentlich an Stelle des Vaters oder der Mutter an den heiligen Ort getreten, hat für den kirchlich- sittlichen Lebenswandel seines Pathenkindes gut gesagt, sich für denselben mit seinem Worte verbürgt und in Folge dessen also auch für die Erfüllung seines Versprechens mit seinem sittlichen Werthe einzustehen. Dieses Einstehen aber kann unmöglich stattfinden, wenn die Taufe als ein bloßes Familienfest betrachtet wird, welches als ein in sich abgeschlossenes Ereigniß genannt werden muß, vielmehr kann der Pathe nur dann seinem Versprechen treu bleiben, wenn er es als seine Aufgabe hält, die Eltern zu ergänzen, sie in ihren Bemühungen der Kindererziehung zu unterstützen und nöthigenfalls, wenn sie dem Tode verfallen, sie, wenn auch nicht in jeder, so doch in den nothwendigsten Beziehungen zu ersetzen. Hier ist es nur die Liebe, und vorzugsweise die christliche Liebe, [141] welche sich zu einer Anschauung zu erheben vermag, die eine Aufgabe nach ihrem ganzen und vollständigen Ernste betrachtet und sich auch nicht durch irgend welche leichte oder schwere, einzelne oder fortgesetzte Opfer zurückgeschreckt fühlt. Der Pathe übernimmt Vater-, die Pathin übernimmt Mutterpflichten, und wo die rechte, rücksichtsvolle Liebe waltet, da wird diese Verpflichtung nicht vergeblich auf ihre Erfüllung warten.
Hierbei berühren wir einen Punkt, welcher zu den trübsten und traurigsten des Erdenlebens gehört und dessen ganze Tragik in dem Worte »Waisenkind« sich ausspricht:
sagt Annette Freiin von Droste-Hülshoff in einem ihrer tiefempfundenen Gedichte und umfaßt mit diesen wenigen Versen eine ganze Welt des Verlassenseins, der lieb- und freudlosesten Einsamkeit. Kein Verlust ist größer, als derjenige, welcher uns die Eltern raubt, und wird um so beklagenswerther und entsetzlicher, je weiter zurück er greift in die Jahre der Jugend oder gar der frühen Kindheit. Ein Waisenkind! – der Klang dieses Wortes erweckt in jedem warmklopfenden Herzen die Regungen des aufrichtigsten Mitgefühles und läßt ein Dankgebet zum Himmel steigen aus jedem Munde, welcher den süßen »Vater«- oder »Mutternamen« noch aussprechen darf. Darum ist es auch gar nicht zu verwundern, daß die Liebe mit treuem Fleiße das Feld bebaut, welches sich hier ihrer Thätigkeit öffnet.
Der fruchtbarste Baum, welcher auf diesem Felde gezogen wird und seine Aeste so weit ausstreckt, wie nur die menschliche Gesittung ihre Wurzel schlägt, beschattet alle diejenigen Anstalten, welche der Unterbringung und Versorgung aller derjenigen Beklagenswerthen gewidmet sind, denen ein unfreundliches Schicksal die Eltern genommen hat. Zwar gab es schon unter Trajan, den beiden Antoninen und Alexander Severus mehrfache wohlthätige Stiftungen, durch welche für die Waisen gesorgt wurde, die eigentlichen Waisenhäuser aber sind eine Frucht des Christenthums. Die erste dieser Anstalten baute Kaiser Alexius im Jahre 1090 zu [142] Constantinopel, und im Mittelalter erwarben sich die durch Handel und Gewerbe sich auszeichnenden Städte große Verdienste um das Waisenwesen. In Deutschland kamen die ersten Waisenhäuser im 16. Jahrhundert auf, und die berühmteste derartige Stiftung späterer Zeit war das von August Hermann Franke gegründete Waisenhaus zu Halle.
In neuerer Zeit hat man den Werth dieser Häuser sehr in Zweifel gezogen. Wenn die Verpflichtung, Beaufsichtigung und Erziehung der Kinder nicht in die Hand tüchtiger, liebevoller und gewissenhafter Personen gelegt wird, so werden die Zöglinge sowohl körperlich als auch geistig vernachlässigt, und es ist eine allerdings nicht zu bestreitende Thatsache, daß sich in den Waisenhäusern gewöhnlich eine ungewöhnlich hohe Sterblichkeitsziffer herausstellt. Eine genaue Aufsicht so vieler Kinder ist, wenn sie wirklich durchgeführt werden soll, immer mit einer verhältnißmäßig zu großen Strenge verbunden und reizt zum erziehungsfeindlichen Widerstand. Außerdem ist gar nicht zu läugnen, daß durch das stete Zusammenleben einer zahlreichen Kinderschaar gewissen geheimen Sünden Vorschub geleistet wird. Alles dasselbe gilt auch von den den Waisenhäusern sehr nahe verwandten Findelhäusern, und so ist die Ansicht, die Waisen in gute Familien zur Pflege zu geben, ganz gewiß eine sehr wichtige und begründete.
Keine Anstalt, und sei sie noch so gut geleitet, vermag die Familie zu ersetzen, und es ist deshalb recht wünschenswerth, daß kinderlose Ehen sich denjenigen armen Wesen öffnen möchten, welche auf den Blick eines warmen Mutterauges und das mahnende Wort eines besorgten Vaterherzens verzichten müssen. Die Eltern- und Kindesliebe ist nicht allein eine Frucht und Folge der Geburt; sie ist auch ein Kind des Mitleides und der Mildthätigkeit, und ist es nicht schwer zu entscheiden, welche That größer und lobenswerter sei: ein Kind zu gebären, oder ein Kind der Verlassenheit zu entreißen, um ihm den traurigsten und unverschuldeten Verlust zu ersetzen. »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Himmelreich,« sagt Christus, und wenn man aus diesen Worten einen Befehl zur Kindertaufe hat lesen wollen, so klingt aus ihnen doch noch viel deutlicher der Ruf und die ernste Ermahnung zur Wohlthätigkeit an den verlassenen und verwaisten Kleinen. – Hat dieses Wort nur ein einziges Herz für den Entschluß geöffnet, ein kleines, vereinsamtes Wesen mit elterlicher Liebe zu beglücken, so ist seine Aufgabe erfüllt und das Bestreben des Verfassers reichlich belohnt.
[143] Die schönste und höchste Aufgabe der elterlichen Liebe besteht in der Erziehung; desto bedauerlicher aber ist es, daß sich grad' ihr so viele und leider nur so schwer zu beseitigende Hindernisse in den Weg stellen. Eines der bedeutendsten Hinternisse liegt in der Unfähigkeit der Eltern, ihren Kindern die rechte Geistes- und Herzenspflege angedeihen zu lassen. Ein Trost liegt hier in dem gläubigen Gedanken, daß hinter jedem kleinen Menschenkinde ein guter Engel stehe, der seine Hand beschützend und behütend über dasselbe hält und selbst das Böse und Schlimme zum Guten zu lenken sucht. Nur der göttlichen Vorsehung scheint es zuzuschreiben zu sein, daß trotz der oft mangelhaften Erziehung aus Familien von anerkanntem Leichtsinne oder zweifelhafter Moralität nicht selten recht gute und brauchbare Menschen hervorgehen.
Ein anderes Hinderniß ist die Unlust gewisser Eltern, sich eingehend mit der mühevollen Erziehung ihrer Kinder zu beschäftigen oder auch der Mangel an der nöthigen Zeit hierzu. In dieser Beziehung sind die Kindergärten und alle diejenigen Einrichtungen, welche auf die Wartung vernachlässigter Kinder hinzielen, von tiefgehendem Einflusse. Es werden durch sie eine reiche Anzahl von Kindern, welche einen großen Theil des Tages sich selbst überlassen blieben oder den Händen von unfähigen Personen anvertraut wären, unter eine freundliche und liebevolle Aufsicht und Wartung gebracht, welche nicht nur die Pflege untüchtiger Eltern ersetzt, sondern vielleicht noch größere und bessere Erfolge aufzuweisen hat, als diese haben würde.
Die Erziehung besteht in der absichtlichen und zweckentsprechenden Einwirkung Erwachsener auf die Kinder, um die Anlagen und Befähigungen derselben durch naturgemäße, harmonische Entwickelung dahin auszubilden, daß sie ihre Vervollkommnung dann selbstständig fortzusetzen vermögen. Sie kann eine allgemeine sein und hat dann den Zweck, den Menschen eben als Menschen auszubilden, oder eine besondere und nimmt dann auf die Einzelverhältnisse Rücksicht, indem sie den Zögling mit Berücksichtigung seines Geschlechtes, seines späteren Berufes etc. behandelt.
Die Erziehungsidee bildet sich zu gleicher Zeit mit dem Familienleben aus und ist um so besser und reiner, je höher die Stufe ist, auf welcher die Cultur eines Volkes sich befindet. Ueberhaupt stehen Erziehung und Cultur in so innigem Zusammenhange, daß es eine der größten Verpflichtungen des Staates ist, auf ein gute, naturgemäße Heranbildung seiner Bürger zu sehen und ihnen die nöthigen Mittel dazu zur Verfügung [144] zu stellen. Diese Mittel werden geboten ganz besonders in den Institutionen der Kirche und Schule.
Jahrhunderte lang haben sich Staat und Kirche einander als die erbittertsten Feinde gegenübergestanden, mit Aufbietung aller Kräfte sich gegenseitig bekämpft, und ihre Angehörigen haben natürlich den ungeheuern Schaden zu tragen gehabt, welchen dieser Conflict in den mannigfalltigsten Beziehungen hervorrufen mußte. Noch am heutigen Tage fahren die vernichtenden Geschosse der Gegner herüber und hinüber, aber es ist mit vollständiger Gewißheit vorauszusehen, daß die Kirche endlich in die Stellung zurückgewiesen wird, welche ihr von Gottes- und Rechtswegen einzig und allein zukommt.
Die Religion ist eine Macht, welche ihren Einfluß vorzugsweise auf das Gemüthsleben des Menschen äußert. Diese Macht hat die heilige und hochwichtige Aufgabe, die Menschheit, entfernt von allem äußeren Zwange, unter dem Scepter der Liebe zu vereinigen, und in dieser Aufgabe ist ebensowohl ihre Stellung zum Staate als auch die Art und Weise ihres Wirkens genau bezeichnet und begrenzt. Das Dogma und jede andere äußerliche Schranke wird einst fallen, der Glaube wird seine Zelte im Innern der Herzen aufschlagen und der Priester nur das sein, was er allein nur zu sein hat: ein Verkündiger und Lehrer der göttlichen und allgemeinen Menschenliebe.
Tiefer eingreifend in das innere Leben des Menschen ist die Thätigkeit der Schule. Sie hat sich in Beziehung auf die Entwickelung der Intelligenz an die Stelle der Eltern zu stellen und damit eben auch nur die eine Aufgabe zu lösen, welche mit dem Worte Liebe bezeichnet wird; denn eine Intelligenz ohne Liebe ist nicht denkbar, und wenn man die Geschichte der Schule von dem Anfange derselben bis auf ihre gegenwärtigen Verhältnisse verfolgt, so wird man sofort zu der Ueberzeugung geführt, daß sich die ganze Entwickelung des Unterrichtswesens in gerader Richtung auf die Lehre zuspitzt: »Du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen und deinen Nächsten als dich selbst!«
Oeffentliche Anstalten zu einer geordneten Jugendbildung waren erst dann eine Möglichkeit, als sich die Bildung abgeschlossener Völkerschaften vollzogen hatte. In den ältesten Zeiten war das Volk von dem Unterrichte und der wissenschaftlichen Bildung ausgeschlossen, wie z.B. in Indien, China, bei den Babyloniern, Chaldäern, Medern und Persern, ebenso auch[145] bei den Egyptern. Auch bei den Juden finden wir in den älteren Zeiten Prophetenschulen, in welche nur Bevorzugte Zutritt und Aufnahme fanden; eigentliche Kinderschulen aber gab es bei ihnen erst nach der babylonischen Gefangenschaft. Trotz der Verschiedenheit der religiösen und sonstigen Anschauungen aller dieser Völker hatten ihre Schulen doch nur den einen Zweck, Weisheit zu erlangen, und da die rechte Weisheit nur darin besteht, glücklich zu sein, und dieses Glück nur durch die Liebe zu erreichen ist, so strebte der Unterricht aller Völker trotz seiner scheinbaren Verschiedenheiten immer doch nur diesem einen Ziele zu. Deutlich ausgesprochen wurde dasselbe allerdings erst durch das Christenthum, und dieses letztere ist es auch, welches als Träger der wahren Intelligenz eine Entwickelung des Schulwesens aufzuweisen hat, wie keine der anderen Religionsformen.
Soll der Einfluß der Schule auf den Zögling ein erfolgreicher und dauernder sein, so muß sich das Verhältniß zwischen Eltern und Lehrer zu einem freundlichen gestalten, und die Bemühungen Beider müssen Hand in Hand gehen. Nur diese Einigkeit kann das beiderseitige Wollen zu einem wirklichen Vollbringen führen und das Kind vor den schlimmen Folgen bewahren, welche die so oft beobachtete und beklagte Divergenz zwischen Schule und Familie nach sich zieht. Die Liebe ist's auch wieder, welche alles Unebene zu glätten und auszugleichen vermag und in welcher sich alle Bestrebungen begegnen müssen. Noch liegt die Zeit nicht weit hinter uns, in welcher der Schulmeister fast noch bezeichnender Stockmeister genannt werden mußte, weil alle seine Handlungen sich auf die Ansicht stützten, daß der Stock der beste Präceptor sei. Es muß ja Strafe sein, und auch für den Lehrer gilt das Wort: »Wer seinen Sohn lieb hat, der züchtige ihn,« aber nur die Liebe soll strafen, und wenn dies geschieht, so wird grad' die Züchtigung das Band befestigen, welches das Herz des Kindes zu dem Lehrer zieht.
Mit der Institution der Schule sind wir schon aus der Familie heraus auf das Gebiet des Staates getreten, auf welchem dem scharfsinnigen Beobachter sich in tausendfältiger Weise die Erfahrung aufdrängt, daß auch die Einrichtungen desselben unter dem Einflusse einer Entwickelung stehen, welche von der finsteren Strenge des Alterthumes zu immer lichteren, klareren, freundlicheren und wohlthuenderen Zuständen führt.
In den früheren Zeiten war es ganz vorzugsweise die Selbstsucht, welche die Muskeln und den Willen hervorragender Persönlichkeiten spannte, [146] die Schwächeren in Abhängigkeit zu stellen und sich unterthänig zu machen, und der Fuß dieser Gewaltigen schritt dann schonungslos über das Glück von Tausenden dahin, welche ihren Nacken dem Joche der Knechtschaft und Sclaverei beugen mußten. Eroberung und Bereicherung war der am eifrigsten verfolgte Regierungszweck; die brutalste Kraft und die niedrigste Hinterlist wurde zu seiner Erreichung angewendet, und selbst in den cultivirtesten Staaten des Alterthumes, in Griechenland und Rom, begegnen wir der Unterdrückung und Ausrottung ganzer Völkerschaften, welche ein heiliges Recht auf freie individuelle und nationale Entwickelung hatten.
Jene berühmten Eroberer, von denen »noch der Nachwelt Stimme spricht«, erscheinen dem Menschenfreunde nicht anders, als wilde, blutgierige Tyrannen, und mögen ihre Thaten dem Einzelnen auch als Heldenthaten erscheinen, so hat die Geschichte sie doch in ihrer unwandelbaren und unbestechlichen Gerechtigkeit dadurch gerichtet, daß sie ihnen keine dauernden Erfolge einräumte. »Ein friedlich Regiment und eine freie Bahn für Alles, was der Mensch gebraucht und schafft, das ist es, was der Völker Wohlfahrt gegründet«, sagt einer unserer besten Volkswirthschaftslehrer, und die Versündigung gegen diese Wahrheit hat sich stets an dem eigenen Fleische und Blute, an dem eigenen Volke, der eigenen Nation bitter und blutig gerächt. Wo sind die Völker, deren Stern wie ein glühendes Meteor am Horizonte des Menschengeschlechtes emporstieg, um die Sterne anderer Völker in Trümmer zu scheitern? Wie sieht es heut aus mit der Cultur all' jener Länder, deren Erndten des »Schwertes scharfer Mund« gefressen?
All' jene großen Eroberungen des Alterthums liegen in Schutt und Trümmer oder unter dem Sande der Wüste begraben; die Helden der Völkerwanderungen und der Kreuzzüge leben in Geschichtsbüchern und Romanen; selbst das edle Geschlecht der Hohenstaufen mußte erlöschen, weil es nicht erkannte, was zum Frieden der Völker dient; das Machtreich Napoleons sank schon lange vor seinem Tode in Trümmer, und die Menschheit hat nun endlich eingesehen, daß der Mensch in seinem Wahne der [147] schrecklichste der Schrecken ist und nur eine friedliche Entwickelung des Völkerlebens die Menschheit den ihr gesteckten hohen Zielen zuführen kann.
singt Schiller in seinem Liede von der Glocke, und diese staatliche Ordnung ist es, welche eine Garantie für die Sicherheit der allmäligen Anerkennung jener Gedanken und Lehren bietet, die das menschliche Wohlergehen im Einzelnen und Ganzen von der Befolgung des Wahlspruches abhängig machen: »Kindlein liebet euch unter einander!«
Natürlich ist, wenn hier von Liebe gesprochen wird, nicht von jener Zuneigung die Rede, welche sich gegen irgend eine oder mehrere physische Persönlichkeiten richtet, sondern von jener allgemeinen Herzensgesinnung, welche dem Anderen gern und willig dieselben Rechte einräumt welche man für sich selbst in Anspruch nimmt, um glücklich sein zu können, jene Gesinnung, welche sich als Humanität offenbart und je länger desto tiefer und umfassender alle Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft durchdringt.
In ihrer freundlichen Gestalt zeigt sie sich schon in dem Verhalten des Einzelnen gegen den Einzelnen, besonders verdienstvoll aber dann, wenn der Eine von Beiden durch irgend einen Umstand ein gewisses Uebergewicht über den Anderen erlangt hat, wie dies z.B. zwischen Herren und Dienstleuten, Vorgesetzten und Untergebenen, Gläubigern und Schuldnern etc. der Fall ist. Selbst in dem Verhalten gegen die Thiere giebt sie sich zu erkennen, und wo sich der einzelne Mensch nicht zu ihr bewogen fühlt, weil er sein eigenes Interesse entweder verkennt oder höher schätzt als das Wohlergehen des Nächsten, da hält es die sich immer besser entwickelnde, sich immer vollkommener gestaltende Gesetzgebung für eine der ersten ihrer Pflichten und Aufgaben, den Unterdrückten kräftig in Schutz zu nehmen und Bestimmungen zu treffen, welche durch Strafandrohung und Strafausübung [148] die Humanität da zu erwingen weiß, wo sie verweigert wird.
Hierher gehören die Gesetze gegen die Thierquälerei, und es ist ein wirklich erfreulicher Umstand, daß sich allerwärts Vereine gebildet haben, welche in Folge freiwilliger Entschließung diesen Gesetzen Unterstützung zu leisten und Nachdruck zu geben wissen.
Die Humanität als gegen Menschen gerichtet, hat allerdings zunächst bei sich selbst anzufangen und dahin zu wirken, daß der Betreffende sich als würdiges Glied der Menschheit zeige. Frei von »Schuld und Fehle« ist zwar kein Sterblicher, aber ein Jeder muß mit Fleiß und Ausdauer dahin trachten, frei wenigstens von groben Sünden und Vergehungen zu sein und sich fern von einem Leben oder Angewohnheiten halten, denen ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft keine Herrschaft über sich gestatten darf.
Hier bietet sich in den vielfach bestehenden Vereinen und Gesellschaften, welche eine Hebung der gesellschaftlichen Sitte oder die Vergrößerung geistiger Vollkommenheit bezwecken, eine sehr vortheilhafte Gelegenheit, an sich selbst zu arbeiten und auf diese beste Weise zum Vorwärtsschreiten des Allgemeinen wesentlich beizutragen.
Es ist hier nicht der Ort, das Wesen, die Zwecke und Erfolge solcher Privatgesellschaften einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, denn es kann sich Jedermann bei offenen Augen sehr leicht die nöthige Anschauung und Ueberzeugung holen, und es genügt nur, z.B. auf das Versicherungs-, Unterstützungs-, Fortbildungs-, Armen- und Krankenwesen überhaupt hinzuweisen.
Der Staat hat den hohen Segen solcher Institute schon längst erkannt und ihre Gründung und Verwaltung entweder selbst in die Hand oder wenigstens da, wo dies nicht geboten scheint, sie in seine besondere Protection genommen. Er ist nach Jahrhunderten bitterer Erfahrungen zum Bewußtsein alles Dessen gekommen, was zu seinem eigenen Besten und demjenigen seiner Unterthanen dient und sucht demzufolge die Bezeichnung zu verdienen, die er tragen soll, die Bezeichnung eines Culturstaates.
Wie jeder Einzelne, so trägt auch der Staat das vollständige Spiegelbild des Jahrhunderts oder über haupt des Zeitalters an sich, dem er angehört, und in jeder einzelnen seiner Einrichtungen spricht sich die Durchschnittsstufe der menschlichen Erkenntniß aus, auf welcher sich die betreffende [149] Nation befindet. Darum steht das staatliche Wesen eben so sehr unter dem Einfluße derjenigen Entwickelung, welche sich alles irdischen Lebens bemächtigt hat, und muß dem Geiste der Zeit Rechnung tragen, welcher dem neunzehnten Jahrhunderte das Banner der Humanität in die Hand gedrückt hat.
Keines der vorhergehenden Jahrhunderte hat so viel zur Verbreitung allgemeiner Bildung und zur Bethätigung echter Menschenliebe gethan, wie dasjenige, in welchen wir leben, und so groß und begründet auch die Vorwürfe sind, welche man ihm sonst zu machen gewohnt ist, grad' diese Vorwürfe sind ein sicherer Beweis dieser Bildung und Humanität, welche ihren nothwendigen und unausbleiblichen Einfluß auf die staatlichen Einrichtungen auch ganz sicher üben werden. Alle jene alterthümlichen und mittelalterlichen Einrichtungen, unter denen das Gesammtwesen bis vor noch nicht längst vergangener Zeit zu leiden hatte, verschwinden mehr und mehr, die Abhängigkeit des Einen von dem Andern verschwindet ebenso, und vor allen Dingen ist es jetzt dem Unterthanen erlaubt, seine Stimme bis vor den Thron schallen zu lassen und durch seinen Vertreter den Wünschen Nachdruck zu geben, von deren Erfüllung sein Wohl und Wehe abhängig gemacht ist.
Sclaverei und Leibeigenschaft, die beiden gesellschaftlichen Beulen der Vergangenheit, sind in dem Culturstaate nur noch in den leisesten ihrer Nachwehen, die endlich auch noch verschwinden müssen, zu bemerken; die Gesetzgebung aller Völker strebt darnach, dem Menschen den Besitz seiner angeborenen Würde zu erkämpfen und zu sichern, und selbst der Gefallene wird nicht mehr, wie früher, aus der menschlichen Gesellschaft, an der er sich versündigte, wie ein wildes Thier hinausgestoßen oder in klirrende Ketten geschmiedet, sondern die Liebe erbarmt sich seiner, als eines moralisch Kranken, dessen Heilung eine der größten und schönsten Pflichten des Staates ist.
Einen Punkt freilich giebt es, welcher jedem Menschenfreunde als der dunkelste und traurigste der gegenwärtigen staatlichen Einrichtungen erscheint und gegen den sich die Angriffe fast aller zur Hebung und Besserung unserer Zustände Berufener richten, das ist der Krieg.
Es war ein herrlicher Lobgesang, welchen die himmlischen Heerschaaren in der heiligen Geburtsnacht anstimmten: »Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« Diese hier ausgesprochenen drei Forderungen hängen so eng zusammen, daß die Erfüllung [150] der einen ohne diejenigen der andern gar nicht möglich ist, und da auf den Frieden unter den Menschenkindern der meiste Nachdruck zu legen ist, und derselbe bisher nur eine Chimäre blieb, so darf man sich nicht wundern, wenn auch von einer wahren Verehrung Gottes und einem Leben im Wohlgefallen keine Rede sein kann. Die menschliche Schwäche und Leidenschaft ebenso wie die Verschiedenheit der Ansichten über die Verhältnisse der Politik, Religion etc. haben es zu keinem wahrhaften Frieden kommen lassen.
ruft Tiedge in seiner Urania, und Berthold Auerbach vergleicht den Degen des Cavaliers, den Säbel des Offiziers mit dem Schlächtermesser, welches vom vergossenen Blute raucht und der menschlichen Gesittung Hohn spricht. Trotzdem aber darf man bei den vergangenen und gegenwärtigen Verhältnissen dem Kriege nicht geradezu alle und jede Berechtigung absprechen. Es ist eine heilige Verpflichtung eines jeden staatlichen Körpers, sich gegen jede Verletzung irgend eines seiner von außen bedrohten Rechte mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln, und sei es mit der Waffe in der Faust, zu wehren, und ebenso darf er es nicht unterlassen, gefährliche innere Zustände, z.B. Revolution etc. mit aller Kraft zu unterdrücken, und hierzu bedarf es meist der Gewalt der Waffen. Ebenso muß zugegeben werden, daß durch die kriegerischen Beschäftigungen die Nationen gekräftigt und vor Verweichlichung bewahrt werden, wie auch unter dem Donner der Geschütze die Blume des Nationalbewußtseins, des Patriotismus und der Vaterlandsliebe am leichtesten erblüht; aber von diesen Vortheilen werden all' die damit verbundenen Nachtheile nicht im Geringsten aufgewogen.
Das edelste Naß heißt Menschenblut; ein einziger Tropfen von ihm kann mit allem Gelde der Erde nicht bezahlt werden.
Und doch wie viel ist von diesem köstlichen Naß schon vergossen worden, obgleich die Drohung gar ernst erklingt: »Wer Menschenblut vergießt, dess' Blut soll wieder durch Menschen vergossen werden!« Und nicht die Verschwendung ist es allein, was zu beklagen ist, sondern der wirthschaftliche Ruin vieler Millionen von Menschen, von ganzen edlen Völkerschaften, und das Herzeleid Derer, welche den Verlust ihrer Lieben zu bedauern haben, fällt ebenso schwer in die Waagschale, und bei dem Gedanken an all' dieses Elend, welches sich noch im Gefolge sogar der gegenwärtigen [151] Politik befinden muß, denkt man unwillkürlich zurück an den vorsündfluthlichen Jammer: »Die Menschen wollen sich von meinem Geiste nicht erziehen lassen, denn sie sind Fleisch!«
Mag die Art des Krieges sein, welche sie wolle, Bürger- oder Religionskrieg, Vertheidigungs- oder Angriffskrieg, Landkrieg oder Seekrieg, immer wird der Krieg characterisirt durch die Auflösung der Staatsverhältnisse der sich bekämpfenden Mächte. Glücklicher Weise hat die immer fortschreitende Civilisation und Humanität auch hier das Ihrige gethan und das Bedauerliche nach Möglichkeit gemildert. Rechtlosigkeit ist den Begriffen einer menschlichen Association so zuwider, so widersprechend, daß fast alle Völker über gewisse Rechtsgrundsätze übereingekommen sind, welche sie auch im Kriegszustande zu befolgen haben, und besonders sind in neuerer Zeit die segensreichsten Vereinbarungen über diesen Gegenstand getroffen worden, aber trotz seiner milderen Führung ist der Krieg für unsere Zeit dennoch verwerflicher als für die vergangenen Jahrhunderte.
Es will scheinen, als gälte das Wort: »Es muß ja Aergerniß sein, aber wehe dem, durch welchen Aergerniß kommt« auch für die, welche ihren politischen Traditionen oder dem Gelüste ihres Ehrgeizes das Leben von Tausenden ihrer Unterthan zum Opfer bringen, aber der Menschenfreund mag doch die Frage, ob der Krieg denn wirklich eine so unumgängliche Nothwendigkeit sei, nicht mit einem unbedingten Ja beantworten. Er gedenkt der himmlischen Gesetze, nach welchen sich auch alles Irdische bewegt und regelt, und darf deshalb den Glauben hegen, daß die Zukunft doch vielleicht die Wünsche der Gegenwart erfüllen werde. Die Liebe glaubt Alles, sie hofft Alles, sie duldet Alles, aber sie kann auch Alles, und nur allein ihr ist es möglich, ein Zeitalter zu schaffen, auf dessen Panier die Devise klingt:
Liebe und Friede! [152] [209]